Nach Herbert P a a t z
Abenteuer in Doktor Kleinermachers Garten
Teil 3
der
»DOKTOR-KLEINERMACHER-TRILOGIE«
Überarbeitung und Neufassung
durch
Claus H. Stumpff
www.chsautor.de
Auch im letzten Teil dieser Trilogie unternimmt Doktor Kleinermacher mit den Geschwistern Dieter und Traute Exkursionen in für Menschen sonst nicht zugängliche Gebiete. Als Winzlinge gelangen die drei Abenteurer ins Innere von Pflanzen, in die Bauten von Hummeln und Wespen und zu Mikro-Organismen in Wasserlachen und im Erdreich. Jedesmal geraten sie in atembeaubende, gefahrvolle Situationen.
Die auch hier wieder mit besonderer Anschaulichkeit und märchenhaft dargestellten Ereignisse sollen das Interesse jugendlicher Leser für Natur und Umwelt wecken.
Hinweis:
Die zahlreichen in der Originalversion von 1940 enthaltenen Illustrationen konnten in diesem E-Book (BookRix-Format EPub) leider nicht dargestellt werden. In allen Kindle-E-Books und Taschenbüchern sind sie allerdngs enthalten - siehe unter »Hinweise« am Schluss.
Der heimische Wald wird lebendig
Nie ist Doktor Kleinermacher zuhause! Auch diesmal klingelten die Geschwister Dieter und Traute wieder vergeblich an seiner Haustür. Ob er wohl verreist ist oder nur nicht aufmachen möchte? Sie waren enttäuscht. Dieter hämmerte jetzt so wild gegen die Tür, dass es im ganzen Hause dröhnte. Aber drinnen blieb alles still.
»Bestimmt sitzt er zufrieden an seinem Schreibtisch, lacht sich eins ins Fäustchen und hört uns hier draußen krakeelen«, meinte Traute.
Beide waren stocksauer und mussten – wie schon oft in letzter Zeit – wieder unverrichteter Dinge abziehen.
Als sie nachhause gingen, schwärmten sie von all den Abenteuern, die sie mit ›Doktor Kleinermacher‹ bislang erlebten. Der hatte nämlich ein Wunderwasser hergestellt. Wenn man davon trank, wurde man immer kleiner und kleiner, je nachdem, wie viel man davon zu sich genommen hatte. Wie oft schon hatten die beiden und der Doktor davon getrunken und waren gleich darauf als Winzlinge in einen Bienenkorb gestiegen, in ein Ameisennest und in einen Maulwurfsgang. Was sie da alles erlebten! Und was für interessante Erklärungen Doktor Kleinermacher dazu gab! Einfach toll! Man konnte nicht genug erfahren über all die Wunder der Natur. Und in einem Bienenkorb gab es nicht geringere Abenteuer als in Indien unter Tigern und Elefanten. Und für sie als menschliche Zwerge war es in einem Ameisennest nicht weniger gefährlich als für normalgroße Menschen unter wilden Tieren.
Die Kinder waren derart vertieft in ihre Erinnerungen, dass sie nicht bemerkten, als plötzlich der Gesuchte vor ihnen stand, nämlich Dr. Max Klein, ein pensionierter Professor für Biologie und Studienfreund ihres Opas. Als Dieter und Traute noch klein waren, war er für sie nur der ›Onkel Max‹. Aber seitdem sie mit ihm die Welt der Kleinlebewesen erkundet hatten, nannten sie ihn ›Doktor Kleinermacher‹. Der fand es belustigend, wenn sie ihn auch mit ›Doktor‹ oder gar ›Doktorchen‹ anredeten.
Einen Spaten hatte der alte Mann wie ein Gewehr geschultert, und auf dem Rücken trug er einen Rucksack.
»Hallo, Kinder«, rief er freudig aus, »schön euch mal wiederzusehen!«
»Da bist du ja, Doktor, wir haben dich schon lange gesucht, wo hast du denn bloß gesteckt?
