Cover

Einleitung

IMPRESSUM

 

Ich bin ein Schiff

Historischer Essay

 

von Walter Gerten

© 2014 Walter Gerten.

Alle Rechte vorbehalten.

Autor: Walter Gerten

info@smg-gerten.de

Dieses E-Book, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne

Zustimmung des Autors nicht vervielfältigt, wieder verkauft oder weitergegeben werden

Text, Zeichnungen, Bilder und Fotos von Walter Gerten. © 2014 Walter Gerten

 

 

 

Der Autor:

Walter Gerten lebt seit vielen Jahren in der ländlichen Südeifel. Als Autor betätigt er sich seit dem Jahr 1999. In der Anfangsphase, ab 2000 bis 2003 nahm er an einer intensiven Schreibwerkstatt teil, es folgten Lesevorträge. Daneben betreibt er seit dem Studium Malerei und Grafik, die ebenfalls teilweise als Illustration Einzug in seine Schriftwerke findet.

 

Weitere Romane:

 

Manfred Wilt und der Tote am Fluss

Manfred Wilt und die Rocker

Der Bote des Zarathustra

Monte Nudo

Die Sternenbücher 1 Professor Montagnola

Die Sternenbücher 2 Akba

Die Sternenbücher 3 Die dunkle Seite des Mondes

Die Sternenbücher 4 Der Sinn des Lebens

Die Sternenbücher 5 Planet der Phantome

Die Sternenbücher 6 Das Nichts

 

Das Buch:

 

Kurz vor der Kriegserklärung Napoleons an König Wilhelm von Preußen 1870 kreuzt ein Segelschiff im Mittelmeer und gerät in die Geschicke der Zeitenwende. Gesellschaftliche, wissenschaftliche, politische, technologische und philosophische Umbrüche bestimmen den Geist des auslaufenden Jahrhunderts und gleichzeitig die Konstellation an Bord.

Forschungsaufträge, Handelsfahrten, Spannungen unter den Matrosen, Meuterei und reine Selbsterhaltung gegen die Unbilden der Natur und angesichts nationenübergreifender Ränkespiele bestimmen die Wege des Schiffes.

 

Die Handlung und die Namen der Personen sind frei erfunden.

Dieses Buch erhebt keinerlei Anspruch auf Richtigkeit im physikalischen, mathematischen, politischen, historischen, wissenschaftlichen, religiösen, philosophischen oder medizinischen Bereich.

 

Inhalt:

 

Einleitung

Kapitel 1 Das Schiff

Kapitel 2 Delphi

Anhang

 

 

 

 

 

Das Schiff

 Kapitel 1 Das Schiff

 

Ich bin ein Segelschiff. Ich segle durch die Welt.

 

Keiner von diesen großen, eindrucksvollen Dreimastern, sondern ein schmaler, unauffälliger und schneller Zweimaster, aber durchaus geeignet für die Ozeanstrecken mit langer Dauer.

Die Mannschaft ist gelinde gesagt etwas launig, bunt gemischt und mit der Neigung behaftet, von Zeit zu Zeit in Kleingruppen zu zerfallen, die untereinander durchaus heftig streiten und diskutieren; unter schwierigen Situationen sogar über den Sinn und Zweck und die Umsetzung der Tour selbst.

 

Der Kapitän ist oft lange Zeiten nicht an Deck. Manche behaupten, sie könnten nur noch unterbewusst überhaupt eine Erinnerung an seine Existenz empfinden. Andere vermuten seine Gegenwart überall, wie ein Rhizom in den Schiffsplanken oder eine Qualität des Schiffes selbst.

Der Navigator, der den meisten Kontakt zum Kapitän hat, steht in schlechtem Ruf. Man munkelt, er habe keine tiefgreifende Ahnung von seiner Profession, denn die Route scheint manchmal alles andere als gradlinig.

Der Maat ist dick, gutmütig, aber auch autoritär. Man nennt ihn ‚Doktor', weil er die medizinische Versorgung übernommen hat. Er repräsentiert gegenüber der Mannschaft die Hierarchie, sein Gebrüll bringt alle widerspruchslos auf Trab und kleinlaut hetzen alle an ihren Platz.

