Das Phantomschiff
oder ›Der fliegende Holländer‹
Seefahrer-Roman
nach Captain Frederick Marryat (1782 - 1848)
Erstveröffentlichung 1839
Text überarbeitet und neugefasst
von Claus H. Stumpff - www.chsautor.de
Im Jahr 1839 erschien Captain Frederick Marryats Seefahrer-Roman »The Phantom Ship« als Fortsetzungsgeschichte in einer englischen Zeitschrift, was viele begeisterte Leser fand. Richard Wagner griff dieses weltbewegende Thema mit seiner Oper »Der Fliegende Holländer« auf
Die Geschichte handelt von Kapitän William Vanderdecken, der von den Seefahrern wegen seiner Wutanfälle gefürchtet war. Trotz eines herannahenden Sturmes will er noch das ›Kap der Guten Hoffnung‹ umschiffen. Doch sein waghalsiges Unternehmen scheitert. Wutentbrannt wirft er den Steuermann über Bord und stößt gleichzeitig einen gotteslästerlichen Fluch aus – für den er ewig büßen muss: Bis zum jüngsten Tag soll er als Untoter auf einem Geisterschiff die Weltmeere durchqueren.
Eines Tages erfährt sein Sohn Philipp, dass nur er allein die Möglichkeit habe, seinen Vater von diesem grausamen Schicksal zu erlösen. Er zögert nicht lange, sondern begibt sich auf eine gefahrvolle, um die halbe Welt führende Seereise.
Die Besonderheit dieses Werkes beruht auf der Einarbeitung übernatürlicher Erscheinungen in eine mystisch verklärte, romantische Erzählung. Überzeugend dargestellt sind die damaligen Praktiken der katholischen Kirche, deren hohe Geistlichkeit als herzlos, dogmatisch und geldgierig bezeichnet wird. Die realitätsnahe Beschreibung der Inquisition und ihrer barbarischen Methoden, sowie eine tragische Liebesgeschichte lassen den Leser nicht ungerührt.
Der Originaltitel des 1839 herausgegebenen Werkes lautet »The Phantom Ship«. Das vorliegende E-Book beinhaltet eine Neufassung des seinerzeit als »Das Geisterschiff« oder »Der fliegende Holländer« oder »Das Gespensterschiff« in deutscher Sprache veröffentlichten Romans.
Die damalige Übersetzung aus dem Englischen darf als misslungen bezeichnet werden; sie war vermutlich anhand eines englisch-deutschen Wörterbuchs und ohne Einschaltung eines Lektors erfolgt. Der Text enthielt nicht nur viele gravierende Fehler hinsichtlich Handlungsablauf und Ausdrucksweise, oft war auch die Erzähl-Logik lückenhaft. Infolge falscher Wortwahl, überlanger und unverständlicher Satzkonstruktionen entspricht der Text nicht mehr dem heutigen Sprachgefühl. Alle früheren Veröffentlichungen deutscher Verlage basierten auf der schauderhaften Original-Übersetzung. (Beispiele dafür: http://gutenberg.spiegel.de/buch/der-fliegende-hollander-3827/3)
Um dieses Werk für Fans von Seeabenteuer-Romanen wieder lesbar zu machen, war eine gründliche Überarbeitung erforderlich. So wurden allzu schwülstige Passagen dem heutigen Sprachgebrauch behutsam angepasst und widersprüchliche Folgerungen berichtigt. Bei den vielen missverständlichen und nicht mehr zeitgemäßen Formulierungen erfolgte eine komplette Neufassung. Dem aufmerksamen Leser wird allerdings die Vermischung alter und zeitgemäßer Ausdrucksweisen nicht verborgen bleiben. Das war unvermeidbar, denn sonst hätte der gesamte Roman umgeschrieben werden müssen und der Charme der im 19. Jahrhundert üblichen, ziemlich ausschweifenden Sprache wäre ganz verloren gewesen.
Frederick Marryat darf man als großartigen und fantasiereichen Erzähler bezeichnen. Allerdings scheint er seine Ideen ohne jede Nachkontrolle niedergeschrieben zu haben, weshalb man ihm zu Recht die Hastigkeit vorwarf, in der er innerhalb von neunzehn Jahren etwa dreißig Werke veröffentlichte. (Seine Biografie folgt am Schluss)
Trotz allem gibt vorliegender Roman aufschlussreiche und spannend beschriebene Einblicke in die abenteuerliche Seeschifffahrt und die Barbarei der Inquisition in der »frühen Neuzeit«, die 1799 mit der französischen Revolution zu Ende ging.
Es ist Mitte des 17. Jahrhunderts. Am rechten Ufer der Schelde und der Insel Walcheren gegenüber liegt das holländische Städtchen Terrneuse. An dessen Ortsrand befand sich ein kleines, nach damaligem Zeitgeschmack errichtetes Häuschen. Es stand in einem großen Garten, der von einer dicken Hartriegelhecke und einem breiten Wassergraben umgeben war. Darüber führte eine schmale Brücke, die seitlich durch ein kunstvoll geschmiedetes Geländer gesichert war. Sie führte weiter bis zum Eingang der Hütte, an deren Fenster und Türen sich ihr allmählicher Verfall erkennen ließ, zumal auch herabgefallene Dachziegel verstreut auf dem Erdboden lagen.
Im Innern waren das Erdgeschoss wie auch das erste Stockwerk in jeweils zwei größere Vorder- und zwei kleinere Hinterzimmer unterteilt. Oben befanden sich die Schlafräume, zwei kleinere Räume im Erdgeschoss dienten als Waschküche und Rumpelkammer. Der größte Raum dort war die Küche, auf deren Simsen silbrig glänzende Kochtöpfe aufgereiht standen. Sie war zwar ordentlich und sauber, aber nur spärlich möbliert. Die Bodendielen waren so weiß geschrubbt, dass man alles hätte darauflegen können, ohne dass es schmutzig geworden wäre. Ein kräftiger Tisch aus Tannenholz, zwei hölzerne Stühle und ein kleines Sofa stellten die ganze Möblierung dar. Ein weiteres Gemach war als Besucherzimmer vorgesehen; über dessen Einrichtung wusste niemand etwas, denn seit etwa siebzehn Jahren war es verschlossen, und konnte nicht einmal von den Bewohnern der Hütte betreten werden.
In der Küche hielten sich ein Mann und eine Frau auf. Letztere war etwa vierzig Jahre alt und bereits von schwerer Krankheit gezeichnet. Sie muss einmal sehr schön gewesen sein, was man aus ihrer hohen Stirn und den großen, dunklen Augen ersehen konnte. Jetzt aber war ihr Gesicht eingefallen und von Runzeln überzogen. Sie saß grübelnd und mit gesenktem Kopf auf einem Sofa und schien in düstere Schwermut gefallen zu sein, die nur durch einen baldigen Tod Erleichterung versprach. Sie trug die Witwentracht jener Zeit, die zwar adrett und sauber, aber vom ständigen Tragen recht ärmlich wirkte.
Ein blonder etwa neunzehnjähriger Mann saß ihr am Tisch gegenüber. Er sah sehr gut aus, sein Gesicht war fein geschnitten, sein Körperbau muskulös und seine Augen strahlten Entschlossenheit aus.
»Geh’ nicht zur See, Philipp, mein lieber Sohn, bitte versprich mir das«, sagte die Frau.
»Und warum sollte ich nicht zur See gehen, Mutter?«, erwiderte Philipp. »Was nützt es uns beiden, wenn ich hier bleibe und wir verhungern? Denn beim Himmel, wir haben kaum etwas Besseres in Aussicht. Ich muss für mich und für Euch etwas tun – womit sonst könnte ich Geld verdienen? Onkel van Brennen hatte mir doch angeboten, mich auf seinem Schiff mitzunehmen und mir guten Lohn zu zahlen. An Bord wäre dann für mich gesorgt, und mein Verdienst würde wohl ausreichen, um auch Euch gut zu versorgen.«
»Philipp – Philipp, höre mich an. Ich sterbe, wenn du mich verlässt. Wen habe ich denn noch außer dir? O, mein Junge – wenn du mich lieb hast – und ich weiß, du liebst mich, Philipp – so verlasse mich bitte nicht; aber wenn du unbedingt fort willst, so geh’ keinesfalls zur See.« Dabei brach sie in Tränen aus.
»Dringt Ihr nur deswegen so in mich«, sagte der Sohn, »weil mein Vater im Meer ertrank?«
»O, nein – nein!«, rief die schluchzende Mutter. »Wollte Gott... .«
»Was sollte Gott wollen, Mutter?«
»Nichts – nichts, sei barmherzig – sei barmherzig! O mein Gott!«, jammerte die Mutter, erhob sich vom Sofa und kniete davor nieder – eine Haltung, in der sie eine Zeit lang in inbrünstigem Gebet zubrachte. Danach nahm sie ihren Platz wieder ein, und es schien so, als habe sie sich wieder etwas gefasst.