»In meinem Garten, Kinder. Der ist nämlich mein neues Hobby.«
»In deinem Garten...?«
»Ja, ich habe jetzt einen eigenen Garten, den müsst ihr euch unbedingt mal ansehen. Darin werkle ich jetzt jeden Tag. Und das macht mir riesigen Spaß. Ich denke ihr wisst gar nicht, wie schön so ein eigener Garten ist.«
Traute war sofort begeistert: »Ach, ich stelle mir alles so schön vor. In der Mitte eine große Rasenfläche, rechts ist ein Steingarten, links ist ein kleiner Teich, dann sind noch Blautannen da, Heckenrosen, Wacholder...«
»Langsam, langsam, Traute! Da gibt es noch andere Sachen. Zum Beispiel Kohl, Kartoffeln, Mohrrüben und Gurken.«
Jetzt meldete sich Dieter entrüstet: »Also Doktor, das kann wohl nicht dein Ernst sein! Wer wird sich denn mit Kohl abgeben? Kartoffeln, Mohrrüben und Kohlköpfe kauft man doch im Supermarkt, oder? Ein Mann wie du sollte sich keinesfalls unter die Kohlbauern begeben. Entschuldige bitte, aber ich halte deine Gartenidee für ziemlich verrückt. Bitte, lieber Doktor, gib die Kohlanbauerei wieder auf!«
»Du interessiertest dich früher immer für exotische Länder, wie zum Beispiel für Indien oder Australien, lieber Dieter, nicht wahr? Ich erklärte dir damals, dass die Heimat mindestens genauso schön, wenn nicht sogar viel schöner sei. Dann tranken du, deine Schwester Traute und ich von meinem Wunderwasser und wurden winzig klein. Was hatten wir dann für tolle Abenteuer erlebt! Darüber hattest du die weit entfernten Länder ganz vergessen. Stimmt’s? Und jetzt meinst du, mein Gemüsegarten sei nichts für einen Mann wie mich. Wollen wir wetten, dass du davon noch schwärmen wirst? Ich kann dir gar nicht mit Worten schildern, wie schön es ist, den eigenen Boden umzugraben, darin zu säen und zu pflanzen und die Erträge zu ernten. So etwas muss man einfach erleben.
Wenn ich einen Spaten voller Erde umwerfe, dann steigt mir ein wunderbarer, würziger Duft in die Nase. Davon bin ich immer wieder begeistert. Aber das kann man nur verstehen, wenn man selber einen Spaten in die Hand nimmt und die Erde umgräbt. Und dann die Bäumchen, die ich im Herbst gepflanzt habe. Ob deren Knospen im Frühling wohl austreiben und sich Blättchen entwickeln? Und wenn dann wirklich die ersten Blätter kommen, dann freue ich mich darüber wie ein kleines Kind. Ja, man kann schon sein Herz an seinen Garten verlieren. Das können viele Leute überhaupt nicht verstehen. Die lästern nur über die Kleingärtner und halten sie für ein närrisches Völkchen. Was sie aber für Freude an ihrem Garten haben, das ahnen die Spötter gar nicht. Es gab mal einen Kaiser, der hatte so viel Freude am Gemüseanbau, dass er darüber seinen Kaiserthron aufgab. Er lehnte es ab, Kaiser zu bleiben, er wollte weiter Gemüse anbauen.«
»Aber Doktor, das ist doch ein Märchen.«
»Keinesfalls, das steht in vielen Geschichtsbüchern.«
»Na trotzdem. Ein Kaiser will Gemüsebauer sein? Das ist kann doch nur ein Witz sein. Ich habe zwar mal gehört, dass ein Fürst sein Zepter verlegt hatte und darum vorübergehend die Regierung aussetzen musste.«
»Nein, nein, das ist kein Witz, das ist Tatsache. Ich werde euch noch mehr darüber erzählen. Aber nun kommt erst mal mit mir nach Hause. Bei Kaffee und Kuchen lässt es sich viel besser plaudern.«
Am großen Esstisch in seinem Wohnzimmer erzählte ihnen der Doktor noch mehr darüber:
