I M P R E S S U M
Manfred Wilt und der Tote am Fluß
von Walter Gerten
© 1999 Walter Gerten.
Alle Rechte vorbehalten.
Autor: Walter Gerten
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Dieses E-Book, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne
Zustimmung des Autors nicht vervielfältigt, wieder verkauft oder weitergegeben werden
Text, Zeichnungen, Bilder und Fotos von Walter Gerten. © 1999 Walter Gerten
Der Autor:
Walter Gerten lebt seit vielen Jahren in der Südeifel und hat sich bei seinen Romanen von dieser Landschaft beeinflussen lassen. Ausnahmen sind „Monte Nudo“ und „Unterwegs mit Tom Kerouac“, welche in Norditalien bzw. Frankreich spielen.
Menschen abseits der üblichen Handlungsmuster, getrieben von tiefgreifenden emotionalen und rationalen Strömungen verlieren sich in existentiellen Verstrickungen, zumeist auf einer psychologisch-kriminalistischen Bühne, auf der sich die Beteiligten an ihren Grenzen bewegen und den Leser einbeziehen.
Weitere Romane:
Manfred Wilt und die Rocker
Der Bote des Zarathustra
Monte Nudo
Unterwegs mit Tom Kerouac
Das Buch:
Wieder führt uns der Protagonist in die nahegelegene älteste Stadt Deutschlands, wo er als arbeitsloser ehemaliger Polizist die andere Seite der Südeifel kennenlernt. Im Grenzgebiet zu Luxembourg gedeiht ein besonderes, konsumbetontes und daher kriminalistisch in einer besonderen Ausprägung sprießendes Milieu unterhalb dessen, was das Alltagsleben im öffentlichen Raum vermuten läßt.
Manfred Wilt („Man“) würde gerne in sein Landidyll abseits der städtischen Zubringer in Ruhe und Einsamkeit auskosten, allerhöchstens ein wenig an seinem Motorrad schrauben, doch die Verknüpfungen zu seinem ehemaligen Beruf locken ihn in einen Mordfall direkt am Ort.
Wie und warum ist die Landbevölkerung involviert, welche Rolle spielen Drogen und Geld und was hat er selbst dabei zu verlieren außer seinem Glauben an das Gute im Menschen?
Die Handlung und die Namen der Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und Ereignissen sind nicht beabsichtigt.
Alle Zeichnungen, Bilder, Photos Walter Gerten; Copyright Walter Gerten
Die Personen in der Reihenfolge ihres Auftretens:
Pavel
Manfred Wilt, die erste Hauptperson, ehemaliger Polizeibeamter, jetzt in die Südeifel ausgesiedelt
Kellnerin im Straßencafé
Geschäftsmann
Wilma Sielasek, Aussiedlerin in Trier
Marie, Manfreds Lebensgefährtin, Goldschmiedemeisterin
Christine, genannt Chris, Maries Geschäftspartnerin
Markus, die zweite Hauptperson, Manfreds bester Freund, Polizist
Gerd, ebenfalls Freund von Manfred, Polizist
(Elsa), Gerd's Frau
Jupp, Manfred's Nachbar, Nebenerwerbs-Landwirt
Schiffer, ein Landwirt im Nachbarort
Frantisek, ein Landarbeiter
Traktor-Fahrer
Alter Mann aus Brunn
Die Köchin Elena, polnische Arbeiterin beim Bauern Schiffer
Schiffers alte Mutter
Bruno und Karl, zwei Bundesgrenzschutz-Beamte
Zwei russische Mafiosi
Petitjean, Bankbeamter in Rechnach / Luxemburg
Sielasek, Wilmas Mann, Angestellter in einer Rechnacher Bank
Kapitel 1 Prolog
Kapitel 2 Am Hauptmarkt
Kapitel 3 Motorradrennen
Kapitel 4 Slow Train
Kapitel 5 Bauernopfer
Kapitel 6 Am Ufer
Kapitel 7 Traum
Kapitel 8 Horex
Kapitel 9 Frantisek
Kapitel 10 Grenzgänge
Kapitel 11 In der Bucht
Kapitel 12 Scheunenversteck
Kapitel 13 Esoterik
Kapitel 14 Schwarzgeld
Kapitel 15 Russenmafia?
