Cover

Einführung

 

I M P R E S S U M
Ich und Es

Die Sternenbücher, Band 12

von Walter Gerten
© 2017 Walter Gerten.
Alle Rechte vorbehalten.
Autor: Walter Gerten
info@smg-gerten.de

Dieses E-Book, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne
Zustimmung des Autors nicht vervielfältigt, wieder verkauft oder weitergegeben werden.
Text, Zeichnungen, Bilder und Fotos von Walter Gerten. © 2016 Walter Gerten

Der Autor:

Walter Gerten lebt seit vielen Jahren in der ländlichen Südeifel. Als Autor betätigt er sich seit dem Jahr 1999. In der Anfangsphase, ab 2000 bis 2003 nahm er an einer intensiven Schreibwerkstatt teil, es folgten Lesevorträge. Daneben betreibt er seit dem Studium Malerei und Grafik, die ebenfalls teilweise als Illustration Einzug in seine Schriftwerke findet.

 

 

Weitere Romane:
Manfred Wilt und der Tote am Fluss
Manfred Wilt und die Rocker
Der Bote des Zarathustra
Monte Nudo
Unterwegs mit Tom Kerouac
Ich bin ein Schiff
Die Sternenbücher 1 Professor Montagnola
Die Sternenbücher 2 Akba
Die Sternenbücher 3 Die dunkle Seite des Mondes
Die Sternenbücher 4 Der Sinn des Lebens
Die Sternenbücher 5 Planet der Phantome
Die Sternenbücher 6 Das Nichts
Die Sternenbücher 7 Tod eines Springers
Die Sternenbücher 8 Paradise2
Die Sternenbücher 9 Solitan
Die Sternenbücher 10 Das Symbol für Solitan
Die Sternenbücher 11 Das Ubewu

 

 

Das Buch

Ein idyllischer Planet, eine Forschergruppe, die selbst erforscht wird. Ein Aufenthalt in einer fremden Welt, die verstörend auf die Persönlichkeitsstrukturen wirkt. Insgeheim gab es Motivationen für die Teilnahme an dieser Mission, die den Teammitgliedern nicht bekannt waren, Motivationen, die sich auf längst vergangene Zeiten begründen und den Tod bringen könnten.

Die Handlung und die Namen der Personen sind frei erfunden.
Dieses Buch erhebt keinerlei Anspruch auf Richtigkeit im physikalischen, biologischen, mathematischen, politischen, historischen, wissenschaftlichen, religiösen, philosophischen oder medizinischen Bereich.

 

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

 

Ich und Es

 

  1. Ich
  2. Der Bohrturm
  3. Petrus
  4. Die Herkunft der Ereignisse
  5. Kupfer
  6. Arkadien
  7. ES
  8. Flechtwerk
  9. Die Station
  10. Was ist real?
  11. Montagnola

 

Ich

1. Ich

 

Professor Montagnola hatte einst, vor langer Zeit, als ich noch einer seiner Studenten war, über die Grenzen des Ich doziert. Wir hatten damals nur einen Bruchteil davon verstanden, weil das Thema uns überflüssig und fachfremd erschien. Uns interessierten vor allem Technik, exotische Lebensformen, Abenteuer. Dass genau das alles Inhalt seiner Vorlesungen war, wurde uns erst gar nicht klar, obwohl er es oft genug betonte.

Wie üblich war sein Ansatz kybernetisch, also die Systeme betrachtend. Und der Mensch als Organismus war damit ebenso gemeint, wie ein technisches System. Der Professor ging sogar soweit, die Durchdringung von Mensch und Maschine als übergeordnetes System darzustellen, welches beide erweiterte. Damals eine in psychologischer Sicht fragwürdige These, die die Grenzen des Ich verschob und für uns Studenten eine unnütze Herausforderung darstellte, die wir mit Desinteresse quittierten. Zu trocken; zu theoretisch-willkürlich.

Aus späterer Sicht, rückblickend, hatte des Professors Theorie eigentlich eine hohe Attraktivität. Und auch später kam er noch häufig auf sein damaliges Thema zurück. Er besaß im Alter noch immer eine geschliffene Rhetorik, eine fesselnde Sprache und eine fantastische Fähigkeit zu bildhaften Ausschmückung und Verdeutlichung seiner Gedanken.

