EIN UNGEWÖHNLICHER TATORT
Kriminalstory
von
Claus H. Stumpff
Eine Serie von Überfällen auf ältere, dem Anschein nach wohlhabende Frauen an Grabstätten bayrischer Friedhöfe beunruhigt die Kriminalpolizei. Hatte der Täter Spuren hinterlassen? Erst eine Nachlässigkeit des Täters bringt die Ermittler auf eine vielversprechende Fährte. Doch dann hat Kommissar Bex von der Kripo Landshut eine tolle Idee und stellt seinen kriminalistischen Spürsinn unter Beweis.
Die 72-jährige Witwe Hedwig Scharnagel besucht täglich das unter hohen Fichten gelegene Grab ihres kürzlich verstorbenen Ehemanns Stefan. Beide hatten diesen Platz auf dem Waldfriedhof des Münchner Stadtteils Forstenried schon vor Jahren ausgewählt. Trotz ihres Herzasthmas nimmt sich Hedwig stets viel Zeit für die Pflege der liebevoll geschmückten Ruhestätte. Sie erscheint dort meistens am frühen Nachmittag, wo es noch hell ist und viele Leute an den Gräbern zu tun haben. Außerdem ist für Hedwig ein Gedankenaustausch mit Menschen, die das gleiche Schicksal zu beklagen haben, besonders wichtig. Daher nimmt sie jede Gelegenheit zu einem Gespräch mit anderen Frauen an benachbarten Gräbern wahr.
Alles nahm seinen gewohnten Gang bis zu diesem trüben Herbsttag. Hedwig hatte nachmittags einen Termin beim Zahnarzt, weshalb ihr täglicher Friedhofsbesuch diesmal ausfallen musste. Nach der schmerzhaften Behandlung suchte sie die Kreissparkasse auf. Dort ließ sie sich einen größeren Geldbetrag auszahlen, den sie ihrem Sohn für den Kauf eines neuen Autos schenken wollte.
Auf dem Heimweg fiel ihr siedendheiß ein, dass heute der 76. Geburtstag ihres Stefan war. Trotz der bereits einsetzenden Dämmerung machte sie sich noch auf den Weg zum Friedhof. Vom Blumenstand am Eingang nahm sie ein Gebinde aus weißen Chrysanthemen mit; das waren Stefans Lieblingsblumen. Sie war schon recht spät dran. Das emaillierte Hinweisschild am Eingangstor erinnerte an die kurz bevorstehende Schließung. Ihr blieben jetzt nur noch zwanzig Minuten, daher musste sie sich beeilen.
Ganz außer Atem traf sie am Grab ein und bückte sich, um den Blumenschmuck vor dem grauen Steinkreuz niederzulegen. Im selben Moment pressten sich ihr zwei Hände fest um Mund und Nase. Nach Luft schnappend und voller Todesangst riss sie die Augen auf und erkannte zwei dunkelblaue Jackenärmel. Dann wurde ihr schwarz vor den Augen und sie kippte vornüber aufs Beet. Bevor sie völlig das Bewusstsein verlor, vernahm sie noch stolpernde, sich hastig entfernende Schritte.
Hedwig hatte längere Zeit dort – von niemandem bemerkt – gelegen. Als sie aus ihrer Ohnmacht erwachte, dunkelte es bereits und keine Menschenseele war zu sehen. Sie erhob sich mühsam aus ihrer misslichen Lage und sah fassungslos auf die Leuchtziffern ihrer Armbanduhr. ›Meine Güte, schon acht! Was war nur mit mir los?‹ fragte sie sich. ›So was ist mir noch nie passiert. Ob das wohl an der Spritze des Zahnarzts lag? Oder hatte ich wieder einen Asthmaanfall?‹ Noch etwas benommen suchte sie nach ihrer Handtasche, doch die war verschwunden.
