I M P R E S S U M
Die Sternenbücher
Band 7 Tod eines Springers
von Walter Gerten
© 2015 Walter Gerten.
Alle Rechte vorbehalten.
Autor: Walter Gerten
info@smg-gerten.de
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Zustimmung des Autors nicht vervielfältigt, wieder verkauft oder weitergegeben werden.
Text, Zeichnungen, Bilder und Fotos von Walter Gerten. © 2015 Walter Gerten
Der Autor:
Walter Gerten lebt seit vielen Jahren in der ländlichen Südeifel. Als Autor betätigt er sich seit dem Jahr 1999. In der Anfangsphase, ab 2000 bis 2003 nahm er an einer intensiven Schreibwerkstatt teil, es folgten Lesevorträge. Daneben betreibt er seit dem Studium Malerei und Grafik, die ebenfalls teilweise als Illustration Einzug in seine Schriftwerke findet.
Weitere Romane:
Manfred Wilt und der Tote am Fluss
Manfred Wilt und die Rocker
Der Bote des Zarathustra
Monte Nudo
Unterwegs mit Tom Kerouac
Ich bin ein Schiff
Die Sternenbücher 1 Professor Montagnola
Die Sternenbücher 2 Akba
Die Sternenbücher 3 Die dunkle Seite des Mondes
Die Sternenbücher 4 Der Sinn des Lebens
Die Sternenbücher 5 Planet der Phantome
Die Sternenbücher 6 Das Nichts
Die Sternenbücher 7 Tod eines Springers
Die Sternenbücher 8 Paradise2
Die Sternenbücher 9 Solitan
Das Buch
Ein geheimer Plan des Professors Montagnola führt den Protagonisten auf den Mond. Im dort stattfindenden Seminar einer Sekte wird ihm erst spät klar, dass er völlig unvorbereitet zum Spielball der Interessen wird. Inmitten einer Selbstfindungsgruppe wird er als Außenseiter einem Thema nähergeführt, das sich ihm bisher nicht erschlossen hatte: die körperliche Seite göttlichen Empfindens.
Doch sein geheimer Auftrag ist eng verknüpft mit einem befürchteten Anschlag auf den Sektengründer, dessen Besuch man erwartet.
Die Handlung und die Namen der Personen sind frei erfunden.
Dieses Buch erhebt keinerlei Anspruch auf Richtigkeit im physikalischen, mathematischen, politischen, historischen, wissenschaftlichen, religiösen, philosophischen oder medizinischen Bereich.
Einführung
Teil 1 Schach
Teil 2 Der Springer fällt
Teil 1
1. Felder
Ein kurzer Blick durch das linke Seitenfenster; ein Anblick, der mich bannte, meinen Kopf fixierte, die Pupillen fesselte. Ich war im Anflug auf den Raumflughafen nördlich von Berlin. Alle Funktionen meines Gleiters wurden vom Bordrechner in Zusammenarbeit mit der Bodenkontrolle gesteuert. Mein Gesicht wurde von der Kabinenkamera oben im Daten-Panel gescannt, um die zusätzlichen Gedankenimpulse meines Gehirns zu berücksichtigen. Bei unklaren Situationen bat der Rechner mich um eine klärende Bestätigung, beispielsweise, falls ich außerplanmäßig die Landung würde abbrechen wollen.
Der Ausblick jedoch, der meinen Blick eingefangen hatte, würde mich allenfalls zu einem Verharren, einem ausführlichen Betrachten, einem unbestimmten Träumen und Sinnen verleiten, was natürlich nicht möglich war.
Doch das Bild brannte sich ein, überlagerte die Ansicht des Kabineninneren, entwickelte eine Kopie in meinem Kopf, hinter den Augäpfeln, an der Rückwand des Schädels, als Schautafel vor dem unendlich scheinenden Band meiner Gedanken.
Dort unten, an der Peripherie der platzgreifenden Infrastruktur unserer Raumfahrttechnologie zog sich an einer harten, gradlinigen Grenze eine enorm fruchtbare Vegetation grünschillernd nach Westen, unterbrochen von helleren Wiesenflächen, kleinkarierten Ackerbauflächen und wenigen, kaum zu erkennenden Gebäudedächern.