"Mein lieber Freund", sagte er einmal, wobei mir die Tatsache zu denken gab, dass er schon länger nicht mehr 'mein lieber junger Freund' sagte. "Mein lieber Freund. Wenn Sie die Augen schließen und Ihr aktuelles Wahrnehmen betrachten, so werden Sie bemerken, dass Sie die Geräusche an der Peripherie, dort, wo sie eine scheinbare Außenhülle durchdringen, bemerken und klassifizieren. Eine durchlässige Haut, die Ihr Selbst begrenzt, so etwas stellt man sich dort vor, weit weg von Ihrer körperlichen Haut."

Jetzt, während dieses Einsatzes auf Terremoines, erinnerte ich mich fast jeden Tag an diese Sichtweise. Wir hatten den Planeten wie üblich in Sektoren eingeteilt und es kam seit unserer längerfristigen Präsenz immer wieder zu unerklärlichen "Erscheinungen", zu beunruhigenden Vorfällen in diversen Sektoren. 'an der Peripherie.'

Wollte man diese Ereignisse einordnen, verstehen, in die tägliche Arbeit und die weitergehende Planung einfügen, dann wäre es besser gewesen, zumindest annähernd zu begreifen, womit wir es zu tun hatten.

"Das Unbegreifliche ist das Es, das das Ich herausfordert", hatte Montagnola gesagt. Hier war es genau so.

 

Terremoines gehörte nicht uns, auch wenn wir es gerne so sahen, es so benutzten, uns so verhielten, als ob. Doch diese Illusion wurde gestört, nicht nur durch die Dinge an der Peripherie, der 'Haut'. Wir waren eine Zweckgemeinschaft. Nadir, Josephine, George, Petrus, Alexander, Boris, Li und ich waren die Piloten der Aufklärer und Gleiter, kleine Einsitzer mit allen Datenerzeugern an Bord plus schmaler Bewaffnung. Es waren zwei- bis sechs-sitzige sogenannte ‚Rochen‘; silberne Schönheiten, die sowohl den Raumflug als auch die Auftriebserzeugung in einer Atmosphäre beherrschten.

Helmut, Grosjean (der Mann ohne Vornamen), Sylvie, Fidel, Barbara und Seraphine bildeten im Basislager die wissenschaftliche Crew; Karlow, Suzuki (der ehemalige Rekordpilot) und Nimsikow erledigten die Koordination intern und mit der Erde. Jeder Einzelne hatte daneben noch zusätzliche Aufgaben, die sich auf die Funktion der Gemeinschaft bezogen. Dazu gehörten organisatorische, medizinische, ernährungstechnische und handwerkliche Bereiche. Wir bildeten ein System in Montagnolas Sinne, so wie alles und jedes ein solches System darstellte. Wir strebten Funktion und Wohlgefühl an und vermieden alles, was dies gefährdete. Dabei war es durchaus legitim, Illusionen zu pflegen, wenn sie dienlich waren.

Beispielsweise konnte es sinnvoll sein, zu gewissen Zeiten Helmuts Hang zum Alphatum zu tolerieren oder Sylvies Tendenz, Kalamitäten herbeizurufen, mit Verständnis und Aufmerksamkeit zu begegnen. Insgesamt pflegten wir die Vorstellung, ein voneinander abhängiger Organismus auf Zeit zu sein. Sobald diese merkwürdigen Störungen an der Peripherie begannen, reagierten wir als Singularität.

Mir war im Funkverkehr ein Wechsel in der Sprache aufgefallen. "Terremoines meldet unaufgeklärte Energieaufzeichnungen in Sektor 63." Verwendet wurde nicht der Terminus „Ich“ oder „Wir“, sondern der Planetenname; es handelte sich meiner Meinung nach um eine beliebige Identifizierung mit einem illusionären Konglomerat. Aber so funktionierte die Bildung übergeordneter Systeme, die Durchdringung von Systemen, die Gleichsetzung für unbestimmte Zeit. Und natürlich inklusive diverser maschineller Systeme. Es brachte, sobald ich es wahrnahm, ein altbekanntes Gefühl mit sich. In diffuser Erinnerung erlebte ich erneut eine kindliche Phase staunender Selbstvergrößerung, vergleichbar etwa mit dem ersten Mal, wenn man das Fahrrad als Verlängerung des Körpers empfand, nahezu körpereigen.