Philipp, der sich inzwischen still verhalten hatte, sagte jetzt:
»Ja, seht Mutter – Ihr verlangt, ich solle bei Euch bleiben und Hunger leiden, aber das wäre ein schlechteres Los. Darum hört gut zu, was ich Euch jetzt sagen muss: Seit ich mich erinnere, ist das Zimmer nebenan stets verschlossen – warum das so ist, wolltet Ihr mir nie verraten. Aber ich habe Euch einmal davon sprechen gehört, damals – als wir kein Brot mehr hatten und mit der baldigen Rückkehr des Onkels nicht zu rechnen war. Da schient Ihr etwas verwirrt gewesen zu sein, Mutter, und Ihr wisst zu gut, dass Ihr dies oft seid.«
»Nun sag schon, Philipp, wovon soll ich gesprochen haben?«, fragte die Mutter.
»Ihr sagtet, dass in diesem Zimmer genug Geld sei, um uns aus der Notlage zu helfen, und dann habt Ihr erklärt, lieber sterben zu wollen, als es je anzurühren. Nun sagt mir, Mutter, was befindet sich in diesem Raum, und warum haltet Ihr ihn stets verschlossen? Entweder, Ihr klärt mich darüber auf, oder ich gehe noch heute zur See.«
Nach dieser Drohung saß die Frau regungslos und wie versteinert da. Sie schien kaum noch in der Lage zu einer Antwort zu sein. Sie stemmte eine Hand gegen ihre rechte Seite, als wolle sie sich Erleichterung gegen eine quälende Folter verschaffen, dann fiel sie kopfüber auf den Boden; aus ihrem Mund floss Blut.
Philipp eilte zu ihr, hob sie auf und legte sie auf’s Sofa, hilflos auf den anhaltenden Blutfluss sehend.
»O Mutter – Mutter, was ist das nur?«, rief er verzweifelt.
Eine Zeitlang vermochte sie nicht zu antworten. Sie drehte sich vielmehr auf die Seite, um an der Blutung nicht zu ersticken.
»So redet doch, teuerste Mutter«, rief Philipp in Todesangst, »wie kann ich Euch helfen? Allmächtiger Gott! Was ist Euch geschehen?«
»Der Tod, mein Kind, der Tod!«, antwortete die arme Frau; dann fiel sie in Ohnmacht.
Philipp rannte hinaus und bat Nachbarinnen um Hilfe. Einige eilten herbei, und als Philipp sie um seine Mutter bemüht fand, jagte er zum Haus eines Arztes, der eine gute Meile entfernt wohnte. Das war ein Mynheer Poots, der wegen seiner ärztlichen Kunst zwar viel gelobt, aber wegen seines krassen Geizes verhasst war. Philipp traf Poots zuhause an und bat ihn, sofort mitzukommen.
»Natürlich komme ich gleich – ja, ganz gewiss«, sagte Mynheer Poots, der das Holländische nur mäßig beherrschte, »aber Mynheer Vanderdecken, wer wird mich dafür bezahlen?«
»Wer Euch dafür bezahlen wird? Nun, mein Onkel, wenn er wieder zurück ist.«
»Euer Onkel, der Schiffer Van Brennen? O nein, der schuldet mir schon seit langem vier Gulden. Außerdem könnte inzwischen sein Schiff untergegangen sein.«
»Er wird Euch Eure vier Gulden und auch diesen Besuch bezahlen«, erwiderte Philipp wütend geworden. »Kommt augenblicklich mit – während Ihr hier disputiert, ist meine Mutter vielleicht schon gestorben.«
»Nein, Herr Philipp, ich erinnere mich jetzt, dass es jetzt gar nicht geht. Ich muss nämlich das Kind des Bürgermeisters von Terneuse besuchen.«
»Lasst Euch etwas sagen, Mynheer Poots«, rief Philipp von Zorn erfüllt, »Ihr habt die Wahl – wollt Ihr gutwillig mit mir gehen, oder muss ich Euch hinschleifen? Ich lasse nicht mit mir spielen.«
Mynheer Poots wurde jetzt nachdenklich, denn Philipp Vanderdeckens wilde Entschlossenheit war ihm wohlbekannt.
»Also, ich will gelegentlich vorbeikommen, Mynheer Philipp, sobald ich Zeit habe.«
»Ihr kommt jetzt mit, Ihr alter Geizkragen!«, schrie Philipp ihn an, packte den kleinen Mann am Kragen und zerrte ihn zur Tür hinaus.
»Mordio! Mordio!«, rief Poots, der kaum noch auf seinen Beinen stand, während ihn der ungestüme, junge Mann hinwegschleppte.
Philipp machte Halt, als er bemerkte, dass Poots sich fest gegen ihn stemmte.
»Muss ich Euch erdrosseln, oder wollt Ihr jetzt mit mir gehen? – denn das müsst Ihr – hört Ihr? – lebend oder tot!«
»Wohlan denn«, sagte Poots, »Ihr werdet noch heute Nacht in’s Gefängnis wandern. Und was Eure Mutter betrifft – ich will nicht – nein, ich will nicht – , Mynheer Philipp.«
»Denkt an meine Worte, Mynheer Poots«, erwiderte Philipp. »So wahr es einen Gott im Himmel gibt – wenn Ihr nicht mitkommt, erdrossele ich Euch auf der Stelle. Und wenn Ihr nicht Euer Bestes tut, um meine Mutter zu retten, so ist’s auch dann um Euer Leben geschehen. Ihr wisst, dass ich immer mein Wort halte; lasst Euch daher raten und kommt jetzt mit. Ihr sollt gewiss bezahlt werden – und noch obendrein sehr gut – sogar, wenn ich meinen Rock vom Leib verkaufen müsste.«
Diese letzte Bemerkung erzielte eine bessere Wirkung als alle Androhungen zuvor. Mynheer Poots war ein erbärmlicher, kleiner Wicht, und zwischen den starken Armen des jungen Mannes wirkte er wie ein Kind. Er entschied sich jetzt zum Mitkommen, einerseits, weil ihm eine gute Bezahlung zugesichert wurde, andererseits, weil ihm nichts anderes übrig blieb.
Nun eilten Philipp und Mynheer Poots der Hütte zu. Dort angelangt, fanden sie die Kranke noch immer in den Armen zweier Nachbarinnen, welche ihr die Schläfen mit Weinessig rieben. Sie war wieder zu sich gekommen, konnte aber noch kein Wort sagen. Poots ließ sie in ihr Schlafgemach hinauftragen und ins Bett legen, reichte ihr einen säuerlichen Trank und machte sich mit Philipp auf den Weg, um die benötigten Arzneien zu besorgen.
»Ihr müsst diese Medizin sofort Eurer Mutter einflößen, Mynheer Philipp«, sagte Poots, und übergab ihm ein Fläschchen. »Ich muss mich jetzt um das Kind des Bürgermeisters kümmern und werde gleich danach wiederkommen.«
»Aber enttäuscht mich nicht«, warnte ihn Philipp mit drohenden Blicken.
»Nein, nein, Mynheer Philipp. Eurem Onkel Van Brennen möchte ich zwar nicht trauen, aber Ihr habt mir versprochen, mich zu bezahlen, und ich weiß, dass Ihr stets Euer Wort haltet. In einer Stunde bin ich wieder bei Eurer Mutter – aber jetzt sputet Euch.«
Philipp eilte nach Hause. Nach Einnahme des Medikaments hörte die Blutung auf, und eine halbe Stunde später konnte seine Mutter flüsternd ihre Wünsche formulieren. Als der Doktor wieder eintraf, untersuchte er sorgsam die Kranke und ging dann mit ihrem Sohn in die Küche hinunter.
»Mynheer Philipp«, begann Poots, »bei Allah, ich habe mein Bestes getan, muss Euch allerdings sagen, dass ich nur wenig Hoffnung habe, Eure Mutter wieder geheilt zu sehen. Sie kann vielleicht noch ein paar Tage leben, aber kaum länger. Das liegt nicht in meiner Verantwortung, Mynheer Philipp.
»Nein, nein, es ist der Wille des Himmels«, sagte Philipp wehmütig.
»Und Ihr wollt mich bezahlen, Mynheer Vanderdecken?«, fuhr der Doktor fort.
»Ja«, entgegnete Philipp mit Donnerstimme, nun ärgerlich geworden.
Nach kurzem Stillschweigen sagte der Doktor: »Soll ich morgen wieder kommen, Mynheer Philipp? Ihr wisst, das macht abermals einen Gulden aus. Es führt schließlich zu nichts, sein Geld oder seine Zeit nutzlos zu verschwenden.«
»Kommt morgen – kommt jede Stunde – und berechnet mir, was Ihr wollt. Ich werde Euch bezahlen«, sagte Philipp, wobei er ihn verachtungvoll anschaute.