Ich wusste, dass es dort eine durchaus ernst zu nehmende dörfliche Ansammlung von Landbau treibenden Aussiedlern gab, die erfolgreich Abstand vom zivilisierten Umfeld Berlins eingenommen hatten, um einen differenten Lebensplan zu verfolgen.
Das war mir längst bekannt; was mich allerdings bei diesem ungewohnten Anblick aus meiner Kabine heraus so verblüffte, war eine optisch markante Trennline zwischen zwei höchst unterschiedlichen menschlichen Realitäten, Daseinsformen. Dieser betonierte Auswuchs des Raumhafens, der verbindenden Fahrbahnen, der beigeordneten Gebäudezonen, zog sich in gerader südlicher Linie bis nach Berlin, setzte seine Schachtelstruktur in Richtung Ostsee fort und fügte sich dabei in ein Netz schachbrettartiger anderer Zivilisationsmuster ein.
Hart getrennt davon die wuchernden Grüntöne der Wälder, Wiesen und Felder, in denen sich kleine Gehöfte versteckten, von deren Existenz vermutlich so mancher Stadtbewohner keinerlei Kunde hatte oder gar dachte, solche Realitäten gehörten seit Jahrhunderten der Vergangenheit an.
So wie im kleinen, menschlich-individuellen Bereich separate Wirklichkeiten existierten, so zeigten sich diese auch in großen Betrachtungsrastern. Je mehr ich darüber nachsann, desto deutlicher wurde mir, dass alles Leben auf der Erde in viele viele "Wahrheitszonen" zerlegt war, die winzig klein oder aber systemübergreifend sein konnten, je nach Betrachtung des Betrachters. Ein Schachbrett, dessen einzelne Felder wiederum eigene Schachbretter waren, deren Felder wiederum unterteilt waren, bis hinab zu einzelligen Lebewesen oder bis zu den Molekülen und Atomen: Alles Systeme, eigene Funktionswelten mit Kräften, Bewegungen, Tendenzen, eigene Welten innerhalb und neben anderen Welten.
Mein Bordrechner verlangte eine Bestätigung seiner Steuerung; ich nickte. Der Raumgleiter ging in eine langgestreckte Anflugkurve, sackte leicht durch und korrigierte weich die Höhe mit einem kaum spürbaren Antriebsschub. Bald hatte die Erde mich wieder und würde mich aufnehmen, einfügen, akzeptieren und sich meiner bedienen, so wie ich mich ihrer bediente. Figur auf dem Spielfeld.
Es war eine leichte aber wichtige Aufgabe gewesen, die ich in den letzten Wochen erledigt hatte. Beobachtung der Wetterphänomene vom Mond aus. Unsere Mondstation hatte seit einigen Jahren eine primäre Funktion: Kontrollstützpunkt zu sein für die Überwachung staatlicher Eingriffe in die atmosphärischen Nutzaspekte. Dazu gehörte einerseits die noch nicht endgültig geregelte Energiegewinnung durch die der Uno angeschlossenen Länder, andererseits ging es aber auch neuerdings um Vorteile, die durch Niederschläge und ihre mittlerweile beeinflussbaren Ereignisschwerpunkte zu erzielen waren. Speziell die unter Trockenheit leidenden und gegen Verteilungsschlüssel revoltierenden Regionen hatten Wege eingeschlagen, die der Uno seit längerer Zeit missfielen. Die Klimazonen verschoben sich immer noch, und mit ihnen die das Wetter bestimmenden Hoch- und Tiefdruckgebiete.
Meine Beobachtungen bezogen sich aber auf die menschlichen Aktivitäten. Dafür hätte man auch die üblichen Roboter-Überwachungssysteme benutzen können, die ja ebenfalls vielfältig im Einsatz waren, unter anderem auch von der Uno. Ich als Mensch konnte allerdings meine Daten, meine Statistiken, meine Schlussfolgerungen und selbsttätig weiterführenden Untersuchungen direkt, auf althergebrachtem Weg mündlich oder anhand meiner Papiere selbst übermitteln. Ja, man hatte kein Vertrauen mehr in die Datenübertragungswege, auf denen die automatischen Überwachungssysteme ihre Ergebnisse übermittelten.