Ganz allmählich kehrte ihr Gedächtnis zurück. ›Hatte mir nicht jemand Mund und Nase zugehalten? O mein Gott, ich wurde beraubt!‹ erkannte sie entsetzt. Zornig klopfte sie die Erde von ihrem Mantel ab und rannte laut schnaufend zum Ausgang. Normalerweise wäre das Tor bereits abgesperrt gewesen. Aber als sie dort eintraf, wurde es gerade vom Fahrer eines schwarzen Bestattungswagens geöffnet, der noch einen Sarg in der Aussegnungshalle abzuliefern hatte. »Hilfe! Ich wurde überfallen und beraubt!« schrie sie aufgeregt den Mann an. »Bitte rufen Sie die Polizei!, aber machen Sie schnell!«
Schon bald darauf riegelte ein Polizei-Großaufgebot den gesamten Friedhof ab. In weiße Overalls gekleidete Männer der Spurensicherung und die ringsum aufgestellten Strahler verliehen dem Umfeld des Scharnagel-Grabs eine gespenstische Atmosphäre. Die Aktion verlief zunächst ergebnislos, aber dann trat ein junger Polizist aus einem Gebüsch hervor. Er hielt eine krokolederne Handtasche hoch:
»Die habe ich da drüben gefunden, sie war geöffnet, ist aber leer!«
Er deutete auf einen Kirschlorbeerstrauch zwischen den Gräberreihen. Gleich darauf rief sein Kollege:
»Offensichtlich hat der Kerl hier alles ausgeleert!«
Hinter einem hohen Grabstein verstreut lagen mehrere Gegenstände, die eindeutig aus einer Damenhandtasche stammten; eine Geldbörse und andere Wertgegenstände befanden sich jedoch nicht darunter.
Nach und nach trafen die in alle Richtungen des weiträumigen Geländes ausgeschwärmtem Polizisten wieder beim Einsatzleiter ein. Außer ein paar betrunkenen Obdachlosen, die man aus ihrem Alkoholrausch aufweckte und deren Personalien man aufnahm, hatte man keine weiteren Personen angetroffen.
Kurz nach 23 h
Beim Kriminaldauerdienst (KDD) des Polizeipräsidiums München schrillte das Telefon. Ein Beamter der Polizeiinspektion München-Forstenried meldete den Raubüberfall auf dem Waldfriedhof.
Kriminalhauptkommissar Lukas Sauter knallte missmutig den Hörer hin.
»Schon wieder so ein brutaler Friedhofüberfall!.«
Verärgert sah er seinen am Schreibtisch gegenüber sitzenden Kollegen an, der sich gerade die Reste einer Pizza Regina zwischen die Backen stopfte.
»Erst Kempten, danach Memmingen, Landsberg und weiß Gott wo überall noch. Und jetzt bei uns in München. Der Kerl ist ganz schön verwegen.«
Kriminalmeister Martin Wimmer nickte:
»Was mag das nur für ein Mensch sein, der alte Omas auf Friedhöfen ermordet oder halbtot würgt und dann ausraubt«, sagte er mit vollem Mund. »Hoffentlich gelingt es endlich, dieses Miststück in eine Falle zu locken.«
Sauter spitzte die Lippen. »Du sagtest was von ‹in eine Falle locken›. Hm, vielleicht gar keine schlechte Idee. Aber zunächst beschaffe mir alle polizeilichen Protokolle zu all den anderen Friedhofsüberfällen!«
Um 09:15 h
Kommissar Sauter blickte in die Ermittlerrunde, der neben Wimmer noch vier weitere Beamte des KDD angehörten. Er blätterte in der vor ihm liegenden Akte und sagte stirnrunzelnd:
»Der Kerl ist uns leider schon wieder entwischt. Aber immerhin verfügen wir jetzt über einige Beweisstücke sowie Hinweise zur Erstellung eines vorläufigen Täterprofils. Also erstens zur Handtasche des Raubopfers: Das Labor hat darauf DNA-Spuren analysiert, die identisch sind mit jenen früherer Überfälle. Ergo: Es handelt sich also eindeutig um ein und denselben Täter. Nennen wir ihn doch einfach Fritz.«
»Gute Idee!«, lobte Wimmer und Sauter fuhr fort:
»Zweitens: Vor der Grabstelle befanden sich deutliche Abdrücke von Schuhsohlen. Diese stammen von einem Joggingschuh der Marke Puma. Das Oberleder war brüchig, das Profil der Sohlen abgewetzt. Daraus wage ich zu schließen, dass Fritz zwischen 20 und 45 Jahre alt ist, weil er Sportschuhe bevorzugt. Andererseits könnte er sich in Geldschwierigkeiten befinden, weil er in so ausgelatschten Schuhen herumläuft.
Dann drittens: Fritz besitzt oder benutzt vermutlich kein Auto. Die typischen Verformungen der rechten Schuhsohle fehlten nämlich, die sonst durch ständige Betätigung der Gas- und Bremspedale entstehen.
Und viertens: Fritz könnte gehbehindert sein. Wie sich Frau Scharnagel bei ihrer Befragung erinnerte, hatte sie noch unregelmäßige, humpelnde Schritte vernommen, bevor sie das Bewusstsein verlor.