»Also, ich werde wieder vorbeischauen. Sobald sie tot ist, erbt Ihr die Hütte und alle Möbel, die Ihr dann verkaufen könnt. Ihr werdet Geld in Hülle und Fülle haben. Mynheer Philipp, ich würde das erste Angebot auf das Häuschen abgeben, wenn es zum Verkauf steht.«
Philipp hob seinen Arm, als wolle er Poots niederschlagen, der daraufhin eine Abwehrhaltung einnahm.
»Ich meinte natürlich, erst wenn Eure Mutter begraben wurde«, schmeichelte nunmehr Poots.
»Geht! Ihr elender Wicht, geht!«, rief Philipp, sein Gesicht mit den Händen bedeckend, während er auf das blutbefleckte Sofa niedersank.
Nachdem der Arzt gegangen war, trat Philipp Vanderdecken wieder vor das Bett seiner Mutter, deren Zustand sich gebessert zu haben schien. Die Nachbarinnen hatten sie wieder allein gelassen. Vom Blutverlust erschöpft, schlief die Kranke noch mehrere Stunden, ohne die Hand ihres Sohnes loszulassen, der mit sorgenvoller Miene ihren Atemzügen lauschte.
Gegen Morgen erwachte die Witwe aus einem tiefen Schlaf. Als ihr Blick auf Philipp fiel, sagte sie:
»Mein lieber Sohn, ich habe dich zu lange wie einen Gefangenen bei mir gehalten.«
»Meine Empfindungen für Euch hielten mich davon zurück, Mutter, von Euch zu gehen. Ich mag Euch doch nicht fremden Leuten überlassen, bevor Ihr nicht wieder vollständig auf der Höhe seid.«
»Das wird nie mehr geschehen, Philipp. Ich fühle, dass mich schon bald der Tod ereilen wird, und ich würde auch mit Freuden diese Welt verlassen, wäre es nicht um deinetwillen, lieber Sohn! Ich trage schon längst den Tod im Herzen, Philipp – und habe lange, lange um meine Erlösung gebetet.«
»Aber warum denn das, liebe Mutter?«, sagte Philipp entsetzt. »Ich habe doch stets das Beste für dich gewollt.«
»Ja, das hast du – und möge Gott dich dafür segnen. Wie oft habe ich schon erlebt, dass du meinetwegen dein ungestümes Temperament zügeltest und deinen gerechten Unwillen niederkämpftest, um meine Gefühle zu schonen. Ja, Philipp, du musst mich für wahnsinnig gehalten haben, dass ich so lange darauf bestand, dich hier zu behalten, ohne dir einen Grund dafür zu nennen. Ich werde dir gleich alles erklären.«
Die Witwe drehte den Kopf auf dem Kissen um und verhielt sich einige Minuten lang still. Nachdem sie auf’s Neue ihre Kräfte gesammelt hatte, sprach sie:
»Ich glaube, ich bin eine Zeit lang etwas verwirrt gewesen – war es nicht so, Philipp? Ach, nur Gott weiß, dass ich ein Geheimnis in mir trage, das wohl imstande ist, eine Frau bis in den Wahnsinn zu treiben. Es hat mir weder bei Tag noch bei Nacht Ruhe gelassen und jetzt endlich – dem Himmel sei Dank – ist meine sterbliche Hülle am Ende. Die Zeit ist gekommen, Philipp, und du sollst jetzt alles erfahren. Dennoch würde ich lieber schweigen – denn was ich dir zu sagen habe, wird dir den Kopf verdrehen, wie es auch meinen verdreht hat, Philipp.«
»Mutter«, erwiderte Philipp, »ich beschwöre Euch, lasst mich dieses todbringende Geheimnis erfahren. Möge Himmel oder Hölle daran beteiligt sein, ich fürchte es nicht. Der Himmel kann mir nicht schaden, und dem Bösen trotze ich wie immer.«
»Ich weiß um deine Tapferkeit und deinen Stolz, Philipp – und deine Geisteskraft. Wenn jemand imstande ist, die Last einer so schrecklichen Kunde zu tragen, so bist du es. Ich war leider zu schwach dazu; aber ich sehe ein, dass es meine Pflicht ist, dich davon in Kenntnis zu setzen.«
Die Witwe hielt für eine Weile inne, um ihre Gedanken für das zu sammeln, was sie jetzt eröffnen wollte. Tränen rannen über ihre eingefallenen Wangen, dann aber schien sie die erforderliche Kraft und ihre Entschlossenheit zurückgewonnen zu haben.
»Philipp, ich muss mit dir über deinen Vater sprechen. Man hat erzählt, er sei auf See ertrunken.«
»Wie – und das war nicht so, Mutter?«. Philipp war überrascht.
»O nein!«
»Aber er ist doch schon lange tot, Mutter?«
»Nein – ja – und doch – nein«, sagte die Witwe, ihre Augen niederschlagend.
›Sie redet irre‹, dachte Philipp bei sich, fuhr dann wieder fort:
»Nun gut, Mutter, und wo ist er jetzt?«
Die Witwe erhob sich und ein leichtes Zittern kam über ihren Körper, als sie erklärte:
»Er leidet sein ganzes Leben an einem Gerichtsurteil.«
Die arme Frau sank wieder auf das Kissen zurück, während Philipp derart erstaunt war, dass er nichts zu sagen vermochte. Dann aber konnte er die Qual der Ungewissheit nicht länger ertragen und sagte:
»Was ist das für ein Geheimnis, Mutter, lasst mich’s nun endlich hören.«
»Ich will dir jetzt alles erklären«, sagte die Mutter in feierlichem Ton. »Also höre gut zu, mein Sohn. Der Charakter deines Vaters war deinem sehr ähnlich – ach, möge sein schreckliches Los eine Lehre für dich sein! Er war kühn, waghalsig und – wie man sagt – ein Seemann ersten Ranges. Er stammt nicht von hier, sondern ist gebürtig aus Amsterdam, wo er übrigens nicht auf Dauer leben mochte, weil er der katholischen Religion anhing. Du weißt, Philipp, dass nach unserer Glaubenslehre alle Holländer Ketzer sind. Es sind jetzt siebzehn Jahre vergangen, seit er auf seinem schönen Schiff, der Amsterdam, mit einer wertvollen Ladung nach Indien fuhr. Es war seine dritte Indienreise, und hätte, wenn es Gottes Wille gewesen wäre, auch seine letzte sein sollen. Er hatte nämlich für den Erwerb jenes guten Schiffs nur einen Teil seiner Ersparnisse ausgegeben und bedurfte nur noch einer einzigen Fahrt, um zu einem erheblichen Vermögen zu kommen. Ach, wie oft sprachen wir miteinander darüber, was wir alles tun wollten nach seiner Rückkehr. Und wie trösteten mich diese Zukunftspläne während seiner Abwesenheit. Denn ich liebte ihn von ganzem Herzen, da er immer gütig und liebevoll zu mir war. O, wie zählte ich die Stunden bis zu seiner Heimkehr! Die Frau eines Seemanns hat kein beneidenswertes Los gezogen. Viele lange Monate lebt sie einsam und verlassen, in das Kerzenlicht schauend und dem Heulen des Windes lauschend, der ihr böse Ahnungen über Schiffbruch und Witwenschaft zuflüstert. Er war bereits sechs Monate fort, Philipp, und ich sollte noch ein ganzes, trauriges Jahr seiner Rückkehr harren.
Eines abends warst du – noch ein kleines Kind – gerade eingeschlafen – du, der einzige Trost in meiner Einsamkeit. Ich hatte an deinem Bett gewacht, während du schlummertest. Du lächeltest und sagtest dabei meinen Namen. Daraufhin küsste ich deine Lippen, kniete nieder und betete um Gottes Segen für dich, aber auch für deinen Vater. Ich ließ mir damals noch nicht träumen, dass ein so schrecklicher, so fürchterlicher Fluch über ihn gekommen war.«
Philipp schwieg, presste die Lippen zusammen und richtete die Augen auf den Mund seiner Mutter, als wolle er ihre Worte verschlingen. Die Witwe schnappte kurz nach Luft, dann sprach sie weiter:
»Ich verließ dich und ging die Treppe hinunter in das Zimmer, das seit jener schrecklichen Nacht immer verschlossen blieb. Ich setzte mich nieder und las, denn der Wind heulte, und wenn ein Sturm weht, kann eine Seemannsfrau nur selten Schlaf finden. Die Mitternacht war vorüber und der Regen schoss in Strömen vom Himmel. Eine außergewöhnliche Furcht überkam mich, ohne dass ich mir den Grund dafür erklären konnte. Ich stand wieder auf, tauchte meine Finger ins Weihwasser und bekreuzigte mich. Ein heftiger Windstoß brauste um das Haus und beunruhigte mich noch mehr. Plötzlich wurden die Fensterläden zurückgeklappt und die Fenster geöffnet. Das Licht erlosch und ich war in totaler Finsternis. Ich wollte gerade das Fenster wieder schließen, als dein Vater durch die Fensteröffnung hereinstieg! Ja, Philipp – es war dein Vater!«
»Barmherziger Gott!«, murmelte Philipp vor sich hin.
»Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte – er war im Zimmer und trotz der Dunkelheit stand doch seine Gestalt so deutlich vor mir, wie sonst am hellsten Tag. Dann schlossen sich Fenster und Läden von ganz allein und das Kerzenlicht flammte wieder auf. Ich blieb stehen und zitterte, denn ich dachte, es sei ein Geist. Dann fiel ich in eine Ohnmacht.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Sofa, und eine eiskalte, feuchte Hand hielt die meinige umfasst. Dies ermutigte mich wieder und ich übersah die widernatürlichen Zeichen, die seine Erscheinung begleiteten. Ich vermutete, dass er verunglückt und jetzt wieder nach Hause zurückgekehrt sei. Als ich meine Augen wieder öffnete, erkannte ich meinen geliebten Mann, dem ich mich in die Arme warf. Seine Kleider waren vom Regen durchnässt, und es kam mir so vor, als hätte ich einen Eiskörper umfasst. Aber nichts vermag die glühende Liebe einer Frau zu zügeln, Philipp. Er nahm meine Liebkosungen hin, ohne sie jedoch zu erwidern, oder auch nur zu sprechen; er machte einen traurigen Eindruck. ›William‹, rief ich, ›so sprich doch, sprich mit deiner armen Catharine.‹
›Das möchte ich auch‹, erwiderte er, ›denn meine Zeit hier ist nur kurz.‹
›Nein‹, sagte ich, ›du darfst nie wieder zur See gehen. Du hast wohl dein Schiff verloren, dich aber noch retten können. Willst du nicht für immer bei mir bleiben?‹
›Nein, nein – doch erschrick nicht, sondern höre gut zu, was ich dir jetzt sage:
Mein Schiff ist nicht untergegangen, aber ich bin verloren! Ich bin zwar nicht tot, aber auch nicht mehr am Leben. Ich schwebe zwischen dieser Welt und der Welt der Geister. Neun Wochen lang suchte ich vergebens, am stürmischen Kap gegen die Macht der Winde anzukämpfen, worauf ich einen fürchterlichen Fluch ausstieß. Neun weitere Wochen führte ich mein Schiff gegen die widrigen Winde und Strömungen, ohne jedoch voranzukommen. Und deswegen brach ich – ach, in entsetzliche Gotteslästerungen aus. Dennoch blieb ich ungestraft. Die Schiffsmannschaft – von den gewaltigen Anstrengungen erschöpft – forderte mich auf, zur Tafelbay zurückzukehren. Aber das verweigerte ich, ja, ich wurde sogar zum Mörder, wenn auch unbeabsichtigt. Der Steuermann hatte sich gegen mich erhoben und Matrosen dazu überredet, mich festzubinden. In meiner grenzenlosen Wut packte ich ihn zuvor am Kragen und schlug ihn zu Boden. Er torkelte und bei einem plötzlichen Schwanken des Schiffs fiel er über Bord und tauchte nicht wieder auf. Selbst sein schrecklicher Tod zügelte mich nicht, und ich schwor bei der Reliquie des heiligen Kreuzes, die jetzt an deinem Hals hängt, dass ich weiterkommen wolle, trotz Unwetter und rauer See, trotz Blitz und Donner, trotz Himmel oder Hölle, und wenn es bis zum Jüngsten Gericht dauerte.
Meine Flüche wurden von Blitzen und Donnerschlägen begleitet. Der Orkan tobte auf das Schiff zu und die Segel flogen in Fetzen davon. Berghohe Wogen fegten über uns hinweg, und aus einer niederhängenden Wolke, die alles in äußerste Finsternis hüllte, vernahm ich eine unheimlich klingende Stimme, die mir zurief: ›Ja, dein Schwur gilt! Bis zum Jüngsten Gericht wird deine Seele keinen Frieden finden und auf dem Meer herumirren!‹
Ich wurde wegen Mordes zum Tode verurteilt und gehenkt. Mein Körper war somit tot, aber meine Seele lebt als Geistwesen weiter, wohl bis zum Jüngsten Gericht. Höre mich an, Catharine, ich muss gleich weiter. Nur eine Hoffnung bleibt mir noch, und um derentwillen wurde mir gestattet, hierher zu kommen. Hier, nimm diesen Brief!‹
Er legte einen versiegelten Briefumschlag auf den Tisch und sagte: ›Öffne ihn und lies alles, teuerste Catharine, und hilf mir, wenn du kannst. Nun lebe wohl, meine Zeit ist um.‹
Abermals flogen Fenster und Fensterläden auf – das Licht erlosch und die Gestalt meines Mannes verschwand im Dunkel. Ich folgte ihm mit ausgebreiteten Armen. Ich schrie laut auf, als er durch das Fenster schwebte – meine Augen starrten auf seine Umrisse, bis er schließlich verschwand. Wieder schlossen sich die Fenster, das Licht flammte auf und ich blieb allein zurück!
Der Himmel möge Erbarmen mit mir haben – Philipp!«, rief die kranke Frau, »bitte verlasse mich nicht!« Mit diesen Worten erhob sich die Witwe und sank in die Arme ihres Sohnes, in denen sie eine zeitlang regungslos liegen blieb. Aber als sie sich nicht mehr rührte, legte Philipp sie sanft zurück, wobei ihr Kopf nach hinten fiel. Ihre Augen blickten starr – die Witwe Vanderdecken lebte nicht mehr.
Philipp Vanderdecken war wie gelähmt, als er feststellte, dass die Seele aus seiner Mutter entwichen war. Eine Weile blieb er an ihrem Bett stehen, keines Gedankens fähig und immerzu auf die Verstorbene blickend. Aber allmählich fasste er sich wieder. Er stand auf, schloss der Toten die Augenlider und faltete dann ihre Hände, während Tränen über seine Wangen rollten. Er drückte einen leichten Kuss auf die blasse, weiße Stirn seiner Mutter und zog den Vorhang um das Bett zu.
»Arme Mutter!«, sagte er bekümmert, »endlich hast du deine Ruhe gefunden – aber deinem Sohn hast du ein schreckliches Vermächtnis hinterlassen.«. Er hielt sich die Hände vors Gesicht und drückte sie auf die Schläfen. Seine Mutter war in Frieden gestorben – aber sein Vater – wo befand der sich?
Er rief sich die Worte seines Vaters in’s Gedächtnis zurück. ›Nur eine Hoffnung bleibt mir noch.‹ Somit war für ihn noch nicht alles verloren. Er hatte einen versiegelten Briefumschlag hinterlassen – nur, wo war der verblieben? Seine Mutter hatte anscheinend nicht den Mut gehabt, ihn zu öffnen. Der darin enthaltene Brief, der nach über siebzehn Jahren noch ungelesen war, könnte über alles Aufschluss geben.
Philipp Vanderdecken beschloss, den geheimnisvollen Raum aufzusperren, allerding befürchtete er, dort etwas Schreckliches vorzufinden. Aber wo befand sich der Schlüssel? Da fielen seine Blicke auf einen alten, eichernen Schrank; seine Mutter hatte ihn nie in seinem Beisein geöffnet. Dieser Schrank eignete sich gewiss als Versteck für den Zimmerschlüssel. Rasch entschlossen öffnete er die leicht knarrende Flügeltür, dann durchsuchte er die Fachböden und Schubläden, ohne jedoch einen Schlüssel zu entdecken. Da kam er auf den Gedanken, dass es vielleicht Geheimfächer gäbe und durchsuchte das alte Möbelstück danach, zunächst ohne Erfolg. Schliesslich zog er sämtliche Schubläden hervor, legte sie auf den Boden und rüttelte dann fest an dem Schrank. Es erfolgte ein klirrendes Geräusch, was ihn darauf schließen ließ, dass irgendwo im Innern ein metallener Gegenstand – vielleicht der gesuchte Schlüssel – verborgen war. Er versuchte, an diese Stelle zu gelangen, aber vergeblich. Er wollte nun die Rückwand entfernen und besorgte sich aus der Abstellkammer ein Stemmeisen und einen Hammer. Als er dabei war, die Rückwand herauszubrechen, legte sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter.
Philipp fuhr zusammen, denn er war so beschäftigt, dass er die herannahenden Schritte nicht vernahm. Er blickte auf und erkannte Pater Seysen, den Geistlichen des kleinen Sprengels, dessen Augen ernst auf ihm ruhten. Der gute Mann hatte von dem bedrohlichen Zustand der Witwe Vanderdecken erfahren und war bei Tagesbeginn aufgebrochen, um sie zu besuchen und ihr geistigen Trost zu bieten.