Es hatte eine Vielzahl von Übertretungen gegeben, die ich registriert hatte. Das ganze System der gemeinsam beschlossenen Verhaltensregeln war untauglich. Unter der Oberfläche globaler Diplomatie taten die Länder, was sie wollten. Und nicht nur sie; Kirchen, Nichtregierungsorganisationen, Verbände und Interessengruppen kochten zusätzlich ihr eigenes Süppchen. Am schlimmsten waren aber diverse marodierende Einheiten in verschiedenen Grenzgebieten, die regierungsunabhängig eigene Ziele verfolgten und teilweise außer ihrer Bewaffnung über extrem fortschrittliche Technologien verfügten.
Mein direkter Weg nach der Landung führte mich zum Chef, niemand sonst durfte mich vorher kontaktieren. Ich traf ihn in seinem Büro auf dem Raumhafengelände und wir sichteten gemeinsam drei Stunden lang meine mitgebrachten Unterlagen, bevor ich endlich zu Akba nach Hause fahren konnte. Sie arbeitete im Garten und blickte erfreut auf, als ich neben unserem kleinen Bauernhaus durch das knarrende Tor zu ihr trat. Ihr Auge erforschte neugierig mein Gesicht, während sie lächelnd meine Wangen streichelte, verharrte dann in meinem Blick und traf mich dort, seltsam fordernd und lockend. Ihr Federschopf hob sich und fächerte sich schillernd auf, blaue und rote Farbkaskaden in wogendem Puls ausstrahlend wie Brechungen in einem Sommerregen. Dann küsste sie mich.
2. Schach
Einige Tage später tauchte Frank bei uns auf. Er hatte seinen Besuch angekündigt und meine erste Vermutung war, dass er einen neuen Auftrag brachte. Ich war noch in der Abstandsphase; das bedeutete, dass ich meine Zeit frei einteilen und verbringen konnte, um mich nach dem Raumaufenthalt wieder an die Erde, ihre atmosphärischen Bedingungen, den Tagesablauf und meine private Umgebung zu gewöhnen. Eine Vorbereitung auf neue Aufgaben innerhalb dieser Zeit war ungewöhnlich.
Frank hatte jedoch eine andere Mission. Er lud mich auf einem kurzen Ausflug zu Professor Montagnola ein. "Der Chef meint, du solltest dich mit dem Professor treffen. Es geht um eine Bilanz. Soviel ich verstanden habe, meint der Chef, Montagnola könnte das besser mit dir besprechen als er selbst. Der Prof hat irgendeine Aufgabe im Zusammenhang mit diesem Beobachtungsprojekt. Wenn du Zeit hast, bringe ich dich hin."
Frank war ein langer und dünner Typ. Er wirkte immer etwas verlegen und ungeschickt, aber man konnte sich auch täuschen. Genauso gut mochte es nur eine Masche sein, um in Ruhe gelassen zu werden und besseres Wissen und tiefere Einblicke für sich zu behalten. Er drehte seinen altmodischen Hut zwischen den Händen, während er mir in der Küche gegenüber saß und wartete auf meine Antwort.
"O.K. Ich verabschiede mich kurz von Akba, dann können wir los."
Ein Anruf des Professors hätte genügt, aber nun war Frank dabei. Vermutlich war eher das sein Auftrag. Dabeisein, zuhören, mitteilen, berichten. Es gab also immer noch ein gewisses Misstrauen dem Professor gegenüber. Oder mir?