Fünftens: Weiter erinnerte sich Frau Scharnagel daran, dass ihr während des Überfalls der Duft eines Rasierwassers in die Nase stieg, das ihr verstorbener Mann benutzte. Fritz verwendet möglicherweise diese Marke hier.« Sauter hielt ein Rasierwasser-Fläschchen hoch.
»Und schließlich sechstens: Die Überfälle erfolgten stets in einem vierwöchigen Rhythmus. Dabei ist auffällig, dass Fritz immer am letzten Mittwoch eines Monats zuschlug.«
Sauter unterbrach seinen Vortrag, als Kriminalmeisterin Christa Bauer eintrat und ihm ein Blatt Papier hinreichte, das er eine Weile stillschweigend betrachtete. Dann sah er seine Kollegin freudestrahlend an und gab ihr den Zettel zurück. »Na, Christa, nun erzähl denen mal, was ihr da entdeckt habt.«
»Also, das hier ist 'ne Kopie aus einem dieser dünnen Werbe-Faltkalender, den unser Fritz im Gebüsch hinterm Grab verlor. Der ist ihm eindeutig zuzuordnen«, sagte sie mit Stolz in der Stimme. »Laut unserm Labor ist nämlich der darauf entdeckte DNA-Abdruck identisch mit denen auf allen anderen Handtaschen.«
»Natürlich steht da kein Name drin, oder?«, meinte Lukas Sauter und schob die Unterlippe vor.
»Nein, leider nicht, auch sonst enthalten die Seiten nichts von besonderem Interesse. Bis auf ein paar seltsame Einträge.«
»Nun mach schon, spanne uns nicht so auf die Folter!«, drängte Martin Wimmer.
»Immer mit der Ruhe, lieber Martin! Fritz hatte sich einige Termine notiert, allerdings werde ich nicht ganz schlau draus. Aber Lukas wird bestimmt schneller als ich dahinterkommen. Und nun entschuldigt mich bitte, ich habe nämlich noch eine Vernehmung.«
Nachdem sie verschmitzt lachend den Raum verlassen hatte, betrachtete Sauter nachdenklich die nur aus Daten und Buchstaben bestehenden Einträge.
23.06. ÜN KE
28.07. ÜN MM
25.08. ÜN LL
29.09. ÜN M
27.10. ÜN LA
Danach reichte er den Zettel Wimmer, der ihn ebenfalls kurz las und weitergab. Eine Weile herrschte Schweigen in der Runde. Sauter sah abwechselnd auf das Blatt in seiner Rechten und auf das vor ihm liegende Protokoll zu den anderen Überfällen. Er stöhnte:
»Also, unser Fritz scheint alles bis ins letzte Detail geplant zu haben, Glücklicherweise hinterlassen Verbrecher immer wieder brauchbare Spuren. Ich denke, dass das Kürzel ‹ÜN› für ‹Übernachtung› steht. Die weiteren Buchstaben kennen wir von den Kfz-Kennzeichen her. Fritz könnte also Dienstag, 23. Juni, in Kempten eingetroffen sein. Vermutlich übernachtete er auch dort. Gleich am nächsten Tag beraubte er eine 81-jährige Rentnerin am Grab ihres Mannes auf dem Städtischen Friedhof. Die alte Frau hatte an diesem Tag ihre gesamte Rente abgehoben und trug sie noch bei sich. Einen Monat später, also am 28. Juli, suchte er sich wohl eine Unterkunft in Memmingen. Am 29. Juli warf er auf dem dortigen Waldfriedhof eine 68-jährige Frau zu Boden. Die Frau erlitt dabei erhebliche Verletzungen und ging ihres wertvollen Schmucks verlustig, wie hier in schönstem Amtsdeutsch steht. Und nach abermals vier Wochen am 25. August, reiste er nach Landsberg am Lech. Dort überfiel er am nächsten Tag eine 79-jährige Rollstuhlfahrerin. Fritz wurde diesmal zum Mörder. Er erwürgte die wehrlose, behinderte Frau und schob sie mit dem Rollstuhl in ein Gebüsch, wo ihre Leiche erst am folgenden Morgen entdeckt wurde. Und kürzlich am 29. September, also wieder einen Monat später, mietete er sich hier in München ein, um dann am Tag danach auf dem Waldfriedhof erneut zuzuschlagen. Diesmal erbeutete er eine erhebliche Summe Bargeld.«
Ein junger Kriminalbeamter meldete sich: »Mir fällt auf, dass Fritz seine Tätigkeit nur auf den bayrischen Raum beschränkte.«
»Stimmt nicht, denn bereits im April ereignete sich auf dem Friedrichshafener Hauptfriedhof ein ähnlicher Fall«, warf Sauter ein. »Und Friedrichshafen gehört nun mal zu Baden-Württemberg. Das passt zwar nicht in das sonstige Zeitraster, aber womöglich hatte sich Fritz auch für Mai etwas vorgenommen, konnte jedoch seinen Plan nicht ausführen. Und wenn meine Theorie stimmt, dann sucht er am 28. Oktober den Friedhof im niederbayrischen Landshut auf.«
»Dafür ist die dortige Kripo zuständig«, gab Wimmer zu bedenken.
