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Die Lauscherin

 

 

 

 

 

 

 

"Selbstvertrauen ist einfach. Vergiss einfach nie, dass du wertvoll bist." - Helen Mengal

Ein Gespräch, das besser ungehört geblieben wäre

 Es gab nicht viele Dinge, die Raffaela lieber tat, als an einem der runden Tische des Starbucks zu sitzen, einen Eiskaffee zu schlürfen und ihre Tischnachbarn zu belauschen.

Meistens ruhte ein Buch auf ihren Oberschenkeln, auch wenn sie es nur selten beachtete, sondern nur ihre dunkelbraunen Augen darauf richtete, um eine Entschuldigung für ihre Anwesenheit zu haben. Selten kam es vor, dass Raffaela sich wirklich auf die Buchstaben konzentrierte – und zwar nur dann, wenn ihre nichts ahnenden Nachbarn einmal doch nicht miteinander redeten, sondern sich hinter ihren Smartphones verkrochen.

„Gone with the Wind“ – Raffaela blätterte eine Seite um und schob ihr Lesezeichen in die Blätter, damit sie ihre letzte Stelle wieder fand. Manchmal schadete es nicht, doch einmal umzublättern, falls jemand sie beobachtete. Der Anschein musste gewahrt bleiben, so sinnlos es vielleicht auch war. Sie hob den Plastikbecher an die Lippen und warf einen Blick unter ihren dichten, schwarzen Wimpern zu dem Nachbartisch, an dem zwei Männer und eine Frau saßen.

Die Frau trug in ein adrettes, cremefarbenes Kostüm, hatte ihre langen Beine überschlagen und wippte mit einem ihrer Füße, die in dunkelblauen Pumps steckten, auf und ab, während sie ihrem Gesprächspartner mit gespitzten, roten Lippen lauschte. Einer der beiden Männer, ein eher schwerer Mann mit kurzgeschorenen Haaren in einem schlecht sitzenden Anzug, hatte die Ellenbögen auf seine Knie gestützt und redete leise, aber eindringlich auf die Frau ein, während der andere, etwas jüngere, lässig in dem niedrigen Sessel zurückgesunken war und die Beine, die in Jeans steckten, weit von sich streckte.

„...öffentlicher Ort“, hörte Raffaela den Mann im hässlichen Anzug sagen und die Frau verdrehte die Augen, als sie ihre eigene Kaffeetasse an den Mund hob. Eleganz und Selbstbewusstsein – sie trug sie wie einen Mantel um sich herum, hob sich vom Einheitsbrei ab und fügte sich trotzdem ein.

Raffaela stellte ihren Becher ab, beugte sich zur Seite um in ihre Handtasche zu greifen, während sie gleichzeitig ein bisschen nach rechts rutschte, die Beine in die Richtung des interessanten Trios richtete und einen Arm auf die Sessellehne stützte. Als sie wieder ruhig saß, konnte sie die drei gemütlich im Blick behalten, das Buch aufrecht auf ihr Knie gestützt um ihr eine Entschuldigung für die Blickrichtung zu bieten.

Die Frau strich sich eine brünette Haarsträhne mit einer ungeduldigen Bewegung aus dem Gesicht und gab ein höchst weibliches Schnauben von sich. Sie gab sich keine Mühe leise zu reden, als sie im fließenden Französisch fortfuhr: „Mon Dieu, jetzt sei nicht so ein Angsthase, Terence. Außerdem kannst du ums Verrecken keinen Kaffee kochen, also ist das hier die einzige Möglichkeit.“

Terence, der bullige Mann, seufzte schwer und wischte sich über die Stirn, während sein Begleiter verwirrt die Stirn runzelte und zwischen den beiden hin und her sah. Vermutlich beherrschte er kein Französisch – nicht so wie Raffaela es beherrschte. Zufrieden lächelnd blätterte sie ein zweites Mal um.

„Ich bezweifle, dass der Kaffee im Gefängnis besonders schmackhaft ist“, konterte Terence und Raffaela hielt verblüfft die Luft an, ohne eine Miene zu verziehen. „Camille, du weißt ebenso gut wie ich, wie vorsichtig wir sein müssen.“

„Dann beeil dich“, forderte Camille ungehalten. „Je schneller wir das hinter uns haben, desto schneller kann ich mich auf den Weg zu meinem Massagetermin machen und desto schneller bist du es los. Ich weiß sowieso nicht, warum wir hier noch lange herumreden müssen. Du hättest mir das blöde Ding auch einfach ins Hotel bringen können.“

Terence gab ein Geräusch von sich, dass sich wie ein Knurren anhörte, dann schob er etwas über den Tisch zu Camille, die dem Gegenstand nur einen gelangweilten Blick schenkte, bevor sie ihre Sonnenbrille vom Tisch nahm und in ihre Haare steckte. „Und dafür war dieses ganze Theater?“ Sie machte eine umfassende Bewegung mit einer sorgfältig manikürten Hand.

„Ich will sicher gehen, dass du alles verstanden hast.“ Terence knallte einen Umschlag auf den kleinen Tisch. „Sobald du in Paris gelandet bist“, Camille hob eine Hand an den Mund und verbarg ein gelangweiltes Gähnen, von dem sich Terence nicht irritieren ließ, „rufst du die Nummer in diesem Umschlag an und machst einen Termin aus. Camille, hast du mich verstanden? Du rufst sofort an, sobald du gelandet bist.“ Terence klopfte nachdrücklich mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte und Camille warf ihm einen gelangweilten Blick zu.

Mon Dieu, du tust ja so als wäre das mein erstes Mal. Darf ich dich erinnern, dass ich das schon im Schlaf beherrsche?“ Sie nahm das Kuvert und die kleine flache Schachtel und steckte beides in ihre Handtasche.

„Ich will nur sicher gehen“, Terence beugte sich weiter vor, „dass du keine Fehler machst, Camille. Keine Fehler.“

„Ich habe noch nie Fehler gemacht“, schmollte Camille und holte einen kleinen Handspiegel aus ihrer Handtasche, in dem sie ihren Lippenstift kontrollierte, bevor sie ihn lautstark zu schnappen ließ und Terence ansah. „Wir spielen dieses Spiel seit sechs Jahren. Mittlerweile solltest du schon ein bisschen Vertrauen in mich haben.“

Terence lehnte sich ein bisschen zurück und schüttelte den Kopf. „Mit Vertrauen hat das hier nichts zu tun und das weißt du. Wir brauchen einen Deal.“ Er beugte sich wieder vor und fasste nach Camilles Hand, die in seiner großen fast völlig verschwand, als er sie eindringlich ansah. „Wir brauchen ihn.“

Camille erwiderte seinen Blick, das Gesicht völlig frei von ihrer vorherigen Ungeduld. Stattdessen zeigte sich ehrliche Sorge auf ihrer glatten Stirn. „Will ich wissen, was du dafür getan hast?“

Terence sah Camille nur schweigend an, bis sie seufzte und die Hand aus der seinen wand, sie kurz tätschelte und mit einer schwungvollen Bewegung ihre Kaffeetasse leerte. „Meine Herren.“ Sie erhob sich, nickte dem jüngeren Mann, der nur schweigend daneben gesessen hatte, zu, warf Terence einen vielsagenden Blick zu und nahm einen Koffer in die Hand. „Ich verabschiede mich.“ Damit wandte sie sich der Treppe zu, die ins Erdgeschoss führte, wich zwei jungen Teenager-Mädchen aus, die angeregt schnatterten und verschwand im Gewühl.

„Sie ist nicht gerade die Klügste“, murmelte der junge Mann und verzog verächtlich den Mund. Raffaela brauchte einen Moment um die sprachliche Umstellung zu verarbeiten und verbarg ihr zufriedenes Lächeln. Russisch war eine Sprache, die sie mit der Muttermilch aufgesogen hatte.

„Unterschätz sie nicht“, erwiderte Terence in schwer akzentuiertem Russisch, trank den letzten Rest aus seiner Tasse und erhob sich. „Sie ist klüger als sie wirkt.“

Der jüngere Mann murmelte etwas, das Raffaela nicht verstand, als sie ihr Buch zu klappte, in ihre Tasche stopfte und mit ihrem Kaffee in der Hand sich auf den Weg Richtung Ausgang machte. Jetzt war vermutlich der Zeitpunkt sich sehr schnell auf den Weg zur Polizei zu machen und zu sagen, was sie gehört hatte.

Ihre Hände zitterten leicht, als sie sich mit gesenktem Kopf durch die Leute vor der Theke drängte und auf die Glastür zusteuerte, hinter der die emsige Betriebsamkeit der Maria-Hilfer-Straße lauerte.

Den Blick fest auf den Boden gerichtet, bemerkte sie die Beine eines Mannes, der ihr die Tür aufhielt und hob kurz den Kopf um ihm ein schmallippiges Lächeln zu schenken. Terence nickte ihr mit der Gelassenheit eines höflichen Mannes zu, als sie durch die Tür trat und der Kaffee in ihrer Hand wirkte plötzlich noch viel kälter. Hatte er mitbekommen, dass sie sie belauscht hatte?

Terence wandte sich ab, der junge Mann folgte ihm und redete leise auf Russisch auf ihn ein, während Raffaelas Beine sie automatisch weitertrugen. Furcht und Erleichterung mixten sich zu einem panischen Gewirr in ihrem Inneren und ihr Herz holperte in einem hektischen Rhythmus in ihrer Brust, als sie in eine der Seitenstraßen abbog, zu erschrocken um darüber nachzudenken, wo sie hinging.

Erst als das Menschengewühl um sie herum versiegte, erfasste sie, wo ihre Beine sie hingetragen hatten und sie blieb stehen, als sie sich unruhig umsah.

Es war nur eine höfliche Geste gewesen, nicht mehr und nicht weniger. Der Mann, der in irgendwelche illegalen Geschäfte verwickelt war, war einfach nur höflich gewesen, als er ihr die Tür aufgehalten hatte.

Aufatmend lehnte sie sich gegen eine schmutziggraue Hauswand, nippte erneut an ihrem Kaffee und versuchte sich mit dem vertrauten Geschmack zu beruhigen. Es war in Ordnung, dachte sie, sie hatte nur ein Gespräch belauscht. Ein Gespräch, in dem ernsthafte Bemerkungen über Gefängnisse gemacht worden waren.

Sie schloss die Augen und wiederholte es in Gedanken noch einmal. Es war um etwas Illegales gegangen. Dieser Gegenstand war etwas, das wertvoll war und das nach Paris gebracht werden sollte. In einem öffentlichen Flugzeug, also konnte es nichts gefährliches sein.

Oder ihre Fantasie ging mit ihr durch und sie hatte sich das alles nur eingebildet. Raffaela stellte sich vor, wie sie in eine Polizeidienststelle ging und den Polizisten von dem Gespräch erzählte. Vermutlich würden sie sie auslachen. Vermutlich war es besser, wenn sie es einfach vergaß – solche Geschäfte wurden sicher nicht am helllichten Tag im Starbucks behandelt.

Und wo sollten sie sonst behandelt werden? In einer finsteren Kaschemme um Mitternacht? Raffaela lachte sich innerlich selbst aus, als sie sich von der Hauswand löste und die Straße weiter entlang ging.

Egal, wie hoch ihr das Herz bei dem Gedanken daran klopfte, dass sie mit Polizisten reden musste – dass sie überhaupt mit irgendjemanden reden musste – sie würde hingehen, das Gespräch wiederholen und es ihnen überlassen. Wenn man nichts damit anfangen konnte, dann war es verschwendete Zeit und verschwendete Nerven gewesen, aber sie würde zumindest ein ruhiges Gewissen haben.

Oder – sie zögerte für einen Moment, bevor sie in eine weitere Seitenstraße abbog, in die kein Sonnenstrahl vordringen konnte, da die Häuser sich zu hoch erhoben – sie würde sich einfach nur lächerlich machen. Sie könnte ihr Gewissen auch einfach zur Seite schieben und das Gespräch vergessen. Bitte, was hatte sie schon gehört? Wie ein Mann einer Frau ein Kästchen mit etwas wertvollem darin gegeben hatte und ihr gesagt hatte, wann ihr Flieger ging.

Es war vielleicht etwas seltsam formuliert gewesen, aber eigentlich war es nichts Besorgniserregendes gewesen. Sie sollte es einfach vergessen. Ja, sie würde es einfach vergessen und ignorieren und nicht mehr daran denken.

Sich selbst zunickend hob sie den Becher und eine raue, harte Hand legte sich über ihren Mund, während ein Arm sich um ihren Oberkörper schlang und ihre Arme fixierte. Der Kaffee rutschte aus ihren Fingern, klatschte mit Wucht auf den Boden und die braune Flüssigkeit spritzte über ihre nackten Schienbeine und schwarzen Ballerinas.

Vom Schock erstarrt spürte Raffaela, wie sie nach hinten gerissen wurde. Eine offene Autotür klaffte vor ihr auf, dann taumelte sie in das muffige Innere, zerdrückte Papierkartons, griff in schmierige Flüssigkeiten und kratzige Autoteppichfasern. Sie stürzte, lag auf dem Boden zwischen Rückbank und Vordersitzen eingeklemmt.

Die Tür knallte zu, eine zweite flog auf und schlug zu, dann grollte der Motor los und Raffaela wand sich verzweifelt hin und her um in eine aufrechte, sehende Position zu kommen.

„Unten bleiben.“ Die scharfen russischen Worte ließen sie erstarren und sie spürte den Schmerz in ihrem rechten Knie, wo sie sich bei dem schnellen Manöver angeschlagen hatte.

Ihre offenen, dunkelbraunen Haare hingen ihr ins Gesicht, verklemmten sich zwischen Sitz und Schulter, was ihr einen scharfen Schmerz durch die Kopfhaut jagte, als sie den Kopf heben wollte. Endlich konnte sie den Kopf wenden und schielte verkrampft auf den Fahrersitz, die Stirn schmerzhaft gegen die Metallschiene des Beifahrersitzes gedrückt.

„Wo sind die Diamanten?“

Der Wagen ging scharf in eine Kurve und sie wurde nach hinten gepresst, ihr Arm verdreht unter ihrem Magen eingeklemmt, doch ihr Sichtfeld erweiterte sich und enthüllte einen muskulösen Arm, der mit Tätowierungen übersäht war, die unter dem schwarzen Ärmel eines T-Shirts verschwanden.

Etwas Metallisches blitzte auf und Raffaela wurde ganz ruhig. Ihr Herz schien stehen zu bleiben, als sie den Griff der Pistole anstarrte.

Vielleicht hätte sie sofort die Polizei rufen sollen, als sie das Gespräch belauscht hatte. Vielleicht hätte sie ihre Angst vor Telefonaten überwinden sollen. Vielleicht – vielleicht wäre sie dann nicht auf dem Boden eines Autos auf dem besten Weg eine Kugel in den Kopf zu bekommen.

Tat das weh?

Sie schluckte. Betäubende Furcht breitete sich in ihr aus und lähmte all ihre Gedanken, als sie erstarrt auf dem Boden lag und Schmerzen durch ihren verdrehten Körper schossen, den Blick fest auf die Pistole gerichtet.

Es war eine Pistole, versicherte sie sich immer wieder, es war eine Pistole und sie steckte in einem Hosenbund. Die Pistole wurde nicht auf sie gerichtet. Noch nicht.

„Hey“, fuhr die tiefe, raue Stimme sie erneut an und Raffaela zuckte zusammen. „Die Diamanten! Wo sind sie?“

Atemlos schnappte Raffaela nach Luft, versuchte die Worte in ihrem Mund zu artikulieren, doch nur ein heiseres Krächzen drang aus ihrer Kehle. Wieder einmal ließen ihre Stimmbänder sie im Stich. Das machten sie öfters, aber gerade jetzt sollten sie es nicht tun.

Sie öffnete ihren Mund, starrte hilflos den Arm an, die sternförmige Tätowierung mit den kyrillischen Buchstaben darauf und wünschte sich, dass all dies nur ein Alptraum war. Ein simpler Alptraum, aus dem sie jeden Moment wieder aufwachen würde.

„Antworte mir, verdammt!“

Eine weitere Kurve, Raffaela verrutschte, ihre Arme wurde frei und sie riss ihren Oberkörper nach oben, ignorierte den Schmerz, der durch ihre Kopfhaut schoss, als sie ihre Haare unter ihrem Körper heraus riss und stemmte sich mit ihren Füßen gegen die Autotür. Der Schwung der Kurve half ihr, als sie blindlings die Türklinke erwischte und gegen die Tür stieß.

„Was zur…“ Die Tür schwang auf und Bremsen quietschten bei dem unterbrochenen Fluch, als er das Auto zum Stehen brachte. Sie stürzte auf den Asphalt, rau auf ihrer nackten Haut, rappelte sich auf und sie rannte, verlor einen Schuh, der auf der Straße zurückblieb. „Bleib stehen!“

Sie blieb nicht stehen, hetzte über die Straße, verfluchte die Wiener Seitengasse, die menschenleer war. Hilfe. Sie brauchte Hilfe.

Ihr Herz trommelte in einem hektischen, unruhigen Rhythmus in ihrer Brust, ihr Atem ging keuchend, als sie in einen Innenhof taumelte und ohne zu überlegen in ein Haus stürmte, dessen Haustür offen stand. Mit einem verzweifelten Keuchen presste sie die Tür ins Schloss, hoffte, dass das Schloss sie schützen würde und hielt auf die Treppe zu.

Instinktiv rannte sie die Treppe zum dunklen Keller hinunter, in dessen Schatten sie sich Schutz versprach, als sich ihr übrig gebliebener Schuh von ihren Fuß löste und sie den Halt auf den kalten Steintreppen verlor, taumelnd ihr Gleichgewicht suchen wollte, hilflos durch die Luft fuchtelte und sie fiel, stürzte und dann wurde es Schwarz.

 

***

 

In ihren Kopf bohrte sich ein glühendes Messer und schabte hinter ihren Augen herum. Raffaela stöhnte, berührte ihren Kopf und gleißender Schmerz durchbrach die Dunkelheit, der sie wimmernd zusammenzucken ließ.

Sie rollte sich zusammen, was einen zweiten Schmerzblitz aus ihrem Knie nach sich zog, als sie es anwinkelte und über den Boden zog. Kälte hatte sich in ihre Knochen gefressen und Übelkeit revoltierte in ihrem Magen, als sie vorsichtig die Augen öffnete.

Es änderte sich nichts. Es blieb dunkel und die Dunkelheit presste auf sie nieder, als wäre sie eine Mauer, die versuchte ihren Kopf zu zerdrücken. Was war passiert?

Sie schloss die Augen wieder, atmete durch die Nase ein und durch den Mund aus, versuchte den Brocken der Übelkeit in ihrer Kehle zurück zu drängen, bevor sie vorsichtig ihr Gesicht berührte. Dieses Mal war sie gewappnet vor dem Schmerz, der sie durchzuckte, als sie in die Feuchtigkeit griff, die sich auf ihrer Schläfe gesammelt hatte und ihre Haare zu widerspenstigen Strähnen vertrocknete.

Sie war gefallen. Da war die Treppe gewesen - sie blinzelte, bewegte vorsichtig ihren rechten Arm und biss schmerzerfüllt die Zähne zusammen. Jemand hatte sie verfolgt.

Ein Auto. Die Pistole. Die russischen Worte. Der Mann. Die Diamanten.

Raffaela erstarrte, als die Erinnerungen auf sie einstürmten, dann spürte sie, wie die Übelkeit zu viel wurde und sich bitterer Mageninhalt durch ihre Speiseröhre drängte. Ihr Körper hob sich in einer schmerzhaften Welle als sie sich erbrach. Bunte Sterne tanzten vor ihren Augen, vor Anstrengung und vor Schmerz, bis ihr Magen leer war und sie sich zitternd und erschöpft auf die Seite rollte, weg von ihrem Erbrochenen.

Keuchend schnappte sie nach Luft, spuckte aus und tastete nach ihrer Handtasche. Ihr Handy würde ihr Licht spenden, doch ihre Finger griffen ins Leere. Ihre Tasche war verschwunden und stöhnend strich sie vorsichtig über den kalten, harten Boden, bis sie Stoff berührte. Es war ihr Schuh, den sie in der Hand hielt und frustriert ließ sie ihn fallen.

Ihr Schuh.

Sie griff erneut danach und ein Lächeln breitete sich fast auf ihrem Gesicht aus, als ihr verwirrtes Gehirn die Information daraus zog. Wenn ihr Schuh da war, dann war sie noch immer in dem Haus, in das sie sich geflüchtet hatte. Der Mann hatte sie nicht gefunden.

Mit vorsichtigen Bewegungen tastete sie nach der Treppe, den Schuh umklammert als wäre er eine Rettungsleine, bis sie gegen die Steinstufen stieß und sich langsam auf allen vieren an den Aufstieg machte. Ihr linkes Knie schmerzte und pochte, ihr rechter Arm war so gut wie nutzlos und kalter Schweiß sammelte sich auf ihrer Stirn und in ihrem Nacken, als sie keuchend die Treppe erklomm, die genauso gut der Himalaya sein könnte.

Schwaches Licht schien ihr entgegen, als sie höher kam.

Es war das gelbe Licht der Straßenlaternen und mit einem Schaudern erkannte sie, dass es bereits Nacht geworden war. Sie war schweißgebadet, als sie die letzte Stufe hinter sich gebracht hatte und zog sich am Treppengeländer aufrecht hin, bemüht kein Gewicht auf ihr linkes Bein zu verlagern.

Erst als sie die Haustür aufdrückte und im gelben Lichtschein der Laterne stand, stockte sie, ihr Herz begann erneut zu trommeln wie das Herz eines Hasen, dem die Hunde auf den Fersen waren. Was war, wenn er noch auf sie wartete? Wenn er sie noch suchte?

Raffaela schluckte mühsam, ihr Blick aus dunkelbraunen Augen huschte gehetzt durch den begrünten Innenhof, den sie erst jetzt richtig wahrnahm und der still und leer dalag

Ihr Atem klang laut in ihren Ohren, als sie lauschte, angespannter lauschte als je zuvor, die Finger um den Türrahmen gekrampft.

Der Schrei eines Betrunkenen hallte durch die Gassen, gefolgt von lautem, zügellosen Gelächter und ihr Atem stockte, bevor er weiter rasselte. In der Ferne rauschte der Verkehr, ein Auto hupte, ein Hund bellte, eine Tür fiel ins Schloss, ein Fernseher plärrte laut vor sich hin, ein Mann schimpfte in einem unverständlichen Kauderwelsch.

Kein Russe mit Pistole war in den Geräuschen der Stadt zu hören, seine Schritte näherten sich ihr nicht und sie machte einen vorsichtigen Schritt nach draußen, wandte den Kopf immer wieder nach links und rechts, versuchte die Schatten zu durchdringen, als sie sich hinkend über den auskühlenden Asphalt mühte, eine Hand gegen die Mauer gepresst.

Plötzlich hielt sie inne.

Was tat sie überhaupt?

Sie starrte ein hell erleuchtetes Fenster an, beobachtete die zuckenden, bläulichen Schatten des Fernsehers hinter den Spitzenvorhängen, als die kühle Nachtluft ihre verworrenen Gedanken klärte. Sie musste die Polizei rufen. Oder nein. Sie musste ihren Bruder anrufen. Und dann die Polizei. Er würde die Polizei anrufen.

Ihr Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken an Fremde, die sie um Hilfe bitten musste, mit denen sie reden musste und sie presste sich zitternd eine Hand gegen den Mund, schloss die Augen und sammelte den letzten Rest Courage, den sie besaß. Dann wandte sie sich um und klingelte bei der ersten Klingel, die sie erreichte, schnell und schmerzlos, ohne lange darüber nachzudenken.

„Ja?“, raunzte ihr eine Stimme entgegen und sie öffnete den Mund, als ihre Zunge sie erneut im Stich ließ und sie nur mit frustrierten Tränen in den Augen die leuchtenden Klingelschilder anstarren konnte. „Hallo?“, knurrte die Stimme ungeduldiger und sie befeuchtete sich die trockenen Lippen.

„Hilfe“, flüsterte sie, die Lippen gegen die Sprechanlage gepresst, suchte nach Worten. „Überfall“, brachte sie heraus. „Telefon?“

Knisternde Stille antwortete ihr, dann summte der Türöffner und sie presste sich mit der Schulter gegen die Tür, wand sich in das Haus hinein. Licht durchflutete das Stiegenhaus und Raffaela konnte nicht umhin sich wieder in die Dunkelheit zu wünschen, in der sie unsichtbar werden konnte. Oben wurde eine Tür aufgerissen, dann trampelten Füße über die Treppe und sie lehnte sich gegen die Mauer. Müde und kraftlos rutschte sie die Wand hinunter, als eine rundliche Frau im Jogginganzug und Plastikschlapfen die Treppe hinunter kam und abrupt zum Halt kam, als sie sie sah.

„Oh mein Gott“, sagte die Frau und Raffaela sah zu ihr auf, als sich die Welt plötzlich um sie herum zu drehen schien, in einem wirbelnden Wind aus gelben Licht und gepunkteten Stein. Und dann war es erneut dunkel.

Raffaela betrachtete sich im Spiegel - oder vielmehr musterte sie das weiße Pflaster an ihrer Schläfe, das sich wie ein Signallicht von ihrer hellbraunen Haut abhob, die sie ihrem italienischen Vater zu verdanken hatte.

„So schlimm ist das Pflaster doch nicht“, sagte ihr Bruder ungeduldig, der gegen den Türrahmen gelehnt da stand und finster die Arme vor der Brust verschränkt hatte. Sie warf ihm nur einen kurzen Blick zu, dann versuchte sie die dunklen Augenringe unter ihren leicht schräggestellten Augen zu verbergen.

Sie war ein Kind des multikulturellen Wandels mit einem italienischen Vater, der zur Hälfte Franzose war und einer russischen Mutter, deren Großmutter Japanerin gewesen war. Sprachen waren ihre Welt - auch wenn sie weder in Deutsch, Russisch, Italienisch, Englisch, Italienisch, Spanisch und Japanisch besonders wortgewandt war. Und in Spanisch beherrschte sie nur das, was sie in der Schule gelernt hatte und Japanisch konnte sie nur verstehen, wenn ihre halb-japanische Großmutter langsam und deutlich sprach.

„Und die Augenringe würden weggehen, wenn du mal wieder schlafen würdest“, mischte er sich weiter ein und sie schnaufte durch ihre Nase hindurch, was ihn wie immer nicht besonders beeindruckte. „Nimm doch bitte die Schlaftabletten.“

Sie ignorierte ihn, hatte sie diesen Satz doch schon oft genug gehört in der Woche, die seit ihrer kurzen Entführung vergangen war. Eine Woche voller Alpträume. Mit spitzen Fingern trug sie Make-up auf und musterte sich erneut im Spiegel.

Ihr ovales Gesicht wirkte spitz und zerknautscht durch den Schlafmangel, die hohlen Wangen wurden durch ihre hohen Wangenknochen nur noch verstärkt und ihre Lippen, die etwas klein, doch sehr voll waren, schienen in ihrem erschöpften Gesicht seltsam deplatziert.

Frustriert zupfte sie an ihren Haaren herum, versuchte sie über ihr Pflaster zu drapieren, ohne sich dabei die Haare in ihre Augen fallen zu lassen und scheiterte kläglich daran. Stirnfransen. Sie würde sich Stirnfransen schneiden lassen.

Sie stellte ihr Make-up in ihren Badezimmerschrank zurück und verscheuchte ihren Bruder mit ungeduldigen Handbewegungen von der Tür, doch er folgte ihr in ihr Zimmer, als sie ihren Kleiderschrank durchging. „Sie werden ihn schon finden“, sagte er, als er sich auf ihr Schlafsofa fallen ließ und legte die Beine auf ihren Couchtisch.

Das dunkelblaue Kleid mit dem weißen Gürtel oder den schwarzen Bleistiftrock mit einer Bluse? Nur mit welcher Bluse? Sie holte eine lilafarbene und eine cremefarbene heraus und musterte sie nachdenklich, bevor sie sich für die lilafarbene entschied und wieder ins Bad zurückkehrte um sich anzuziehen. Mit etwas Glück würde Giorgio nicht mehr ihr Zimmer belagern, wenn sie zurückkam. Doch - oh Wunder - er belagerte immer noch ihre Couch, die dominanten Augenbrauen über seinen leicht schräggestellten Augen zusammengezogen.

„Bitte nimm die Schlaftabletten“, bat er sie erneut, doch sie nahm nur kopfschüttelnd ihre Handtasche mit dem weißen Muster, prüfte, ob sie ihren Laptop und Ladekabel eingepackt hatte und hauchte ihrem Bruder einen kurzen Kuss zu, bevor sie sich auf den Weg zur Uni machte.

Oder zumindest so tat als ob.

Mit einem Kaffee - brasilianische Bohnen, perfekt geröstet - in einer Hand ließ sie sich wenig später in den Schatten eines Buchsbaumes vor dem naturwissenschaftlichen Museum fallen und sah zur Statue Maria Theresias auf, während sie an dem heißen Getränk nippte. Nächste Woche. Nächste Woche würde sie wieder auf die Uni gehen.

Aber diese Woche konnte sie es noch nicht ertragen, konnte die Angst nicht vergessen, konnte nicht in einem Hörsaal sitzen und lauschen, während sie nicht wusste, ob er nicht vielleicht doch noch kommen und sie finden würde.

Sie zog die Beine an, lehnte ihren Kopf an ihre Knie und starrte das Gänseblümchen zu ihren Füßen an. Sie hatte Angst. Unglaubliche, lähmende Angst.

Giorgio wusste das, woher auch immer, aber ihr älterer Bruder hatte immer schon einen sechsten Sinn gehabt, wenn es um sie gegangen war. Aber jetzt gerade wünschte sie sich, dass er es nicht wissen würde und sie einfach in Ruhe ließ.

Sie hatte Angst zu schlafen, denn im Schlaf kamen die Alpträume. Und sie hatte Angst wach zu bleiben, denn wenn sie wach blieb, begannen die Schatten zu tanzen und das Glitzern ihres Spiegels verwandelte sich in das Blinken einer Pistole, bis sie den Spiegel eines Nachts abgenommen und umgedreht hatte.

Wenn ihre Mutter Russisch sprach, zuckte sie zusammen, bedacht darauf, es sie nicht merken zu lassen, doch alles, was sie hörte, waren die bitteren Flüche, als sie sich aus dem Auto gerollt hatte.

Ihr Blick wanderte durch den Park, verweilte kurz auf einem bulligen Mann und sie schauderte, als sie sich an die Verbrecher erinnerte, die sie belauscht hatte. Man hatte sie nicht gefunden. Es schien, als wären sie spurlos verschwunden, mit den Diamanten in Paris.

Und Raffaela schien nicht mehr als eine Verwechslung gewesen zu sein, da ihr der eine Mann die Tür aufgehalten hatte. Eine Verwechslung - und jetzt hatte Raffaela Angst vor ihrem eigenen Schatten.

Lächerlich, schalt sie sich in Gedanken, doch dennoch spürte sie die Gänsehaut auf ihren Armen. Sie war lächerlich in ihrer Angst und Panik.

Raffaela trank einen weiteren Schluck und legte den Kopf in den Nacken, sah auf zur strahlenden Sonne und prostete ihr zu, ganz leicht nur, damit niemand es sehen konnte. Angst hatte immer schon ihr Leben beherrscht - warum sollte es sich jetzt ändern? Angst vor Fremden, Angst zu reden, Angst vor Menschen, Angst alleine zu sein, Angst nicht alleine zu sein, Angst vor allem und jeden und am Meisten vor der Welt.

Paris. Sie hatte immer schon mal nach Paris gewollt. Oder Berlin. Oder München. Oder Rom. Venedig. Verona. Mailand. Lissabon und Marseille. London. Prag und Moskau. Und St. Petersburg.

Aber da war die Angst. Die Angst, ihre Sachen zu packen und bei der Tür hinauszugehen und plötzlich ganz auf sich alleine gestellt zu sein, ohne ihren Bruder, auf den sie sich immer verlassen konnte, auch wenn er manchmal zu beschützend war.

Raffaela nahm einen weiteren Schluck, erinnerte sich an die Pistole, an die Angst zu sterben. Diese Angst war neu gewesen. Und nun machte diese Angst ihr ganzes Leben kaputt, auch wenn sie kein besonders aufregendes Leben hatte. Bitte - ihr Hobby war es gewesen, Leute in Kaffeehäusern zu belauschen. Sie schnaubte. Wie erbärmlich war das denn?

Nicht so erbärmlich wie das, was sie jetzt tat, gestand sie sich ein. Nicht so erbärmlich wie sich hier zu verstecken und zu hoffen, dass die Angst irgendwann weggehen würde. Die Angst würde nicht weggehen, stellte sie fest, ihr Blick auf sich selbst geschärft durch die Furcht vor der Pistole und dem Sterben. Die Angst würde bleiben, bis sie alt und grau war.

Wollte sie das?

Sie starrte den Kaffee in dem Pappbecher an, spürte das Kitzeln des Grases auf ihren nackten Beinen, die Sonne auf ihren Zehen, die aus dem Schatten ragten und wusste, was sie wollte.

Mit schnellen Zügen leerte sie ihren Becher, sammelte ihre Sachen ein und marschierte über den Rasen zielstrebig davon, stopfte den Becher in den Mistkübel und sah zu Maria Theresia hoch, die mit Doppelkinn und stolzem Blick über Wien hinweg blickte.

Raffaela Irina Vanzetti wollte leben.

Leben ist eine schwierige Sache

„Karte nicht lesbar“ leuchtete Raffaela auf Französisch vom Bankomaten entgegen und verdattert hörte sie das Piepen, als das Gerät ihre Karte abwies.

„Tut mir leid“, sagte die Verkäuferin und ihrer Stimme hörte man an, dass es ihr völlig egal war. „Wollen Sie es nochmals probieren?“

Raffaela nickte, wischte die Karte ab und steckte sie erneut ein. Piepton, „Karte nicht lesbar“.

„Die Karte dürfte defekt sein“, stellte die Verkäuferin mit beeindruckendem Scharfsinn fest. „Der Automat hat zuvor noch einwandfrei funktioniert.“ Raffaela stopfte die Karte mit einem sinkenden Gefühl im Magen zurück in ihre Geldtasche, blinzelte, völlig aus der Bahn geworfen. „Wollen Sie bar bezahlen?“

Raffaela starrte die Kaffeemühle und die speziell gemischte Bohnenmischung an, dann warf sie einen Blick auf den Fünfziger in ihrer Geldtasche und nickte. Sie würde zum Bankomaten gehen und dort würde sie sicher noch etwas Geld haben. Mit zitternden Fingern gab sie den Fünfziger her und steckte die zwei Zehner Restgeld zurück in ihre Geldtasche, packte ihre Einkäufe hastig ein und taumelte aus dem Geschäft, Unruhe und Nervosität im Magen. Die einfache Planänderung hatte sie aus der Bahn geworfen und eilig suchte sie einen Bankomaten mit nagender Sorge im Bauch.

Seit einer Woche war sie mit Rucksack und Interrailticket unterwegs und hatte stur Paris angepeilt, nur mit kurzen Aufenthalten in München und Straßburg. Es war ein Kampf mit ihren Eltern und ihrem Bruder gewesen, dass sie sie hatten gehen lassen und als sie gehört hatten, dass sie nach Paris wollte, hatte Giorgio laut auf Italienisch zu schimpfen begonnen. Warum sie ausgerechnet nach Paris wollte, obwohl das auch der Ort war, zu dem die Diamantenschmugglerin gereist war, wusste sie nicht genau. Es war vielleicht einfach Sturheit und Eigensinn, die aus Raffaela sprachen, sich ihren Traum, Paris zu sehen und auf dem Eiffelturm zu stehen, nicht von Kriminellen zerstören zu lassen.

Und außerdem würde sie schon wirklich großes Unglück haben, wenn sie ihr erneut begegnen würde oder dem Russen, der ihr anscheinend folgte. In einer Stadt mit zwei Millionen Einwohnern war das doch etwas unwahrscheinlich.

Raffaela stolperte über einen Randstein und hielt sich aufkeuchend an einem Laternenmast fest, brennende Röte in ihren Wangen, als sie hastig weitereilte, bemüht sich nichts anmerken zu lassen, den Blick auf das Zeichen des Bankomats gerichtet. Dort steckte sie ihre Karte ein, drückte sich selbst die Daumen, als das Ladezeichen erschien.

„Karte nicht lesbar.“

Fassungslos starrte sie die Schrift an, wartete ungeduldig, bis der Automat die Karte ausgespuckt hatte, wischte sie ab, versuchte es erneut. Gleiches Ergebnis.

Stumm formten ihre Lippen Flüche, als sie die Karte einpackte und erneut in ihrem Geldscheinfach nachsah. Zwanzig Euro und dreizehn Cent lächelten ihr entgegen und ihre Hände begannen zu zittern, während sie sich fragte, wie sie sich heute ein Hotel leisten sollte.

In schnellen, abgehackten Zügen kam ihr Atem, bevor sie die Augen fest zusammenkniff und sich zu konzentrieren versuchte. Sie musste auf die Bank, dann würde sie sich ein Hotel suchen, das sich damit zufrieden stellen ließ, dass sie ihren Pass hinterlegte. Leichte Übelkeit der Nervosität stieg in ihr auf, als sie sich vorstellte, wie sie das erklären sollte.

Aber vielleicht würde sich alles auf der Bank klären lassen. Sie warf einen Blick auf ihr Handy und erstarrte innerlich. Es war kurz vor sechs und Schweiß brach ihr aus, als ihr klar wurde, dass sie dieses Wochenende ohne Geld hinter sich bringen musste.

Die Hände um Geldtasche und Handy verkrampft stand sie inmitten der Menschenmassen, die sich über eine der Einkaufsstraßen Paris’ wälzten, und fühlte sich unglaublich allein.

 

Raffaela schulterte ihren Rucksack und blinzelte in die trüben Sonnenstrahlen, die sich durch die Wolken quälten und versuchte den Gestank der Seine zu ignorieren, der ihr penetrant in die Nase stieg. Es war keine gute Idee gewesen, an der Seine spazieren zu gehen, auch wenn ihr das zuvor als eine gute Idee erschienen war. Genauso wie gestern, als es ihr als eine gute Idee erschienen war, im Park zu übernachten und vor zwei Wochen es eine gute Idee gewesen war, im Nachtzug nach Paris zu fahren. Wenigstens hatte sie ein passendes Buch dabei gehabt - „Nachtzug nach Lissabon“ - auch wenn sie nicht auf dem Weg nach Lissabon gewesen war und auch die Zeit nicht zurückdrehen wollte. Sie wollte in die Zukunft gehen, in der Zeit nach vorne gehen und sagen, dass sie gelebt hatte, aber das mit dem Leben war nicht so einfach. Eigentlich war es eine schwierige Sache.

Ihr Rücken und ihr Nacken schmerzten von der verkrampften Haltung, in der sie die Nacht auf einer Parkbank hinter sich gebracht hatte und sie sehnte sich nach einer Dusche. Wenigstens hatte sie sich heute noch etwas zu essen kaufen können und sie hatte zwei Stunden in einem Café gesessen, ein Stück Kuchen gegessen und zwei Kaffee getrunken. Und sie hatte etwas Essentielles gelernt, nämlich dass französische Freundlichkeit überbewertet wurde. Aber vielleicht hätte sie auch einfach lauter sprechen sollen und es richtig rüberbringen sollen, was sie für ein Problem hatte. „Kein Geld“, zu murmeln und zu hoffen, dass die Rezeptionistin des Hotels daraus die richtigen Schlüsse ziehen konnte, war vielleicht zu viel des Guten.

Sie beschleunigte ihren Schritt, den Blick gewohnheitsmäßig auf ihre Füße in den schwarzen Schuhen gerichtet, die linke Hand im Taschenriemen verhakt. Giorgio hatte Recht gehabt. Das hier war eine schlechte Idee gewesen. Nein, keine schlechte Idee - eine grauenhafte Idee und wenn sie noch einen Rest an Verstand besaß, dann würde sie nach Hause fahren, wo sie hingehörte.

Aber da war dieser kleine Widerstand in ihr, der ihr Abenteuer versprach und der köstliche Kaffeegeruch aus den Kaffeehäusern, an denen sie vorbei gegangen war. Es sollte nicht so schwer sein. Eigentlich war ja alles gar nicht schwer.

Und eigentlich war sie eine starke, selbstbewusste Frau, die reden konnte und laut über Witze lachen konnte - die Witze erzählen konnte, worüber andere lachen mussten.

Ja. Genau.

Raffaela grub sich die Fingernägel in die Handflächen und presste die Lippen aufeinander, als sie in eine kleine Seitengasse abbog. Ein Café drängte sich zwischen verschnörkelte, heruntergekommene Jugendstil-Häuser, geflochtene Korbsessel mit orangen und roten Kissen darauf waren um drei kleine, runde Tische mit gelb gepunkteten Tischdecken gruppiert und als Abgrenzung von der Einbahnstrasse dienten rote Geranien, die einen schweren Duft verströmten. Die Tische waren leer, doch leise Musik tönte aus dem Café, dessen Glastür offen stand, obwohl der Tag ein kühler war.

„I’ll be your light“, sang eine Frauenstimme zu OneRepublic, fest und sicher erhob sie sich über die rhythmische Musik und Raffaela warf einen vorsichtigen Blick in die Schaufenster, die die Front des Cafés zierten.

Eine schwarzhaarige Frau drehte sich in der Mitte des Raumes, wiegte sich selbstvergessen zur Musik, ein buntes Geschirrtuch in der einen Hand, mit dem sie durch die Luft wedelte. Sie trug Jeans und ein schwarzes, lockeres T-Shirt mit Aufdruck darauf, den Raffaela nicht lesen konnte. Ihre Kleidung sollte in dem kunterbunten Café, das aussah, als hätte ein Kind bunte Farben zum Spielen bekommen, deplatziert wirken. Doch sie tat es nicht, denn die Frau glitzerte in ihrer Lebensfreude, als sie die Hände hob, ihre Hüften schwang und die Bridge sang.

Raffaela blieb die Luft weg, ihre Füße verwurzelten mit dem Boden, als sie die Frau ansah, die die Farbe des Raumes zu sich zu ziehen schien. Angefangen bei dem Rosa der Elefanten, die über die Wände tanzten und sich den Rücken mit Regenbogen duschten, weiter zu dem Grün der Holzsessel und dem Rot der runden Tische und - Raffaela blinzelte - die Sonnenblumen in den blauen Vasen auf den Tischen schienen sich ihr zuzuwenden, als wäre sie die Sonne.

Die Musik wurde schneller, der Rhythmus gewann an Schwung und dann kam der kleine Moment der Stille, die Frau erstarrte, den Kopf gesenkt und dann explodierte sie erneut, wirbelte durch den Raum, sang aus voller Kehle mit, als wäre ihr nicht bewusst, dass jeder sie sehen konnte. Jeder - und Raffaela, die verdattert feststellte, dass sie immer noch wie angewurzelt vor der Fensterscheibe stand und in das Café starrte.

Das Lied fand ein Ende und die Frau lachte auf, lachte laut und befreit, den Kopf in den Nacken geworfen, als hätte sie einen Witz gehört, den nur sie verstanden hätte. Und dann drehte sie sich um und sah Raffaela in die Augen.

„Bonjour!“ Mit wenigen Schritten hatte sie den Raum durchquert und blieb an der Tür stehen, die Wangen erhitzt und gerötet, ihre schulterlangen Haare zerzaust und ihre dunklen Augen funkelten. „Wie hat die Vorstellung gefallen?“ Sie lachte Raffaella an und diese machte instinktiv einen Schritt zurück, sah die Straße hinauf und hinunter, bereit davon zu laufen, ihre Beine bereits angespannt. Sie lief immer. Machte Dinge einfacher. Lauf, bevor sie dich in ein Gespräch verwickeln können. Lauf, bevor du reden musst.

„Einen Kaffee gefällig?“ Die Frau ließ nicht locker, doch ihr Strahlen hatte sich verändert, war weicher geworden, wenn auch immer noch so überbordend glücklich. „Ich mache den besten Kaffee in ganz Paris. Auch wenn man das nicht glauben könnte.“

Raffaela erwiderte ihren Blick, die Finger um ihren Taschenriemen geschlungen, verzweifelt, als müsste sie sich festhalten und stellte fest, dass ihre Füße sie zur Tür trugen. Ein Espresso wäre noch drinnen, in den letzten zehn Euro, die sie besaß. „Wie willst du ihn?“ Die Frau strahlte, als sie hinter der Bar verschwand und an der silbernen Kaffeemaschine lautstark zu werken begann.

Raffaela holte tief Luft, schluckte heftig. „E-espresso“, brachte sie dann leise heraus und die Frau nickte, so dass ihre Haare auf und ab wippten.

„Ich tanze gerne“, plauderte sie los. „Und um diese Zeit ist nicht viel los und da konnte ich mich nicht beherrschen.“ Sie zwinkerte und Raffaela fiel auf, dass sie nicht viel älter als sie selbst sein konnte. Vier, fünf Jahre vielleicht, auch wenn sich ihr Alter schwer schätzen ließ. „Was bringt dich hierher? Hast du versucht an der Seine spazieren zu gehen? Grauenhaftes Örtchen, aber“, sie hob seufzend eine Schulter und das Krümelmonster auf dem T-Shirt schien zu winken, „auf eine zugezogene Londonerin hört ja kein Franzose. Eingebildetes Pack“, schmollte sie, doch ein Grinsen verzog ihre Lippen. „Bist du von hier?“

Raffaela schüttelte den Kopf, machte den Mund auf und schloss ihn wieder. Sie hatte sich noch nicht zurechtgelegt, was sie sagen wollte und heißer Schreck durchfuhr sie, als sie verzweifelt nach Worten fischte. Nervös fingerte sie an dem Taschenriemen herum, ihr Blick wanderte hilflos durch den Laden.

„Du bist nicht gut mit Worten, wie?“ Die Frau grinste breit und winkte ab. „Lass stecken, Girl. Ich rede genug für vier. Und dein Kaffee ist fertig, oui!“ Sie klapperte mit den Tassen und wenig später landete eine Espressotasse vor Raffaela, bevor diese überhaupt verarbeiten konnte, was die andere gesagt hatte. Überfordert nahm Raffaela einen Schluck und erstarrte, die Brühe noch in ihrem Mund, den Blick entsetzt auf die Frau gerichtet, die sie erwartungsvoll beobachtete.

Hatte sie ihr Abwaschwasser serviert?

Mühsam schluckte Raffaela, hustete, eine Hand gegen den Mund gepresst, als sie die Tasse hastig abstellte und ein leises Seufzen erklang im Raum. „So schlimm, wie?“ Die andere nahm die Tasse vom Tresen und kippte den Inhalt in das blitzende Spülbecken. „Ich habe übertrieben“, gab sie zu, sichtlich geknickt. „Ich bin grauenhaft im Kaffeekochen. Ich kann Cocktails und Smoothies und alles andere, was es so geben sollte. Aber Kaffee übersteigt meine Fähigkeiten.“

Raffaela nahm dankbar das Glas Wasser entgegen und leerte es, dann deutete sie auf die blitzende Kaffeemaschine. Sie hatte keine Ahnung, warum die Gute dann so eine Kaffeemaschine hatte, die ein vorheriges, richtiges Malen der Bohnen und die perfekte Mischung der Bohnen erforderte. Es gab genug Hightechmaschinen, die ihr die Arbeit abnehmen würden.

„Meine Freundin, die mir hierbei unter die Arme gegriffen hat, hat darauf bestanden.“ Sie schnitt eine Grimasse. „Sie meinte, dass ich das schon lernen würde und es ja nicht so schwer sein könnte.“ Sie malte mit einem schwarzen Fingernagel Kreise auf die Arbeitsfläche, das Gesicht eine hilflose Grimasse. „Aber es ist schwer. Ich hab keinen Plan, was dabei immer falsch läuft.“

Raffaela schloss die Augen und rieb sich über den Nasenrücken, als sie durch die Nase hindurch schnaubte und sich vom Barhocker schwang. Mit schnellen Schritten duckte sie sich unter der Bar hindurch und nahm die Bohnenmischung vom Regal. Mit tiefen Zügen atmete sie das Aroma ein und schüttelte den Kopf. „Falsche B-bohnen“, murmelte sie. „Röststufe zu hoch.“ Sie schob die Bohnen von sich weg, nahm die Mühle und schüttelte den Kopf. „Schlagmahlwerk“, erklärte sie. „Ungleichmäßiges M-mahlen und Hitze.“

Sie nahm das Sieb aus der Espressomaschine, musterte den ungleichmäßig verteilten Kaffee darin und schnaubte ein zweites Mal. „Richtig verteilten.“ Sie klopfte das Sieb aus, spülte es unter kaltem Wasser ab und trocknete es ab, bevor sie den Brühkopf der Maschine durchspülte. Dann wühlte sie in ihrer Tasche herum und holte die Packung Kaffeebohnen heraus, die sie gestern erstanden hatte, sowie die Handmühle. Kaffee war nun mal ihre große Leidenschaft, auch wenn sie das Verbrechen beging, bei Starbucks Espresso zu trinken. Aber dort waren meist die Gespräche der Tischnachbarn besser und interessanter - auch wenn dieser Teil ihres Hobbys mittlerweile nur mehr mit Vorsicht zu genießen war.

Mit schnellen Bewegungen schüttete sie etwas von der speziell angefertigten Röstmischung in die Mühle und betätigte diese, bevor sie das feine Pulver in den Siebträger füllte und es glatt strich, darauf bedacht, es gleichmäßig zu verteilen. Mit dem Stampfer drückte sie den Kaffee zusammen und setzte das Sieb ein, bevor sie die Maschine betätigte und das Gebräu mit einer Espressotasse auffing.

Misstrauisch schnüffelte sie am Kaffee, dann kostete sie vorsichtig und seufzte zufrieden. „Besser“, murmelte sie und dann wurde ihr erst klar, was sie getan hatte.

Bloody hell!“, rief die Barista aus und kam neben ihr zum Stehen, wand ihr die Tasse aus der Hand und nahm einen Schluck. „Das ist gut! Wie hast du das getan? Was hast du gemacht? Das ist der Wahnsinn! Oh, wow…“ Sie nahm einen zweiten Schluck, ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen und Raffaela hielt sich selbst davon ab, Reißaus zu nehmen. Sie würde nicht schon wieder weglaufen. Nicht schon wieder. Sie hatte zwar gerade im Kaffeerausch die Herrschaft über eine Kaffeemaschine an sich gerissen und dabei alles um sich herum vollkommen vergessen, aber sie würde hier stehen bleiben und sich zusammenreißen, was auch immer jetzt passieren würde.

Die Frau leerte die Tasse, starrte Raffaela an und diese bemerkte, dass die Frau sie überragte, weit überragte und wohl über 1,80 sein musste. „Willst du einen Job?“, fragte sie sie und Raffaela starrte zurück, fassungslos über das gehörte, die Hände wieder verkrampft und die Waden angespannt. „Ich kann nicht viel zahlen, aber wenn du willst, kann ich dir eine Wohnung im Haus anbieten. Die im zweiten Stock ist noch frei. Stunden wären von 9.00 bis 18.00, außer dir macht es nichts aus, mal am Abend einzuspringen und schlecht bezahlte Überstunden zu schieben. Aber spätestens um 22.00 ist Sense - ich hab keine Lizenz dazu, den Laden länger offen zu halten. Was meinst du? Oh, ich bin übrigens Helen, aber nenn mich Hel.“

Sie streckte ihr eine offene Hand entgegen und sah denkbar erwartungsvoll drein. Raffaela machte jetzt doch einen Schritt zurück, das Herz raste und polterte in ihren Ohren, als sie sich im Café umsah, entgeistert die Farbenpracht betrachtete und dann wieder Helen - Hel. Hel, so wie die nordische Göttin des Todes?

Großartig.

Sie sollte die Beine in die Hand nehmen und rennen. Warum genau hatte sie das nicht gleich getan?

„Ich muss mit einem Freund sprechen - der ist Anwalt - ob er uns beim Arbeitsvertrag helfen kann, aber ich kenne ihn, der wird uns sicher helfen.“ Der hoffnungsvolle Klang in Hels Stimme war unüberhörbar und Raffaela wand sich innerlich. Wenn sie Nein sagte, dann würde sie nicht über eine lange Erklärung umhin kommen, aber sie konnte doch nicht Ja sagen! Sie konnte in keinem Café arbeiten! So viele Leute, so viele Sachen zum Reden - sie konnte das nicht. Ihre Beine trugen sie einen weiteren Schritt nach hinten und auf Hels Gesicht zeichnete sich Enttäuschung ab.

„Warte“, bat sie lautstark und riss einen Block aus ihrer Tasche, kritzelte etwas darauf und hielt ihr den Zettel hin. „Da steht meine Telefonnummer drauf. Wenn du es dir anders überlegst, dann ruf an oder komm gleich vorbei, ja? Aber lass es dir durch den Kopf gehen, ganz gechillt und dann schau vorbei, ja?“

Raffaela starrte den Zettel an, schüttelte den Kopf und hetzte aus dem Café, der Fluchtinstinkt hatte endlich wieder zugeschlagen und zurück blieb nichts als das wilde Bimmeln der Glöckchen über der Tür, die sie hinter sich zuschlug, als sie die Straße hinauf eilte, die Sohlen ihrer Sandalen laut auf dem Asphalt.

Franzosen waren verrückt. Oder waren es Engländer? Egal. Die waren alle vollkommen und rettungslos verrückt.

 

***

 

Parkbänke waren wirklich ungemütlich, stellte Raffaela zum wiederholten Male fest, als sie sich auf die Seite rollte und zitternd die Beine anzog. Dumme Idee. Ganz, ganz dumme Idee. Sie kniff die Augen zusammen und zog sich den Kragen ihres Pullovers bis ans Kinn. Eine kaputte Bankomatkarte und kein Bargeld. Und es war Samstag. Sie musste nur bis Montag durchhalten.

Der Wind raschelte in den Blättern über ihr und sie schauderte, als das Rascheln lauter wurde und ein Tropfen auf ihrer Stirn explodierte. Nein. Nein. Nein. Das war jetzt nicht wahr. Raffaela hielt ganz still, die Augen fest zusammengepresst. Es begann jetzt nicht zu regnen. Sie weigerte sich das hinzunehmen. Es würde nicht zu regnen beginnen.

Der zweite Tropfen landete auf ihrem nackten Schienbein. Der dritte auf ihrer Nase. Der vierte in ihrem Nacken. Raffaela hörte zum Zählen auf und durchwühlte den Rucksack nach dem Regenschutz, den sie sich über den Kopf zog und sich in eine blaue Mönchsgestalt verwandelte.

Es war kalt. Es war nass. Es war keine gute Idee gewesen. Gar nichts hier war eine gute Idee gewesen. Es hätte ein Urlaub sein sollen und dann hatte sich mit einer einzigen blöden Einsparung in Form einer Kreditkarte alles in Luft aufgelöst. München war toll gewesen und Straßburg auch, aber da hatte sie ja auch noch Geld gehabt.

Sie sollte sich in den nächsten Zug setzen, der sie nach Hause brachte und alles hinschmeißen. Wie schnell wäre sie daheim? Vielleicht vierundzwanzig Stunden oder so etwas, je nachdem was für Züge sie erwischte. Dann könnte sie sich in ihr Bett kuscheln und sich von ihrem Bruder eine „Ich habe es dir ja gesagt“-Rede anhören, die von einem heißen Kakao und einem mitleidigen Tätscheln ihres Kopfes begleitet werden würde. Ja, das wäre das Beste. Und das Deprimierendste.

Das wäre sogar deprimierender als auf einer windigen Parkbank im Regen zu sitzen und in Selbstmitleid zu versinken.

Raffaela seufzte und holte ihr Handy hervor, starrte auf den schwindenden Akku. Sie hatte ihre Handtasche später auf der Straße gefunden, damals vor knapp einem Monat, als sie gedacht hatte, dass sie sterben würde. Damals hatte sie sich auch nicht gedacht, dass sie noch tiefer sinken könnte - aber hey, es war toll zu wissen, dass es noch tiefer hinab ging. Vielleicht würde sie mal den Boden erreichen. Irgendwann einmal - vielleicht nachdem sie das Interrailticket verloren hatte und in Paris festsaß.

Kaum, dass ihr dieser Gedanke gekommen war, warf sie einen Blick in ihre nutzlose, leere Geldtasche und kontrollierte das Vorhandensein des Tickets, das brav hinter ihrem Personalausweis steckte. Wenigstens etwas, das in ihrem Leben noch funktionierte.

Sie hob den Kopf in den kalten Wind, spürte die Tropfen auf ihrem Gesicht und blinzelte heftig, zwinkerte die Tränen weg, die sich in ihren Augen sammeln wollten und schluckte heftig, die Hände um Ticket und Handy geballt. Giorgio würde ihr helfen. Er konnte ihr immer helfen, aber sie wollte sich nicht helfen lassen. Sie wollte nicht ihm und ihren Eltern gestehen, dass sie Recht gehabt hatten und sie einfach nicht dazu fähig war, alleine irgendwohin zu fahren.

Sie starrte die letzten zehn Euro in ihrer Geldtasche an und ihr Magen grummelte schmerzhaft, als sie die Nase hochzog und schniefte. Sie wollte Essen, eine Dusche und ein Bett. Dass sie diese drei Sachen mal als selbstverständlich angesehen hatte, war ihr mittlerweile unverständlich.

Der Regen wurde stärker und sie zog die Beine unter den Regenschutz, zitternd und frustriert. Das Café kam ihr wieder in den Sinn, das Angebot der Frau - Hel hieß sie. Vielleicht war das eine Option. Vielleicht würde sie sie für eine Nacht in der Wohnung schlafen lassen. Ihr Handy piepte um zu zeigen, dass der Akku bald leer war. Halb zehn.

Das Café schloss um zehn.

Sie schloss die Augen, spürte, wie ihr Herz zu rasen begann. Dachte sie wirklich darüber nach eine Wildfremde um Hilfe zu bitten? Nach dem Abgang, den sie heute hingelegt hatte?

Sie schnaufte durch ihre Nase hindurch, frustriert und wütend, krampfte ihre Hände um das Handy, betrachtete den leuchtenden Bildschirm und das Foto der Sonnenblume darauf.

Es war vermutlich besser, als ihrer Familie zu gestehen, dass sie wieder einmal versagt hatte - so wie bei der Führerscheinprüfung und bei der Matura. Nun ja, beim zweiten Mal hatte sie die Matura geschafft, wobei das Problem nur bei der mündlichen Prüfung gelegen hatte. Den Rest hatte sie bestanden, aber bei dem mündlichen Teil hatten ihr die Worte wieder einmal gefehlt und sie hatte erstarrt vor den Professoren gestanden und sie angestarrt, den Mund geöffnet und geschlossen wie ein Fisch auf dem Trockenen.

Blöde Stimmbänder. Blöde Zunge. Blöde Angst.

Sie war ein Feigling, ein riesengroßer, blöder Feigling und deswegen saß sie jetzt hier auf einer Parkbank und ließ sich nass regnen, obwohl ihr eine Frau hatte helfen wollen. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten und sie kniff die Augen fest zu, bis weiße Sterne vor ihrem Sichtfeld zu tanzen begannen. Oh, zur Hölle mit allem!

Ruckartig stand sie auf und ging über den knirschenden Kiespfad aus dem Park hinaus, den Kopf eingezogen und die Arme um sich selbst geschlungen, während sie ein Frösteln überkam und ihre Zähne zum Klappern brachte. Merda! Porca miseria! Sie schnaubte durch ihre Nase hindurch, ein selbstironisches Lächeln auf ihren Lippen. Stummes Fluchen hatte etwas denkbar unbefriedigendes, aber sie würde sich nicht lächerlich machen und laut zum Schimpfen beginnen, so wie es ihre Mutter manchmal machte.

Njet - so weit würde es mit ihr nicht kommen. Zitternd eilte sich durch den Regen, Wasser drang in ihre Schuhe ein und tränkte ihre Socken, als sie in eine Pfütze stampfte. Cazzo! Sie widerstand der Versuchung an der Stelle auf und ab zu hüpfen und Cazzo! Cazzo! Cazzo! zu rufen, obwohl es bei ihr wohl mehr bei einem Flüstern geblieben wäre. Sie hatte noch jede Menge vom Rumpelstilzchen zu lernen.

In russische und italienische Flüche verstrickt stolperte sie durch die Tür des Cafés, nahm sich nicht die Zeit nervös zu werden, bis sie in der Mitte des Café stand und Hel hinter der Bar aus dunklem Holz erblickte. Die schwarzhaarige Frau richtete sich ruckartig auf, deutliche Verblüffung auf dem Gesicht, die Stirn gerunzelt. „Du siehst aus, als wärst du hierher geschwommen!“, rief sie aus und drehte sich um. Wenig später drang das leise Geräusch eines Wasserkochers durch den Raum und Raffaela spürte ein leichtes Lächeln auf ihrem Gesicht, bevor die Nervosität wieder zuschlug.

Sie öffnete den Mund, klappte ihn wieder zu, zwang sich zu einem Schritt nach vorne, blieb wieder stehen. „Was für einen Tee willst du? Ich hab grünen Tee, Pfefferminztee, Schwarztee, oh warte, du bekommst Kamillentee“, beschloss Hel resolut und goss das Wasser auf. „Bloody hell, warst du wirklich bei dem Wetter draußen unterwegs? Du kannst froh sein, wenn du keine Erkältung bekommst.“ Raffaela hob eine Schulter und schauderte, als ein Wassertropfen sich von ihrem Regenschutz löst und in ihrem Nacken landete. „Siehst du? Schon ist dir kalt. Wenn du hier arbeiten willst, dann musst du gesund bleiben, ein Krankenstand würde mir ein zu großes Loch in die Kassa reißen. Du willst doch hier arbeiten, oder?“

Mit großen Augen sah Raffaela sie an und Hel grinste breit, als sie ihr die Teetasse über die Bar schob. „Girl, du magst zwar schweigsam sein, aber ich erkenne eine Maid in Nöten, wenn ich sie sehe. Hab ich früher oft genug im Spiegel gesehen.“

Raffaela ließ ihren Rucksack zu Boden fallen und setzte sich auf einen Barhocker, mit steifen, abgehackten Bewegungen. Sie vertraute dem Angebot noch nicht ganz, doch sie würde nehmen, was sie kriegen konnte.

„Was hältst du davon, wenn du heute mal in der Wohnung übernachtest und morgen bereden wir dann, ob du wirklich hier arbeiten willst oder lieber stumm schreiend Reißaus nehmen willst.“

Raffaela nahm die Teetasse in die kalten Hände, spürte die Wärme in ihre kalten Knochen wandern und wäre am liebsten vor Erleichterung in Tränen ausgebrochen, als Hel sie freundlich anlächelte. Vielleicht konnte sie das doch noch mit dem Leben auf die Reihe bringen.

Alle verrückt

Die Sonne flutete den kleinen Raum mit warmen, hellen Licht und Raffaela lächelte über die Ironie des Wetters, das sie mit seinen wechselhaften Launen hierher getrieben hatte. Doch das hier war besser als die Parkbank; die weichen Kissen des Bettes, die warme Decke unter der sie sich verkrochen hatte und das Kingsize-Bett, das an einer Wand mit abgeblätterter, cremeweißer Farbe stand.

Ein klappriger, alter Schrank stand an der Wand gegenüber, neben dem Bett befand sich ein hübsches, weißes Nachtkästchen mit altmodischen, runden Kanten, über die sie geistesabwesend mit der linken Hand strich, den Blick auf das Fenster mit den staubig-grauen Tüllgardinen gerichtet. Durch die schmutzige Fensterscheibe konnte sie einen Teil des blauen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Sophia Anna Csar
Bildmaterialien: Annika S. (Bild und Covergestaltung), Joan Darque (Schrift)
Tag der Veröffentlichung: 30.05.2014
ISBN: 978-3-7396-4194-2

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für all jene, deren Zungen und Stimmbänder in den wichtigsten Momenten ihres Lebens versagen.

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