Kapitel 16 Gerd
Kapitel 17 Geiseln
Kapitel 18 Schluss
Pavel hatte jetzt keine Angst mehr; das Gefühl der Panik war einer tauben Ruhe gewichen. Er fragte sich, ob das von der Droge kam. Das Boot schwankte in der Dunkelheit, als die Person ihm gegenüber sich auf die Pritsche setzte. Das dumpfe Rauschen in seinem Kopf dehnte sich aus. Es war begleitet von einer ungeheuren Ruhe der Gedanken und Sinne.
Seine Hand hing ins Wasser; er spürte, wie es jeden einzelnen Finger umströmte, sich dahinter kräuselte und in einem sanften Strudel abfloß. Die dabei entstehenden Geräusche füllten seinen Kopf.
Sein Gegenüber hatte einen langen Gegenstand auf die Bordwand aufgelegt. Das leise Poltern echote von rechts nach links. Er schloß die Augen; war das der Sensenmann?
Die Schläfe pochte, sein Kopf fiel zur Seite. Der Andere begann zu rudern. Das Boot wurde vorangetrieben. Er glaubte, die Wellenberge vor dem Bug körperlich zu spüren.
Plötzlich stand die Zeit still. Kein Gedanke.
Aber ein Bild. Er kannte es.
In seinem Zuhause hatte es in der kleinen dunklen Küche gehangen; eine Reproduktion, auf eine Holzplatte geklebt.
Patinier: "Die Überfahrt über den Styx", kam ihm in den Sinn.
In der Mitte ein dunkler Fluß - der Fluß ins Jenseits. Auf dem Fluß ein Boot, ein Nachen. Darin die bleiche Seele und dahinter der Fährmann Charon, der die Seelen der Toten in die von dem Höllenhund Zerberus bewachte Unterwelt bringt. Am rechten Ufer des Styx der Eingang zur glühenden Unterwelt; am Tor der Höllenhund.
Am linken Ufer das Paradies mit wandelnden Engeln und einer gläsernen Kuppel im Hintergrund vor den idyllischen blauen Bergen.
Welches Ufer wird Charon wählen?
Das Bild verschwand; es wurde von einem anderen abgelöst:
Er sah sich selbst mit einem Koffer in der Hand einen Feldweg entlang gehen.
Die ersten Häuser seines Heimatdorfes erschienen; man hatte ihn bemerkt.
Zwei Mädchen liefen ihm winkend entgegen. Er kam nach Hause.
Manfred Wilt streckte die langen Beine und rutschte tiefer in seinem Stuhl. Er griff nach der Tasse auf dem Blechtisch und nippte an seinen Kaffee.
Das geschäftige Treiben auf dem Trierer Hauptmarkt erstreckte sich wie ein breiter, gemächlicher Fluß vor ihm, bevor er in den schmalen Straßen wieder Stromschnellen und Verwirbelungen bildete. Auch andere Passanten wurden wie er in die ruhige Uferzone gespült und dümpelten ein Weilchen zwischen den Tischen des Cafés dahin, ehe sie wieder in die Flußmitte trieben.
Für ihn, den geborenen Beobachter, war das hier am Rande des großen Platzes ein idealer Ort, wenn er wie jetzt Zeit und Muße hatte. Der Verband unter seiner Lederjacke beengte ihn ein wenig, weil er bei jedem Atemzug einen gewissen Gegendruck erzeugte, ansonsten konnte er sich ganz seinen Eindrücken widmen. Allerdings war da noch dieser Zettel in seiner Hosentasche, die Nachricht von seinem Freund Gerd.
Er hatte ihm in der Eile heute Morgen am Polizeipräsidium nur kurz den Notizzettel mit der Telefonnummer zugesteckt und ihn gebeten, sich dort zu melden und nach Möglichkeit seine Hilfe anzubieten.
Manfred wollte schon den Zettel aus der Hose fischen, aber durch die bequeme, gestreckte Sitzhaltung war die Lederhose an den Taschen so gespannt, dass er die kleine Mühe schnell auf später verschob.
Die Kellnerin riß ihn aus seinen Überlegungen: "Soll ich dir noch'n Kaffee bringen, Manfred?" Sie beugte sich über ihn, er roch ihr Parfum. "Ja, bitte."