Dieses Erlebnis war nicht verbunden mit einem Zuwachs an Wissen. Als Kind dominierte das Glücksgefühl der Beherrschung von Kräften. Man erfuhr die Kreiselkräfte, die dynamische Stabilisierung, die Kontrolle durch den Gleichgewichtssinn ohne dass man sich dessen bewusst wurde. Übermütig testete man in wilden Schlangenlinien und sausender Fahrt neue Grenzen aus.

Nun waren es unsere schnellen Aufklärer, mit denen wir uns fortbewegten. Li hatte am Vortag Kontakt mit einem Energiefeld in Sektor 12 gehabt. Einfluss auf Steuerungssysteme und Datenscanner, verzerrte Raumdarstellung, Ausfälle in der Bordelektronik, Abbruch des Aufklärungsfluges, Verlust der Koordinaten. Wie so oft in letzter Zeit waren wir uns nicht sicher, ob es ein Wahrnehmungsproblem war, also sogenanntes zufälliges Eintreffen gleichzeitiger Defizite, oder ob das Unerklärbare, "Es" dahinter steckte. Im Endeffekt war beides denkbar.

Li hatte so reagiert, wie es den universellen Gepflogenheiten entsprach: vorsichtiges Zurückziehen in gesicherte Bereiche, Abgleich der Eindrücke mit bereits Bekanntem, Herausarbeiten von Thesen. Letzteres war natürlich nicht seine Aufgabe, auch wenn er ausufernd spekulierte.

"Ich sage euch, ich bin nie sonderlich leichtgläubig gewesen, aber das, ..., das war mir nicht geheuer. Es hat in meine Steuerung eingegriffen". Li war ein guter Pilot, der sein Fluggerät kannte und beherrschte. "Mir macht es nichts aus, die manuelle Steuerung so oft wie möglich zu benutzen. Ich mag die Automatik nicht. Sie führt früher oder später zum Verlust des Gefühls für die Reaktionen der Maschine. Ich flog auch da manuell und ich versichere euch, es war, als ob ein Zweiter übernehmen wollte. Ich hatte Probleme, die Kontrolle zu behalten und die Wende einzuleiten!"

Die Daten zeigten in der Simulation der Abläufe einige Besonderheiten. Helmut meinte zwar, dass es genauso gut ein kleiner Fehler von Li hätte sein können, verursacht durch momentane Unaufmerksamkeit und seine Vorliebe für die manuelle Steuerung, aber dieser bestritt das vehement. "Nein, nein! Da hat etwas von außen eingegriffen. Es gibt da draußen noch Dinge, die wir nicht kennen. Mehr will ich dazu nicht sagen. Warten wir dazu die Analyse von der Erde ab."

Dafür sprach, dass wir alle, jeder Einzelne, die Existenz von Unerklärbarem bestätigen konnten, denn Li's Vorfall war ja nicht der einzige. Mir selbst war einige Tage vorher ebenfalls eine Merkwürdigkeit aufgefallen, die ziemliche Ähnlichkeiten aufwies. Ich hatte einen Flug zum weit entfernt liegenden Sektor 231 unternommen und dort geodätische Eigenheiten vermessen, für die wir noch keine Erklärung hatten. Ich hätte dort landen und ein Biwak am Boden einrichten können, um meine Arbeit vor Ort fortzusetzen. Andererseits wurde die Zeit für die Rückkehr knapp und ich erhoffte mir eine Entscheidung per Funk. Also setzte ich eine kurze Botschaft ab:

"Rückkehr oder Biwak in 231?" Ich wunderte mich bereits beim Sprechen über merkwürdige Verzerrungen in der Akustik. Der Audiotransmitter schien die Frequenzen falsch zu deuten und verschob alles einige Cent tiefer. Begleitet wurde die fremd wirkende Stimme, die aber doch meine eigene hätte sein sollen, von kratzigen Unterbrechungen. Erstaunlich war aber die Antwort, die etwa eine Minute später eintraf:

"Rückkehr oder Biwak in 231?" Dieses Mal akustisch einwandfrei. Ich versuchte es ein zweites Mal. "Rückkehr oder Biwak in 231?" Antwort: "Rückkehr oder Biwak in 231?"