»Es war einmal ein römisches Kaiserreich. Das reichte von Arabien bis nach Spanien und von Ägypten bis an die Nordsee. Kaiser kamen und gingen, regierten schlecht und recht, einige lebten sehr lange, andere wurden ermordet. Manchmal folgten die Söhne auf ihre Väter, meist böse Söhne auf gute Väter. Dann wieder suchten sich die Kaiser die besten aus ihrer Umgebung aus und nahmen sie an Kindes statt an. Die Adoptivkaiser waren gar nicht so schlecht. Bald geriet aber alles wieder durcheinander. Oft ernannte der Senat die neuen Kaiser, meist aber erklärten die Heere ihre Heerführer zu Herrschern. Da es nun aber mehrere Heere im großen römischen Reiche gab, gab es oft auch mehrere Kaiser zur gleichen Zeit. Es war ein Elend mit den Kaisern im alten Rom. Das Reich wollte nicht zur Ruhe kommen, immerzu gab es Bürgerkrieg. Ihr werdet ja davon in der Schule schon gehört haben. Geschichte mögt ihr doch, nicht wahr? Ich jedenfalls habe Geschichte immer sehr gern in der Schule gehabt, viel lieber als die Pause.
Doch Scherz beiseite. Nun kam ein Kaiser auf den Thron, der wollte allem Elend ein Ende machen. Er wollte die Kaisernachfolge für alle Zeiten regeln. Der Kaiser hieß Diokletian. Er teilte das große römische Reich in zwei Hälften. Im Osten regierte er weiter als Oberkaiser, im Westen ernannte er einen Nebenkaiser. Beide Kaiser sollten sich je einen Unterkaiser ernennen. Nach zwanzig Jahren sollten die Oberkaiser abdanken und die Unterkaiser an die Reihe kommen. Das sollte dann so weitergehen bis in alle Ewigkeit.
Kaiser Diokletian dankte mit seinem Kaiserkollegen wirklich ab. In Salona lebte er auf seinem Gute und widmete sich ganz der Landwirtschaft. Er hatte sehr viel Vergnügen mit dem Pflanzenzüchten. Dass er einst Kaiser war, vergaß er völlig. Bald kam wieder Unordnung in die Kaiserfolge. Das System war doch nicht so gut, wie es sich Diokletian gedacht hatte. Man rief wieder nach einem starken Kaiser und forderte Diokletian auf, den Thron zu besteigen. Aber Diokletian schrieb an die Männer der Staatsführung:
›Würdet ihr den Kohl sehen, den ich zu Salona mit eigenen Händen gepflanzt,
ihr würdet von eurem Verlangen absehen, mich wieder zum Kaiser machen zu wollen.
Was sagt ihr dazu? Ein Kaiser lehnt es ab, wieder Kaiser zu werden, weil ihm der Anbau von Gemüse viel interessanter erscheint. Na, ihr staunt darüber, weil ihr nicht wisst, wie schön es ist, einen Garten zu bestellen. Das muss jeder erst mal erleben. Und wenn man einen Garten hat, dann kommt man davon nicht mehr los.«
»Na gut, Doktor«, sagte Dieter, »wir lassen uns gern von dir überzeugen, da bleibt uns wohl nichts andres übrig. Wir werden mit dir Samen ausstreuen, umgraben, Bäume pflanzen und den Kohl begießen. Aber viel lieber würden wir mit dir neue Abenteuer erleben. Ist denn dein Wunderwasser noch vorhanden, oder ist aus dem Doktor Kleinermacher inzwischen ein Doktor Kohlbauer geworden? Es wäre wirklich schade, wenn wir mit dir nie mehr neue Abenteuer erleben könnten.«
»Ich habe noch genug von dem Wunderwasser! Natürlich werden wir uns wieder verkleinern, auch werden wir weitere aufregende Abenteuer erleben, allerdings diesmal in meinen Garten. Er soll der Schauplatz vieler spannender Ereignisse werden. Dazu lade ich euch ein.«
»Hurra!«, schrien Dieter und Traute gleichzeitig. Und Dieter rief: »Du willst wirklich wieder mit uns auf Abenteuerfahrt gehen, lieber Doktor? Das wäre ja toll!« Und Traute fügte hinzu: »Ja, deinen Garten werden wir bestimmt mögen. Egal ob er rund oder viereckig ist, ob dort Gemüse oder nur Unkraut wächst, ob dort bunte Blumen wachsen oder Kohlköpfe, das ist uns jetzt völlig egal.«
So jubelten die Kinder und fielen dem Doktor um den Hals.