 

All diese Männer auf dem Schiff agieren dann wie ein Körper, wie eine einzige Maschine. Lediglich der Anarchist, der sich das Recht herausnimmt, alles infrage zu stellen, seine Wut und Renitenz auszuleben mit ärgerlichem Chaos, fällt dann noch auf. Aber auch er ist Teil des Ganzen, wird akzeptiert und sein Beitrag zum Leben an Bord gehört dazu, ist nicht wegzudenken.

 

Einmal kreuzte ein anderer Segler in der Nähe. Wenn wir die Signale richtig deuteten, behauptete die Mannschaft, wir seien völlig abseits der richtigen Gewässer. Sie boten uns gar ihren Lotsen an, obwohl sie selbst weit ab jeglicher Häfen waren. Er hätte kompetentes Fachwissen, er sei mit einem uralten Buch ausgestattet, welches die rechte Route vorgebe. Wir lehnten dankend ab und kreuzten weiter auf der Suche nach förderlichen Winden.

 

Doch zurück zur Mannschaft. Da gibt es die kräftigen, muskulösen Matrosen, denen man die Freude an ihrem Körper ansieht. Bei jeder Gelegenheit lassen sie die Muskeln spielen, erfreuen sich am Gelingen gewaltiger, an die Grenzen ihrer Kräfte gehender Aktionen. Wie im Rausch stürzen sie sich in die Arbeit, klettern in die Wanten und singen im Takt ihrer Handgriffe; synchron wie die silbrig schillernden Fischschwärme dicht unter der Wasseroberfläche, die das Schiff manchmal begleiten. Unermüdlich pulsiert der vielarmige Mannschaftskörper, bis der Wind durch die Seile pfeift, die Segel bläht und uns beschleunigt, bis der Bug sich hebt und der pockennarbige Rumpf sich aus dem Wasser zu befreien scheint, abheben will in den Äther. Raue Kehlen schmettern die Begleitmusik, hell leuchtende Augenpaare jubeln sich zu; Euphorie beseelt prickelnd das ganze fliegende Zuhause, eins mit den Elementen seiner wilden Welt.

 

Ganz anders die Stimmung an Bord, wenn Flaute herrscht. Unablässiges Grummeln und Schimpfen beim Deckschrubben. Flüche und Pöbeleien, unwillige Wutausbrüche und ohnmächtige Lethargie wechseln sich ab, belasten die Gemüter und dämpfen jegliche Hoffnung. Dann wieder spielt jemand den Clown, den Tanzbär, reizt die Stumpfsinnigen zu Ausbrüchen von langersehntem Humor und kindlichem Spieltrieb. Rangeleien werden inszeniert, Tänze improvisiert, Gesänge und Erzählungen angestimmt.

Der 'Philosoph' überwindet seine Schwermut und schart so manches Grüppchen um sich, während er sie mit Spitzfindigkeiten und Aphorismen fesseln will. Dann taucht auch manchmal unerwartet der Navigator auf und beteiligt sich an den Gesprächen. Er zeigt uns die Sterne bei Nacht, erklärt uns die Strömungen bei Tage und bietet Einblicke in seine Kunst. Er diskutiert mit dem 'Philosophen', er argumentiert mit dem 'Denker', er deutet Ziele und Zwischenziele an und kalkuliert die Strecke. Jetzt ist nicht die Zeit der träge wartenden Kämpfer, sondern die der ruhig und melancholisch sinnenden Denker und Poeten.

 

Abends, im Schein der Tranlampe werden Erinnerungen hervorgeholt, Märchen erzählt von vergangenen Heldentaten, von abgründigen Strudeln und von unheimlichen Inseln. Liebesgeschichten lassen die Gesichter glänzen, Sehnsucht nach Zärtlichkeit und das Verlangen nach Körperlichkeit, nach zarter Haut und heißem Blut strömt unaufhaltsam durch die Adern. In den Träumen wartet der nächste Hafen.

 

Selten sieht man den 'Heimlichen', weder nachts noch am Tage. Kaum jemand hat sein Gesicht gesehen, niemand kennt die Farbe seiner Augen, denn stets schleicht er mit gesenktem Kopf, verschwindet in irgendwelchen dunklen Kammern oder Ecken, tut heimliche Dinge.