Auf Gerds Zettel hatte außer der Telefonnummer noch ein Name gestanden, ein ausländischer Name; Selasik, oder so ähnlich. Der Name kam ihm irgendwie bekannt vor, er hatte ihn schon einmal gehört, nur wo?
Die Kellnerin lächelte ihn an mit ihren warmen, braunen Augen und ihrem dezent geschminkten Mund; angenehm. Manfred lächelte zurück, sie stellte den Kaffee vor ihm auf den Tisch. Es gab immer noch dieses familiäre Gefühl in Trier.
Die Touristenströme in der ältesten Stadt Deutschlands, speziell jetzt im Frühjahr, und die größer gewordene Schar der Studenten hatten zwar das Bild in der Innenstadt immer mehr geprägt, aber dennoch waren hin und wieder bekannte Gesichter zu sehen, selbst aus Manfreds Bekanntenkreis von früher waren viele geblieben oder wieder hierher zurückgekehrt. Ein Heimkehrer hatte einmal auf die Frage, was denn so toll an Trier sei, geantwortet: "Du weißt nicht wie das ist, in der Diaspora!" Er wußte es schon, Manfred war ja selbst ein paar Jahre im Studium weg gewesen. Seit seinem Ausstieg bei der Polizei, eine nette Umschreibung für seinen Rauswurf, lebte er allerdings nicht mehr hier. Manfred hatte sich ein kleines Bauernhaus in der Südeifel gekauft.
Er nippte an seinem Kaffee; der aus der Tasse aufsteigende zarte Dampf verschleierte seinen Blick und ließ das Treiben auf dem Platz gegenüber zu einem bewegten Gemisch lebendiger Farbflecken verschwimmen. Das Gemurmel vieler Stimmen, die Geräusche der Schuhe auf dem Pflaster, der ganze Klangteppich drohte plötzlich in seinem Kopf in einen Strudel hallender Echos und unverständlicher Klangkaskaden zu stürzen.
Manfred fuhr sich mit der Hand über die Stirn und die Augen. Die Wunde schmerzte, sie erinnerte ihn daran, dass er die Gefahr bei der Arbeit mit der Kettensäge nicht unterschätzen durfte.
Sein Blick wurde wieder klar: Menschen mit Kameras, Menschen im Anzug mit Aktenkoffern, Frauen bei ihren Einkäufen, Männer in legeren Jogginganzügen. Am Marktkreuz lümmelten wie immer ein paar Jugendliche mit bunten Haaren auf den Stufen. Hier hatte er sich früher mit seiner Clique auch getroffen.
Um die Ecke saß ein Bettler mit seinem traurig dreinblickenden Hund auf dem Boden. Der Hund lag in einem Gitarrenkoffer, der Bettler mit gesenktem Kopf auf einer gammeligen Decke; vor ihm ein Pappschild mit der Bitte um die milde Gabe und einer kurzen, fadenscheinigen Begründung.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes versuchte sich eine Gruppe von jugendlichen Musikern als Freiluft-Kammerorchester.
Am Nebentisch wurde ein Stuhl quietschend zurechtgerückt. Ein Herr im feinen Zwirn hatte Platz genommen. Schweres Aftershave lag in der Luft. Er bestellte Kaffee mit Kuchen und studierte die Tageszeitung. Manfred hob den Kopf.
Die Schlagzeile des Tages stach ihm ins Auge:
"Toter bei Frondorf an der Sauer gefunden. Mord oder Selbstmord?"
Das war direkt bei ihm in der Nähe. Er hatte schon gestern von seinen Nachbarn davon gehört. Ein Angler hatte den Toten in der Morgendämmerung entdeckt.
Im Ort waren natürlich gleich die wildesten Gerüchte aufgeblüht. Die Sauer als Grenzfluß zu Luxemburg bot schon von der Geographie her reichlich Spekulationsgrundlage, vom illegalen Finanztransfer mit Zeugenbeseitigung durch die Mafia bis zum Tod eines Drogenkuriers aufgrund von Bandenrivalität.
Der Tote hatte nach Aussage des Anglers slawische Gesichtszüge, weshalb dann auch gleich Verbindungen zur Russenmafia vermutet wurden.
Manfreds Nachbar Jupp hatte sich gestern zu ihm auf die Bank vor dem Haus gesetzt und ihm eine ganz andere Theorie unterbreitet: "Der Mann war sicher illegaler Landarbeiter."
