Vor langer, langer Zeit bei den Steinen von Ménec …
Das ganze Dorf war in heller Aufregung. Wie ein Lauffeuer hatte sich die gute Nachricht herum gesprochen: Die Königin stand kurz vor der Niederkunft! Die Vorbereitungen für die große Feier zu Ehren der neugeborenen Prinzessin oder des neugeborenen Prinzen liefen auf Hochtouren. Schließlich sollte alles bereit sein, wenn das Elfenkind das Licht der Welt erblickte. Es verstand sich von selbst, dass der neue Elfenbürger gebührend empfangen und in den Kreis des Elfenvolkes aufgenommen werden musste. Das Elfenvolk empfand es aber nicht als Pflicht, sondern war dankbar, ihre Liebe und Treue einmal mehr ihrem König und ihrer Königin beweisen zu können.
So geschah es, dass genau in dem Moment, als Prinzessin Celia zur Welt kam, alle Vorbereitungen abgeschlossen waren und das Elfenvolk sie mit einem freudigen “Hakkolo” - was soviel wie “Willkommen in unserer Mitte” - und einem spektakulären Feuerwerk begrüßte. Die Freude war ausgesprochen groß im Steinenfeld Ménec, dass Prinzessin Celia gesund war und die Strapazen der Geburt gut überstanden hatte. Und was für ein hübsches Elfenkind sie war! Ihr Papa, der sonst etwas raubeinige König Dolfur, konnte die Augen nicht von seiner Tochter lassen. Mit einem zufriedenen und glücklichen Lächeln beobachtete die stolze Königin Liesanne noch etwas geschwächt von der Entbindung das Bild ihrer geliebten kleinen Familie. Für einen kurzen Moment des Glücks vergaß sie die Sorgen und Ängste, die sich in den letzten Tagen in ihrem Herzen breit gemacht hatten. Genau wie der König wusste auch sie, dass in nicht ferner Zeit Entscheidungen getroffen werden mussten, die ihr Leben und das Leben das gesamten Elfenvolkes von Grund auf verändern würden. Doch heute war nicht die Zeit für Trübsal und Sorgen - heute war die Zeit der Freude und des Glücks! Sie liebte ihre neugeborene Tochter Celia schon jetzt mehr als ihr Leben! Und sie würde alles tun, was nötig wäre, um sie vor Gefahr zu schützen. Sie wollte versuchen, ihrer Tochter eine unbeschwerte Kindheit zu bescheren, obwohl sie wusste, dass auf Celia eine schwierige Aufgabe wartete. Die kleine Prinzessin musste vorbereitet werden, dass war keine Frage. Schwere Zeiten standen dem Elfenvolk bevor!
Ausgelassene Stimmung herrschte unter der treuen Gefolgschaft der Königsfamilie. Die große Freude über die Geburt der Prinzessin ebbte in dieser Nacht nicht ab. Es wurde überschwenglich gefeiert, gesungen und getanzt, auf das Wohl der Prinzessin angestoßen und gut und viel gegessen. Wie befreit fühlten sich die Elfen; die stetige Gefahr, die das Elfenvolk seit einigen Wochen bedrohte, war für diese Nacht vergessen und konnte die euphorische Ausgelassenheit nicht trüben. Frauen, Männer und Kinder jeden Alters begrüßten Celia im Kreise ihres Volkes.
Während das Fest seinen Höhepunkt erreichte, lag die kleine Celia behütet und friedlich schlafend in ihrem kuscheligen Blütenbettchen “Sieht sie nicht wunderschön aus?” König Dolfur sah liebevoll zu Königin Liesanne hinüber. Liesanne trat näher an das Bettchen heran und schmiegte sich an Dolfur. “Ja, mein Herz, das tut sie! Ich kann unser Glück kaum fassen. Celia ist gesund und wunderschön. Vielleicht wird doch noch alles gut.” Der Blick des Königs ruhte weiterhin auf Celia. Auch er war voller Hoffnung auf ein gutes Ende. Aber war dieses kleine, zarte Wesen der großen Aufgabe wirklich gewachsen?
Vor den Toren des Elfenpalastes ging das Fest zu Ehren der neugeborenen Prinzessin seinem Ende zu. Die Musiker packten ihre Instrumente ein und verließen den großen Festplatz. Hier und da sah man einen Elfen liegen, der wohl zu müde – oder betrunken - war, um noch nach Hause zu gehen. Der König und seine Frau hatten sich ebenfalls zur Ruhe begeben. Der Tag war aufregend und anstrengend gewesen.
Doch nicht alle Elfen im Palast schliefen . . .
Samtho stand am Fenster und starrte in die dunkle Nacht. Sein Gesicht war ausdruckslos, doch seine Frau Nerlia wusste genau, was in ihm vorging. Die Geburt seiner Nichte Celia, das rauschende Fest und die überschwengliche Freude des gesamten Elfenvolkes – Nerlia kannte den tiefen Schmerz ihres Gatten. Samtho hätte als der ältere der Zwillingsbrüder eigentlich der rechtmäßige König des Elfenreiches Toschdangen werden müssen. Doch ihr Vater, der weise König Nerwer, wusste um die Schwächen seines ältesten Sohnes und hat auf dem Sterbebett Dolfur als seinen Nachfolger bestimmt.
Samtho war zunächst tief enttäuscht und verletzt über die Entscheidung seines geliebten Vaters gewesen. Doch nachdem die Trauer um dessen Tod ein wenig verebbt war, keimte die Saat des Hasses langsam aber bestätigt in ihm. Der Hass richtete sich jedoch nicht gegen seinen Vater; nein, Samtho hasste seinen Bruder Dolfur, der alles hatte. Eine wunderschöne Frau, die Liebe und Treue des gesamten Elfenvolkes und damit auch die Macht über Toschdangen – und nun auch noch eine Thronfolgerin.
Es hatte Samtho all seine Kraft gekostet, während des Festes große Freude über die Geburt seiner Nichte vorzugaukeln. Jetzt waren sämtliche Emotionen aus seinem Gesicht verschwunden. Das machte Nerlia angst! Sie wusste nicht viel über die dunklen Pläne, die ihr Mann während der letzten Wochen und Monate gegen seine Bruder geschmiedet hatte. Aber sie ahnte, dass er Böses plante und das erschreckte sie. Sie liebte ihren Mann und war ihm treu ergeben; doch sie hatte auch angst – angst, ihn zu verlieren und auch angst vor ihm. Er war manchmal so blind vor Hass, dass er nichts anderes mehr wahrnahm. Sie hoffte, er würde nichts Dummes tun.
Sie trat langsam zu ihm ans Fenster und legte ihre Hand sanft auf die seine. “Liebling, lass uns zu Bett gehen. Es ist schon sehr spät.” Samtho wandte ihr wie in Zeitlupe den Kopf zu und endlich kehrte wieder Leben in seine erstarrten Züge. Er lächelte sie liebevoll an und erwiderte. “Ja, du hast wie immer recht, meine Liebe. Lass uns schlafen gehen; ich muss bald schwerwiegende Entscheidungen treffen und dafür muss ich ausgeruht sein.”
Sie gingen in ihr Schlafgemach und legten sich zur Ruhe. Nerlia hörte bald Samtho’s regelmäßige Atemzüge, die ihr zeigten, dass er ruhig schlief. Doch Nerlia selbst fand keine Ruhe. In ihrem Kopf schwirrten alle möglichen Gedanken und – sie hatte große angst vor der nahen Zukunft.
Texte: Cornelia David
Bildmaterialien: Cornelia David
Tag der Veröffentlichung: 03.10.2014
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