Ganz ähnlich der Ängstliche, aber bei ihm vermutet man nicht, dass er Dinge tut, sondern man weiß, er hat einfach Angst. Klein und zart, mit unruhig flackernden Augen, zerzaustem Haar, stolpert er über Deck. Sein Kopf mit der Matrosenmütze ist ständig auf der Suche nach etwaiger Gefahr, niemals hält er Ruhe, stets ist er in Bewegung. Nur manchmal, wenn alle im Kreis sitzen, wenn der Maat, ein stämmiger und gutmütiger Mann und der Smutje neben ihm sind, zeigt sich, dass er klug und gebildet ist, ja sogar redselig wird, wenn er kann. Dennoch, die Mannschaft hat ihn 'Hase' genannt, was ihm nicht gefällt.

 

Der Schiffsarzt behauptete einmal, 'Hase' sei schizophren. Geschlossen drehten ihm die Männer den Rücken zu, als er diese Diagnose zum ersten Mal leise äußerte. Seitdem redet er nur noch unter vier Augen darüber, aber niemand scheint seinen Worten Wert beizumessen.

 

Wer diese Crew gesehen hat, wie sie arbeiten kann, wie sie als Teil des Schiffes dessen beste Leistung hervorholt und auf der Gischt schäumend in Fahrt kommt, die Masten und Wanten an ihre Belastungsgrenze bringend dem Horizont entgegen singt, der redet nicht mehr von Schizophrenie. Er stellt sich eher die Frage, ob das Schiff nicht ein Teil der Mannschaft sei …

Der Kapitän bleibt unsichtbar. Man weiß, dass er die Befehle gibt, - an den Steuermann, an den Maat oder an den Navigator. Man weiß, dass er sich mit diesen Leuten berät, wenn es not tut, wenn die Route unklar ist, wenn entschieden werden muss, ob man den nächsten Hafen anläuft, um Lebensmittel aufzunehmen oder wenn der Zustand der Mannschaft Sorgen bereitet.

 

Auf der Brücke sieht man ihn so gut wie nie. Manch einer behauptet, er stünde mit dem Fernrohr an der offenen Luke, man habe die Reflexe auf der Linse gesehen. Ein anderer erinnert sich, vor langer Zeit in tiefer Nacht von ihm höchstselbst geweckt worden zu sein zu einem besonderen Auftrag, einem gefährlichen Manöver, während einer heiklen Begegnung in unsicheren Gewässern. Wieder einer will ihn in normaler Matrosenkluft, inkognito, beim Essenfassen gesehen haben, unauffällig wie der 'Heimliche'.

 

Er sei „niederer Herkunft“, munkelt man. Kein Schöngeist, kein Beamtenspross, kein blaublütiger Adel, kein gelehrtes Elternhaus. Ob seine Mutter in einem Freudenhaus lebte, weiß man nicht; es gibt aber entsprechende Gerüchte aus den Hafenvierteln holländischer Städte. Wo auch immer seine Wiege stand, jetzt sind wir seine Familie, wir und das Schiff, das Schiff und wir. Dass er ein guter Kapitän ist, dieses Zutrauen ist unabdinglich für die Motivation des gesamten Organismus, für die Organisation der ineinandergreifenden Aufgaben und die Mobilität des gesamten schwimmenden Systems. Bisher hat er uns nicht enttäuscht, auch wenn wir ihn mehr ahnen als kennen, rational gesprochen. Emotional kennen wir seine Gegenwart wie die jedes anderen auch. Jeder scheint ein Teil von ihm zu sein, oder besser gesagt, er ist ein Teil eines jeden aus unserer Mannschaft. Ob andere Schiffe mit ihren Kapitänen bessere Organismen bilden, ist uns unwichtig. Wir kennen andere Schiffe nur vom Hörensagen, von Begegnungen in den unzähligen Häfen, von seltenen Kontakten auf hoher See oder von gemeinsamen Routen. Manche mehr, manche weniger.