Montagnola bat uns in sein Wohnzimmer und führte uns zu dem wuchtigen Schreibtisch vor dem Gartenfenster, schob uns zwei Stühle zurecht und stellte drei Gläser mit Kromath auf die dunkle Eichenplatte. Frank setzte sich und rückte sogleich einige Dezimeter beiseite, um seine Rolle zu unterstreichen. Der Professor schob seine Brille etwas nach unten und musterte ihn amüsiert. Seine kleinen dunklen Pupillen lächelten, als er mir seinen Blick zuwandte.
"Nun, mein lieber junger Freund. Sie sind wohlbehalten zurück, wie ich erfreut feststelle. Der Chef hat mich bereits informiert, aber so einige Dinge würde ich doch lieber mit Ihnen selbst besprechen. Wie Sie wissen, genieße ich unsere Gespräche gewöhnlich ganz besonders und möchte mir dieses Vergnügen nur ungern durch eine Ansprache des Chefs ersetzen lassen. Immerhin ist er stellvertretend durch unseren guten Frank anwesend. Aber das soll uns nicht weiter stören. Wir sind ja keineswegs an einer konspirativen Planung interessiert. Nicht war, mein lieber Frank?"
Frank räusperte sich und nahm einen minimalistischen Schluck aus seinem Glas. Immerhin legte er den Hut beiseite und schlug die Beine übereinander. Ja, er knöpfte sich sogar die Jacke auf und legte leger den Arm über die Stuhllehne, alles ohne direkten Blickkontakt und irgendeine wörtliche Äußerung.
Zu meinem Erstaunen sah ich, dass der Professor ein Schachbrett auf dem Schreibtisch stehen hatte und sich offenbar mitten in einem Spiel mit sich selbst befand. Ich hatte nicht gewusst, dass er das Spiel ausübte. Ja, ich meinte mich sogar zu erinnern, dass er hier und da die eine oder andere abfällige Bemerkung darüber verloren hatte. Sofort kam mir meine Assoziation während des Landeanflugs in Erinnerung. Lebensbereiche, scharf getrennt und nebeneinander existierend.
Aber dieses Schachbrett erschien mir anders als gewöhnlich. War es größer oder anders mit Figuren bestückt? Einige Spielfiguren waren bereits gefallen, lagen umgekippt am Rand, weiße und schwarze.
"Ziel der Strategie ist der Stillstand des Königs. Wie Sie wissen, mein lieber Freund, können alle anderen Personen, oder sagen wir Figuren, auf dem Feld fallen. Der König, der Repräsentant des Gegners, wird in die Bewegungslosigkeit gezwungen, gelähmt. Ist dies nicht eine Metapher für die Psychologie des Kampfes?"
"Was stimmt nicht an dem Brett, Professor? Es kommt mir anders vor, aber ich weiß auch zu wenig darüber, um es nachzählen zu können."
"Tatsächlich ist bereits das Brett selbst eine Metapher. Aber setzen wir uns. trinken Sie einen Schluck und betrachten wir den Spielstand. Sie haben doch Zeit, oder?"
Ich nickte, während ich aus der sitzenden Perspektive bemerkte, dass Frank in eine Art Dämmerzustand getreten war. Seine Augen waren zwar halb geschlossen und auf den Schreibtisch gerichtet, aber man hatte das unterbewusste Gefühl, dass er sich entfernt und zurückgezogen hatte. Montagnola warf ebenfalls einen kurzen Blick über den Brillenrand und konzentrierte sich dann wieder auf das schwarz-weiße Spielfeld.
"Wir haben hier zwei Felder mehr in beiden Richtungen. Dadurch wird das Festsetzen zumindest hinausgezögert, wenn nicht gar unwahrscheinlich. Aber so weit bin ich noch nicht, mein Lieber. Dazu braucht es noch ein wenig Überlegung. Übrigens, um zum Thema unserer Begegnung zum kommen, gibt es durchaus einen Zusammenhang zu Ihrer Arbeit."
"Nun ja, wo gibt es diesen nicht? Alles und Jedes fällt unter die Macht- und Einflussbereiche derjenigen, die ihre Aktionsbereiche aufteilen, auch global."