Am Ergebnis änderte das nichts. Verzerrt als Frage hinausgeschickt und klar und deutlich als Antwort; ebenso wie die weiteren drei Versuche. Ich scannte die Funkfrequenz nach Interferenzen ab. Tatsächlich gab es partiell leichte Überlagerungen mit Inkrementen unbekannter Natur. Das konnten Bodenstrahlungen aus dem Gestein sein oder magnetische Einflüsse. Aber das erklärte nicht die Antworten. Was ich erhielt, war das, was ich abgab, sogar klarer und reiner. Eine Rückkoppelung. Ein Schwingkreis. Ein Echo.

Ich beschloss, den Flug fortzusetzen und leitete eine Wende ein, während ich mit einem schnellen Blick auf die Zielkoordinaten bemerkte, dass die Basisstation nicht mehr voreingestellt war. Datenverlust? Fehlbehandlung? Manipulation? Ich war doch der einzige Pilot, der dieses Gerät flog! Also peilte ich unsere Ortungssatelliten im Orbit an, nur zur Sicherheit, damit ich mich wenigstens auf die aktuelle Standortangabe verlasse konnte. Die Peilung dauerte quälend lange. Ich wurde unruhig und bemerkte eine ungewöhnliche Empfindung. Ich fühlte mich beobachtet.

Es gab keinen Grund zur Besorgnis, - eigentlich. Anhand des Sektorenrasters würde ich auf jeden Fall zur Basis zurück finden, auch wenn die diversen Funkoptionen endgültig ausgefallen sein sollten. Doch dann gelang die Ortung und sah vertrauenerweckend aus, weil sie den letzten Wert innerhalb des Sektors bestätigte. Mit einer schnellen Handbewegung schob ich den Zielfokus auf Sektor 0 und beschleunigte. Gedanken zogen durch meinen Kopf, während der Gleiter steil emporstieg zur Kursparabel.

Sektor 0 war eine durchaus willkürliche Definition. Es klang nach einer zentralen Lage; aber das war es nicht. Es war lediglich die Heimat der Basisstation. Sektor null lag irgendwo im mittleren Bereich der Nordhalbkugel. Wurden wir beobachtet? Von wem? Das persönliche, ungemütliche Gefühl, beobachtet zu werden, hatte sich verflüchtigt und auch die Erinnerung daran verblasste schnell, wurde nur noch durch meine Gedanken daran am völligen Verlöschen gehindert. Zu gerne befreiten wir uns von Unangenehmem, Unerklärbarem. Es war nicht willkommen. Spontan tauchte wieder die Erinnerung an Montagnolas "Es" auf, quasi auf Zuruf. Und beantwortete mir nicht die Frage, was Es war.

Es hatte auch bei diesem Vorfall keine endgültigen Erklärungen gegeben. Gemeinschaften wie unsere kleine Mannschaft auf Terremoines konditionierten sich normalerweise darauf, in solchen Fällen Erklärungsmuster zu verwenden. Das beruhigte in genügendem Maße. Und es war ja auch nichts passiert. Genauso wenig wie bei den vielen anderen Fällen.

Natürlich wollte keiner von uns an eine kriegerisch motivierte außerirdische Lebensform denken und dieser Begriff wurde tunlichst vermieden. Der Planet war unbewohnt und zeigte keine Spuren ehemaliger Besiedlung. Eigentlich.

Eigentlich deshalb, weil so mancher Fund, so mancher Ort, so manche natürliche Formation Assoziationen weckte. Assoziationen an kreative Kultivierung oder auf Hinweise, die das aktuelle oder ehemalige Vorhandensein von ausübender geistiger Tätigkeit nahelegen konnten. Konnten deshalb, weil sie allesamt auch etwas anderes, ganz natürliches darstellen konnten und auch darstellten, denn es handelte sich entweder um örtlich vorkommende Mineralien oder um örtlich vorhandene Naturprodukte, denn es gab Leben auf Terremoines.

Es würde also noch eine Art von Geisterglaube übrig bleiben; eine Vorstellung von noch präsenten mysteriösen geistigen Wesenheiten. Wesen, die sich durch Manipulation von Funkwellen und ähnlich anfälligen Übertragungsmedien bemerkbar machten. Ich selbst tendierte eher zu der Haltung, das Unerklärbare zunächst aus dem Bewusstsein zu schieben und es dort abseits irgendwo abzustellen, zur späteren Weiterverwendung. "Es" konnte dort überdauern, ohne weiter Aufmerksamkeit und Energie zu beanspruchen. Doch es war nicht aus der Welt. Es blieb Teil der Welt und lief Gefahr, mit neuen, zusätzlichen Attributen verbunden zu werden, immer, wenn wieder etwas Unerklärliches geschah.