»Was machst du da, mein Sohn?«, fragte der Priester. »Schämst du dich nicht, die Ruhe deiner Mutter zu stören und sie zu bestehlen, noch bevor sie unter der Erde liegt?«
»Die Ruhe meiner Mutter kann ich nicht mehr stören, guter Vater«, erwiderte Philipp sich aufrichtend, »denn sie ist bereits unter den Seligen. Auch ist es nicht meine Absicht, hier etwas zu stehlen, denn ich suche nicht nach Geld, obgleich ich es mir rechtmäßig aneignen könnte, wäre es vorhanden. Meine Suche gilt allein einem Schlüssel, der sich – wie ich vermute – in einem Geheimfach befindet, an das ich von außen nicht herankomme.«
»Deine Mutter lebt nicht mehr – sagst du? Und sie ist gestorben, ohne die heiligen Sakramente empfangen zu haben? Warum hast du nicht nach mir geschickt?«
»Sie starb ganz unerwartet, guter Pater, erst vor ein paar Stunden in meinen Armen. Um ihr Seelenheil konnte ich mich nicht kümmern, und ich bedauere es sehr, dass Ihr nicht bei ihr sein konntet.«
Der Priester öffnete zaghaft den Vorhang und blickte auf die Verstorbene. Dann sprengte er etwas Weihwasser über das Totenbett und verharrte dort eine Weile in stummem Gebet. Dann wandte er sich wieder an Philipp:
»Welchen Grund gibt es dafür, dass du so eilig nach diesem Schlüssel suchst? Der Tod einer Mutter sollte doch wohl geeignet sein, kindliche Tränen und Gebete für ihre ewige Ruhe hervorzurufen, und doch sind deine Augen trocken. Du bist bemüht, nach einem gewöhnlichen Gegenstand zu suchen, während ihre leibliche Hülle, aus der kürzlich der Geist entwich, noch warm ist. Das ist nicht schicklich, Philipp. Was ist denn das für ein Schlüssel, nach dem du suchst?«
»Vater, ich habe keine Zeit für Tränen – keine Zeit für Wehklagen. Es bleibt mir viel zu tun, und ich habe an mehr zu denken, als mein Kopf zu fassen vermag. Dass ich meine Mutter liebte, ist Euch gewiss bekannt.«
»Aber der Schlüssel, den du suchst, Philipp?, was ist damit?«
»Vater, es ist der Schlüssel zu dem Raum, der seit Jahren verschlossen blieb und den ich endlich öffnen will.«
»Ich habe schon lange von dieser verschlossenen Stube gehört und weiß wohl, dass deine Mutter keine Auskunft darüber geben mochte, auch mir nicht. Ich sah mich verpflichtet, sie darauf zu drängen. Aber schließlich gab ich jeden weiteren Versuch auf. Auf dem Herzen deiner Mutter muss eine schwere Last gelegen haben, mein Sohn, obgleich sie mir diese nie anvertrauen oder gar beichten wollte. Sag, hat sie dir vor ihrem Tod irgendein Geheimnis anvertraut?«
»Ja, hochwürdiger Vater.«
»Würde es dir nicht zum Trost gereichen, wenn du mir davon erzähltest? Ich könnte dir mit meinem Rat, mit meinem Beistand... .«
»Ganz gewiss, Vater, denn ich könnte auf Euren Beistand bauen und weiß recht wohl, dass Euch nicht reine Neugier, sondern edle Beweggründe leiten. Aber nach allem, was mir meine Mutter verriet, bin ich jetzt im Zweifel, ob sie mir wirklich die Wahrheit sagte oder nur ein wenig verwirrt war. Aber ich will gern die Last mit Euch teilen – wie wenig Ihr mir es auch danken werdet; zunächst aber muss ich schweigen und mein Werk beenden – ich muss nun ganz allein das verhasste Zimmer untersuchen.«
»Fürchtest du dich nicht?«
»Vater, ich fürchte gar nichts. Ich habe nur eine Pflicht zu erfüllen – eine schreckliche zwar, aber fragt mich bitte nicht weiter.«
»Ich will nicht weiter in dich dringen. Vielleicht kommt die Zeit, wo ich dir einen guten Dienst erweisen kann. Lebewohl, mein Sohn, aber bitte beende diese am heutigen Tag unpassende Arbeit. Ich werde deinen Nachbarn Bescheid geben, damit sie deiner Mutter – deren Seele hoffentlich bei Gott ist – den letzten Dienst erweisen.«
Der Priester sah Philipp an und erkannte an dessen Miene, dass seine Gedanken ganz woanders waren, und verließ ihn mit Kopfschütteln.
›Er hat recht‹, sagte Philipp zu sich, als er wieder allein war und den Schrank an seine alte Stelle rückte. ›Ein paar Stunden mehr oder weniger ändern nichts. Ich muss mich niederlegen, denn ich fühle mich ganz elend.‹
Er ging ins Nebenzimmer, warf sich auf sein Bett und war kurz darauf eingeschlafen. Währenddessen kamen die Nachbarn, um alle Vorkehrungen für die Beerdigung der Wittwe zu treffen. Allerdings wollten sie Philipp nicht aufwecken, damit er für eine Weile seiner Trauer entfliehen könne.
Später traf auch Mynheer Poots ein. Er hatte zwar bereits Kunde vom Tod seiner Patientin erhalten, hatte aber noch etwas Zeit und meinte, er könne ihr recht gut einen letzten Besuch abstatten, wodurch seine Rechnung um einen weiteren Gulden höher würde. Zuerst begab er sich in den Raum, wo die Tote lag, danach in die Kammer zu Philipp, den er wachrüttelte.
Philipp richtete sich auf und sah den Doktor vor seinem Bett stehen.
»Nun, Mynheer Vanderdecken« – begann der gefühllose, kleine Mann – »so ist also alles vorüber. Ich wusste wohl, dass es so kommen würde. Aber wohlgemerkt, Ihr schuldet mir jetzt einen weiteren Gulden und habt mir versprochen, alles redlich zu bezahlen. Mit dem Trank macht alles zusammen viereinhalb Gulden, vorausgesetzt, dass Ihr mir das Fläschchen zurückgebt.«
Philipp kam allmählich wieder zu sich, stand auf und erwiderte:
»Ja, Ihr sollt Eure viereinhalb Gulden und die Flasche obendrein bekommen, Mynheer Poots.«
»Ich weiß, Ihr habt die Absicht, mich zu bezahlen – sobald Ihr es könnt. Aber schaut, Mynheer Philipp, es wird vielleicht einige Zeit dauern, bis Ihr die Hütte verkaufen könnt. Ihr werdet nicht viele Liebhaber dafür finden. Nun, ich möchte nur ungern grob zu den Leuten sein, die kein Geld haben, und möchte Euch daher einen Vorschlag unterbreiten. Eure Mutter hat da so ein Ding um ihren Hals hängen. Dieses ist nur für mich – einen guten Katholiken – von Wert. Um Euch in Eurer finanziellen Not beizustehen, würde ich dieses Ding an Geldes statt annehmen, und wir wären dann quitt. Ihr hättet mich so gut wie bezahlt und die Sache wäre erledigt.«
Philipp hörte ruhig zu. Er wusste genau, was der kleine Geizhals meinte, nämlich die Reliquie am Hals seiner Mutter, auf die sein Vater den verhängnisvollen Eid geschworen hatte. Darum könnte ihn nichts veranlassen, sich davon zu trennen.
»Verlasst das Haus!«, sagte er, »verlasst es umgehend! Eure Rechnung wird bezahlt werden.«
Natürlich wusste Mynheer Poots, dass allein die Fassung der Reliquie, nämlich eine viereckige Kapsel aus purem Gold, mehr wert war, als die ihm geschuldete Summe. Desgleichen war ihm nicht unbekannt, dass für dieses Heiligtum ein hoher Preis bezahlt worden war. Da in jener Zeit derartige Reliquien allgemein für äußerst wertvoll gehalten wurden, war er davon überzeugt, sie zu einem beträchtlichen Preis verkaufen zu können. Als er in die Leichenkammer trat, hatte der Anblick der Reliquie so verführerisch auf ihn gewirkt, dass er sie von der Toten abnahm und in seiner Jackentasche verbarg. Dann sagte er:
»Mein Angebot ist nicht ungerecht, Mynheer Philipp, und Ihr würdet gut daran tun, es anzunehmen. Wozu ist auch ein solcher Tand nützlich?«
»Ich sage noch einmal nein!«, rief Philipp voller Zorn.