Jupp erzählte ihm, dass der einzig übriggebliebene Großbauer des Nachbarortes, Schiffer, regelmäßig Illegale beschäftigte. "Der Schiffer fährt zum Bahnhof nach Schweig, wenn er Leute braucht, da gibt es Russen, Ukrainer, Rumänen und so weiter ohne Arbeitserlaubnis zum Aussuchen."
Manfred unterbrach seine Gedankengänge und bat den Tischnachbarn um die erste Seite seiner Zeitung. Dieser reichte sie ihm hinüber, er selbst war mittlerweile bei den Börsenkursen hängengeblieben.
"Toter bei Frondorf an der Sauer gefunden. Mord oder Selbstmord?
Am gestrigen Montag, 20.5.2000, wurde von einem Angler aus Neumühl an der Sauer ein Toter entdeckt. Der Angler war gegen 5:15 Uhr morgens an seinem Stammplatz beim Nachbarort Frondorf angekommen und fand den Toten dort neben einer Hecke am Ufer. Der Mann lag mit den Beinen halb im Wasser. Nach erster Auskunft der ermittelnden Polizeibehörde in Trier hatte er keinerlei Papiere bei sich. Neben dem Mann wurde eine Spritze im Gras gefunden. Sonstige Indizien wurden nicht genannt. Die Polizei in Luxemburg sowie der Bundesgrenzschutz wurden eingeschaltet. Von der Pressestelle der Polizeibehörde Trier wird um Mitarbeit der Bevölkerung gebeten. Der gefundene Mann war nach ersten Ergebnissen erst seit ca. 3 bis 4 Stunden tot. Wer Hinweise zum Aufenthalt des Mannes nach Mitternacht geben kann oder zur fraglichen Zeit Beobachtungen im genannten Gebiet gemacht hat, wird gebeten, sich mit der Polizei in Verbindung zu setzen. Zudem wird um Hinweise zur Identität des Mannes gebeten.
Der Tote ist 1 Meter 76 groß, etwa 25 bis 30 Jahre alt, hat schwarze, kurzgeschnittenen Haare, braune Augen, slawische Gesichtszüge. Bekleidet war er mit einer blauen Jeans, weißen Turnschuhen, einem blaukarierten Hemd und einer verschlissenen braunen Kunstlederjacke."
Es war ein Foto der Kopfpartie des Mannes angefügt. Manfred hatte ihn zuvor noch nie gesehen. Das mit der Spritze hatte er noch nicht gewußt. Er blickte hoch, vielleicht sollte er Gerd danach fragen. Andererseits ging es ihn ja auch nicht viel an, außer dass es quasi bei ihm vor der Haustür passiert war.
Er reichte dem Geschäftsmann die Zeitungsseite zurück und lehnte sich wieder zurück. So belastete ihn die Wunde an der Brust am wenigsten. Er bestellte bei der hübschen Kellnerin ein Eis, Walnuß und Vanille, und verlegte sich wieder aufs Beobachten.
Die Wunde schmerzte. Es war eindeutig sein eigener Fehler gewesen; er hatte die Kettensäge mit der Spitze des Schwertes angesetzt, weil der Baumstamm so am Boden eingekeilt war, dass er anders nicht heran kam. Die Gefahr war ihm bekannt, obwohl er erst seit einem Jahr im Wald arbeite. Die Kettensäge war urplötzlich beim Gasgeben zurückgesprungen und hatte ihn an der Brust touchiert, wo er zudem keine Schutzkleidung trug. Es war glücklicherweise nur eine Fleischwunde, aber er mußte sofort ins Krankenhaus nach Bitburg gebracht werden. Damit war er für ein paar Wochen außer Gefecht gesetzt und es würde eine Narbe zurückbleiben. Immerhin behindert sie ihn nicht zu stark; er erledigte seine normalen Arbeiten und war mobil. Er konnte sogar, wie heute, mit seinem Motorrad unterwegs sein.
Manfred Wilt kramte sein Portemonnaie hervor, um zu zahlen, dabei blieb ihm gleich der bewußte Zettel in der Hand. Es war eine örtliche Telefonnummer, der Name dahinter lautete: Wilma Sielasek. Gerds Frau hatte eine Bekannte mit Namen Wilma. Warum hatte Gerd sich nicht selbst darum gekümmert?