»Doktorchen, könnten wir nicht schon jetzt in deinen Gatten gehen?«, fragte Dieter. »Dann könnten wir doch gleich zu einem neuen Abenteuer aufbrechen – oder? Wir sind ja so froh, dass wir dich wieder getroffen haben und du uns nicht vergessen hast. Wenn es auch nicht nett von dir war, so lange nichts von dir hören zu lassen.«
Der Doktor bekam fast keine Luft mehr, so sehr bedrängten ihn die beiden. Endlich konnte er antworten:
»Liebe Kinder, gebt Ruhe, ihr bringt mich ja um! Also, alles der Reihe nach. Heute ist es zu spät zum Gartenbesuch und zu einer Abenteuerfahrt. Aber zum nächsten Sonntag lade ich euch herzlichst ein. Versprochen! Und nun sollt ihr wissen, warum ich so lange nichts von mir hören ließ. Kinder, so ein Garten macht eine Menge Arbeit. Darüber vergisst man hin und wieder seine Freunde. Außerdem wollte ich euch erst dann den Garten zeigen, wenn ich alle meine Planungen umgesetzt habe. Denn es fällt mir stets was Neues ein. Ja, Kinder, ein Stückchen Land kann einem genau so lieb werden wie Menschen. Aber ob der Garten fertig ist oder nicht, auf meine beiden kleinen Freunde will ich nicht länger verzichten.«
Dann holte der Doktor einen großen Lageplan hervor, auf dem waren säuberlich alle Bäume und Sträucher, die Beete, eine Gartenlaube, ein Geräteschuppen, drei Komposthaufen und eine Regenwassertonne eingezeichnet. Vorn lag der Obst- und Gemüsegarten, und hinter der Laube stand geschrieben: Der heimische Wald.
»Was bedeutet denn das Der heimische Wald?, wollte Traute wissen.
»Nun, andere Leute pflanzen seltene Bäume und Sträucher aus fremden Ländern in ihre Gärten, Gewächse aus Nordamerika, Japan und China. Auf dem Areal aber, das ich als Heimischen Wald bezeichne, da werde ich nur solche Bäume und Sträucher hinsetzen, wie sie in unseren heimischen Wäldern vorkommen. Aber das ist gar nicht so einfach. Zum Beispiel möchte ich dort eine echte Waldkiefer hinsetzen. Also suchte ich eine Baumschule auf. Das ist ein Betrieb, der sich mit der Anzucht von Bäumen befasst. Der Gärtner sah mich ganz komisch an:
›Wie, bitte?‹
›Ja, eine Waldkiefer, so wie sie in unseren Wäldern wächst: Pinus silvestris, auf gut deutsch ‹Kiefer des Waldes›‹.