Terremoines war einst als Testgebiet geplant worden. Die Grundlagen des dortigen Lebens waren günstig. Es gab Wasser, Atmosphäre, Sauerstoff; es gab Lebensformen, die ähnlich den Pflanzen Photosynthese beherrschten und praktisch die gesamte Oberfläche besiedelten. Es gab davon eine irrsinnige Vielfalt mit den erstaunlichsten Ausformungen und Fähigkeiten.

Wegen seiner entfernten Lage war Terremoines strategisch uninteressant, - noch. Die Testsituation bezog sich jedoch nicht auf konzeptionelle Nutzbarkeit, sondern auf Gesellschaftsform, oder Gesellschaftsformen. Getestet wurden (unter anderem) die Gemeinschaften, die man nach Terremoines schickte. Natürlich gab man ihnen Aufgaben, damit sie etwas zu tun hatten; durchaus wichtige Aufgaben, die man in Zusammenhang stellte mit einem hypothetischen "Terraforming", einer Vorarbeit für eventuelle Besiedlung. Im Raumfahrtdezernat war zwar in gewissen internen Kreisen bekannt, dass dies nur Vorwand für die Testgestaltung war, dass also eine Besiedlung überhaupt nicht zur Debatte stand, aber das wusste keiner von den Probanden. Auch mir wurde es erst lange Zeit später bei einer seltenen Gelegenheit vom Chef offenbart, als er nicht mehr ganz nüchtern war. Es rutschten ihm ein paar Worte zu viel heraus und als ihm klar wurde, dass er sich verplaudert hatte, setzte schreckhafte Ernüchterung ein und er trotzte mir ein Schweigegelübde ab, an welches ich mich nun, da sowieso alles längst bekannt ist, nicht mehr gebunden fühle.

Damals wussten wir also nicht, dass es um kybernetische Untersuchungen kleiner systematischer Gemeinschaften ging. Die "Inselsituation" kam dem Plan des Raumfahrdezernates sicherlich sehr entgegen und die Erkenntnisse, falls es solche gab, hätten im Hinblick auf "Terraforming" sicherlich Nutzen gebracht. Wie sich Systeme kleiner Gesellschaften verhalten, wie sie sich am besten regieren lassen, das sollte jeden interessieren, der im Bereich Volksgesundheit oder mentale Freisetzung von Kreativität arbeitet. Für mich wurde erst im Nachhinein deutlich, wie sehr sich solche kybernetischen Betrachtungen auf meine geistige Verfassung übertragen ließen. Die Grenzen des Ich, - die Grenzen der Auffassungsgabe der Gemeinschaft, Ich und Wir. Wir haben uns in unserer jahrtausendealten Kultur niemals von der gemeinsamen Vorstellung verabschiedet, das "Es", das Unerklärliche könnte ein Gott sein, wenn wir keine physikalische Erklärung finden.

 

Nadir, Josephine, George und Barbara waren tief gottesgläubige Menschen, während Karlow, Suzuki und Helmut strikt die Vorstellung eines Schöpfers barsch zurückwiesen und alles für erklärbar hielten, wenn nicht jetzt, dann später. Wir anderen verwendeten mehr oder weniger meine erwähnte Verschiebetaktik und setzten andere thematische Prioritäten. Trotz allem entstand gewissermaßen ein gemeinsamer geistiger Raum, der Platz für alle bot. Der Professor hätte es die "Schnittmenge der individuellen Ich-Überlagerungen" genannt.