»Na gut denn, so lasst mir das gute Stück wenigstens als Pfand, bis Ihr mich bezahlt habt, Mynheer Vanderdecken – das ist nur recht und billig. Ich will nicht auf mein Honorar verzichten. Wenn Ihr mir die viereinhalb Gulden und die Flasche bringt, werde ich es Euch zurückgeben.«
Philipps Entrüstung kannte jetzt keine Grenzen mehr. Er packte Mynheer Poots am Kragen und warf ihn zur Tür hinaus. »Hinweg mit Euch«, schrie er, »oder beim... .«
Philipp hatte keine Gelegenheit mehr, eine Verwünschung auszusprechen. Der Doktor bekam solche Angst, dass er die Treppe hinunter stolperte und dann hinkend über die kleine Brücke hinweg eilte. Er bedauerte jetzt, die Reliquie an sich genommen zu haben, hätte sie aber – wegen seiner überraschenden Flucht – der Toten nicht wieder um den Hals legen können, selbst wenn er das gewollt hätte.
Nachdem der Doktor geflüchtet war, suchte Philipp gleich das Zimmer seiner Mutter auf, um vom Hals der Toten das schwarze Band mit der Reliquie zu lösen, aber die war nicht mehr vorhanden.
»Wo ist sie?«, rief Philipp erstaunt. Und bei sich dachte er: ›Die Nachbarn werden es wohl kaum mitgenommen haben – nein, niemals. Es muss dieser verdammte Schurke Poots gewesen sein. Aber ich muss es wiederhaben, selbst wenn er es verschluckt hätte und ich es ihm aus seinem Bauch herausschneiden müsste.‹
Philipp stürzte die Treppe hinunter, eilte aus dem Haus, setzte mit einem Sprung über den Graben und rannte zu dem etwas abseits gelegenen Haus des Doktors. Die Nachbarn sahen ihn vorbeieilen, blickten ihm verwundert nach und schüttelten die Köpfe. Mynheer Poots hatte den Weg noch nicht zur Hälfte zurückgelegt, da er auf der Flucht einen Fußknöchel verstaucht hatte. Aus Angst vor den Folgen seines Diebstahls blickte er hin und wieder zurück, bis er erkannte, dass Philipp Vanderdecken sich ihm immer weiter näherte. Vor Schrecken wusste der diebische Geizkragen nicht mehr ein noch aus. Einfach stehen zu bleiben und das Diebesgut wieder zurückzugeben, war sein erster Gedanke; aber die Furcht vor Vanderdeckens Wut hielt ihn davon wieder ab. Darum versuchte er noch mit letzter Kaft sein Haus zu erreichen. Dort konnte er sich verschanzen, um dann Bedingungen für die freiwillige Rückgabe zu machen.
Mynheer Poots musste sich beeilen und seine dürre Gestalt huschte auf ebenso dünnen Beinen dahin. Auch Philipp erhöhte das Tempo seines Laufs und war nur noch wenige Schritte hinter ihm, als der Doktor – vor Schrecken wie gelähmt – in sich zusammensackte. Vanderdecken stolperte über ihn und fiel danach zu Boden. Doch im Nu stand der Geizhals wieder auf, und noch bevor Philipp sich wieder aufrappeln konnte, hatte Poots bereits sein Haus erreicht und die Tür von innen verriegelt. Der junge Mann war jedoch fest entschlossen, sein Erbstück nicht so ohne weiteres herzugeben. Noch keuchend sah er sich nach einer Möglichkeit um, irgendwie in das Haus zu gelangen. Da jedoch das Haus des Doktors etwas abseits lag, hatte man alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen, um es vor Einbrechern zu schützen. Darum waren die unteren Fenster mit eisernen Gittern versehen, wogegen die Fenster oben zu hoch lagen, um von Räubern ohne Leiter erreicht zu werden.
Mynheer Poots, der zwar als guter Arzt galt, wurde ebenso als hartherziger, gefühlloser Geizhals bezeichnet. Niemanden ließ er je über seine häusliche Schwelle treten. Poots wohnte weit entfernt von seinen nächsten Nachbarn und wurde daher nur in Kranken- oder Leichenstuben gesehen. Wie es in seinem Hauswesen aussah, erfuhr kein Mensch. Als er sich einst in dieser Gegend niedergelassen hatte und Patienten an seine Tür klopften, öffnete ihnen ein altes Weib. Diese Alte aber war bereits vor einiger Zeit gestorben. Seitdem öffnete Mynheer Poots selbst die Tür, die aber während seiner Abwesenheit ständig verschlossen blieb. Daraus folgerte man, dass der alte Doktor ganz allein lebe, denn er war viel zu geizig, um sich Personal zu leisten. Auch Philipp war dieser Meinung, und als er wieder zu Atem gekommen war, suchte er nach einer Möglichkeit, die gestohlene Reliquie wieder an sich zu bringen.
Die Eingangstür bestand aus massivem Eichenholz und Philipp erkannte gleich, dass sie ohne Werkzeuge nicht aufzubrechen war. Da sich sein Zorn inzwischen gelegt hatte, beschloss er, sich mit der Rückgabe der Reliquie zufrieden zu geben, ohne Gewalt anzuwenden. Er rief daher mit lauter Stimme:
»Mynheer Poots, ich weiß, dass Ihr mich hören könnt. Gebt mir zurück, was Ihr mir gestohlen habt, und ich will Euch kein Leid zufügen. Tut Ihr das aber nicht, so müsst Ihr die Folgen tragen, denn Ihr werdet mir den Diebstahl mit dem Leben bezahlen, bevor ich von hier weggehe.«
Diese Worte waren in der Tat laut genug, um von Mynheer Poots vernommen zu werden. Der kleine Geizhals hatte sich inzwischen von seinem Schrecken erholt, und da er sich jetzt in Sicherheit fühlte, konnte er sich nicht dazu entschließen, die Reliquie so ohne weiteres zurückzugeben. Lieber würde er Philipp mit einigen Gulden abfinden, die für diesen armen Teufel keine Kleinigkeit waren. Dann würde er die Reliquie verkaufen, was einen hohen Gewinn ausmachen dürfte. In der Hoffnung, Philipps Wut und Ungeduld werde sich bald legen, gab er keine Antwort.
Nachdem Philipp Vanderdecken vergeblich darauf gewartet hatte, schimpfte er wütend und drohte nun Poots Gewalt an.
Nahe am Haus befand sich kleiner Schober, gefüllt mit Reisigbündeln, wie sie zum Feuermachen im Kamin benötigt wurden. An der Hauswand war Brennholz gestapelt. Hiermit gedachte Philipp die Haustür in Brand zu setzen und somit – auch wenn er seine Reliquie nicht mehr zurückbekäme – wenigstens Rache zu üben. Er schichtete Reisigbündel und Holzscheite vor der Tür auf, bis von ihr nichts mehr zu sehen war. Dann griff er zu Stein, Stahl und Zunder – was jeder Holländer stets bei sich hat – und steckte den Holzstoß in Brand. Der Rauch stieg in schwarzen Wolken bis zu den Dachsparren hinauf, während unten die Tür lichterloh brannte. Philipp jubelte in wilder Freude über den erzielten Erfolg und schrie:
»Ha, du erbärmlicher Leichenberauber – du armseliger Dieb, jetzt sollst du meine Rache fühlen. Wenn du drinnen bleibst, wirst du von den Flammen ergriffen. Und versuchst du herauszukommen, so sollst du von meinen Händen sterben, Hört Ihr’s, Mynheer Poots – hört Ihr’s?«
Philipp hatte seinen Ausruf kaum beendet, als sich ein Fenster des oberen Stockwerks öffnete.
»Ha – jetzt kommst du, um zu bitten und zu betteln, aber da wird nichts draus«, rief Philipp, hielt aber plötzlich inne, da sich an dem Fenster etwas zeigte, was ihm wie eine überirdische Erscheinung vorkam. Denn anstelle der jämmerlichen Figur des Geizkragen erblickte er ein zauberhaftes Mädchen von ungefähr sechzehn Jahren. Ihr langes Haar war in Flechten gelegt und zweimal um den schönen Kopf geschlungen. Ihre großen dunklen Augen, ihre hohe Stirn, die feingeschnittenen und gewölbten Lippen ähnelten den Bildern, die von den berühmten Malern geschaffen wurden, wenn sie eine Heilige darstellen wollten. Dazu passten auch die unten lodernden Flammen und der Rauch, der an dem Fenster vorbeizog; man hätte sie für eine Märtyrerin auf dem Scheiterhaufen halten können.
»Was willst du, du Elender? Sollen wir friedlichen Leute in unserem Haus verbrennen?, schimpfte die junge Frau und schaute wütend zu ihm herab.
Philipp starrte das Mädchen fassungslos an und fand keine Antwort. Plötzlich überkam ihn die Erkenntnis, dass er im Begriff war, aus lauter Rachedurst dieses reizvolle Wesen umzubringen. Wegen ihrer Gefährdung alles andere vergessend, ergriff er eine neben der Tür stehende Schaufel und stieß damit die brennende Masse auseinander, bis nur noch ein kleiner Teil der Tür brannte. Daraufhin holte er eine neben dem Schuppen stehende – zum Glück mit Wasser gefüllte – Gießkanne und leerte sie über dem schwelenden Brandherd aus, bis auch die letzte Glut erlöschte. Dabei sah ihm die Jungfrau von oben schweigend zu.
»Ihr seid jetzt in Sicherheit, junge Dame«, sagte Philipp, »Gott verzeih’ mir, dass ich Euer Leben in Gefahr brachte. Ich hatte jedoch nur die Absicht, an Mynheer Poots meinen Rachedurst zu stillen.«
»Und welchen Grund hat Mynheer Poots Euch zu einer solch schrecklichen Rache gegeben?«, wollte das Mädchen wissen.
»Welchen Grund, junge Dame? Er kam in mein Haus und stahl von der Leiche meiner Mutter eine wertvolle Reliquie.«
»Er bestahl eine Tote? – Nein, gewiss, das kann nicht sein – Ihr tut ihm Unrecht, junger Herr.«
»Doch, das ist Tatsache, meine Dame – und diese Reliquie muss ich haben. Ihr wisst nicht, was davon abhängt.«
»Geduldet Euch kurz, junger Mann«, erwiderte die junge Frau. »Ich komme gleich wieder.«
Philipp wartete geduldig und gedankenverloren. Ein so wunderschönes Mädchen im Haus von Mynheer Poots? Wer mochte sie sein? Während er sich diese Frage stellte, wurde er durch eine helle Stimme aus seinen Träumen geweckt. Das Mädchen lehnte sich wieder aus dem Fenster und hielt in der Hand das schwarze Band, woran das so sehnlich begehrte Objekt baumelte.
»Hier, nehmt Eure Reliquie«, rief das Mädchen. »Ich bedaure es sehr, dass mein Vater eine Tat beging, die wohl geeignet war, Euren Zorn zu rechtfertigen.« Danach ließ sie das Band mit der Kapsel hinunterfallen. »Und nun verlasst unser Grundstück!«
»Euer Vater, junge Frau? Kann so ein Mensch Euer Vater sein?«, entgegnete Philipp derart überrascht, dass er fast vergaß, die vor seinen Füßen liegende Reliquie aufzuheben.
Als die junge Frau sich wieder vom Fenster zurückzog, rief Philipp ihr zu:
»Bitte bleibt noch einen Augenblick! Ich möchte Euch wegen meines törichten Verhaltens um Vergebung bitten. Ich schwöre Euch bei dieser heiligen Reliquie« – die er jetzt vom Boden aufhob und an seine Lippen drückte – »dass ich niemals diesen Brand gelegt hätte, wäre mir bekannt gewesen, dass sich noch ein weiterer Mensch hier aufhält. Umso mehr freut es mich, dass Ihr keinen Schaden genommen habt. Dennoch ist die Gefahr noch nicht vorüber, junge Frau. Die Tür muss aufgeriegelt und die Pfosten, die noch immer glimmen, müssen mit Wasser bespritzt werden, da das Haus sonst doch noch in Brand geraten könnte. Seid unbesorgt um Euren Vater, ihm tue ich nichts mehr an, selbst wenn er mir tausendmal mehr Unrecht getan hätte. Er kennt mich gut genug, um zu wissen, dass ich mein Wort halte. Erlaubt mir, das Unrecht, das ich verübt habe, wieder gut zu machen, dann werde ich endgültig von hier verschwinden.«
»Nein, nein, traue ihm nicht!«, rief Mynheer Poots ihr zu.
»Doch, ich will ihm trauen«, erwiderte die Tochter. »Wir brauchen jetzt seine Hilfe, denn was könnte ein schwaches Mädchen wie ich, dazu ein noch schwächerer Vater, in einer so schwierigen Lage ausrichten? Schließt die Tür auf, damit der letzte Brandherd gelöscht werden kann.«
Das Mädchen rief sodann Philipp zu: »Er wird die Tür aufschließen. Ich danke Euch für die zugesagte Hilfe und baue auf Euer Versprechen.«
»Niemand kann mir nachsagen, dass ich je mein Wort gebrochen hätte«, erwiderte Philipp, »aber Euer Vater muss sich beeilen, denn die Flammen schlagen bereits wieder um sich.«
Mynheer Poots schloss nun die Tür mit zitternden Händen auf und flüchtete danach wieder nach oben. Es bedurfte mehrerer Eimer Wasser, bis Philipp das Feuer ganz gelöscht hatte. Aber während er damit beschäftigt war, ließen sich weder Tochter noch Vater blicken.
Nachdem alle Gefahren beseitigt waren, schloss Philipp die Tür hinter sich und blickte wieder zu dem Fenster hoch. Das schöne Mädchen trat hervor, und Philipp versicherte ihr mit einer tiefen Verbeugung, dass jetzt nichts mehr zu befürchten sei.
»Ich danke Euch sehr. Ihr habt Euch anfangs zwar äußerst gewalttätig gezeigt, zuletzt aber doch recht vernünftig und umsichtig gehandelt.«
»Erklärt Eurem Vater, junge Frau, dass ich keinen Groll mehr gegen ihn hege und in einigen Tagen vorbeikommen werde, um seine Forderungen zu erfüllen.«
Darauf schloss sich das Fenster. Philipp sah lange und mit sehnsuchtsvollen Blicken hinauf, bevor er den Rückweg antrat.
Die Erscheinung von Mynheer Poots hübscher Tochter hatte tiefen Eindruck auf Philipp Vanderdecken gemacht. Wieder zu Hause angekommen, stieg er die Treppe hinauf und warf sich auf das Bett, wo ihn erst kürzlich Mynheer Poots aufgeweckt hatte. Immer wieder sah er das Antlitz des holden Mädchens vor sich und hörte wieder ihre hell klingende Stimme und die Worte, die aus ihren verlockenden Lippen kamen. Aber dann fiel ihm ein, dass die Leiche seiner Mutter im Nebenraum lag und das Geheimnis seines Vaters irgendwo im Erdgeschoss versteckt war.
Die Beerdigung sollte am nächsten Morgen stattfinden; Philipp wollte sich das verschlossene Zimmer erst danach vornehmen. Mit diesem Entschluss schlief er völlig erschöpft ein, bis er morgens vom Priester geweckt wurde, um dem Leichengottesdienst beizuwohnen. Nach einer Stunde war alles vorbei. Die Trauergäste gingen ihrer Wege, und Philipp kehrte in die Hütte zurück. Er verriegelte die Tür, um ungestört und endlich wieder allein zu sein.
Philipp trat nun in das Zimmer, wo seine Mutter noch vor kurzem gelegen hatte, und fühlte sich unwillkürlich erleichtert. Er nahm sich nun den Schrank wieder vor. Dessen Rückwand hatte er schnell entfernt und tatsächlich ein geheimes Schubfach entdeckt, das er hervorzog. Es enthielt tatsächlich den gesuchten, leicht angerosteten Schlüssel. Darunter befand sich ein Blatt Papier, dessen Beschriftung ziemlich verblasst war. Diese stammte von der Hand seiner Mutter, und Philipp las:
»Es sind nun zwei Nächte her, seit sich etwas Grauenvolles ereignete, das mich veranlasste, die untere Stube zu schließen, bis ich für immer meine Augen geschlossen habe. Nichts soll mich dazu bringen, sie bis dahin nochmals zu öffnen. Und dennoch verfolgt mich dieser Schrecken noch jetzt so sehr, dass mir bei dem Gedanken daran der Kopf platzen möchte. Sollte sich zu meinen Lebzeiten nicht enthüllen, was vorgefallen ist, so möge man mit diesem Schlüssel nach meinem Tod das Zimmer öffnen. Als ich daraus weglief, eilte ich die Treppe hinauf und blieb jene Nacht bei meinem Kind. Am darauffolgenden Morgen nahm ich all meinen Mut zusammen, um wieder hinunterzugehen, den Schlüssel herumzudrehen und ihn in dem großen Eichenschrank zu verstecken.