"Vielleicht sollten wir nicht gleich global denken. Lassen Sie mich es so sagen: Jedes Lebewesen und auch die sogenannte unbelebte Welt ist mit diesem Spielfeld vergleichbar. Systeme, Organismen, Strukturen, Stoffe, Welten sind ähnlich diesem Spiel aufgebaut. Was wären Sie, mein Lieber, Ihre Psyche, Ihr Körper, Ihre Seele ohne das Ich, den König? Ein Zombie!"
Er legte sanft den weißen König auf die Seite als Symbol für ein Ende des Spiels; dann stellte er ihn wieder an seinen vorherigen Platz. Ich dachte über seine Betrachtungsweise nach. Wenn der König Teil meiner Psyche war, was waren dann die anderen Figuren? Aktivität (Springer), Spontaneität (Läufer), Standhaftigkeit (Turm), Lust (Königin), Kraft (Bauern)?
"Verstehen Sie? Alle dienen dem Ich. Der König ist der Goldschatz, der Antrieb für alle. Das langsame und schwerfällige Zentrum, um das alles kreist. Aber warten Sie ab, dieses Spiel hat noch eine Überraschung parat. Wenn Sie dieses Brett als Ihr oder Franks Psychosystem verstehen", er schielte über den Brillenrand zu Frank hinüber, der sich langsam etwas vorgebeugt hatte und interessiert die Konstellation der Figuren betrachtete, " dann sollten Sie bedenken, dass es über- und untergelagerte Spielfelder gibt."
Ich verstand nicht, und auch Frank kratzte sich am Hinterkopf. Der Professor zog ein kleines, flaches Kästchen aus der Hosentasche und betätigte einen von drei kleinen Druckschaltern, die sich an seiner ansonsten glatten Oberseite befanden. Ein merkwürdiges Schimmern entstand über dem Schreibtisch und dann schienen sich die Schachfiguren mit einer Art Aura zu umgeben. Es sah so aus, als ob jede einzelne Figur einen zweiten, deckungsgleichen holografischen Bruder erhielte. Jetzt erkannte ich auch den Unterschied zum normalen Schachspiel: Die zusätzlichen Reihen bildeten bereits die Randbezirke zu jeweils benachbarten, rein holografisch projizierten Spielbrettern, die sich wiederum durch benachbarte durch den gesamten Raum fortsetzten. In Tischhöhe schwebte ein unendlich scheinendes Feld aus nebeneinander gelagerten Lichtschachspielen. Der Professor betrachtete unsere erstaunten Gesichter und wartete, bis wir begriffen.
"Was Sie hier sehen, meine Herren, ist ein Modell interagierender Spielfelder. Jedes ist von dem Nachbargeschehen abhängig und beeinflusst es seinerseits. Wenn Sie das verstanden haben, kann ich zur nächsten Ebene übergehen."
Er betätigte den zweiten Schalter. Einige Dezimeter über der holografischen Projektion breitete sich nun eine zusätzliche Schicht im Raum aus, in der sich ein zweites Schachspiel aufbaute. Jedes Feld dieser Ebene, egal ob schwarz oder weiß, bestand aus einem kompletten Spiel der darunter schwebenden Schicht. Gewaltige Türme, Springer, Damen, Bauern, Läufer oder Könige spielten dort ein zusätzliches Spiel. Wir hoben die Köpfe und versuchten, einen Überblick über diese neue Szenerie zu gewinnen, aber es war nicht möglich. Ich ahnte, dass auch dieses Spielfeld wiederum Nachbarn im gleichen Maßstab neben, vor und hinter sich hatte.
"Moment, bevor Sie sich die Hälse ausrenken noch dieses." Der Professor betätigte den dritten und letzten Schalter.