 

Terremoines versetzte uns alle in einen nahezu kindlichen Zustand des Entdeckenwollens, denn alles war neu. Ein gewaltiger Ozean brandete ganz in der Nähe des Basislagers mit rhythmischem Rauschen an den Strand. Bei auflandigem Wind trieben Wolken von kleinen, flugfähigen Blättern dicht über den Wellen heran und landeten in den Dünen. Es war ein herrlicher Anblick, der ein Gefühl hervorrief, für das es auf der Erde keinen adäquaten Vergleich gab. Ein Maler hätte es malen wollen, ein Dichter hätte es zum Bestandteil einer Liebeslyrik verwendet, Komponisten hätten versucht, musikalische Ausdrucksformen dafür zu finden. Man hätte es für Romantik oder gar für göttliche Schönheit als Metapher hergenommen, aber es war alles das nicht. Das alles war kopfgemacht. Es WAR einfach, das genügte. Das Kind benutzt diese Dinge nicht, es staunt sich satt.

So war komplett der ganze Planet neu für uns, auch wenn wir das kindliche Staunen nicht mehr in reiner Form beherrschten.

Dann, später, ging es durchaus um Deutungen, Deutungshoheiten. Da entstand die eine oder andere Kontroverse zwischen den weltanschaulichen Lagern. Und dann entstand ein stillschweigendes Übereinkommen über die Sichtweise, die Deutung. Und diese war physikalisch-religiös. Physikalisch dort, wo es naturwissenschaftliche Erklärungen gab, religiös für die Unerklärlichkeiten, Es. Das stillschweigende Übereinkommen ergab sich aus den Gewichten der Individuen, was sich natürlich nicht auf das Gewicht in Kilo und Gramm bezog.

Wir wussten nicht, was das Raumfahrtdezernat aus all unseren Daten heraus destillierte für seinen Test. Vermutlich war auch das von den Gewichten geprägt, denn Gewichte, Gewicht, Wichtigkeit, Gravität, Schwere, Bedeutungsschwere wirkt stärker als tänzelnde Leichtigkeit. Ich weiß es auch heute noch nicht, denn die Kybernetik scheint keinerlei Fortschritte gemacht zu haben in Bezug auf politische Systeme. Der damalige Test und sein Nutzen für die Menschheit sind unbekannt geblieben. Vielleicht hat es auch ganz einfach nichts Erkennenswertes gegeben.

Jedenfalls muss Professor Montagnola an diesem Projekt beteiligt gewesen sein. Er erläuterte mir irgendwann, nach meiner Rückkehr von Terremoines ein neues Modell des Ich und seiner Grenzen. Ich fand einige Dinge darin verdächtig. Es war die Rede von Interferenzen, Störungen der Kommunikation und Steuerung innerhalb des Systems, die von einem "Unerklärbaren" an der Peripherie ausgingen. Doch sein Erklärungs-Modell war allgemein genug gehalten, um jeden Bezug auf unser Basislager als weithergeholt zu betrachten. Mittlerweile hatte er sich intensiver mit dem Ich auseinander gesetzt und vertrat die These, dass ein Organismus, ein System, eine "Einheit", die die Bezeichnung "Ich" trug, dies nur zur eigenen Stabilisierung tat, zur Abschottung gegen dasjenige, was es als "Nichtich" bezeichnete. In Wirklichkeit gäbe es dieses "Nichtich" nicht. Und logischerweise gäbe es daher auch das "Ich" nicht wirklich.

Ich erwiderte, es sei abgesehen vom Ich ja auch immer noch die Frage, was denn keine Illusion sei.

"Was Sie da äußern, mein lieber Freund, ist mehr, als der Verdauung gut tut. Die Verdauung ist und bleibt aber die Grundlage unseres Wohlempfindens, unseres Lebens. Der Stoffwechsel, also der Transport und die Gewinnung von benötigten Grundbausteinen für unseren Organismus durch die durchlässigen Membranen unserer Zellen ist Grundprinzip des Lebens."

"Ganz recht, Professor. Es scheint nicht nur im zellulären Maßstab so zu sein, sondern auch in größeren Organismen, Organisationen und auch in übergeordneten Systemen und Gesellschaften."

Er hob das Glas französischen Rotweins und prostete mir zu. Die Sonne ging soeben gelborange hinter den Hecken seines Gartens unter. Ich trank den Rest mit einem Schluck und erhob mich wackelig.

"Ich verabschiede mich dann, Professor. Ich habe noch einen längeren Heimweg und muss mir noch eine Fahrkabine rufen, die mich quer durch Berlin bringt. Der Abend ist mild und etwas Bewegung wird mir guttun und die Verdauung fördern."