»Kein Problem«, erwiderte Sauter. »Ich werde umgehend meinen dortigen Kollegen Georg Bex informieren. Übrigens ein alter Freund von mir, der kürzlich zum Ersten Kriminalhauptkommissar befördert wurde, weil ihm die Aufklärung einiger besonders schwerwiegender Kriminalfälle gelang. Diesem Mann entgeht nichts; ich hoffe, dass er auch unseren Fritz zu fassen bekommt, sollte der sich in Landshut neue Beute suchen.«
Um 17:30 h
Auf dem Städtischen Friedhof Landshut hielt sich ein schmächtiger, dunkelhaariger Mann zwischen den Gräberreihen auf. Es dämmerte zwar bereits, aber das Friedhofsportal war noch bis 18:30 Uhr geöffnet. Dem Mann verblieb also noch eine knappe Stunde Zeit für die Ausführung seines Vorhabens. Humpelnd lief er auf und ab; es fror ihn in der abendlichen Oktoberluft. Zitternd zog er die Kapuze seines schwarzen Parkers tiefer ins Gesicht. Dann zündete er sich eine Marlboro an, wobei er eine Hand schützend vor den kurz aufblitzenden Lichtschein des Streichholzes hielt. Keinesfalls wollte er unnötiges Aufsehen erregen. Ob es wohl auch heute wieder klappte? Dann sollte Schluss für dieses Jahr sein. Eine Pause und den Urlaub im sonnigen Süden hatte er sich jedenfalls verdient. Erst im kommenden Jahr würde er wieder weitermachen. Der Mann nahm erneut einen tiefen Lungenzug und blies langsam den bläulichen Rauch in den Abendhimmel. In Gedanken sah er wieder jenen Tag vor sich, der für seinen tiefen Absturz in die Kriminalität ausschlaggebend war:
Völlig unverschuldet war er damals in einen tragischen Verkehrsunfall verwickelt worden. Sein rechtes Bein wurde dabei schwer verletzt. Seitdem hinkte er und war auch zum Steuern eines Autos nicht mehr fähig. Dann kam der Tag, an dem ihm sein Vorgesetzter mitteilte, dass er als Invalide diesen Beruf nicht mehr ausüben dürfe. Das täte ihm zwar leid, aber er habe keine andere Wahl als ihn mit dem besten Zeugnis zu entlassen.
Der Schock saß noch lange tief und er fühlte sich ins soziale Abseits gestellt. Auch finanzielle Probleme machten ihm zu schaffen. Noch kurz zuvor hatte er sich eine Eigentumswohnung in einer der besten Lagen gekauft. Seine Wut auf die Gesellschaft wuchs von Tag zu Tag und er sann nach Vergeltung. Als er in der Tageszeitung von einem auf dem Hauptfriedhof Friedrichshafen verübten Raubüberfall las, hatte er bei sich gedacht: ›Mensch, das kannst du doch auch!‹ Und als feststand, dass der Räuber unerkannt entkommen war und die Suche nach ihm endgültig eingestellt wurde, war in ihm ein folgenschwerer Plan gereift:
In seiner bayrischen Heimat kannte er sich sehr gut aus. Für einen ersten Versuch erschien ihm Kempten im Allgäu als ideal. Dort befand sich das Grab seiner Eltern. Mit dem Regionalbus war er frühmorgens eingetroffen. Herzklopfend war er durchs Friedhofstor getreten. Doch zu seiner Enttäuschung musste er feststellen, dass überall Menschen umherliefen oder Gärtner sich an Grabstellen zu schaffen machten. Um diese Tageszeit hätte sich sein Vorhaben kaum durchführen lassen. Darum hatte er erst eine Stunde vor Schließung erneut den Friedhof betreten. Eine beruhigende Stille hatte ihn umfangen. Nur einige Minuten lang war er zwischen den Gräberreihen auf und ab gegangen, als ihm eine alte, auf einen Stock gestützte Frau auffiel. Der eleganten Kleidung nach zu urteilen schien es sich um eine vermögende Dame zu handeln. Er war ihr nachgeschlichen, bis sie andachtsvoll vor einem frisch aufgeschütteten und mit Kränzen bedeckten Grabhügel stehen blieb. Sie hatte die Hände gefaltet und schien ein Gebet zu murmeln. Dann war er hinter sie getreten und hatte ihr einige Sekunden lang Mund und Nase zugehalten. Er hatte mit einer heftigen Gegenwehr gerechnet und war überrascht, als sein Opfer auf dem Grab plötzlich in sich zusammensackte. In großer Hektik hatte er ihr die Perlenkette vom Hals gerissen, ihre Handtasche ergriffen und war eilig davon gehumpelt.
