DAS ENGELSGESICHT
von
Claus H. Stumpff
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Protokoll eines Rundfunk-Interviews
im Südbayerischen Rundfunk (SBR)
Heute wieder: Das Verhör
Diesmal eine Anhörung zum Kriminalfall ”Engelsgesicht“
Moderator: Holger Peters
Unser Gast: Kriminalhauptkommissar Georg Bex
Moderator Peters: Grüß Gott, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, begrüßen Sie heute mit mir den Kriminalhauptkommissar Georg Bex, der uns Rede und Antwort stehen will zu einem der seltsamsten Kriminalfälle Bayerns.
Nun, lieber Kommissar Bex, bitte erzählen Sie uns einiges über den Kriminalfall, der unter dem Namen "Engelsgesicht" in die Kriminalgeschichte eingegangen ist. Das war doch der Mord an Franziska Heck, nicht wahr?
Kommissar Bex: Genau. Franziska Heck war sehr wohlhabend und legte sogar bei Friedhofsbesuchen nie ihren kostbaren Schmuck ab. Der Mörder muss sie schon längere Zeit im Visier gehabt haben. Als sie wieder einmal am Grab ihres Ehemannes stand, hatte er sie hinterrücks erdolcht, danach ihre Kehle durchtrennt und all ihre Preziosen geraubt.
Peters: Und wer entdeckte ihre Leiche?
Bex: Die 25-jährige Arzthelferin Alice Berger hatte an jenem Montag das Grab ihrer Mutter besucht. Sie entdeckte Franziska Hecks Leiche und verständigte sofort die Polizei. Sie gab an, zuvor eine Frau mit schwarzer Pagenfrisur in der Nähe des Heckschen Grabes bemerkt zu haben, die plötzlich davongeeilt sei.
Peters: Franziskas verstorbener Ehemann, der renommierte Architekt Guido Heck, soll Alice Bergers Mutter in den Ruin getrieben haben, die daraufhin Suizid beging. Nach Aussage eines Heck-Sohnes hätte Alice durchaus ein Motiv gehabt, um sich für das ihrer Mutter zugefügte Leid zu rächen. Alice wurde daraufhin wegen Mordverdachts festgenommen.
Bex: Aber der Untersuchungsrichter sah keinen ausreichenden Grund für eine weitere Inhaftierung, denn der Stich war eindeutig mit der Rechten ausgeführt worden. Alice war jedoch Linkshänderin. Außerdem: Wäre Alice die Mörderin gewesen, hätte sie wohl kaum die Polizei herbeigeholt.
Peters: Aber dann beging die Lokalpresse eine riesige Dummheit. Was war da genau passiert?
Bex: Nach Alices Freilassung erschien gleich am nächsten Tag ein Zeitungsartikel mit der Überschrift: »Die Arzthelferin Alice Berger war Zeugin des Raubmords auf dem Waldfriedhof«.
Peters: Und das war gewiss ihr Todesurteil?
Bex: So ungefähr, aber zunächst geschah Folgendes: Ich hatte gerade Dienst, als ich Alice Berger am Telefon hatte. Sie schien sehr aufgeregt zu sein und sagte: »Soeben rief mich ein Mann an, wohl ein Südländer. Er drohte damit, mich umzubringen, weil ich seine Freundin verraten hätte. Bitte, schützen Sie mich vor dem Kerl!«
Peters: Und die Arme wartete vergeblich auf Hilfe. Warum nur?
Bex: Wir glaubten nicht, dass der Anrufer es wirklich ernst meinte.
Peters: Der aber doch kam und sie umbrachte?
Bex: Nein, noch nicht. Am Abend rief sie wieder an, diesmal hatte ein Kollege Dienst. Alice soll mit vor Angst bebender Stimme gerufen haben: »Hilfe! Jetzt schellt es! Ich habe solche Angst! Es ist niemand außer mir im Haus. Gerade bollert jemand an der Tür, hören Sie?« Der Kollege vernahm ein lautes Poltern. Kurz darauf gab es einen grellen Schrei. Dann schlug eine Tür zu.