Manfred ging nach dem Bezahlen hinüber zum nahegelegenen Domvorplatz ans Telefon und wählte die Nummer.
Die Frau sprach recht gut Deutsch, der osteuropäische Einfluß auf die Aussprache war dennoch unüberhörbar.
"Guten Tag, Herr Wilt. Ich freue mich, dass Sie mich anrufen; ich kenne Sie von Gerd. Wir haben uns da gesehen beim Geburtstag seiner Frau. Sie ist eine gute Freundin von mir. Ich möchte Sie um Hilfe bitten. Ich habe Gerd gefragt, aber er meinte, ich soll mich an Sie wenden."
Die Stimme klang aufgeregt und kurzatmig; Manfred versuchte sich an die Frau zu erinnern, aber es zeigte sich kein Bild in seinem Kopf.
"Worum geht es? Womit kann ich Ihnen helfen, Frau Sielasek. Hat es etwas mit Gerd oder seiner Frau Elsa zu tun?", fragte er.
"Ich bin mir nicht sicher", antwortete sie in weinerlichem Ton. "Vielleicht hat es etwas mit Elsa zu tun. Es fällt mir so schwer, darüber zu sprechen. Haben Sie vielleicht das Foto in der Zeitung gesehen?"
Er hörte, wie ihre Stimme versagte, sie blieb stumm.
"Sie meinen das von diesem Toten an der Sauer? Ja, das habe ich gesehen, wissen Sie etwas darüber?" Manfred wartete auf die Antwort, aber er hörte zunächst nur ein unterdrücktes Schluchzen.
"Nein, es tut mir leid", brachte sie dann hervor. "Ich kann am Telefon nicht darüber reden. Können wir uns heute irgendwo sehen, Herr Wilt?"
Manfred schlug ein Treffen am Abend vor; Gerd hatte ihn zum Essen bei sich zu Hause eingeladen. Er wusste, dass Manfred zurzeit alleine hauste und durch seine Verletzung etwas behindert war; außerdem war ein Treffen unter Freunden immer in seinem Sinne.
Wilma sagte zu; sie bedankte sich mehrmals und entschuldigte sich für ihre Aufdringlichkeit. Dann legte sie auf und ließ Manfred reichlich verwirrt zurück.
Abrupt drehte er sich um und überquerte den Platz. In seinen Gedanken gefangen, nahm er kaum die Menschen war, denen er ausweichen mußte.
Es gab für Manfred noch einen Besuch zu erledigen. Seine Lebensgefährtin über die letzten zwanzig Jahre hatte in einer Nebenstraße einen Schmuckladen. Marie war Goldschmiedemeisterin und betrieb hier zusammen mit ihrer Freundin Christine einen kleinen Laden mit angegliederter Werkstatt.
Marie lebte seit einiger Zeit nicht mehr regelmäßig bei Manfred in ihrem gemeinsamen Bauernhäuschen in Neumühl, sondern gleich über dem Laden in einer kleinen Einzimmerwohnung. Nicht dass sie zerstritten waren, keineswegs; Manfred und Marie waren beide nicht zum Klammern geeignet und tolerierten die gegenseitigen Freiheitszonen ohne Verlustängste. Sie sahen sich dennoch täglich, man konnte nicht von einer Trennung sprechen, selbst wenn manche aus dem Freundeskreis immer wieder entsprechende Fragen plazierten. Sie hatten keine Kinder, so dass eine solche lockere und dennoch intime Lebensform realisierbar war.
Manfred trat in den Laden, begleitet von der dabei ausgelösten Glockenmelodie. Es waren drei oder vier Kunden mit dem Betrachten der Auslagen in den Vitrinen beschäftigt.
"Hallo, Man!" begrüßte ihn Christine mit einem Lächeln vom anderen Ende des kleinen Raumes. Sie saß hinter der Theke. "Wenn du zu Marie willst, die sitzt in der Werkstatt. Du kannst aber auch gerne bei mir 'ne Tasse Kaffee trinken."
Manfred lehnte dankend ab; er wollte sich nicht gerne bei Kundenbetrieb im Laden privat unterhalten, und ging durch die Milchglastür in die angrenzende Werkstatt.