Als er am nächsten Morgen erwartungsvoll die BILD aufschlug, las er darin einen ausführlichen Bericht über den Friedhofsgangster. Einerseits war er froh darüber, dass seinem Opfer außer einigen Hautabschürfungen nichts weiter geschehen war. Andererseits war er stolz auf sich und den gelungenen Plan, der ihm einen beträchtlichen Geldsegen bescherte, mit dem er wenigstens einen kleinen Teil seiner Schulden begleichen konnte.
Auch die Überfälle in Kempten und Memmingen waren erfolgreich. Die Tat in Landsberg wäre genauso problemlos verlaufen, wenn nicht die alte Frau in ihrem teuren Elektro-Rollstuhl so laut geschrieen hätte. Daraufhin hatte er ihr Mund und Nase noch fester umschlossen, aber sie schien trotz ihrer Behinderung über unbändige Kräfte zu verfügen und konnte sich immer wieder aus der Umklammerung befreien. Daraufhin hatte er mit beiden Händen ihren dünnen Hals umfasst und kraftvoll so lange zugedrückt, bis sie sich nicht mehr rührte. Als er zu seinem Entsetzen erkannte, nun zum Mörder geworden zu sein, hatte er den Rollstuhl mit seiner leblosen Fracht in ein nahes Gebüsch geschoben, aus dem Gepäcknetz die dunkelbraune Louis Vuitton-Handtasche der Frau geschnappt und sich rasch davongeschlichen.
Mit sorgenvoller Miene hatte er am nächsten Tag eine Reportage der Regionalnachrichten verfolgt. Darin wurde berichtet, dass man im Unterholz des Landsberger Friedhofs eine schwerbehinderte alte Frau tot in ihrem Elektromobil sitzend aufgefunden habe. Vermutlich sei sie von dem auf bayrischen Friedhöfen sein Unwesen treibenden brutalen Handtaschenräuber erwürgt worden. Bei sich hatte er gedacht: ›Die Schuld an ihrem Tod trug die Alte schließlich ganz allein. Denn hätte sie sich nicht so heftig gewehrt, wäre ihr bestimmt nichts Schlimmeres geschehen‹.
Bei dem Überfall in München war er etwas behutsamer vorgegangen. Dort war ihm ein besonders einträglicher Coup gelungen. Die alte Dame schien vor dem Gang zum Friedhof bei ihrer Bank noch einen immensen Geldbetrag abgehoben zu haben; eine Summe, die seine finanziellen Probleme auf einen Schlag löste.
Die Gegenwart holte ihn wieder ein, als eine mittelgroße, etwas füllige Dame mittleren Alters ihm entgegenkam. Sie trug auf beiden Händen eine Blumenschale. Ihr weißes, am Hinterkopf kunstvoll zu einem Knoten gebundenes Haar war von einer modischen, pelzbesetzten Kappe bedeckt; das Gesicht verbarg sie hinter einem luftigen Schleier. Bekleidet war sie mit einem eleganten schwarzen Lodenmantel; demnach schien sie begüterten Kreisen anzugehören. Ohne ihn zu beachten ging sie vorbei.
Der Mann blieb stehen und drehte sich nach ihr um. Langsam folgte er ihr, als sie in einen schmalen Weg einbog. Nach wenigen Schritten blieb sie vor einem Grab mit einer schon von Weitem sichtbaren, aus weißem Marmor bestehenden Engelsfigur stehen. Dort verharrte die Dame in Gedanken versunken und schien nicht zu bemerken, wie der Mann hinter sie trat. Jedoch als sich dessen Hände um ihr Gesicht legten, drehte sie sich blitzschnell um, eine Pistole auf ihn richtend.