Peters: Der Kerl hatte also seine Drohung wahr gemacht?
Bex: Leider. Unsere Polizei-Kollegen eilten sofort zu ihrer Wohnung. Nur kamen sie zu spät: Alice lag im Flur auf dem Boden in einer Blutlache und mit durchtrennter Kehle.
Peters: Was ergab die Spurensuche?
Bex: Die Kriminaltechniker entdeckten an Alices Hals winzige Spuren schwarzer Haare. Man hoffte, darauf auch DNA-Spuren zu finden.
Peters: Und fand man welche?
Bex: Ja, aber davon später. Unsere Leute durchkämmten nochmals den Umkreis des Heckschen Grabes und wurden tatsächlich fündig. Zwischen dichtem Heidekraut entdeckte man einen Autoschlüssel nebst Anhänger. Dieser führte uns zu einem Ford-Händler in der Nähe.
Peters: Also wieder einer der berühmten Zufälle.
Bex: Genau! Wir hatten wieder einmal Glück. Der Schlüsselanhänger war nämlich ein Werbeartikel, den erst seit Kurzem alle Neuwagenkäufer erhielten. Wir bekamen eine nur wenige Namen enthaltende Liste und begannen sofort mit den Recherchen.
Peters: Und brachten die etwas zutage?
Bex: Eine junge, attraktive Blondine namens Tanja Guardini vermisste seit dem Besuch des elterlichen Grabes diesen Schlüsselbund. Doch sie besaß noch einen Ersatzschlüssel, hat den Verlust daher nicht angezeigt.
Peters: Hatte die DNA-Analyse Erfolg?
Bex: Noch nicht. Man fand heraus, dass das schwarze Haar aus einer Kunststoff-Perücke stammte, deren Haarstruktur einer erst kürzlich aus China importieren Serie entsprach. In München führte damals nur der mondäne Frisiersalon Hairstudio Nr.1 diese spezielle Qualität. Dort nannte man uns gleich die Namen von drei Kundinnen.
Peters: Jetzt spannen Sie mich aber auf die Folter.
Bex: Eine der Perücken-Käuferinnen kannten wir bereits, nämlich Tanja Guardini. Sie war Inhaberin eines kleinen Dessous-Shops. Sie behauptete, ihre Firma während der Geschäftszeit nie zu verlassen, konnte das aber nicht beweisen. Für eine Speichelprobe hatte ich leider nichts dabei. Aber ich beschaffte mir auf ihrer Toilette kleinste Hautpartikel für eine DNA-Analyse.
Eine andere Kundin namens Fanny Grossmann hatte grau-weiß getöntes Haar, besaß außerdem mehrere Perücken verschiedener Haarfarben. Sie betätigte sich als Bardame und ging gelegentlich auf den Strich. Diesmal hatte ich die Utensilien für eine Speichelprobe dabei, die sie zwanglos über sich ergehen ließ.
Dann war da noch eine Frau, deren Namen ich vergessen habe. Sie arbeitete in einem Call-Center und hatte sich eine schwarze Perücke zugelegt, weil sie ihrem Chef gefallen wollte, der auf schwarze Haare stand. An dem fraglichen Tag war sie aber nachweislich am Arbeitsplatz. Sie kam also als Täterin nicht in Frage.
Peters: War es dann aber doch – oder?
Bex: Nein. Denn endlich erfuhren wir, von wem die am schwarzen Perückenhaar entdeckten DNA stammten. Von Tanja Guardini, aber die war nie zuhause und niemand kannte ihren Aufenthaltsort. Wir leiteten eine Suchaktion ein.
Peters: Da war noch was mit einem Frisiersalon.
Bex: Ja, als ich die Untersuchungsprotokolle durchsah, stieß ich wieder auf das Hairstudio Nr.1. Da Tanja dort Kundin war, konnte man mir vielleicht Näheres verraten.
Peters: Hat’s geklappt?