Marie saß an der Werkbank bei einer Reparatur. Sie unterbrach kurz ihre Arbeit mit der Poliermaschine und erwiderte seine Umarmung und den Kuß auf den Mund. Manfred ließ dabei seine Hand am Rücken unter ihr T-Shirt gleiten um ihre Haut zu spüren. Wie immer seit zwanzig Jahren löste dies einen angenehmen Schauer in seinen Adern aus.
"Setz' dich!" bot ihm Marie den freien Stuhl neben ihr an.
"Stör' ich dich?" fragte Manfred, und auf ihre Verneinung: "Kennst du übrigens die Wilma, das ist eine Freundin von Gerds Frau?"
"Ich hab' schon von ihr gehört. Elsa hat mir von ihr erzählt. Aber was Genaues kann ich dir nicht über sie sagen."
Marie arbeitete weiter an dem kleinen goldenen Werkstück in ihrer Hand, während Manfred sich zu ihr setzte und ihr zuhörte.
"Elsa macht auf mich eher einen merkwürdigen Eindruck. Die scheint ja wenig Interesse an Gerds Freundeskreis zu haben, immer rennt sie bloß mit ihren Freundinnen in die Innenstadt zum Schaufensterbummeln und ist von dem ganzen Angebot total begeistert."
"O.K., O.K.", erwiderte Manfred, "meine Traumfrau ist sie auch nicht gerade. Ich hab' auch Probleme mit ihrem Verhalten. Man rutscht halt ziemlich leicht in dieses Vorurteil vom Wirtschaftsflüchtling.
Immerhin hat Gerd sie mitgebracht weil er sie liebt und nicht etwa, weil er ihr unser tolles Warenangebot im Westen präsentieren will. Es ist ja schon zwei Jahre her, dass er sie in Armenien geheiratet hat, oder? Ja, das war vor zwei Jahren, als er bei diesem Projekt Organisierte Kriminalität den Auslandsjob angenommen hat. Elsa hat offensichtlich, seit sie hier ist, keinen Kontakte zu Gerds Freunden, das ist mir auch aufgefallen. Meistens ist sie ja mit den Russen und Polen zusammen, die in Trier leben."
"Wir haben schon öfter darüber diskutiert", entgegnete Marie.
"Gerd und Elsa - das müssen die beiden selbst rausfinden, ob und wie das zusammengehört. Ich kann mir darüber kein Urteil bilden; ich fände es nur verdammt schade, wenn Gerd daran zerbrechen würde. Er macht manchmal so 'nen mutlosen Eindruck und wirkt um die Augen so müde.
Frag mal Christine; er hat ihr gestern sein ganzes Leid geklagt. Es muß erschütternd gewesen sein.
Aber, was hast du mit dieser Wilma zu tun? Triffst du dich heimlich mit ihr, während ich arbeiten muß und du herumstromern kannst?"
Sie sah ihn prüfend an und kniff die Augen drohend zusammen.
Manfred lächelte:
"Ich sehe Wilma heute Abend bei Gerd, sie hat mich um einen Gefallen gebeten; ich habe aber keine Ahnung, worum es sich dreht. Scheinbar hat es etwas mit diesem Slawen zu tun, den man an der Sauer gefunden hat. Du hast sicherlich davon gehört."
Marie wußte nichts darüber, aber sie mußte jetzt weiterarbeiten. Sie stand von ihrem Stuhl auf, reckte sich und schlang die Arme um seinen Hals. Sie küßte ihn zärtlich auf den Mund, während er seine Hände über ihren Po gleiten ließ.
"Wo schläfst du heute Abend? Fährst du zurück nach Neumühl?" fragte sie. Manfred faßte sie um die Taille und zog sie fest an sich. "Ich weiß es noch nicht, es kommt darauf an, wie spät es heute Abend bei Gerd wird; Markus will auch kommen."
"OK. Wie du willst", erwiderte sie gespielt schnippig und gab ihm dann doch einen langen Kuss.
Manfred holte sein Motorrad auf dem Parkplatz ab und tuckerte zu Gerds Haus draußen in einem Vorort von Trier. Er war eine Stunde zu früh dran, aber die Maschinen von Gerd und Markus standen schon vor der Garage.
"Hey! Lucky Man. Was macht deine Verletzung, außer dir Freizeit zu bescheren?", begrüßte ihn der lange Markus an der Tür. Er war der Spaßvogel des Trios; er hatte immer wieder neue Namenskombinationen für Manfred auf Lager. Aus dem Wohnzimmer rief ihm Gerd beim Eintreten einen Gruß zu.