»Hände hoch!« befahl nun eine tiefe Bassstimme.
Total überrumpelt legte der Mann beide Hände über seinen Kopf und starrte angstvoll die auf Mündung der Waffe. Eine Polizeipistole des Typs Heckler&Koch P 200 war das, wie er sofort erkannte.
Doch genauso perplex reagierte Erster Kriminalhauptkommissar Georg Bex vom KDD Landshut. Er riss sich die Perücke mit der schwarzen Kappe und dem Schleier vom Kopf und rief erstaunt:
»Na da schau her! Der ehemalige Polizeikommissar Felix Hofer!«
Der Mann zeigte sich ebenfalls überrascht: »Du Schorsch? Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet. Aber ich hätte mir denken können, dass Landshut ein gefährliches Pflaster ist, seitdem du hierhin versetzt wurdest. Komm, lass uns doch die Sache freundschaftlich regeln, wir waren doch immer gute Kollegen – nicht wahr?«
Aber Bex zog seine Handschellen hervor.»Nix da, Felix. Raub bleibt Raub und Mord bleibt Mord. Ich muss dich leider festnehmen. Beide Hände, wenn ich bitten darf«, sagte er. »Tut mir leid.«
Dann gingen sie zum Ausgang, wo sie von einem Polizeiauto erwartet wurden.
Um 12:30 h
Bereits am frühen Morgen war im Polizeipräsidium München ein Fax von der Kripo Landshut eingetroffen. Kommissar Lukas Sauter und sein Kollege Martin Wimmer diskutierten noch lange über den sensationellen Erfolg ihres Kollegen Georg Bex.
»Kannst du mir verraten, weswegen der ehemalige Polizeikommissar Felix Hofer aus dem normalen Polizeidienst entlassen wurde?« erkundigte sich Wimmer.
Sauter konnte seine Erregung nicht verbergen: »Bex hatte mir schon früher von Hofers tragischem Schicksal erzählt. Bei einer nächtlichen Verfolgungsfahrt kollidierte dessen Wagen mit dem von Gangstern. Dabei erlitt Hofer so schwere Verletzungen, dass er berufsunfähig wurde. Er galt als äußerst tüchtiger Polizeibeamter und war bei seinen Kollegen sehr beliebt. Jedoch konnte er die Folgen seines schweren Unfalls und die Entlassung aus dem Polizeidienst nicht verkraftten und wurde psychisch labil. Dabei entwickelte er einen ausgeprägten Sozialneid, also unbändigen Hass auf alle Menschen, denen es besser ging als ihm. Übrigens lernte ich Hofer vor Jahren auf einer Feier der hiesigen Schutzpolizei kennen, als er noch im aktiven Dienst stand.«
»Und wie ist Kollege Bex auf den wahnwitzigen Einfall gekommen, sich ausgerechnet als Dame in schwarz mit grauer Perücke zu präsentieren?«
»Du hattest doch selbst vorgeschlagen, dem Täter eine Falle zu stellen. Wie schon gesagt, ich bin mit Georg seit Jahren befreundet und wir beide kamen auf die Idee, den Kerl irgendwie zu überlisten. Bex war von meinem Vorschlag, sich als Frau zu verkleiden, sofort begeistert und hatte riesigen Spaß dabei.«
»Dass Felix Hofer diesen Mini-Kalender mit sich herumtrug, war doch töricht! Wenn er ihn nicht verloren hätte, wäre man ihm nie auf die Schliche gekommen. Na ja, das war vielleicht eine göttliche Fügung.« Wimmer deutete nach oben. »Ohne seine Hilfe blieben so manche Verbrechen unaufgeklärt. Aber wieso fanden Hofers Überfälle immer am letzten Mittwoch eines Monats statt?«
»Keine Ahnung, das wird uns Bex wohl noch verraten, der hat nämlich ....« Sauter brach ab, denn das Telefon schrillte.
»Auf geht’s, Martin!«, schrie er. »Eine weibliche Leiche im Englischen Garten! Wir müssen los! Deine Frage beantworte ich später.«
Beide zogen sich rasch ihre Jacken über und verließen fluchtartig das Kommissariat.
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Claus H. Stumpff
Texte: Claus H. Stumpff - www.chsautor.de
Bildmaterialien: Coverfoto: Midjourney Bot
Cover: Claus H. Stumpff
Tag der Veröffentlichung: 09.08.2017
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