›Diese Art führen wir leider nicht. Aber ich kann Ihnen eine Weymouthskiefer empfehlen. Oder wie wäre es mit einer Pinus montana, einer Bergkiefer?‹
Nein, die wollte ich nicht. So besuchte ich nacheinander vier Baumschulen, aber in keiner fand ich eine Waldkiefer. Schließlich ging ich zu einem Förster. Mit dessen Hilfe grub ich im Wald eine kleine Kiefer aus. Wie habe ich mich da gefreut! Eine Waldkiefer wirkt besonders schön, wenn sie einzeln steht und sich so zu einem herrlichen, knorrigen Baum entwickeln kann.«
Der Doktor schmunzelte zufrieden.
»Mit dem Wacholder ging es mir genauso. Ich suchte nach einem Lüneburger-Heide-Wacholder, und man wollte mir einen irischen Wacholder aufschwatzen. Aber ich bestand auf meinem Lüneburger-Heide-Wacholder, auf botanisch Juniperus communis, und nichts anderem. Die Gärtner schüttelten die Köpfe. Sie dachten bestimmt ›so ein komischer Kauz, will sich nur solche Bäume und Sträucher kaufen, die überall in unserer Heimat wachsen‹.
Wenn ich jetzt durch meinen kleinen Wald spaziere, dann unterhalte ich mich mit den noch recht kleinen Bäumchen, so als ob ich mit Menschen spreche. Sie sind jetzt zwar noch zierlich und niedrig, aber ich male mir aus, wie sie wohl nach vielen Jahren auf uns Menschen wirken, wenn sie kraftvoll in die Höhe gewachsen sind und sich zu einem dichten Wald entwickelt haben.
Fremdlinge gibt es natürlich auch, aber sie haben sich im Heimischen Wald inzwischen das Bürgerrecht erworben, wie zum Beispiel die Kastanie, die aus Südeuropa zugewandert ist. Oder die Platane, die aus dem Orient stammt. Und aus Amerika kam die Akazie zu uns. Sie alle sind inzwischen bei uns heimisch geworden.«
So schritt Doktor Kleinermacher mit den Kindern langsam durch den rückwärtigen Teil seines Gartens, den er als Heimischen Wald bezeichnet hatte. Nachdem er ihnen seine kleinen Bäume vorgestellt hatte, führte er sie in den Garten und zeigte ihnen die Beete mit den verschiedenen, prächtig gewachsenen Gemüsesorten. Da rief Dieter begeistert: »Lieber Doktor, diesen Garten und den Heimischen Wald finde ich wirklich toll. Verzeih mir, wenn ich darüber so gelästert hatte, ich sehe das alles jetzt mit ganz anderen Augen. Was du auch anpackst, es gelingt dir. Wenn es doch nur erst Sonntag wäre!«
Hummel, Hummel!
So früh waren die Kinder noch nie aus den Betten gestiegen wie am Sonntag, als es zu Doktor Kleinermachers Garten gehen sollte. Der Doktor hatte seinen Besitz in solch bunten Farben beschrieben, dass die Kinder lange nicht einschlafen konnten. Und doch kamen sie zeitig aus den Betten. Pünktlich wollten sie sein, keine Minute wollten sie versäumen.
Alle drei strampelten auf ihren Fahrrädern in den frühen Sonntagmorgen hinein. Sie hatten Rückenwind, und das war herrlich. Der Wind schob so mächtig mit, dass sie mit nur halber Kraft in die Pedalezu zu treten brauchten. »Welch ein Glück, dass wir keinen Gegenwind haben«, rief Dieter freudig
Bald erreichten sie den Garten, hinter dessen Tür sie der Doktor bereits erwartete. Links und rechts vom Eingang standen zwei Rotdornbäume, gleich danach befand man sich im riesigen Obst- und Gemüsegarten mit der Laube. Erst dahinter sollte einmal der Heimische Wald entstehen.
»Doktorchen, zuerst wollen wir deinen Wald besichtigen. Du hast uns den Mund so wässrig gemacht mit den Bäumen, mit denen du dich ja immer wie mit Menschen unterhältst.
