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Prolog

Es gibt viele Arten diese Geschichte zu beginnen. Ich könnte in unserer Kindheit beginnen, als wir Mädchen sorgenfrei waren, ich könnte bei dem Begräbnis unserer Mütter beginnen, die bei demselben Unfall ums Leben kamen und nun nebeneinander in der Erde ruhen, doch ich denke, ich beginne bei den Hyazinthen, deren Duft uns beide betörte.

 

Die Hand der alten Frau zitterte, als sie nach ihrer Füllfeder griff und sie in die Tinte tauchte. Altersflecken bedeckten ihre schlaffe, runzelige Haut, deren Falten durch den zuckenden Schein der Kerzen nur noch verstärkt wurden. Ein leises Seufzen löste sich von ihren Lippen und der Blick aus ihren vom Alter getrübten Augen wanderte hinaus in die Dunkelheit, die vor ihrem Erkerfenster wartete und die sanftrollenden Hügel des Anwesens verbargen. 

Doch sie wusste genau, was sie sehen würde, wenn die Sonne die Dunkelheit vertrieb, wusste genau, wo jeder der Bäume stand, die ihr im Sommer so oft Schatten geboten hatten, wo der künstlich angelegte See, der sich geradezu makellos in den künstlerischen Garten einfügte, begann und wo sich der kleine Pavillon versteckte, in dem immer der Duft nach Tee und Süßigkeiten hing, als wäre der Duft in die Ritzen der Dielen gekrochen.

Ein Tintentropfen hing an ihrer Federspitze und sie streifte ihn am Rand des Tintenfasses ab, um das Papier nicht zu beschmutzen. Es war edles Papier, wertvoller noch der in Gold gefasste Federkiel, war doch das Blut in ihren Adern ebenso blau wie die mitternachtsblaue Robe in die sie gekleidet war. 

„Großmutter?“ Die Stimme ihrer Enkelin durchbrach ihre Gedanken und sie wandte langsam den Kopf, als sie die schmale Gestalt des Mädchens sah, das in ein weißes Nachthemd gehüllt war.

„Kannst du nicht schlafen?“, fragte die alte Frau weich und tiefe Liebe zu ihrer Enkelin blühte in ihr auf, als das Mädchen das mit blonden Haar gekrönte Haupt schüttelte und auf sie zu kam. 

„Was tust du hier, Großmutter?“

„In Erinnerungen schwelgen“, erwiderte die alte Frau und senkte den Blick auf das leere Blatt hinab. „Und mich an vergangene Träume erinnern.“ 

„Was für Erinnerungen?“ Ihre Enkelin ließ sich neben ihr auf einem Sessel nieder und sah sie erwartungsvoll an, doch ihre Großmutter schüttelte lächelnd den Kopf.

„Geh, mein Mädchen“, wies sie behutsam an. „Hol dir warme Milch mit Honig aus der Küche und geh zu Bett. Der Tag war lang.“

„Willst du es mir nicht erzählen?“ Verletzlichkeit schwang in der Stimme des Mädchens mit und ihre Großmutter berührte sie sanft am Arm.

„Irgendwann wirst du es erleben“, sagte die alte Frau. „Oder zumindest Teile davon. Schlafe wohl.“ Sie beugte sich vor, ihre Knochen ächzten als sie mit dem Daumen ein Kreuz auf die Stirn des jungen Mädchens malte und ihr einen Kuss darauf presste. „Geh zu Bett“, wiederholte sie und dieses Mal gehorchte ihre Nichte, mit einem Blick beunruhigter Verwirrung auf dem Gesicht.

Ihre Schritte verhallten in den leeren Gängen des Hauses, doch die alte Frau hatte es längst aufgegeben auf die Geräusche zu lauschen. Ihr Gehör war nicht mehr das, was es einmal gewesen war, doch ihre Augen waren es, die sie im Stich ließen und langsam ihr Sichtfeld immer weiter verdunkelten. Und so musste sie endlich tun, was sie so lange vor sich her geschoben hatte.

Wahrheiten musste sie schreiben, Wahrheiten, wenn sie doch bis heute nicht sicher war, ob ihre Wahrheit die richtige Wahrheit war oder nur ein Teil davon.

Ein weiteres Mal tauchte sie die Feder ein, dann senkte sie die Spitze auf das Papier hinab und zog eine glänzende, schwarze Linie,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Sophia Anna Csar
Bildmaterialien: Annika S.
Tag der Veröffentlichung: 31.07.2014
ISBN: 978-3-7396-3145-5

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