 

Meistens scheint es auf unserem Schiff besser zu funktionieren, aber das sagt man sich sicherlich auch auf den anderen Schiffen. Ohne Zweifel hoch erstaunlich ist allerdings die ständige und grundlegend irritierende Unterschiedlichkeit der Deutung des Kartenmaterials auf den diversen Seglern. Wer das kennt und immer wieder erfährt, wird sich daran gewöhnen und dennoch den Kommandos von Kapitän, Steuermann und Maat vertrauen, die Messungen des Navigators für richtig halten. Denn ohne dieses Vertrauen wäre keine Fahrt möglich, keine Arbeit sinnvoll.

Die letzte Instanz ist der Kapitän; seine Entscheidung gilt, sein Weg wird eingeschlagen und sein ist die Verantwortung allein, denn er allein ist nicht für längere Zeit ersetzbar. Die Erhaltung des Schiffes, die Gesundheit der Mannschaft, mental und körperlich, die unbedingte, freudige und auch leidensfähige Funktion mit all ihren Qualen und Glücksmomenten, die Befriedigung des rechten Weges, - das ist sein Bestreben, – neben seinem Auftrag …

 

Der Auftrag … Mal scheint es, dass es keinen Auftrag gebe, außer uns selbst und unserer sausenden Fahrt, des Glückes unseres Gelingens. Dann wieder fragt sich die Mannschaft nach dem Sinn der Fahrt. In kleinen Grüppchen stehen und sitzen sie bei Flaute zusammen und diskutieren. Manche machen gar eigene Vorschläge, wohin und wie sie gerne segeln würden und zu welchem Zweck.

 

Andere stimmen begeistert zu und ereifern sich mit ausschmückenden Phantasien, tolldreisten Beschreibungen ihrer Aktivitäten an jenem fernen, imaginären Ziel. Der Kapitän lässt alle gewähren, denn solche Stimmung mag er selbst … Und gerade deshalb fragen sich alle in solchen Momenten, ob er denn weiß, wohin und wozu …

 

Dass er im Falle der schlimmsten Ereignisse bis zur letzten Planke für Schiff und Mannschaft und das Überleben kämpfen würde und keinerlei andere Ziele hätte, daran zweifelt niemand, nicht einmal 'Dagegen'. Dagegen ist der Name unseres großen Schlechtgelaunten. Die Crew hat ihm diesen Namen gegeben, weil er meist dagegen ist. Gebeugt im Nacken, aber kräftig und hochgewachsen schlurft er mit hängenden Armen an der Reling entlang und äußert Zweifel. Zweifel am Umfang der Vorräte, Zweifel an der Beständigkeit des Wetters, Zweifel an der Güte des Trinkwassers, Zweifel an unserer Arbeit. Er würde zermürbend und entmutigend seine Wirkung erzielen, wenn er nicht diese konstante, personifizierte Mahnung derart auf die Spitze triebe. Sie wird dadurch zu seiner „Haarfarbe“ zu seiner individuellen Ausdrucksform, die man hinnimmt, akzeptiert und integriert wie die Nervosität des ‚Hasen‘ und die Isoliertheit von ‚Heimlich‘.

 

‚Dagegen' ist sich seiner begrenzten Wirksamkeit durchaus bewusst und damit zufrieden, denn er selbst sieht sich nicht als Zermürber, sondern bezeichnet sich als vernünftigen Mahner. In diesem Sinne ist er einer von uns und niemand lehnt ihn ab.

 

Leider kann die Frage nach eventuellen Meutereien nicht übergangen werden. Nun, tatsächlich gab es die eine oder andere Meuterei, die aber meist an der Tatsache krankte, dass weder der Steuermann noch der Maat die Rolle des Kapitäns übernehmen wollte oder konnte. Initiiert waren sie meist vom ‚Anarchisten‘, der meinte, jegliche Hierarchie sei Teufelswerk. Der Kapitän nahm es gelassen, wohl wissend, dass ganz andere Kaliber als ein konfuser Anarchist nötig sind, um ein System wie einen Zweimaster und seine Mannschaft zu verstehen. Er hielt sich also wie gewohnt im Hintergrund und wartete gelassen ab, bis zunächst die Symptome, dann die gesamte Krankheit sich selbstheilend verflüchtigt hatten und die gewöhnliche Einheit wieder funktionierte. Er hatte nichts gegen den ‚Anarchisten‘ und seine Aufwallungen, denn er selbst empfand sich nicht als Diktator, sondern als naturgegebene Triebkraft, völlig unbeeindruckt von einerseits dem wütenden Aufbegehren, andererseits den in die gleiche Kerbe hauenden Parolen der geltungsbedürftigen Denker an Bord. Die Konfusion innerhalb des Systems Schiff regelte sich dadurch von selbst, dass jeder nur seinen eigenen, ihm angestammten und passenden Platz einnahm und niemand auswechselbar war; insgeheim "wusste" oder fühlte jeder, dass das Überleben von ihm selbst und seiner Loyalität abhing. Gerade die relative "Unsichtbarkeit" des Kapitäns beförderte in der Regel die grandiose, nicht hinterfragte, Hand-in-Hand synchron agierende Vitalität von Mannschaft und Material. Aber Ausnahmen sind Teil der Regeln und nützen der erfreulichen Vielfältigkeit des Lebens an Bord.