Bex: Nicht direkt. Aber Tanja hatte dort Visitenkarten einer Table-Dance-Bar in Garmisch ausgelegt.
Peters: Da sind Sie natürlich gleich hin?
Bex: Klar! Aber ich war vorsichtig und suchte abends das Sex-Lokal in Begleitung eines Kollegen auf. Zu meinem Schutz hielt sich eine Polizeieinheit bereit, die auf ein vereinbartes Signal sofort zugreifen sollte.
Peters: Was für ein Signal?
Bex: Verrate ich nicht, denn das bleibt absolutes Geheimnis der Polizei. In der Bar herrschte ein ziemlicher Rummel. Wir fragten den glatzköpfigen Türsteher, was da ablief. Demnach führte Tanja Guardini gerade ihre neueste Dessous-Kollektion vor. Wir zeigten ihm unsere Ausweise und wurden eingelassen. Natürlich erkannten wir sie wieder, als sie verführerisch auf einem provisorischen Laufsteg mehr nackt als von Reizwäsche bekleidet auf und ab flanierte. Ihr bezauberndes Engelsgesicht unter einer schwarzen Glatthaarperücke und ihre makellose, mädchenhafte Figur verliehen ihr eine enorme erotische Ausstrahlung.
Peters: Und dann haben Sie Tanja verhaftet?
Bex: Ja, gleich nachdem sie das Treppchen hinunter gestiegen war. Sie blieb ganz ruhig, als wir ihr unsere Ausweise unter das gepuderte Näschen hielten. »Hätte ich Rindviech nur nicht die Perücke aufgehabt, dann hättet ihr Bullen mich nie erwischt!«, sagte sie nur. Plötzlich fühlte ich etwas Hartes in meinem Rücken und jemand hinter mir brüllte: »Du Scheißbulle kommst hier nicht wieder lebend raus. Zlatko, mach ihn fertig!« Zlatko war der Kerl mit der Glatze, der mir den Revolver abnahm und mich dabei frech angrinste. Aber er konnte nicht wissen, dass mein heimliches Signal die Kollegen von der Polizei erreicht hatte. Sie stürmten in das Lokal und nahmen Tanja und ihre Kumpane fest.
Peters: Und wer war der Typ, der Sie mit der Waffe bedrohte?
Bex: Das erklärte Tanja erst nach einem stundenlangen Verhör. Es war ihr Geliebter namens Arturo del Bianco, ein auf der internationalen Fahndungsliste stehender, in Italien beheimateter Krimineller. Der war es auch, der die arme Alice in Angst und Schrecken versetzte, um uns damit in die Irre zu führen.
Peters: Und sie dann umbrachte?
Bex: Nein, das erledigte Tanja selbst. Sie kannte Alice, die vor Jahren im Hairstudio Nr.1 eine Friseurlehre begann, aber wegen ihrer Linkshändigkeit wieder abbrach und den Beruf wechselte. Sie war wohl davon überzeugt gewesen, von Alice auf dem Friedhof wiedererkannt worden zu sein.
Peters: Was machte Tanja mit dem ganzen geraubten Schmuck? Und wieso brachte sie ihre Opfer auf derart grausame Weise um?
Bex: Sie hatte zwar ein Engelsgesicht, war aber eine Teufelin und nicht bereit, sich darüber zu äußern. Wir erfuhren es auch nie, denn sie erhängte sich während der Untersuchungshaft in ihrer Zelle.
Peters: Ein wirklich tragischer Kriminalfall. Herr Bex, herzlichen Dank für dieses Interview!
Das war’s für heute, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer. Freuen Sie sich schon auf das nächste Interview zum Thema ”Das Verhör“ in zwei Wochen mit einem ganz besonderen Gast. Bis dahin also!
Ihr Holger Peters
Ende des Protokolls.
Protokollist: Xaver Schmidhuber
Texte: Claus H. Stumpff - www. chsautor.de
Bildmaterialien: Midjourney Bot
Cover: Gestaltung Claus H. Stumpff
Tag der Veröffentlichung: 02.12.2019
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