Nichts tat der Doktor lieber. Er führte sie durch das weiträumige Gelände mit vielen noch jungen, an Holzpfählen gebundenen Bäumen, erklärte ihnen alles und beantwortete geduldig ihre Fragen.
»Hier seht ihr eine Eiche. Sie ist noch nicht so knorrig und saftig wie ein erwachsener Baum, denn sie ist noch sehr jung. Eine alte Eiche konnte ich natürlich nicht pflanzen. Daneben steht eine Buche. Auch sie ist noch jung und klein. Buchen wachsen sehr langsam, da muss man Geduld haben.
Dahinten, die Birke, die wächst schneller. Wenn die Birken schon alt sind, dann sind die Buchen immer noch jung. Und dort drüben steht eine Erle. Ihr kennt doch den Erlkönig von Goethe? So ein Unhold wird meine Erle vielleicht auch mal. Werden Erlen gestutzt, dann wachsen aus ihren Stümpfen vielen neue Erlen heraus.
Und was sagt ihr zu der Linde hier? Sieht sie nicht bezaubernd aus? Ja, kein Baum wurde so oft besungen wie die Linde, zum Beispiel mit dem Lied Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum….
Die Ulme daneben kränkelt leider. Die grausame Ulmenkrankheit hat leider auch sie gepackt. Ja, die Urnenpest geht um – gewiss habt ihr davon schon gehört – dagegen ist leider kein Kraut gewachsen. Wahrscheinlich muss ich das Bäumchen ausgraben.«
Der Doktor ging wieder ein Stück weiter.
»Hier steht ein Ahornbaum und daneben eine Rosskastanie. Wisst ihr, warum man sie Rosskastanie nennt? Man hat nämlich früher, im Mittelalter, aus ihrem Samen ein Medikament für Pferdekrankheiten hergestellt. Wir kennen viele Pflanzen, die nach Heilmitteln benannt wurden, so zum Beispiel das Lungenkraut oder die Lebermoose. Aus Lebermoosen kochte man früher einen Tee, der eine erkrankte Leber heilen sollte.
Dort in der Ecke steht eine Esche. Dieser Baum wächst wie toll. Kennt ihr die Weltesche aus der Edda-Sage? In jedem Kreuzworträtsel heißt es: Nordische Dichtung? Antwort: Edda. Unter der Weltesche sprachen übrigens die germanischen Götter ihre Rechtsurteile.«
Sie gingen wieder ein Stück weiter.
»Vor euch steht eine Eberesche, der Vogelbeerbaum. Kennt ihr das schöne Volkslied: Keinen schöneren Baum gibt’s als den Vogelbeerbaum…? Nur, warum heißt die Eberesche eigentlich auch Esche? Das kommt daher, dass sich die Blätter beider Bäume ähneln, obwohl sie nicht miteinander verwandt sind. Darum sagte man früher zu dem Vogelbeerbaum, er sei auch eine Esche, eine Aberesche. Denn ›aber‹ hatte damals die gleiche Bedeutung wie das Wort ›auch‹. Der Aberwitz ist auch ein Witz, wie der Aberglaube auch ein Glaube ist. Aus der Aberesche wurde im Laufe der Zeit die Eberesche. So heißt dieser Baum auch heute noch.
Dort hinten steht eine Akazie. Das ist eigentlich keine Akazie sondern eine Robinie. Die Ähnlichkeit hat ihr diesen volkstümlichen Namen verpasst. Bei uns wachsen keine echten Akazien, dafür die auch als Pseudoakazien bezeichneten Robinien.
Auch die Robinie ist ein Fremdling, sie stammt aus Nordamerika. Der Hofgärtner des französischen Königs Heinrich IV. holte den Baum über den großen Teich. Robin hieß der Gärtner und nach ihm wurde der Baum Robinie genannt. Aber der Name Akazie ist so verbreitet, dass kaum einer mehr den Baum kennen wird, wenn man ihn als Robinie bezeichnet.