 

Da war diese elende Flaute im Mittleren Meer. Fünf Wochen dauerte sie. Ich drehte mich um mich selbst.

Zuerst hatte der Steuermann das Gefühl, wir führen im Kreis. Der Navigator verneinte, aber es war schon zu spät; alleine das Gerücht genügte, um die wildesten Spekulationen sprießen zu lassen. Der ‚Hase‘ geriet in Panik und hetzte von Backbord nach Steuerbord und wieder zurück. ‚Heimlich‘ hob zwar kaum den Kopf auf seinem Schleichweg zum Bug, aber man spürte förmlich das Flackern in seinen Augen. Hinten beim Steuer standen drei Mann gestikulierend im Blickfeld des Steuermanns.

 

„Der Wind flaut ab; ich kenne das. War das Gleiche unten im Pazifik ´62. Dann diese langsame Kurve, sieht man ja am Kielwasser; Zirkelströmung!“ sagte der eine.

 

„Jepp; kenne ich auch. Übermorgen ist totale Flaute. Hat uns damals drei Wochen gekostet, da wieder rauszukommen. Der Schiffsjunge hatte 'nen Knacks bekommen. Ging über Bord. Aber nutzt nichts. Das einzige, was hilft, ist Ziegenblut. Schon die alten Phönizier wussten das und segelten niemals hier durch. Hat man alles vergessen und die jungen Kapitäne lernen das nicht mehr.“

 

„Der Käppn´ ist nicht jung. Haste den mal gesehen? Der ist steinalt!“

 

„Quatsch. Der ist nicht alt, der ist jung. Und gerade deshalb sage ich euch: Das hier wird noch lustig. Erst die Flaute, dann die Pest.“

 

Der dritte Mann nickte nur, ritzte sein Messer über den nackten Oberarmmuskel und leckte die Blutstropfen ab. Scheppernd trat er gegen den Wassereimer und betrachtete ihn, wie er umfiel und hin und her rollte. Das Putzwasser malte sternförmige Muster auf die trockenen Planken. Der Ritzer ging hinüber zum ‚Anarchisten' und beugte sich neben ihm weit über die Reling, während sie die Köpfe tuschelnd zusammensteckten.

 

Der Steuermann zurrte mit dem Arretierungstau das Steuerrad fest und verschwand in der Kapitänskajüte, wo der Navigator und der Kapitän schweigend am Kartentisch standen. „Käppn´, es brodelt.“

 

Ja, der Wind schlief vollständig ein. Die Segel und der Verklicker hingen steif wie Bretter, das vertraute Knarren und Stöhnen des Rumpfes war einer unheimlichen Stille gewichen, die man sich tiefer nicht vorstellen kann. Kein Vogel kreischte, keine Welle klatschte ans Schiff, nicht das leiseste Summen in den Wanten. Entfernt vernahm man gedämpft wenigstens das leise Klappern der Töpfe aus der Kombüse. Das Meer lag wie ein toter Spiegel. Metallisch glänzendes Blau, das die Augen verblitzte.

 

Die Männer lagen an Deck in den wenigen kühlen Flecken und grummelten im Schatten vor sich hin. Erst war noch alles ruhig. Der ‚Philosoph‘ hatte sich mit dem ‚Denker‘ hinter die Fässer gehockt und den Tabaksbeutel gezückt.