Die beiden lümmelten vor dem Fernseher auf dem Teppich und drängten Manfred, sich schnell dazu zu gesellen. Sie verfolgten mit großem Einsatz die Wiederholung des Motorrad-Grand-Prix vom Wochenende.
Waldmann lag nach mäßigem Start jetzt auf dem vierten Platz, hatte aber reichlich Abstand zum führenden Trio. Offensichtlich gelang es ihm, nach den Positionskämpfen im Feld, sich etwas freizufahren und seinen Rhythmus zu finden. Die Strecke in Jerez in Spanien kam seinem flüssigen, weichen Fahrstil entgegen und die Maschine lief auch astrein.
Man sah bei ihm kaum die spektakulären Rutscher, wie sie das Führungstrio zeigte, das sich zudem durch ständige Kurvenkämpfe gegenseitig behinderte. Waldmann konnte deutlich den Abstand nach vorne verringern und dann drei Runden vor Schluß aufschließen. Im Windschatten gelang es ihm auf den Geraden Zusatzschwung zu gewinnen und vor der ersten Schikane am Drittplatzierten vorbei zu ziehen. Tief in die Verkleidung geduckt hing Waldmann am Hinterrad des Zweitplatzierten, der sich kurz umsah; offensichtlich machte ihn der plötzlich aufgetauchte neue Verfolger nervös. Waldmann nutzte einen Verbremser seines Konkurrenten, der diesen auf eine weite Linie in der Kurve zwang, um innen durch zu gehen.
Es waren noch zwei Runden zu fahren. Der führende Nakano hatte den heran stürmenden Waldmann bemerkt. Dicht hintereinander schwenkten sie durch die Kurven, keiner erlaubte sich einen Fehler. Waldmanns Taktik war klar; den Gegner studieren und sich eine passende Stelle zum Überholen zurechtlegen. Sollte Nakano nervös werden und einen Fehler machen, umso einfacher würde es werden.
Nakano schaute sich immer häufiger um, in den Kurven machte er jetzt sogar manchmal etwas langsamer. Scheinbar wollte er die Führungsarbeit nicht länger leisten und war an einem Rollentausch interessiert. Doch Waldmann ließ sich darauf nicht ein und blieb hinten. Ein Rutscher Nakanos zwei Kurven später war dann doch so einladend, dass Waldmann durchzog und gleich versuchte, sich abzusetzen.
"Mensch, Waldi! Nicht jetzt, das ist noch zu früh!" rief Markus im Eifer des Gefechts. Und tatsächlich, Nakano gelang es, an Waldmann dran zu bleiben; dicht an dicht fuhren sie in die letzte Runde. Jetzt war Nakano in der Rolle des Jägers. Er kannte seinen Gegner gut und nutzte seine Chance. Vor einer langgestreckten Kurve ließ ihm Waldmann etwas zu viel Platz innen und Nakano preschte mit viel Risiko und spätem Bremspunkt in die Lücke. Nebeneinander fegten sie mit maximaler Schräglage durch die Kurve; Waldmann wurde an den äußersten Streckenrand gedrängt, es staubte schon. Auch Nakano mußte zaubern, um das schlingernde Motorrad zu halten, aber er konnte sich durchpressen und übernahm die Führung. Die darauffolgende Kurve fuhr er ganz innen an, um Waldmann am Hereinbremsen in den Kurvenscheitel zu hindern. Waldmann war ganz am äußeren Streckenrand geblieben, hatte dadurch einen größeren Radius und am Kurvenausgang etwas mehr Schwung, den er beim Beschleunigen dazu nutzte, wieder neben Nakano zu ziehen. Nebeneinander kamen sie über die Kuppe geflogen, wo die Vorderräder kurz abhoben, beide völlig in die Verkleidung gekauert. Die letzte Linkskurve zur Zielgeraden erlaubte Waldmann die etwas kürzere Linie. Nakano lag hier schon leicht versetzt hinter ihm. Waldmann fuhr einen weiten Schlenker, um Nakano den Windschatten zu nehmen und schoß
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Walter Gerten
Bildmaterialien: Walter Gerten
Tag der Veröffentlichung: 04.03.2014
ISBN: 978-3-7309-8898-5
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