Die Trauerweide da hinten ist noch recht niedrig, wird aber einmal zu einem riesigen, imposanten Baum heranwachsen. Der alte Vater Linné, der allen Pflanzen und Tieren die ersten wissenschaftlichen Namen gab, der allem, was da kreucht und fleucht, ein Etikett anhängte, gab der Trauerweide den wissenschaftlichen Namen Salix babylonica. Er glaubte nämlich, dass die Juden in ihrer babylonischen Gefangenschaft an den Ufern des Flusses unter der Trauerweide saßen und wehklagten, so wie es im Psalm heißt. Aber Linné irrte sich, denn bei Babylon wuchsen damals keine Trauerweiden.
Und hier seht ihr Pyramidenpappeln. Die wachsen so rasch, als ob sie keine Zeit hätten. Aber prächtig sehen sie aus, nicht wahr? Kaiser Napoleon hatte diese Bäume sehr gern. Seine Heerstraßen bepflanzte er beiderseitig mit Pyramidenpappeln.
Die Fichte dort kennt ihr vielleicht noch. Als Tannenbaum stand sie früher in jeder Weihnachtsstube. Das Bäumchen neben der Fichte ist eine Lärche, unser einziger Nadelbaum, der im Winter alle Nadeln verliert.
So, Kinder, das ist also mein Heimischer Wald, und hier wollen wir auch unser erstes Abenteuer dieses Jahres bestehen.«
Die Kinder klatschten vor Freude in die Hände, und der Doktor zog die Flasche mit dem Wunderwasser aus seinen Rucksack heraus und sagte: »Jetzt kann’s losgehen!«
Den Kindern war diese Flasche noch in guter Erinnerung. Trank man von ihrem Inhalt, dann wurde man so klein wie ein Floh oder noch kleiner. Diesmal aber wollte der Doktor, dass sie alle so klein wie eine Ameise würden. Damit niemand zu viel oder zu wenig davon schluckte, füllte er eine genaue Menge Wunderwassers in die drei ebenfalls mitgebrachten Messbecher, diesmal bis zur Strichmarke 6. Das kannten die Kinder bereits von früheren Unternehmungen.
Als alle drei ihre Becher ausgetrunken hatten, begann es in ihnen zu prickeln und zu kitzeln, so als ob ihr Körper eine Sprudelflasche wäre. Zur gleichen Zeit wuchsen die Bäume bis in den Himmel hinein. So kam es jedenfalls den Kindern vor. Die Gräser erschienen ihnen größer und größer, bis sie über die Grasspitzen nicht mehr hinwegsehen konnte. Und schließlich war jeder nur noch so groß wie eine Ameise.
Sieht die Welt komisch aus, wenn man sie in Ameisengröße betrachtet! Der Boden ist so rau und unregelmäßig, voller Felsbrocken, Gestrüpp und Balken.
»Wohin soll denn diesmal unsere Reise gehen, Doktor?«, erkundigte sich Dieter.
»Vor uns liegt ein Berg, seht ihr den? Das ist ein alter Maulwurfshügel. Darin haben sich jetzt Hummeln breitgemacht. Wir wollen jetzt in das Hummelnest einsteigen.«
Traute aber war damit nicht einverstanden.
»Doktor, wir haben im vorigen Jahr das Ameisennest und den Bienenkorb besucht. Immer hast du uns mit einer Flüssigkeit eingerieben, damit wir ebenso riechen wie die Tiere und diese uns nicht für Feinde halten und angreifen. Wir müssen uns jetzt doch auch einreiben – oder?«
»Nein, das ist nicht notwendig. Die Hummeln sind zwar größer als Bienen, und stechen können sie auch ganz anständig, aber sie sind gutartiger. So schnell stechen Hummeln nicht. Als ich mal eine Hummel auf
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Claus H. Stumpff - www.chsautor.de
Lektorat: Claus H. Stumpff
Tag der Veröffentlichung: 12.05.2017
ISBN: 978-3-7438-1214-7
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