Zunächst bemerkten wir keine Veränderung. Frank sah mich ratlos an und drehte dann den Kopf zum Professor, der auf das ursprüngliche Schachbrett auf dem Schreibtisch deutete. Dann bemerkte auch ich es:
Jedes einzelne Feld war nun unterteilt durch winzige Reihen schwarzer und weißer Felder, auf denen Miniaturfiguren jeweils wieder in eigenen Konstellationen im Spiel begriffen waren. Frank zog eine Brille aus der Jackentasche und setzte sie auf die Nase. Ich entdeckte einen Schweißtropfen an seiner Stirn. Vermutlich bemühte er sich bereits um eine geschickte Formulierung, die dem Chef seinen späteren Bericht verständlich machen sollte. Zweifellos war Franks Ich, sein König, von den Zügen des Chefs abhängig und agierte hier, in des Professors Arbeitszimmer auf einem Spielfeld, dessen Geschick von Montagnola abhing. Doch was war meine Rolle in diesem Spielsystem? Auch darauf würde mir der Professor eine Antwort, seine Antwort, geben.
"Nun, genug gestaunt, meine Herren." Er schaltete die Projektionen wieder aus und steckte das Kästchen in die Tasche. "Nur ein kleiner Taschenspielertrick. Niemand kann wirklich noch ein Spiel solchen Ausmaßes spielen."
Er lächelte und trank einen Schluck aus seinem Glas. Sein Blick wanderte träumerisch zum Gartenfenster. Draußen schien die Sonne, Vögel zwitscherten und Schmetterlinge flogen von Blüte zu Blüte. Von Feld zu Feld ...
Er sprang auf und schlug vor, wir sollten unser Gespräch im Garten fortsetzen. Es sei zwar unwahrscheinlich, aber eventuell könne er bei etwas mehr Licht und Sauerstoff noch heute auf den Punkt kommen. Er hoffe, dass er unsere Zeit nicht all zu sehr überstrapaziere. Frank schüttelte müde den Kopf, während er aufstand und sein Glas griff. Ich lachte.
"Ihr Garten war noch immer für eine Aufhellung gut, Professor."
Montagnola deutete mit der Hand einmal im Carré um seinen Garten herum, als wir dann zu dritt an dem klapperigen Metalltisch saßen. "Ebenfalls ein Schachbrett. Viele einzelne Organismen mit ihren Spontaneitäten, Aktivitäten, Kräften und Lüsten. Viele einzelne Reviere, Kräfteverschiebungen, Gemeinschaften. Spielzüge aus dem Versteck heraus oder offen. Daneben andere Spielfelder, wir drei, die Vegetation, die Straße, die Stadt."
"Darf ich Sie etwas fragen, Professor?" Frank schob den Hut zurück, den er wegen der Sonne aufgesetzt hatte.
"Aber natürlich, mein lieber Frank!"
"Mir ist diese Betrachtungsweise neu und ich frage mich nach dem Nutzen. Was hat man von einem solchen Verstehen der Ereignisse, wenn man einmal annimmt, dass es sich tatsächlich so verhalten würde?"
"Ganz einfach: Versteht man die Zusammenhänge, versteht man die Gründe für Entscheidungen und Vorgehensweisen. Und da sind wir auch schon nahe bei unserem Thema. Unser mutiger Raumpilot hier, der soeben von einer eher einfachen Mondmission zurückgekehrt ist, liefert Beobachtungen ab, deren Auswertung der Behörde unterliegt, für die meine Wenigkeit zeitweise arbeitet, obwohl ich altersbedingt längst nur noch Rosen züchten sollte."
"Was hat denn der Mond mit dem Schachspiel zu tun? Ich meine, natürlich ist derjenige, der einen größtmöglichen Überblick über das Spiel auf der Erde hat, in einem gewissen Vorteil, wenn er seinen nächsten Zug plant. Aber diesen Überblick haben doch alle, - und alle wissen das. Bei dieser Mission kommt eine besonders hohe Geheimhaltungsstufe dazu. Was lässt sich dadurch zusätzlich auswerten und umsetzen?"
"Die Betrachtungsweise der Vorgänge ist eine andere, und diese soll geheim bleiben. Es gibt so oder so nur begrenzte Möglichkeiten, seine Figuren zu ziehen und zu reagieren, selbst wenn sich das Spielfeld auf mehrere Ebenen um ein Vielfaches an Figuren erweitert. Entscheidend ist das Wissen um einen speziellen Aspekt des Spiels."
"Und der wäre?"