Er nickte stumm und schenkte sich nach. Ein ultrakurzes Zwinkern im rechten Auge und ein blitzender Silberstrahl im Blick drückten seine Verbundenheit aus. Und seine Freundschaft. Und seine Dankbarkeit für meinen Besuch. Und die Erwartung auf ein ebenso erfreuliches Wiedersehen. Und alles ohne ein einziges Wort, lediglich durch eine chiffrierte Geste des Verstehens, des Verständnisses.

'Chiffrierte Botschaft', dachte ich auf dem Heimweg. So, wie die merkwürdigen Botschaften an der Peripherie unseres Wahrnehmungsbereiches auf Terremoines. Das schwache Gefühl des Beobachtetwerdens, die Berührungspunkte mit einem Unerklärbaren. Fanden sie nicht schon seit Jahrtausenden statt? Und würde jemals alles erklärbar sein?

 

 

Der Bohrturm

2. Der Bohrturm

 

Petrus war draußen im Gelände. Wir hatten Hinweise aus den Ultraschallabbildungen, dass es in Sektor 3 Metallvorkommen in 12 Meter Tiefe gab; vermutlich Kupfer. Wir hatten beschlossen, eine Tiefenbohrung mit geringem Durchmesser vorzunehmen und Petrus hatte sich dafür beworben. Er hatte ein pyramidenförmiges Stahlgerüst aufgesetzt und verankert. Es handelte sich um ein Allzweck-Vierbein und war nicht speziell für diesen Zweck konstruiert. Zweimal hatte es sich bereits als zu schwach gezeigt, daher wollte Petrus es mit reichlich Zusatzballast stabilisieren. Es gab genügend passende Steinbrocken, die er auf den unteren Querstreben und in den 3 Meter hohen Seitenfeldern stapeln wollte.

Hatte ich bereits erwähnt, dass es eine für unsere Lungen recht angenehm zu atmende Atmosphäre auf Terremoines gibt? Der Sauerstoffgehalt und die Güte der Reinheit waren sehr hoch und beförderten praktisch die erfreuliche Umsetzung von zuckender und schwitzender Muskelbewegung. Es gab niemanden im Team, der nicht freiwillig und mit Begeisterung so viel Zeit wie möglich für Aufenthalte im Freien verwendete, wo er mit Genuss die Brust vollpumpte und diese prickelnde, elektrisierende, zur Aktivität animierende Mischung verschiedener Düfte einatmete.

Wir vermuteten, dass es ihm primär um die körperliche Betätigung ging, denn es hätte einige andere Lösungen für diese Arbeit gegeben. "Lasst mich mal machen. Ich melde mich dann per Funk, wenn ich mich überschätzt habe und Hilfe benötige. Aber ich denken, da könnt ihr lange darauf warten."

Sektor 3 war von der Basis etwa hundertfünfzig Kilometer entfernt und wir hatten optischen Kontakt durch eine Bordkamera an seinem Gleiter, der direkt an der Bohrungsstelle stand. Gegen Abend fragte uns Helmut nach dem Fortschritt von Petrus' Einsatz, aber niemand hatte sich damit beschäftigt, denn es gab den ganzen Tag über keine Meldung von ihm. Plötzlich herrschte Verlegenheit. Wir entdeckten ihn nicht auf den übermittelten Bildern. Wir funkten ihn an, erhielten jedoch fünf Minuten lang keine Rückmeldung. Die Kameraaufzeichnung zeigte, dass er nachmittags seine Arbeit beendet hatte und dann aus dem Bildbereich verschwunden war. Wir versuchten, über Fernzugriff seine Bordkamera zu schwenken, erhielten jedoch sofort eine Abbruchsmeldung wegen inkorrekter Daten.

Ein Flugauge zu schicken wäre nur eine unzulängliche Maßnahme, also bot ich an, selbst dorthin zu fliegen und nachzusehen. Barbara schlug vor, zu warten. Petrus habe angekündigt, sich bei Problemen zu melden. Es gab doppelte Absicherung der Frequenzen und zusätzlich eine Reservehardware. Also könne man ihm zubilligen, Herr der Lage zu sein. Eine Übernachtung vor Ort sei ja sowieso ins Auge gefasst gewesen, falls notwendig. Sylvie widersprach ihr:

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Walter Gerten
Bildmaterialien: Walter Gerten
Tag der Veröffentlichung: 27.03.2017
ISBN: 978-3-7438-0489-0

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