„Es ist keine Schande, stecken zu bleiben“, sagte er. „Passiert halt. Wer weiß um den Sinn, wer kennt den Zweck, wer mag beurteilen, ob’s nicht gerade zu einem Nutzen gereicht? All dieses Hetzen, diese tagtägliche Jagd nach dem Ziel, all diese vermeintlich gutbegründete Energie, die alle aufbringen; wie, wenn es keinen wirklichen sittlichen Nährwert gäbe, der alle antreibt? Ist das ruhige Drehen, abgeschieden von allen pfeilschnellen und unbedachten Hetzjagden nicht der wahre, angestrebte Zustand?“

 

„Du meinst, das hier sei nützlich? Wie das? Es gibt andere Meldungen über ganz andere Ziele. Diese langsame Rotation um die eigene Achse kann nicht der Sinn unserer Fahrt sein. Was redest du? Wo ist die Logik in deinen Gedanken? Es gibt Aufträge, Verpflichtungen, Heuer. Hast du das vergessen? Was ist dein Job an Bord? Fragen aufwerfen?“ Der ‚Denker‘ rümpfte die Nase, und zischte missbilligend durch die Zähne. Er hatte die lange doppelreihige Jacke wegen der Hitze zur Gänze aufgeknöpft und kratzte sich am bleichen Bauch. Dann zog er ein Notizbüchlein aus der Innentasche, leckte am Zeigefinger und blätterte eine ganz bestimmte Seite auf.

 

„Wir kommen in Verzug, wenn wir hier lange dümpeln. Wir hatten in der vergangenen Woche bereits einen Tag Verlust, weil wir vor Korfu diesen englischen Schoner zuerst in den Hafen von Kalamata einfahren ließen. Meine Bilanz sieht schlecht aus, wenn ich mir das hier ansehe und noch viel schlechter, wenn wir dieses Drehen um den eigenen Bauchnabel noch lange so weitermachen müssen.“

 

‚Heimlich' trat unhörbar hinzu und erschreckte die beiden. „Schon gehört: Hier soll nach vier Tagen Stille ein Mahlstrom entstehen? Erst fährst du im Kreis, dann drehst du dich um dich selbst, dann reißt dich langsam aber sicher der Mahlstrom in die Tiefe. Da unten liegen hunderte von Schonern, Karavellen und Barken. Wir haben vier Boote; jedes Boot mit sechs Skulls für sechs kräftige Ruderer. Ich wünsche noch einen schönen Tag, die Herren.“

 

Der ‚Denker' und der ‚Philosoph' sahen sich an, während ‚Heimlich' verschwand, aber schon hörten sie den dicken Maat schnaufen.

„Ich äh, halt’s nicht mehr aus. Das dauert jetzt drei Tage. Was schlagt ihr vor? Ihr seid die klugen Köpfe an Bord. Von der Brücke ist nichts zu hören; die führenden Seefahrer scheinen ratlos zu sein.“

 

„Abwarten“, meinte der ‚Philosoph'. „Da steckt Potential drin, das noch niemand erkennt. Erstmal abwarten und Abstand gewinnen zur ewigen Hetze. Es wird schon weitergehen, und dann besser als zuvor.“

 

„Nichts überstürzen“, nickte der ‚Denker'. „Noch sind die Vorräte ausreichend und Seemannsmärchen helfen uns jetzt nicht weiter."

 

Vom Achterdeck hörte man Geschrei und Gejohle. Der ‚Anarchist' hatte ein Seil gespannt und begann gerade unter vielstimmiger Anfeuerung und untermalt von rhythmischem Klatschen den ersten Versuch einer Besteigung. Das Seil spannte sich vom Achterdeck zum Hauptmast, leicht abfallend, deshalb hatte der ‚Anarchist‘ Schwierigkeiten, hinauf zu kommen. Bisher war er jedesmal abgerutscht und musste sich wieder zurückhangeln zum Geländer. Jetzt, wo er alle Augen auf sich gerichtet wusste, sprang er behände mit einem schnellen Satz auf das breite Geländer, riss die Arme in die Höhe und drehte eine Pirouette auf dem linken Zeh. Dann verbeugte

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Walter Gerten
Bildmaterialien: Walter Gerten
Tag der Veröffentlichung: 07.07.2014
ISBN: 978-3-7368-2434-8

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /