Cover

Titel

Freaky Like Me

 

 

 

Freaky Mom

und der ganz normale Wahnsinn

 

&

 

Motel ins Glück

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bevor ich mit meiner Geschichte beginne, hier ein paar kleine Daten zu meiner Person!

Bevor ich mit meiner Geschichte beginne, hier ein paar kleine Daten zu meiner Person!

 

Mein Name: Eva Kinsten. Ich chatte für mein Leben gern. Ach ja, nicht dass ich es vergesse, mein Name sagt nichts über mein Herkunftsland aus. Ich bin Deutsche, genau wie meine Eltern auch!

Mein Chatname: Eva von King. Warum King? Das ist schnell und einfach erklärt. Ich bin eine alleinerziehende Mutter. Ich liebe Fernsehsendungen, und ganz speziell die Serie »Agentin mit Herz«. Amanda King inspiriert mich. Jeder glaubt, sie wäre einfach nur eine alleinerziehende Mutter, Hausfrau und Tochter, und hätte nichts im Kopf. Was natürlich ein großer Irrtum ist!

Mein Alter: 38, genau wie meine Schuhgröße.

Mein Gesicht: Herzförmig, grüne Augen und ein sinnlicher Mund – wie mein Ex immer behauptet oder behauptet hat. Egal, ich bin froh, dass ich ihn schon länger nicht mehr gesehen habe. Aber dazu später mehr.

Gewicht: Hm … Ich würde sagen, etwas zwischen dick und dünn. Aber wenn Sie nun unbedingt mein richtiges Gewicht wissen wollen, werde ich Ihnen gleich sagen: Das verrät Frau nicht. Genauso wenig wie meine Konfektionsgröße.

Konfektionsgröße: Siehe oben.

Haare: Tja, das ist nicht so einfach erklärt. Ich würde sagen, strubblig bis verweist.

Haarfarbe: Nun ja, die letzte Färbung liegt schon etwas zurück und hat sich irgendwie auch nicht mit der davor vertragen. Also ist meine Haarfarbe jetzt bunt. Und Pferdeschwanztauglich … hm … wer 5 cm mag?

Wohnort: Brunn bei Nürnberg, aber erst seit der Scheidung. Wir wohnen in einem gemütlichen kleinen Häuschen mit Anschluss an den Wald, oder sollte ich lieber sagen: Der Wald macht es sich in meinem Garten bequem.

Ich: Alleinerziehende Mutter von zwei nervigen, süßen und mich zur Weißglut treibenden Kids.

Meine Tochter behauptet, ich sei ein Freak. Nun ja, Freak zu sein, dachte ich, wäre gar nicht so schlimm, aber da hatte ich nicht mit dem Duden gerechnet. Der sagt nämlich: Ein Freak ist eine Person, die sich nicht ins normale bürgerliche Leben einfügt, die ihre gesellschaftlichen Bindungen aufgegeben hat, um frei zu sein.

Klingt ja mal echt berauschend. Was musste ich das denn auch nach googeln. Selbst schuld! Zum Glück fand ich Wikipedia. 

Wiki sagt: Ein Freak ist in der heutigen Umgangssprache meist eine Person, die eine bestimmte Sache, zum Beispiel ihr Hobby, exzessiv bzw. über ein »normales« Maß hinaus betreibt, diese Sache zum Lebensinhalt macht oder sich zumindest mehr als andere darin auskennt (beispielsweise ein Computerfreak, oder wie in meinem Fall – das Chatten in Facebook). Lebensweise und Lebensführung eines Freaks können sich von der eines Durchschnittsbürgers unterscheiden und bewusst individuell, unangepasst, anders oder »flippig« sein …

 

Nun gut, dann soll es so sein. Ich bin ein Freak – und meine Tochter hat recht!

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei meiner verrückten Geschichte.

 

Ihre Eva von King

 

 

 

Vor Eisflächen wird gewarnt

Vor Eisflächen wird gewarnt

 

Marco Polo: Hallo Schönheit, hast du Lust auf einen heißen Talk?

 

Nichts Böses ahnend chattete ich, kaum von der Arbeit zu Hause, in Facebook, spielte Spiele und vertrödelte den ganzen Abend damit. Nur dass mein Magen heute extrem knurrte.

Ich bin eine alleinerziehende Mutter von zwei Kindern. Meine Tochter Mini ist vierzehn und pubertierend. Mein Sohn Stefan ist achtzehn und … nun ja, was soll ich sagen, er pubertiert auch zeitweise zum Wurst verschlingenden Monster, das mich zu allem Überfluss auch noch um mindestens einen halben Meter überragte. Seine Größe musste er von seinem Vater geerbt haben, denn in meiner Familie war keiner so groß. Außerdem fraß er mir die Haare vom Kopf.

Was ist die beste Methode, um seine Mutter auf die Palme zu bringen? Jetzt werden Sie wahrscheinlich sagen, da gibt es eine Menge. Aber nicht bei mir. Mir reicht es schon, wenn ich nach meinem stressigen Arbeitstag heimkomme, den Kühlschrank öffne und dann Leere vorfinde. Das hieß in den meisten Fällen, dass mein Sohn wieder zurück von seiner Freundin war und mir eine Ladung Dreckwäsche mitgebracht hatte, die ganz bestimmt nicht schon gewaschen in der Waschmaschine lag, sondern dreckig davor. Ich hatte schon einige Kämpfe mit ihm deswegen gefochten, nur um am Ende dann festzustellen, dass alles beim Alten blieb.

Außerdem war es nichts Neues, dass er mit Abwesenheit glänzte. Das kannte ich bereits. Da half es auch nichts, durchs Haus zu brüllen. Irgendwie war er da taub. Erst mit der Androhung, seine Wäsche zu verbrennen, falls er nicht runterkam, hatte die Taubheit ein Ende. Nur wenn er mich dann mit seinem verschmitzten Lächeln anstrahlte, obwohl ich kurz vorm Explodieren war, fiel es mir jedes Mal schwer zu schimpfen. Er wusste genau, wie er es machen musste. Ein Charmeur durch und durch, der auch die Mädchenherzen reihenweise zur Verzweiflung trieb. Oh ja. Das konnte er wirklich gut, genau wie sein Vater schon vor ihm.

Ich schüttelte die Gedanken ab. Alles Nachsinnen half nichts, erst musste ich das Chaos im Keller bereinigen, und danach den leeren Kühlschrank wieder befüllen. Mit hungrigem Magen machte es einfach keinen Spaß zu putzen. Die einzige Möglichkeit, dem zu entgehen, bestand darin, das Magenknurren zu ignorieren und zu chatten. Deswegen saß ich nun auf der Couch, stierte auf die Nachricht von dem süßen Kerl und überlegte, ob ich wirklich einen Kommentar dazu abgeben wollte.

Seine Freundschaftsanfrage hatte ich nur angenommen, weil er vom Aussehen her genau meine Kragenweite wäre. Ich hatte mir schon überlegt, ihn anzuschreiben – denn sind wir mal ehrlich … er schaute wirklich gut aus … warum sollte ich ihn auch nicht anschreiben? – Aber dann fehlte mir die Courage. Die nächste Ausrede, die ich mir in meinem Kopf zurechtlegte: Ich war einfach zu müde! Der stressige Arbeitstag im Büro, mit all den verrückten alten Menschen im Heim und dann kein Essen im Kühlschrank … nicht mal Brot hatte ich mehr, denn Stefan mampfte alles weg. Und heute hatte ich auch keine Lust, ihm irgendwelche Sachen anzudrohen.

»Mom, wann gibt’s was zum Essen? Ich hab Hunger«, erklang die Stimme meiner Tochter hinter mir, die mich aus meinen Gedanken riss. Mir blieb nicht mal mehr Zeit, um über alles nachzudenken. Wenn ich zu Hause war, musste ich funktionieren. Weit kam ich allerdings nicht, denn bevor ich mich erheben konnte, um in die Küche zu gehen, ploppte das Chatfenster auf, das ich vorhin ohne Kommentar geschlossen hatte.

 

Marco Polo: Mir gefällt dein Profil.

Eva von King: Kann ich auch nichts dafür. Sorry, kein Bedarf heute!

 

Antwortete ich schroff. Normalerweise war ich nicht so gemein, aber jetzt fehlte mir einfach die Zeit und die Ruhe, um zu schreiben, denn mein wertes Töchterchen stand demonstrativ vor mir, die Hände in die Hüften gestemmt und schaute mich böse an. So machte das keinen Spaß, wenn ich mich beobachtet fühlte.

 

Marco Polo: Warum denn so patzig. Hab dir doch nichts getan. Möchte dich nur gerne kennenlernen. Was für Hobbys hast du denn?

 

Kennenlernen wollte der mich? Über Facebook? Was war das denn für ein Spast?

Waren Sie schon mal in Facebook? Dann wissen Sie, wie man in ein Profil kommt. Ich hatte natürlich nachgesehen, wer solch einen Namen angibt, der konnte entweder nicht echt sein, oder er hatte Eltern, die einen sehr merkwürdigen Humor hatten. Der arme Mann. Leider stand nicht viel darin, das ich hätte verwerten können. Nur der Name, sein Bild und ein Bild mit einem schönen Segelboot an einem See. Mehr war hier nicht zu finden. Hm, etwas wenig Infos waren das schon. Das Boot schaute nicht schlecht aus. Der Kerl ist entweder reich oder ein Fake, dachte ich.

»Mom, ich hab Hunger. Was machst du da eigentlich?«

»Das siehst du doch. Ich chatte!«

»Du kannst auch später noch chatten. Ich hab wirklich Hunger. Und im Kühlschrank ist nichts mehr zum Essen.«

»Kannst du nicht ein paar Minuten warten? Ich möchte erst noch sehen, was es da zu lesen gibt. Außerdem: Ohne Lebensmittel kann ich nicht kochen!«

»Mom, du weißt schon, dass du ein Freak bist? Ich geh in mein Zimmer.«

Sie stampfte mit dem Fuß auf und lief genauso schnell, wie sie gekommen war, die Treppe hoch. Na, klasse. Und wer kaufte jetzt ein?

»Hey, was ist mit Einkaufen?«, brüllte ich ihr hinterher. Ich und ein Freak? Tzzz.

Bevor ich überhaupt darüber nachdenken konnte, wie Mini das gemeint hatte, brummte sie unwirsch von oben runter: »Mom, du nervst!«

Ah ja, und nun? Entweder ging ich jetzt selbst schnell einkaufen und stellte mich dann stundenlang an den Herd, um hinterher wieder nur ein Brummen oder noch Schlimmeres wie: »Das mag ich nicht. Gibt’s nichts anderes?« zu hören, oder ich bestellte gleich eine Pizza. Bevor ich den Pizzaservice anrief, schrieb ich dem süßen Kerl schnell eine Antwort. Auch wenn er mir jetzt tierisch auf den Sack ging, war ich doch interessiert, wie sich das noch entwickelte. Vielleicht stellte ich später fest, dass er doch kein so großer Trottel war.

Man konnte nie wissen.

 

Eva von King: Na, ich weiß ja nicht … du hast wenig in deinem Profil stehen. Quasi überhaupt nichts Aussagekräftiges. Erzähl doch erst einmal von dir und dann schau ich, was ich für dich tun kann …

 

Der Abend gestern war, nach unserem Pizzaessen, ziemlich ereignislos im Sande verlaufen. Marco Polo war, nachdem ich ihn so unfreundlich sitzen gelassen hatte, nicht mehr online gewesen. Also entschuldigte ich mich für mein Benehmen und fragte ihn gleichzeitig nach seinen Hobbys. Dass irgendwann in der Nacht eine Nachricht eintraf, bekam ich im Schlaf nur so halb mit, und heute Morgen hatte ich es total vergessen. Dass er aber ausgerechnet jetzt noch einmal schrieb, musste etwas zu bedeuten haben.

Wenn man über die Ampel ging, sollte man nicht mit seinem Handy in Facebook chatten, vor allem dann nicht, wenn man die Straßenbahn noch erwischen wollte, ging es mir durch den Kopf. Es war schon schwer genug, im Winter mit hochhackigen Stiefeln – ohne auszurutschen – zu rennen, aber dann auch noch zu chatten und dabei nicht auf den Weg zu achten, kam einen Todeskommando gleich.

In meinem Fall war es nicht tödlich, sondern nur ungeschickt. Nachdem es nun wochenlang geschneit hatte, taute es am Tag jetzt langsam auf, und das, obwohl es erst Februar war. Das in der Stadt und mit dem ganzen Verkehr ergab eine graue, rutschige, matschige Schneedecke, die über Nacht immer wieder gefror. Ausgerechnet so einen Tag musste ich erwischen. Ich sah gerade noch, wie die Straßenbahn einfuhr, und genau in dem Moment, wo ich merkte, dass die Ampel nicht schnell genug umschaltete, um diese Straßenbahn rechtzeitig zu erwischen, rannte ich los. Mitten auf der Straße gab mein Handy diesen schrillen Ton von sich, dass eine Nachricht von FB eingetrudelt war.

Natürlich, wie sollte es auch anders sein, konnte ich nicht warten, bis ich in der Straßenbahn saß. Warum auch ... Meine Neugierde musste jetzt sofort gestillt werden. Es wäre auch nichts passiert, hätte ich besser auf meinen Weg geachtet. Ich bekam nur noch mit, wie jemand nach mir rief, wie sich mein Blick zur Ampel richtete, dann einen nervösen Autofahrer, der mich dreist anhupte, und wie es mir die Beine wegzog …

 

Endlich zuhause angekommen – die Haustür mit Wucht ins Schloss geschlagen, atmete ich erst mal durch. Der Heimweg war chaotisch verlaufen. Wegen so einem Arsch aus dem Internet war ich auf die sprichwörtliche Schnauze gefallen. Na ja, im weitesten Sinne – es war mein Hintern gewesen, und nicht die Schnauze, aber das machte das Ganze auch nicht besser.

Und dann der Absatz!

Himmel-Herrgott-noch-einmal! Ich hatte aber auch immer Pech mit diesen Stiefelabsätzen. Ein weiteres Mal warf ich einen prüfenden Blick auf meine Schuhe, mit denen ich heimgehumpelt war. Drehte den Fuß so auf die Seite, dass ich auch den abgebrochenen Absatz meiner rotbraunen Stiefel sehen konnte. So alt waren die zwar noch nicht, doch die besten Zeiten hatten sie eindeutig bereits hinter sich gelassen. Es war seltsam, jeder andere Schuh, den ich besaß, hielt länger als zwei Winter aus. Nur Stiefel schafften es bei mir kaum durch einen Winter. Ich war heilfroh gewesen, als ich diese rotbraunen Stiefel kurz vor Weihnachten auf dem Speicher gefunden hatte. Es war mein Glück gewesen, denn kurz zuvor hatte ich wieder ein Paar entsorgen müssen. Weswegen ich wieder mal mit Pumps unterwegs war.

Ich kann mich noch entsinnen, wie ich mir den letzten Absatz abgebrochen hatte. Mini und ich waren wegen Weihnachts-Einkäufen unterwegs gewesen. Mini sagte noch zu mir, dass es dieses Paar Stiefel schon ziemlich lange ausgehalten hätte. Worüber ich mich natürlich freute. Denn endlich hatte ich ein Paar Stiefel gefunden, auch wenn es keine allzu teuren waren, die hielten.

Doch dann … als wir zuhause ankamen, ich die Autotür öffnete und aussteigen wollte, blieb ich mit dem Absatz im Gullydeckel vorm Haus hängen und schwupps …

Sicher, ein Schuster hätte die reparieren können, aber wie lange würden die dann wieder halten? Und Geld auszugeben, wenn ich davon ausging, dass die eh nicht lange hielten, das war mir zu schade. Lieber steckte ich es wieder in neue Schuhe, obwohl es mich tierisch ärgerte.

Wenn ich daran dachte, trieb es mir jetzt noch die Tränen in die Augen, und ich könnte noch immer aus der Haut fahren. Nie, aber auch wirklich nie, hatte ich so nah am Gully geparkt. Normalerweise fuhr ich immer vor die Garage und parkte da. Nur weil mein werter Sohn seinen Roller nicht in die Garage hatte fahren können, stand er vor dem Garagentor und belagerte meinen Platz. Ich schwöre, so aus der Haut gefahren, wie an dem Tag, war ich wirklich noch nie. Meine Tochter hingegen, statt mir beizupflichten, kugelte sich vor Lachen.

»Mama, wie machst du das immer?«, prustete sie los.

»Keine Ahnung, Kind. Es liegt bestimmt nicht an mir. Ich hätte lieber ein wenig mehr Geld ausgeben sollen, dann wäre der Absatz bestimmt noch dran.«

»Ach Mom, du hattest auch schon mal teure Stiefel. Bei deinem Verschleiß mit den Dingern wirst du arm, wenn du jedes Mal so teure kaufst. Außerdem ist dir schon mal aufgefallen, dass du grundsätzlich nach zwei Jahren wieder neue Stiefel brauchst?«

Leider hatte meine Tochter recht. Doch dieses Paar hier hatte nicht mal einen Winter überlebt. Was sollte ich dazu sagen? Es war mein verdammtes Pech, wieder ein gutes Paar Schuhe in den Müll kippen zu können. Verflixt und zugenäht, jedes Mal brach ich mir nur den rechten Absatz ab. Schade, dass man nicht nur einen Schuh kaufen konnte, denn da würde ich jede Menge Geld sparen.

Ich humpelte ins Wohnzimmer und setzte mich auf die Kante der Ottomane. Es war eine Schande, so eine schöne Farbe … Aber alles Jammern half nichts, ich beugte mich hinunter und öffnete den Reißverschluss. Mittendrin hielt ich inne und lauschte. Ging da gerade die Eingangstür auf? Um diese Zeit musste Mini schon längst zuhause sein. Mein holder Sohn würde bestimmt bei seiner Freundin übernachten, außer er hatte wieder einen Berg Dreckwäsche dabei. Ich lauschte, doch nichts rührte sich, ich zog den Reißverschluss weiter hinunter. Als ich den Schuh gerade ausziehen wollte, bewegte sich direkt vor mir etwas. Erschrocken packte ich den Stiefel, zog ihn aus und nahm ihn fest in die Hand. Kampfbereit über der Schulter haltend, bereit zuzuschlagen. An der Wohnzimmertür blieb ich stehen und wollte mich schon auf den Einbrecher werfen. Da …

»Hallo Liebling«, hörte ich den Mann meiner Albträume sagen. Nur ein paar Zentimeter von mir entfernt, stand groß und mächtig mein Exmann und hielt den Arm zur Abwehr hoch. Was zum Kuckuck wollte der denn hier, und wie war er hier überhaupt ohne Schlüssel reingekommen? Dieser Mann war die Hölle auf zwei Beinen. Er kostete mich nicht nur meine Nerven, sondern auch mein gesamtes erspartes Geld, und nicht nur das.

»Hey langsam, nimm doch bitte den Schuh weg.«

Sollte ich das wirklich tun? Wie viel bekam man auf Verdreschen mit einem Stiefel? War das überhaupt eine Straftat? Hm … bevor ich mir da nicht sicher war, nahm ich langsam den Schuh herunter und hinkte wieder zurück ins Wohnzimmer.

»Darf ich reinkommen?«

»Nein!«

»Ach, bitte Eva, ich muss dir was erzählen.«

»Kein Interesse, oder hast du den Unterhaltsscheck dabei? Wie kommst du überhaupt hier rein?«

»Die Tür … Ähm, nein. Ich kann im Moment nicht zahlen.«

Im Moment nicht? Im Moment war gut … »Pah, warum wundert mich das nicht?«

»Eva, bitte.«

Vorsichtig taxierte er mich. Er täte gut daran, einfach zu gehen, bevor ich es mir doch noch anders überlegte, und ihm, auch ohne zu wissen, ob es eine Straftat war, den Stiefel über den Kopf zog. Dann waren diese Dinger wenigstens noch zu etwas gut.

Diesem Mann war ich einmal verfallen. Das lag allerdings schon einige Jahre zurück. Gott, war ich damals naiv. Aber dieser Mann hatte einmal so sexy ausgesehen. Sein Charme überzeugte mich. Mit jeder Frau hatte er leichtes Spiel gehabt, und ich war keine Ausnahme. Auch mich wickelte er um den kleinen Finger. Er wusste, wie er aus allem das Beste für sich herausholte. Ich hätte wegrennen sollen an dem Tag, als mir klar wurde, dass dieser Mann nur Ärger bedeutete. Damals arbeitete ich noch in dem Fitness-Center Kleinschmidt als Sekretärin, als er unverhofft zu mir ins Büro geschlendert kam, mit dieser lässigen Art, und mir erklärte, dass er die Beiträge erst nächsten Monat zahlen könnte. Verdammt, ich war so berauscht von seiner Gegenwart, dass ich jeden Rat in den Wind schlug.

Was für Ärger ich damals wegen ihm bekommen hatte – letztendlich kostete es mich meinen Job und riss ein tiefes Loch in meinen Geldbeutel. Zu dem Zeitpunkt war es aber schon egal. Dann die Jahre, als wir verheiratet waren … Ich glaubte langsam, nur ich war verheiratet gewesen – er hingegen ging wie immer seinen Gewohnheiten nach.

Ich blieb zu Hause bei den Kindern. Ich verzichtete auf alles. Ich wartete, bis er heimkam und mir ein wenig Haushaltsgeld am Ersten da ließ. Woraufhin Ich sofort losstürmte, um für die Kinder Lebensmittel einzukaufen. Doch Mr. Ehemann war nicht fähig, auf die Kinder – und sei es nur eine Minute – aufzupassen. Als ich vom Einkaufen heimkam, fand ich einen verstörten Vierjährigen mit dem Baby am Boden vor, und von meinem Ehemann fehlte jede Spur.

Ständig musste ich mir sein Blabla wegen zu wenig Geld anhören. Aber wehe ich hatte Mitte des Monats nichts mehr an Essen zu Hause, da bekam ich dann kein Geld von ihm – oh nein. Stattdessen musste ich mir seine Belehrungen anhören, ich solle mein Geld besser einteilen. Ständig musste ich mir was einfallen lassen, um wenigstens den Kindern ein normales, glückliches und sattes Leben zu ermöglichen, während der Herr in Saus und Braus über seine Verhältnisse lebte. Aber trotz allem konnte ich diesen Mistkerl nicht verlassen, weil ich ständig seinen Beteuerungen – nein, seinen Lügen – geglaubt hatte. Bis … bis zu dem Zeitpunkt, als meine Schwiegermutter starb, da erkannte ich, wie eiskalt dieser Mensch wirklich sein konnte.

Das Haus seiner Eltern verhökerte er. Mit dem Erlös tauchte er unter und war tagelang spurlos verschwunden. Den Leichnam seiner Mutter hätte er am liebsten im Garten vergraben, nur um ja kein Geld ausgeben zu müssen, das nicht ihm zugutekam. Ich kümmerte mich darum, dass meine Schwiegermutter einen Platz auf den Friedhof bekam. Von Pontius zu Pilatus ging ich, nur damit die Kosten fürs Grab übernommen wurden. Mein Ehemann hingegen lachte mich nur aus und verschwand mit der nächsten Hure. Am Ende stand ich mit zwei kleinen Kindern und einem Berg Schulden, der nicht mal mir gehörte, da und boxte die Scheidung durch. Das war keine schöne Zeit für uns, doch es war alles besser, als mit diesem Mann verheiratet zu bleiben.

Und genau dieser Mistkerl stand nun im Flur vor meiner Wohnzimmertür und schaute mich abschätzend an. Wenn ich den Charakter von diesem Menschen nicht kennen würde, würde ich jetzt wahrscheinlich wieder seinem Charme erliegen.

»Eva, bitte, darf ich reinkommen? Es ist nicht gerade warm in deinem Flur«, säuselte er mich voll.

Meine eingebauten Alarmglocken schrillten Sturm. Die konnte nicht mal ich überhören, selbst wenn ich gewollt hätte. Ich sollte sofort Nein sagen!

»Was willst du hier? Geld, Sex oder brauchst du eine Unterkunft für die Nacht?«

»Nein, Eva. Ich hab dich heute auf der Straße gesehen, und da dachte ich …«

»Was? Dass du hier herkommst, um mal zu schauen, ob die Kleine noch so blöd ist wie vor fünf Jahren?« Nie wieder würde ich mit diesem Arsch was anfangen! Damals tat er mir einfach nur leid, wie er so abgeranzt vor meiner Tür stand und um eine Mahlzeit bettelte. Kein Mensch hätte ihm da die Tür vor der Nase zugeschmissen, und ich auch nicht. So tat ich, was ich tat, ich ließ ihn wieder rein. Großer Fehler! Dieser Sack hatte mir die Wohnung ausgeräumt.

»Markus, ich habe nichts, was du gebrauchen kannst! Also was willst du von mir?«

»Liebling …« Ich hielt die Hand hoch, um ihm Einhalt zu gebieten. »Was?«

»Um hier was klarzustellen: Ich bin nicht dein Liebling, und das werde ich auch nie wieder sein! Also sag mir, was du willst, und dann verschwinde!«

»Okay, Eva. Ich muss mit dir reden. Es ist wirklich wichtig.«

Aha, wusste ich es doch, dieser Windbeutel kam nicht nur so vorbei. Vielleicht wäre es sogar besser, ich würde ihn reinlassen, um dann die Polizei anzurufen, damit sie ihn gleich mitnehmen konnten. Ein Aufenthalt im Knast würde ihm bestimmt guttun.

»Eva, bitte. Lass mich doch nicht so lange betteln. Es ist wirklich wichtig. Darf ich bitte eintreten?«

»Ehrlich gesagt, ist es mir egal, ob es für dich wichtig ist, oder nicht. Markus, du hast mir das letzte Mal meine ganze Wohnung ausgeräumt. Selbst vor der Playstation deines Sohnes kanntest du kein Halten. Lass mich ausreden. Ich habe einen beschissenen Tag hinter mir, und ehrlich gesagt, möchte ich jetzt meine Ruhe haben. Also verschwinde, oder muss ich die Polizei holen?« Wahnsinn, der Mann stand noch immer da und rührte sich nicht vom Fleck. Aber langsam schien Panik in ihm hochzuklettern. Gut so!

»Nein, nein. Das musst du nicht. Ich dachte nur, du solltest wissen, dass ich bald sterben werde.«

Für den ersten Moment hatte er mich wirklich geschockt, nur ich kannte ihn eben. »Mach keine schlechten Witze, Markus. An was willst du denn sterben?« Vom Märchenerzählen starb man nicht! Der und seine makaberen Scherze …

»Ich mache keine Witze, ich habe Krebs.«

»Aha.« Krebs? Was war das für eine beschissene Tour? Mit diesen Dingen spielte man nicht.

»Ich dachte, da ich nicht mehr lange zu leben habe, könnten wir wieder einen Weg zueinander finden. Es ist doch so, dass ich nicht alleine sein kann, wenn es erst einmal losgeht mit den Schmerzen, und vielleicht brauch ich dann auch eine Chemo, oder so.«

Schmerzen? Alleine sein? Wo war denn seine letzte Freundin? Gab es diese Frau noch, oder hatte sie es auch geschnallt und ihn hinausgeschmissen? Vielleicht eine Chemo? Viel zu viel Ärger für diesen bescheidenen Tag.

»Dann komm rein. Setz dich hin, ich zieh nur schnell die Stiefel aus.« Und schon wieder ließ ich mich rumkriegen. Das muss aufhören, Eva!

 

 

 

 

 

 

 

Warum immer ich?

Warum immer ich?

 

Himmel, was hatte ich mir nur dabei gedacht, diesen Menschen wieder in meine Wohnung zu lassen? Ich hätte es wissen müssen, dass es abermals ausarten würde. Sagen wir mal so – er tat mir leid, wie er da so zwischen Tür und Angel stand. Wenn er reden wollte, na schön, dann hörte ich auch zu. Zumal ja »Hodenkrebs«, wie er sagte, nicht gerade leicht zu verdauende Kost war. Aber dann kam alles ganz anders, als Maddi anrief und mit ihrem Schatz vorbeikommen wollte, …

Maddi war eine gute und sehr liebenswürdige Bekannte. Sie war zwar um einiges jünger als ich, aber ich mochte ihr liebenswertes Wesen sehr. Ich lernte sie vor ein paar Jahren kennen. Meine beste Freundin Gabi arbeitete damals in dem Hort, wo meine Mini untergebracht war. Mini liebte Maddi und Gabi, und weil ich nicht wollte, dass sie den Kontakt zu den beiden verlor, als wir umzogen, ließ ich sie weiter in den Hort gehen. Obwohl Mini nicht mehr auf die Scharrerschule ging, half ich bei Festen mit, die der Hort veranstaltete. Dadurch lernte ich Maddi auch besser kennen. Als sie dann letztes Jahr diesen smarten Arzt heiratete, waren wir alle auch eingeladen.

Diese Freundschaft kam mir nun mit meinem Ex gerade recht. Nach dem ersten Schock, als Markus mir bestürzt erzählte, dass er Hodenkrebs hatte, kam mir die Idee, Maddis Mann dazu zu befragen. Na ja, Matt konnte mir nicht wirklich weiterhelfen, denn Hodenkrebs hatte ja nichts mit Schönheitschirurgie zu tun, aber Matthew sagte am Telefon: »Eva, mach dir keine Sorgen, ich frage einen Kollegen von mir, der sich da auskennt.«

»Danke, Matthew, für deine Hilfe«, antwortete ich erleichtert.

»Gerne. Ist doch kein Ding. Wir kommen ja dann sowieso.«

»Ja, okay, bis später. Tschüss«, sagte ich und legte, nachdem Maddi »Ciao« sagte, auf. Es war eine gute Idee, dass sie nach der Arbeit kommen wollte, um, wie sie sagte – mal etwas anderes hören und sehen zu können. Da Matt seine Frau fuhr, weil Maddi nach ihrer eigenen Aussage nicht mehr hinters Steuer passte, konnte er Markus das mit der Behandlung gleich erklären.

Als ich in die Küche zurückkam, saß Markus bereits auf der Eckbank und schaute mich neugierig an.

»Wer war das?«

»Eine Freundin.«

»Eva, ich habe nicht viel Zeit, und es ist auch schon spät«, druckste er herum.

Ich musste auf Zeit spielen. Das war ich Matt schuldig, wenn ich ihn schon damit überfiel und er sich wegen mir erkundigte.

»Schau, ich möchte dir nicht auf der Tasche liegen, aber für diese Art von Krebs gibt es in den USA einen Spezialisten, nur macht der das nicht auf Kasse.«

Aha, daher wehte der Wind. Er brauchte Geld.

»Eva, bitte, du möchtest doch nicht, dass ich jetzt schon sterbe, oder?«

Ich sagte zwar Nein, doch nun war ich wirklich sauer. Dieser Mann spielte offensichtlich mit meinem Gewissen. Er drückte auf die Tränendrüse, das war es, genau wie früher. Nur diesmal konnte er so viel drücken, wie er wollte, diesmal zog es nicht. Ich hasste Lügner! Dieser verdammte Mistkerl wollte Geld für eine OP, die er angeblich nur in den USA bekommen würde. Nach dieser Nachricht war ich allerdings schon so entnervt, dass ich ihm am liebsten die Bratpfanne um die Ohren gehauen hätte. Er dachte noch immer, ich wäre dumm wie Bohnenstroh. (Notwehr ging ja gerade noch so durch, aber die Bratpfanne wäre wahrscheinlich Vorsatz, oder?!)

Zum Glück musste ich nicht lange auf die Fines warten. Bevor ich vorsätzlich nach der Bratpfanne greifen konnte, schellte es an der Haustür. Wutentbrannt sprang Markus auf, rannte an mir vorbei und riss die Tür mit solch einem Schwung auf, dass ich dachte, sie fliegt mir gleich entgegen. Es war ein Glück, dass er Maddi nur gestreift hatte, als er durch die Eingangstür hinausstürmte. Jetzt wo Maddi schwanger war, hätte Matthew Markus bestimmt um einen Kopf kürzer gemacht. (Und wenn nicht er, dann ich!)

»Hallo Eva. War das dein Exmann?«, fragte Matthew interessiert.

Matt sah ausgesprochen gut aus in seinem schwarzen Anzug. Und Maddi mit ihrem Babybauch hatte ein dunkelblaues Ensemble aus Pullover und Rock unter dem offenen Mantel an. Das sah wirklich hübsch aus. Es machte sie schlanker, als sie wirklich war. Die dazu passenden Stiefel komplementierten alles. Wenigstens hatte sie Stiefel mit Absatz … Ich musste aufhören darüber nachzudenken.

»Ja, leider. Sorry. Ich konnte nicht wissen, dass er wieder nur das Blaue vom Himmel runter lügt«, entschuldigte ich mich. Eins musste man Markus lassen, der Kerl war raffiniert.

»Kein Problem, Eva, ich wollte ja sowieso kommen. Nun hat es zwar ein wenig länger gedauert, aber ich freue mich trotzdem, endlich mal was anderes als die Arbeit und das Haus sehen zu können«, sagte Maddi und lächelte mich freudestrahlend an.

»Liebste, du musst dich jetzt schonen!«

Sie rollte mit Augen. »Matt, du nervst mich mit deinem übertriebenen Betütteln!«

»Kommt doch erst mal rein ins Warme«, sagte ich lächelnd, hielt die Tür auf und bedeutete ihnen, in die Küche zu kommen. Es war so schön, den beiden zuzuhören. So eine Fürsorge hatte ich nie von meinem Mann bekommen.

»Maddi, sei froh, solch einen Schatz wie deinen Mann zu haben. Nicht jede Frau kann sich glücklich schätzen, einen so liebevollen Mann zu bekommen.«

»Danke, Eva. Du bist mir die liebste Freundin meiner Frau!«

Ich musste ihn einfach angrinsen.

»Eva, du hast keine Ahnung, wie mein Liebster sein kann. Es grenzt schon fast an Stalking, was Matt an den Tag legt, nur um mich angeblich zu beschützen.«

Ich schmunzelte bei dem Gesicht, das Matt zog. Es war sonnenklar, dass es genau der Wahrheit entsprach. Bei dem ganzen Geplänkel wurde mir plötzlich bewusst, falls ich jemals wieder heiraten sollte, dann nur einen Mann, der mich wirklich zu schätzen wusste.

Nach einer Weile des Rumalberns schaute Maddi mich treuherzig an. Es war unverkennbar, sie wollte nach Hause gehen. Was mich bei diesem dicken Bauch nicht wunderte, den geschwollenen Knöcheln und diesem Mann, der sie nur betüttelte.

»Eva, wir müssen gehen. Lass uns mal wieder nächste Woche einen Kaffee zusammen trinken  im Hort. Da können wir uns dann auch über die Männer auslassen«, zwinkerte sie mir zu. Ich verstand den Hinweis. Sie konnte nicht reden, wenn Matt anwesend war. Also zwinkerte ich zurück.

»Kaffee? Kannst du voll vergessen, mein Schatz. Wenn, dann Kräutertee!«

Ich musste eingreifen, bevor die beiden sich in die Haare bekamen, wegen ein bisschen Kaffee.

»Keine Sorge, Matthew, ich pass auf sie auf. Du weißt aber schon, dass Kaffee in der Schwangerschaft nicht schädlich ist?!«

»Das ist egal. Du …« Weiter kam er nicht, denn Maddi starrte ihn so böse an, dass ich mir mit Müh und Not das Lachen verkneifen musste.

»Eva, sorry, glaub mir, so einen Mann möchtest du nicht haben. Matt, du brauchst mich gar nicht so böse anschaun. Bring mich lieber jetzt nach Hause und ins Bett.«

»Diese Frau ist eine Plage«, grummelte er schmunzelnd vor sich hin. »Tschüss, Eva«, sagte er, als er hinausging.

»Tschüss, Matt«, schrie ich ihm hinterher. »Machs gut, Süße, wir sehen uns nächste Woche im Hort«, sagte ich zu Maddi, die hinter der Eckbank hervorwackelte und auf mich zukam.

»Ja, gut. Da ist es wenigstens ruhiger zum Reden. Ach, bevor ichs vergesse – ich trinke eh lieber Tee. Das sage ich nur, um Matt zu ärgern.« Sie grinste übers ganze Gesicht und ich stimmte lachend mit ein. »Bis dann.«

»Bis dann, kommt gut heim.«

»Keine Sorge, Eva, Matt fährt grundsätzlich Schneckentempo, wenn ich mit im Auto sitze.«

Ich verkniff mir das Lachen, als ich ihren Blick aufnahm. Wir verabschiedeten uns mit einem Küsschen auf die Wange, anschließend winkte ich den beiden hinterher und schloss die Haustür.

 

Die Zeit war wie im Flug vergangen. Wenigstens hatte Markus die Wohnung schnell verlassen. Ein Pluspunkt für Maddi. Dieses Geplänkel der Fines war immer sehr anstrengend, obwohl ich es auch genossen hatte. Was mich wunderte, weder Mini noch Stefan (der wird wahrscheinlich bei seiner Freundin sein) kamen runter und schrien nach Essen. Normalerweise waren die beiden immer zur Abendessenszeit da, nur heute – nichts. Kurz hatte Mini zwar in die Küche reingeschaut, um ein schnelles »Hallo, gehe in mein Zimmer.« loszuwerden und einen Apfel von der Küchenablage zu mopsen, war dann aber genauso schnell wieder verschwunden. Seitdem hatte ich nichts mehr von ihr gehört oder gesehen.

Ich ging ins Wohnzimmer hinüber und setzte mich entspannt aufs Sofa. Seit zwei Tagen war ich schon nicht mehr in Facebook gewesen. Normalerweise scheute ich mich nicht, auf Konfrontationskurs zu gehen. Wenn ich schon in FB ging, dann wollte ich ganz in Ruhe ein paar Spiele spielen und gelegentlich mit Freunden chatten. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, Marco Polo die Meinung zu geigen, schließlich war er schuld an meinem abgebrochenen Absatz. Also schnappte ich mir meinen Laptop und meldete mich an. Zwanzig Mails lagen im Postfach. Es waren lauter FB-Freunde, die geschrieben hatten. Einige waren mir zu richtigen Freunden geworden. Man tauschte sich aus wegen Kindererziehung, Job, nervigen Chefs und last, but not least – Männern. Die einen schimpften über ihre Ehemänner, weil sie nichts im Haushalt taten und weil sie ihre Frauen nicht verstanden. Die anderen schimpften, weil es keinen anständigen Mann mehr auf dem Heiratsmarkt gab, und dann gab es welche wie mich, die im Moment froh waren, keinen Mann zu haben.

So wie ich glaubten auch zwei von meinen FB-Freunden nicht mehr an die große Liebe. Wir hatten schon unser Fett weg bekommen von den Männern. Sicher gab es bestimmt ebenso Männer, die treu sein konnten, die nicht logen, und die ihre Frauen auf Händen trugen, aber diese Männer waren meistens schon vergeben, weg aus dem Sichtfeld der alleinerziehenden Frauen. Weg aus meinem Sichtfeld, wobei es, wenn ich es recht bedachte, solche Männer nie in mein Gesichtsfeld schafften. Falls doch … erkannte ich sie nicht. Mir liefen immer nur die Arschlöcher hinterher.

»Mensch, Eva, sieh doch nicht immer alles so schwarz. Irgendwann kommt schon noch der Richtige für dich!«, brummelte ich vor mich hin und öffnete die Nachricht von Marco Polo.

»Mama, redest du wieder mit dir selbst?«

Erschrocken fuhr ich hoch, dabei rutschte der Laptop aufs Sofa.

»Musst du mich immer so erschrecken?«

»Hm … du musst echt ein schlechtes Gewissen haben«, sagte Mini mit so viel Erfahrung in der Stimme, dass es mir schwerfiel, mein Lächeln zu verstecken. »Gibt´s heute noch was zum Essen?«

»Hab keine Lust zum Kochen. Was hältst du von Pizza?«

»Mama, geht’s dir nicht gut? Bist du krank?« Erschrocken starrte ich sie an.

»Nein, ich bin nicht krank. Wie kommst du darauf?« Ein bisschen verwirrt war ich schon. Sah ich schon so schlecht aus, dass meine Tochter das annehmen musste?

»Na, weil du keine Lust zum Kochen hast. Das habe ich noch nie erlebt bei dir.« Sie schüttelte den Kopf und sah mich mit diesem Stirnrunzeln an, das mich jedes Mal daran erinnerte, ihr zu sagen, dass sie davon Falten bekam. »Mama, kann ich Stefan das mit der Pizza auch sagen? Der hat mir nämlich meinen Apfel weggegessen.«

Oh. »Ist der denn daheim?« Eine blödere Frage konnte ich nicht mehr stellen. Klar war er daheim, sonst hätte er Mini nicht den Apfel wegessen können. Wenn mein Sohn zuhause war, hieß das, dass sich im Keller wieder die Schmutzwäsche stapelte und der Kühlschrank leergefuttert war. Wie immer.

»Ja, aber sag ja nicht, dass ich dir erzählt hab, dass ihm seine Freundin den Laufpass gegeben hat.«

Aha, daher wehte also der Wind. Schön, dass man eine Mutter hatte, bei der man sich wieder verkriechen konnte. Schade, dass ich das nicht mehr konnte …

»Nein, ich sag nichts. Willst du nun Pizza?«

»Ja-aaa«

Es wunderte mich kein bisschen, dass diese junge Frau meinen Sohn vor die Tür gesetzt hatte. Mein Sohn ist ein lieber, aber auch ein sehr stressiger Mensch. Ich, wenn ich nicht seine Mutter wäre, hätte ihn gar nicht erst durch die Tür gelassen.

»Mama, wer ist denn dieser Marco Polo?«

»Das geht dich nichts an.« Blinzelnd schloss ich schnell den Laptop, dafür war Mini noch nicht alt genug. Ich musste sie ablenken, denn sie versuchte, den Laptopdeckel wieder zu öffnen. »Ich ruf den Pizzaservice an. Was für eine magst du?« Es war mir geglückt, mein Kind schaute mich neugierig an.

»Pizza, lecker. Für mich bitte Thunfisch – scharf. Danke, Mom«, rief mein Sohn von der Treppe herüber und verschwand wieder nach oben, ohne mir die Chance zu geben, ihn zu fragen, wie lange er schon daheim war, und wie lange er bleiben wollte.

»Ich möchte Thunfisch – süßsauer.«

Süßsauer? Gab es denn so was überhaupt? Es reichte doch schon Thunfisch auf einer Pizza aus, aber dann noch süßsauer? Hoffentlich wusste Gregorio auch, was damit gemeint war.

 

Alle pappesatt!

Faul lag ich nach der Pizza Hawaii und dem italienischen Salat satt auf meinem alten Sofa, den Laptop zwischen Bauch und Oberschenkel eingeklemmt, und chattete mit Marco Polo.

 

Eva von King: Also wie schaut es nun mit Ihren Hobbys aus?

Marco Polo: Die sind nicht so interessant wie Ihre. Aber wenn Sie mich schon fragen, dann fahre ich gerne Wasserski, flirte leidenschaftlich und suche eine Frau für gewisse Stunden. ;-)

Eva von King: Wasserski ist aber ein teures Hobby. Welche Stunden wären das denn? :o)

Marco Polo: Nun ja, so teuer ist Wasserski nicht. Alles, was man gerne zusammen macht. Vielleicht kann ich Ihnen noch etwas beibringen. ;-)

Eva von King: Davon bin ich überzeugt, wie wäre es mit Wasserski fahren? Das kann ich noch nicht. :o)

Marco Polo: Ach, ich wüsste da was anderes. :-*

 

Ja, davon war ich überzeugt, dass er was anderes meinte als ich. Wenn er nur nicht so süß ausschauen würde.

 

Marco Polo: Es tut mir leid, bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Natürlich meine ich nicht etwas Anzügliches. Ich dachte nur, es wäre Ihnen recht, dass ich mit Ihnen ein wenig flirte. Außerdem sind Sie mir noch eine Antwort schuldig, die ich Ihnen vorgestern geschrieben habe.

Eva von King: Ach ja, da fällt mir ein ... wegen Ihnen habe ich meinen Absatz abgebrochen. Folglich schulden Sie mir nun ein paar Winterstiefel. ;o)

Marco Polo: Ich kann ja wohl nichts dafür, wenn Ihr Schuh nicht hält. Vielleicht …

Eva von King: Vielleicht was? *Neugierig auf die Antwort*

 

Darauf war ich nun wirklich neugierig. Das klang ja fast so, als wenn er sagen wollte, meine Stiefel hielten mein Gewicht nicht aus.

O-kay … keine Antwort. So falsch konnte ich also damit nicht liegen. Wow, sogar offline ging dieser Arsch. Hm … wieder ein Arschloch weniger.

Warum immer ich?

 

 

 

 

 

 

 

Heiße Mutti

Heiße Mutti

 

Die Woche verging wie im Flug. Nachdem mein Ex wutschnaubend aus dem Haus gelaufen war, sah und hörte ich nichts mehr von ihm. Gott sei Dank, dass die Kinder nichts von alldem mitbekommen hatten. Mini hätte wahrscheinlich wieder einen Heulkrampf bekommen – wie beim letzten Mal – und ich hätte sie wieder tagelang aufbauen müssen (auch wie beim letzten Mal). Bei Stefan … hm. Mein Sohn tat immer so erwachsen, dabei war er bei Weitem nicht so stark, wie er immer tat.

Nachdem seine Freundin ihn aus ihrer Wohnung hinausgeschmissen hatte, verkroch er sich erst mal in seinem Zimmer. Tagelang frotzelte er nur dahin, wenn man ihn ansprach, aber das kannte ich ja bereits. Schließlich war das nicht das erste Mal, dass er Liebeskummer mit heimbrachte. Am besten hielt man die Klappe, bis er sich wieder gefangen hatte, danach konnte man es wagen, ihn anzusprechen. Normalerweise hielt ich nichts von irgendwelchen Sprichwörtern, aber in dem Fall – fiel der Apfel wirklich nicht weit vom Stamm.

 

Nach genau zwei Tagen kam mein Sohn endlich auch zum Frühstücken herunter.

»Guten Morgen, mein Schatz. Setz dich. Magst du Kaffee oder Tee?« Ich weiß, ich kann furchtbar betüttelnd sein …

»Moin. So viel Heiterkeit am Morgen vertrag ich noch nicht. Lass mich erst wach werden«, brummte er verschlafen und setzte sich auf die Eckbank. Den Kopf in die Hände gelegt, saß er stillschweigend da. Na gut, dann setzte ich mich auch wieder an den Tisch, zu meiner Kaffeetasse und las meine Zeitung.

»Mom, ich brauch heut mal deinen Lapi. Muss Bewerbungen schreiben.«

»Bewerbungen? Du bist doch noch nicht mit der Schule fertig. Mach die erst zu Ende, dann kannst immer noch schauen, ob du lieber studieren willst oder erst mal arbeiten.«

Dieses Kind hatte nur Flausen im Kopf. Er hatte nicht mehr lange bis zum Abi, also warum kam er jetzt damit an? Vor ein paar Jahren wollte er im technischen Bereich sein Abi machen, um dann hinterher irgendwas in diese Richtung zu studieren. Nun kam er mit Bewerbungen daher. Da roch etwas oberfaul.

»Das verstehst du nicht, Mom. Kann ich jetzt deinen Lapi benutzen?«

Das war mal wieder so typisch für ihn. Die dumme Mutter hatte ja keinen Plan, wie das Leben so spielte. Würde ich jetzt Nein sagen, ginge er wahrscheinlich trotzdem hin und würde versuchen, mein Passwort zu knacken. Verdammt!

»Ich brauch den heute selbst in der Arbeit«, log ich.

»Mom, du hast auch schon mal besser gelogen!«, sagte er schnippisch, stand ohne ein Wort auf und ging hinaus. Dabei ließ er eine verwirrt dreinschauende Mutter zurück. Hallo? Hatte ich irgendwas verpasst?

 

Die Arbeit war heute wieder mal sehr stressig. Immer wenn der ganz große Boss aus Berlin zu uns kam, drehte hier jeder durch. Meine Chefin, die sonst die Gemütlichkeit in Person war, rannte wie ein wild gewordenes Huhn umher. Selbst bei mir schlug das Ganze aufs Gemüt. Auch die Azubine, die heute eigentlich frei gehabt hätte, musste antreten. Dieses schreckliche Mädchen … Wie so jemand in den sozialen Bereich wollte, verstand ich nicht. Die Göre schnauzte und motzte jeden an. Mittlerweile beschwerte sich wirklich jeder über sie, doch meine Chefin tat nichts, um diesen Zustand zu beenden. Vielleicht jetzt, nachdem der oberste Boss da war …

»Frau Kinsten, wie geht es so?«, fragte mich unser aller Boss, der gerade mein Büro betrat.

»Danke, gut, Herr Günther. Wie geht es Ihrer Frau und den Kindern?«

Boah, Smalltalk war eine langweilige Sache, die ich eigentlich nicht mochte. Aber was sollte ich schon Großartiges zu diesem Fettsack sagen? Es grenzte an ein Wunder, dass er überhaupt meinen Namen wusste.

»Danke, Frau Kinsten, alle wohlauf. Sagen Sie mir doch mal, was ist das für ein außergewöhnlich nettes Mädchen, das hier so fleißig umherwuselt?«

Außergewöhnlich nettes Mädchen? So ein Mädchen besaßen wir nicht. Fleißig auch noch … das musste ein Irrtum sein.

»Ähm …« Was sollte ich dem nur erzählen, ich hatte doch keine Ahnung, wen er meinte. »Welches Mädchen meinen Sie?«

»Na, die Kleine, die so schwarz angezogen ist. Im ersten Moment war ich schon geschockt, wie Frau Vondergast so jemanden einstellen konnte. Aber sie scheint ein wirklich nettes, liebes und freundliches Wesen zu sein.«

Oh mein Gott. Mir stülpte sich gerade der Magen um. Er meinte doch tatsächlich unsere Azubine. Waren die alle verrückt?

»Das ist unsere Azubine Sandra Mikos.« Fast hätte ich mich an ihrem Namen verschluckt. Was sahen die alle nur in dem Mädchen?

»Hat Ihnen Frau Vondergast gesagt, dass wir in zwanzig Minuten eine Feuerübung machen?«

Feuerübung? Was denn noch alles? »Nein. Wir hatten letzten Monat schon eine.« Ja, letzten Monat war ich diesem schnuckeligen Polizisten begegnet, der mich auch vor zwei Wochen vor wütenden Autorfahrern beschützt und vom Eis gekratzt hatte. Warum traf ich diesen Menschen nur immer in solch peinlichen Situationen?

»Ach so. Na, dann kennen Sie ja den Ablauf.«

»Ja«, log ich wieder einmal. Langsam wurde das zur Gewohnheit.

»Gut, dann kann ich mich ja voll auf Sie verlassen«, sagte er, drehte sich um und verließ grußlos mein Büro.

Was war das denn? Noch blöder konnte dieser Tag nicht mehr werden. Hoffentlich war er bald zu Ende.

»Eva!«

Erschrocken fuhr ich rum. Aufgelöst und mit verstrubbeltem Haar stand meine Chefin in der Tür. So hatte ich sie noch nie gesehen. Diese Frau war immer adrett gekleidet. Nie aufdringlich geschminkt, immer gepflegt und die Ruhe selbst.

»Eva, ich brauch deine Hilfe. Ruf doch bitte die Feuerwehr und die Polizei an, dass es sich, wenn der Alarm losgeht, nur um eine Übung handelt.«

»Ja, kein Problem. Aber hätten wir das vorher nicht mit der Feuerwehr besprechen müssen?«

»Ja schon, aber ich und meine vorlaute Klappe …«

»Du und vorlaut? Was ist denn heute nur los mit dir?«

»Ja, ich und vorlaut. Ich habe geschwärmt, wie sich unsere Alten bei einem Feueralarm benehmen. Ich wäre doch nie auf die Idee gekommen, dass Herr Günther das zum Anlass nimmt und eine Feueralarmprobe durchführt.«

Oh, mein Gott. Bei diesem Mann musste man ganz genau aufpassen, was man sagte und was nicht. »Hast du dem Pflegepersonal schon gesagt, was ansteht?«

»Scheiße – Nein!«, schrie sie entrüstet. »Bitte ruf du jetzt die Feuerwehr und die Polizei an. Ich lauf schnell in die zwei Abteilungen und erkläre es dem Pflegepersonal. Hoffentlich reicht die Zeit aus.«

»Okay, bis dann«, sagte ich zu einem leeren Raum. Ich sah nur noch die Tür, die hart ins Schloss fiel. Margarethe war verschwunden.

Na, dann, auf ins Gefecht.

 

»Oh, mein Gott«, stöhnte ich, als der Alarm mich aus dem Gespräch riss, das ich mit dem Hauptwachtmeister Stein führte.

»In Ordnung, Frau Kinsten. Ich höre bereits Ihren Alarm. Dann werde ich Ihnen zwei Kollegen vorbeischicken.«

»Ja. Danke. Auf Wiederhören«, antwortete ich nervös.

»Wiedersehen.« Er legte auf.

Verdammt, nicht mal zum Nachschminken blieb mir Zeit. Kurz schaute ich in den Spiegel oberhalb des Waschbeckens. Na ja, so schlimm wie Margarethe schaute ich noch nicht aus. Schnell schlüpfte ich in meine Pumps, rückte meinen Rock gerade und zog meine Daunenjacke über. Das war ein Anblick, oben warm und unten kalt. Leider hatte ich bis jetzt keine Zeit gefunden, mir neue Stiefel zu kaufen.

»Eva, komm«, rief Daniela zur Tür herein.

Daniela war vom Pflegepersonal und ein lieber Mensch. Die alten Leute mochten sie sehr. Sie war immer gut gelaunt, fröhlich und hilfsbereit, nicht so wie der Pflegedienstleiter Herr Sack. Der Nachname passte wirklich zu ihm. Manchmal …

»Ja, ich komme.«

»Komm, wir sind die letzten.«

»Ja, warte.«

»Sag mal, ist das Absicht?«

»Was meinst du?«

»Deine Schuhe? Ein bisschen kalt für diese Jahreszeit.«

»Ich weiß, aber der Absatz ist wieder mal abgebrochen und …« Weiter kam ich nicht. Daniela brach in schallendes Gelächter aus. »Du brauchst nicht zu lachen, ich bin auf einer Eisschicht ausgerutscht und kaum saß ich auf meinem Hintern … – Na, den Rest kannst du dir denken.«

»Oh Eva, du bist mir eine. Wie schaffst du das nur immer? Mir ist noch nie ein Absatz abgebrochen.«

»Ha. Ha. Sehr witzig. Du trägst auch nur Turnschuhe.«

»Hihi … Da siehste mal. Aber bevor du dir neue Stiefel kaufst, lass sie doch mal reparieren. Ist wahrscheinlich kostengünstiger.«

Wo sie recht hatte, hatte sie recht. Es ging jedes Mal tierisch ins Geld, nur ich war mir nicht sicher, ob das auch für längere Zeit halten würde. Aber für den Hinweis konnte ich mich schon bedanken. Machen würde ich es wahrscheinlich eh nicht.

»Gute Idee. Danke.«

»Gern geschehen. Wozu hat man Freunde«, sagte sie lächelnd.

»Die Damen, ein bisschen schneller, sonst verbrennen Sie noch in dem Heim«, schalt uns eine tiefe Stimme.

Nicht schon wieder. Womit hatte ich das eigentlich verdient? Ich kannte diese Stimme. Dieser Cop brachte meine Beine zum Einstürzen und meine Eingeweide dazu, Samba zu tanzen. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Ich musste auf meinen Weg achten, nicht, dass ich seinetwegen ins Stolpern geriet.

»Ah, da ist ja mein Lieblingsunglückspilz. Wie geht es Ihnen heute?«

Na, klasse. Reichte es denn nicht schon aus, dass meine Beine zu Wachs wurden? Nein, nun sah mich Daniela auch so komisch von der Seite an. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie eine Menge Fragen an mich hatte, und ich konnte mir sehr lebhaft vorstellen, welche das waren. Am liebsten hätte ich mich in ein kleines Mäuseloch verzogen.

»Ich glaube, ich nehme Sie besser auf den Arm, nicht, dass Sie bei Ihrem Glück noch über die Schläuche stolpern«, riss mich dieser Mann aus meinen Gedanken.

Wovon redete er denn da, und was für Schläuche? Hier lag doch nichts rum. Wir hatten ein sauberes Heim, wo jeden Abend geputzt wurde. Bevor ich meine Gedanken abschließen konnte, kam der Mensch auf mich zu und … schwupps kam ich unsanft auf seiner Schulter zum Liegen. Grrr … Das war doch nicht normal!

Ich strampelte mit den Füßen. Schließlich konnte ich auch alleine laufen. Was bildete der sich nur ein, egal, ob er ein Polizist war oder nicht, so was tat man nicht.

»Hey, lassen Sie mich runter.«

»Immer mit der Ruhe. Halten Sie sich fest«, sagte er so bestimmt, dass mir die Spucke wegblieb.

Es blieb mir wirklich nichts anderes übrig, als mich festzuhalten. Also konnte ich mich genauso gut ergeben. Ich legte eine Hand stützend auf seinem Kreuz ab, mit der anderen versuchte ich, mein Gleichgewicht zu halten. Verdammt, so hatten wir nicht gewettet. Daniela kicherte immer noch und machte dabei glucksende Geräusche.

Mir war das alles äußerst peinlich.

»Na, sehen Sie, so geht das gleich viel schneller.«

Pah. Ich war wütend. Seine Hand legte sich wie ein Schraubstock um meine Beine. Nicht mal, wenn ich gewollt hätte, wäre ich hier runtergekommen.

»Eva, du schaust wie eine rote Tomate aus«, kicherte Dani.

»Sind wir nicht bald draußen?«, knurrte ich.

Oh mein Gott, das Gesicht meiner Chefin war ein einziges Fragezeichen, als sie mich so sah. Und das des Oberbosses erst – den traute ich mich, schon gar nicht anzuschauen. Unsere alten Leutchen hingegen klatschten freudig Beifall. So einen peinlichen Auftritt hatte ich schon lange nicht mehr gehabt. Auch sein Kollege schien nicht gerade erfreut zu sein, dass er mich die Stufen hinuntergetragen und draußen vor der Tür abgesetzt hatte.

»Danke«, flüsterte ich mit letzter Kraft, meine Fassung wiederzuerlangen.

»Einer so hübschen und noch dazu so heißen Mutti helfe ich gerne!«

 

 

 

 

 

 

 

Auch Freaks fahren Bahn!

Auch Freaks fahren Bahn!

 

Nach diesem peinlichen Auftritt und dem ganzen Durcheinander dieser unvorbereiteten Feuerwehrübung saß ich nun entspannt in der S-Bahn auf dem Weg nach Hause und sann meinen Gedanken nach.

Die Arbeit in dem Seniorenheim hatte ich vor ein paar Jahren angefangen. Damals ging es ruhig zu, erst so nach und nach wurde es stressiger, doch so aufregend wie die letzten zwei Wochen war es noch nie gewesen. Vielleicht mutierte ich wirklich langsam zum Freak, wie meine Tochter gesagt hatte. Warum passierte mir das ausgerechnet jetzt? Die Jahre zuvor, wo ich wirklich einen Mann gebraucht hätte, stand keiner parat. Jetzt bemühten sich gleich zwei um mich.

Zählte Marco Polo überhaupt als richtiger Mann?

Ich glaubte nicht ernsthaft, dass jemand im wirklichen Leben Marco Polo hieß. Wenn ich heute Abend ins Facebook ging, müsste ich ihn mal fragen, ob...?

Seitdem mein Sohn von seiner Freundin an die Luft gesetzt wurde, saß er wieder zuhause dumm rum und brachte nur Unordnung in mein System. Statt, dass er mir ein wenig im Haushalt zur Hand ging, wusch ich im Akkord Jeans und T-Shirts, Socken und Boxershorts. Das bisschen Wäsche, das Mini und ich brauchten, machte gerade mal ein Viertel aus.

Wie schaffe ein einzelner junger Mann, so viel Schmutzwäsche zu erzeugen?

Vielleicht sollte ich mal eine Statistik erstellen, wie viel Zeit ich für Waschen, Putzen, Staubwischen, Kochen, Einkaufen usw. verschwendete und wie viel am Ende für Freizeit übrigblieb.

Das musste auch anders gehen!

Stefan musste einfach mal lernen, seine Wäsche selbst zu waschen. Es reichte doch schon, dass ich nach der Arbeit für ihn mit kochte.

Bei all den Gedanken und Zahlen, die in meinem Kopf durcheinanderwirbelten, wurden mir die Lider schwer. Es würde bestimmt nichts schaden, meine Augen ein wenig zu schließen, denn es waren eh noch zwei Stationen, bis ich wieder aussteigen musste. Letztendlich würde ich ja die Durchsage: »… Fischbach Bahnhof, steigen Sie in Fahrtrichtung rechts aus!« hören, wenn sie kam. Nur ein bisschen Augenpflege, sonst nichts. Den Mann, der sich mir gegenüber hinsetzte, bekam ich nur noch so halb mit, und dann …

 

»Mami, Mami, schau mal, da steht ein schwarzer Mann vor der Tür.«

»Ach, Mäuschen, was du immer erzählst. Es gibt keinen schwarzen Mann.«

»Doch, Mami, der klingelt jetzt. Lass ihn nicht rein.«

Ring. Ring. »Ich habe Angst, Mami.«

Ring. Ring. »Ja, ich komm schon.«

»Hallo Sie, machen Sie auf.«

»Was wollen Sie von mir?«

»Junge Frau, aufwachen. Endhaltestelle.«

»Nehmen Sie Ihre Hände von mir. Was fällt Ihnen ein! Endhaltestelle?«

»Mami, ich habe Angst.«

»Mini, beruhige dich.«

»ENDHALTESTELLE. AUFWACHEN.«

»Endhaltestelle – Aufwachen – Endhaltestelle …«

ENDHALTESTELLE? SCHEISSE!

Wie von der Tarantel gestochen sprang ich auf. Dabei fiel meine Handtasche mit einem dumpfen Plopp zu Boden.

»Beruhigen Sie sich. Alles halb so schlimm.«

»Sie haben Nerven. Was soll ich denn in Neumarkt?«

»Nein, nein. Der Zug fährt heute nicht weiter …«

»Ja, wo bin ich dann?«, fiel ich dem freundlichen älteren Schaffner ins Wort.

»Altdorf. Sie sind in Altdorf.«

»Altdorf?« Wenn ich in Altdorf gelandet war, war das zwar nicht so weit weg von zu Hause, aber trotzdem ein ganz schönes Stückchen weg.

»Wann fährt die nächste S-Bahn zurück?«, fragte ich den Schaffner, der mich weiter freundlich anlächelte. Er schaute auf seine Armbanduhr, und ich tat es ihm gleich. Boah, fast hätte es mich rücklings auf die Bank gehauen. Es war schon nach halb sieben abends. Bis ich jetzt nach dem Umweg wieder zu Hause ankäme, wäre es nach sieben, sofern die S-Bahn gleich zurückfuhr.

»Zwanzig Minuten müssen Sie schon rechnen. Der Zug fährt pünktlich um 19.01 Uhr los. Bis dahin müssten Sie wieder auf Gleis zwei sein.«

Gleis zwei? War das hier dann Gleis eins? Es gab ja nicht mehr als zwei Gleise hier. »Ist das dann auf der anderen Seite?«

»Nein. Dieser Zug fährt dann zurück.«

Fragezeichen! Na schön, dann konnte ich doch gleich sitzen bleiben und noch eine Runde vor mich hindösen. Nur verschlafen durfte ich diesmal nicht wieder, nicht, dass ich dann in Forchheim rauskam.

»Gibt es hier einen Taxistand?«

»Ja. Da gehens´ am besten in die Gaststätte rein. Die Emma ruft Ihnen dann auch ein Taxi. Aber das kann schon ein wenig dauern, bis die zu uns rauskommen«, sagte er in diesem speziellen Dialekt, der mehr ins Bayerische ging.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Cover: U. Hager
Lektorat: Katharina Gade, Fürth
Tag der Veröffentlichung: 14.02.2020
ISBN: 978-3-7487-2952-5

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