Der Professor sah mich an und grinste. Ich verstand. Hier gab es gegenüber Frank keine Möglichkeit der Geheimhaltung mehr. Auf welchen Spielfeldern er Einfluss hatte oder selbst gelenkt wurde, wussten wir nicht zur Gänze. Immerhin war er Vertrauter des Chefs und dessen rechte Hand. Der Chef wiederum war Spielfigur der Regierung, die ihrerseits in Interessengemeinschaften eingebunden war, wie die Uno beispielsweise, die Auftraggeberin der Mission war.
"Unsere Frage, mein lieber Frank, ist, ob es überhaupt Könige gibt, oder ob sie nur Platzhalter für die Interessen der anderen Spielfiguren sind. So, und nun überlegen Sie. Natürlich gibt es Könige im psychischen System: das Ich. Übergreifend ist das der gesellschaftliche Konsens, das Wir. Global aber wird das Wir immer wieder unterlaufen, aus Eigeninteressen, aus dem Sinn des Spiels heraus, denn es ist ein Wettkampf. Schach strebt nicht das Patt an, sondern den Sieg. Wenn nun global kein Sieg mehr möglich ist, weil es ein global organisierendes Wir gibt, die Uno, dann verliert der König seinen Sinn."
Ich räusperte mich und beugte mich vor. "Was, wenn die Uno nicht das ist, was sie vorgibt?"
"Dann, mein lieber Freund, dann setzt der Nutzen unserer Betrachtungsweise ein. Wenn die Einflussbereiche des Königs über sein eigenes Spielfeld hinausreichen, und wenn er selbst unter Einflüssen seiner Umgebung, seiner Nachbarschaft steht, dann muss jeder einzelne Zug anders bewertet werden, als wir es zu tun gewohnt sind. Und dann wird an bestimmten, vorher schwer einzuordnenden Zügen sichtbar, ob ein Ich oder ein Wir agiert."
Frank lehnte sich zurück und streckte die Beine. Vermutlich genügte ihm diese einfache Formel, weil sie dem Chef gut vermittelbar sein würde. Ich sah seinem Gesicht förmlich an, wie er zufrieden einen imaginären Aktendeckel schloss und in die Schublade schob. Ich selbst zweifelte noch an des Professors Worten. Das war mir zu einfach. Da steckte sicherlich noch mehr dahinter. Der Aufwand, den er mit der alten Schachspielkunst betrieben hatte, ließ mich vermuten, dass er an einer ganz eigenen, professoralen Theorie arbeitete, die er wie so oft in ein aktuelles wissenschaftliches Projekt wie das der Raumbehörde einschleuste und dabei eigene Ziele verfolgte.
Also suchte ich nach einer Möglichkeit, Frank los zu werden und das Gespräch alleine mit Montagnola fortzusetzen. Offenbar hatte auch dieser bereits ähnliche Pläne verfolgt und erklärte abschließend lang und breit in ausufernden Formulierungen ein Kontrollprogramm, das er selbst entwickelt hatte und mit welchem meine mitgebrachten Daten auf entsprechende Hinweise hin kontrolliert werden konnten.
Frank bot mir an, mich nach Hause zurück zu bringen, aber ich lehnte dankend ab mit dem Hinweis, noch eine Weile privates Geplauder mit dem Professor vorzuziehen. Dann packte er die beiden Datenträger ein, die Montagnola vorbereitet hatte und verabschiedete sich. Er hinterließ den Eindruck, nicht selbst zum Begreifen all dessen befähigt und berufen zu sein, das er gehört und gesehen hatte, aber am Zielort seiner Fahrt den geforderten Mitteilungsauftrag erfüllen zu können. Der Chef selbst, Empfänger dieser Mitteilungen, befand sich bereits seit Tagen in wichtigen Besprechungen mit Uno-Botschaftern und hoffte laut Frank, in den nächsten Tagen über
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Walter Gerten
Bildmaterialien: Walter Gerten
Tag der Veröffentlichung: 21.09.2015
ISBN: 978-3-7396-1487-8
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