In der Eisenkiste ganz unten im Schrank befindet sich genug Geld für mich und meinen Sohn, dem ich von dem grauenvollen Ereignis niemals etwas erzählen werde. Er wird jedoch zu der Überzeugung gelangen, dass dieses Geheimnis für immer verborgen bleiben muss, da es so schrecklich war, dass ich mich zu diesem Schritt gezwungen sah. Die Schlüssel zu der Kiste und zu den Schränken steckten – als ich das Zimmer verließ – in meinem auf dem Tisch stehenden Arbeitskörbchen. Dabei lag ein versiegelter Brief. Kein anderer als mein Sohn darf das Siegel brechen, und auch er nicht, falls er nicht bereits von dem Geheimnis Kenntnis erhalten hat. Der Priester möge den Brief verbrennen – denn er ist mit einem Fluch behaftet. Selbst wenn mein Sohn bereits alles das wissen sollte – was auch ich weiß – so möge er sich wohl überlegen, ob er das Siegel öffnen will, es wäre vielleicht besser, wenn er von alldem nichts erfährt.!«
›Nichts erfahren?‹, dachte Philipp bei sich, wobei seine Augen weiter auf dem Blatt Papier ruhten. ›Aber ich muss und will mehr erfahren! Verzeih’ mir daher, teuerste Mutter, wenn ich keine Zeit mehr mit solchen Erwägungen verschwende.‹
Philipp presste die Unterschrift seiner Mutter an die Lippen, faltete das Papier zusammen und steckte es zusammen mit dem Schlüssel in seine Jackentasche.
Es war gegen Mittag, als Philipp sich anschickte, das geheimnisvolle Zimmer zu öffnen. Die Haustür war verschlossen, folglich kam nicht viel Licht in den Flur, als Philipp den Schlüssel in das Schloss steckte und ihn mit einiger Mühe herumdrehte. Er fühlte eine gewaltige Unruhe in sich aufsteigen, als er die Tür öffnete. Sein Herz klopfte, aber er war fest entschlossen, seine Zaghaftigkeit zu überwinden. Er trat nicht gleich ein, sondern blieb zunächst auf der Schwelle stehen. Es war ihm, als dränge er in den Aufenthaltsort eines körperlosen Geistes, dessen Schattengestalt in jedem Moment vor ihm auftauchen könnte. Nachdem er eine Minute gewartet hatte, fasste er allen Mut zusammen und ging hinein.
Er konnte in dem Raum kaum etwas sehen, denn durch die schmalen Ritzen der Fensterläden drang nur wenig Tageslicht herein. Regungslos blieb er eine Weile stehen, dann ging er hinaus in die Küche und kam mit einer flackernden Kerze zurück. Erneut betrat er das Zimmer und ging zum Fenster hin, um die Fensterläden zu öffnen. Nachdem er ihre Riegel zurückgeschoben und sie aufgeklappt hatte, strömte ein so grelles Licht in den Raum, dass Philipps sich geblendet fühlte. Seltsamerweise dämpfte die plötzliche Helligkeit seine Entschlossenheit mehr, als die vorherige Finsternis. Mit der Kerze in der Hand ging er zurück in die Küche, wo er grübelnd eine ganze Weile verharrte. Er musste jetzt an Mynheer Poot’s schöne Tochter und ihr Erscheinen an dem einen Fenster denken. Die Erinnerung an ihr liebliches Gesicht verlieh ihm neuen Mut, als er wieder in den geheimnisvollen Raum zurückkehrte.
Dieser war etwa fünfzehn Quadratmeter groß und hatte nur ein einziges Fenster. Der Tür gegenüber befand sich ein Kamin, links und rechts davon stand jeweils ein hoher Glasschrank aus dunklem Holz. Der Fußboden war sauber, obwohl überall Spinnweben zu sehen waren. In der Mitte des Raumes hing von der Decke eine Quecksilberkugel herab, der übliche Zierrat aus jener Zeit; sie hatte jedoch ihren Glanz verloren, und Spinnweben hüllten sie ein. Über dem Kaminmantel hingen einige eingerahmte Bilder, aber dicker Staub überdeckte ihr Glas, sodass die Abbildungen nur schlecht zu erkennen waren. In der Mitte des Kaminsimses befand sich ein Marienbildnis aus purem Silber, daneben standen einige indische Skulpturen. Die Glastüren der Schränke waren gleichfalls eingetrübt, sodass deren Innenleben nicht zu erkennen war. An der dem Fenster gegenüberliegenden Wand hingen weitere eingerahmte Bilder, die ebenfalls von Staub und Spinnweben bedeckt waren, außerdem zwei Vogelkäfige. Ihre einstigen Bewohner waren natürlich längst tot, aber auf dem Käfigboden lag ein Häuflein gelber Federn, worunter zierliche, weiße Knochen sichtbar wurden. Diese stammten folglich von Kanarienvögeln, für die man damals viel Geld ausgeben musste.
Auf einem Stuhl fand er eine kleine Hose vor, die wohl ihm einmal gehört hatte, als er noch ein Kind war. Dann richtete er seine Blicke auf die dem Kamin gegenüberliegende Wand. Zunächst betrachtete er die darauf angebrachten Schwerter und Pistolen, ebenso die asiatischen Bogen und Pfeile, sowie einige andere Kriegswerkzeuge. Dann richteten sich seine Blicke auf einen Tisch und auf das kleine Sofa dahinter, auf dem seine Mutter gesessen haben will, als ihr Mann plötzlich vor ihr auftauchte. Das Arbeitskörbchen stand auf dem Tisch, so wie sie es verlassen hatte. Auch die Schlüssel befanden sich darin, aber einen versiegelten Brief konnte er nirgendwo entdecken. Er hob das Arbeitskörbchen hoch und schaute darunter, aber da war nichts. Er drehte alle Kissen auf dem Sofa um, aber auch hier erfolglos. Philipp fühlte eine schwere Last von sich genommen. ›In der Tat‹, dachte er, sich an die Wand lehnend, ›das Ganze war nichts anderes als Einbildung meiner armen Mutter. Sie war wohl kurz eingeschlummert und hatte dieses alles geträumt. Es muss so gewesen sein, dass der Traum einer fürchterlichen Wirklichkeit ähnlich sah und meine Mutter gänzlich verwirrte.‹
Philipp stellte abermalige Überlegungen an und war schliesslich der Überzeugung dass es so gewesen sein musste. ›Ja, etwas anderes ist nicht möglich. Du gute, teure Mutter! Wie hast du leiden müssen!‹
Eine ganze Zeit lang durchsuchte er das Zimmer, aber nun mit größerer Gelassenheit, da er jetzt die ganze Geschichte für unglaubwürdig hielt. Schließlich nahm er das beschriebene Blatt, das er bei den Schlüsseln gefunden hatte, aus seiner Tasche und las es nochmals durch. Dann fand er unter den Schlüsseln aus dem Körbchen auch den, der in die Glastür des Schrankes passte, in dem sich auch die eiserne Truhe befand. Mit einem anderen Schlüssel schloss er ihren Deckel auf. Philipp sah sich nun im Besitz einer beträchtlichen Menge Geldes, das sich in kleinen Säcken befand und seiner Schätzung nach um die zehntausend Gulden ausmachte.
›Meine arme Mutter!‹ dachte er wieder. ›So hatte dich ein bloßer Traum in große Armut versetzt, während dir dieser Reichtum zur Verfügung stand!‹
Er legte die Säcke wieder zurück und verschloss die Kiste, nachdem er einige Münzen für seinen täglichen Bedarf entnommen hatte. Seine Blicke richtete er dann auf den oberen Schrankteil, den er mit einem weiteren Schlüssel öffnete und darin wertvolles Porzellan vorfand. Nachdem er alles betrachtet hatte, legte er die Schlüssel auf den Tisch.
Die überraschende Inbesitznahme einer derart großen Geldmenge und in der Überzeugung, dass hier keine übernatürliche Erscheinung ihr Wesen trieb, beruhigte Philipp nicht nur, sondern verlieh ihm sogar ungewohnte Heiterkeit. Er setzte sich auf das Kanapee und dachte wieder an Mynheer Poots reizende Tochter. Luftschlösser bauend saß er hier einige Zeit, dann überfiel ihn wieder die Erinnerung an seine kranke Mutter und ihren plötzlichen Tod.
›Teuerste Mutter!‹, dachte Philipp bei sich, ›hier verweiltest du damals, müde vom Wachen bei deinem schlafenden Kind, hier dachtest du an deinen Mann und die Gefahren, denen er ausgesetzt war. Und hier quältest du deinen Geist mit schlimmsten Befürchtungen, bis dein fiebriger Schlaf jene Erscheinung heraufbeschwor. Ja, so muss es gewesen sein, denn hier liegt noch deine Stickerei, so wie du sie hinterließest, und mit dieser letzten Arbeit schwand das Glück deines Lebens dahin.‹ Als er sich niederbeugte, um eine am Boden liegende Stickerei aufzuheben, schlug er die Hände zusammen und schrie: »Gütiger Himmel! Gerechter Gott, da ist – da ist er tatsächlich, der Brief!«
Unter der Stickerei hatte Vanderdeckens Schreiben gelegen. Hätte Philipp es bereits beim Betreten des Zimmers am Boden liegen sehen, dann hätte er das mit Fassung aufgenommen. Aber den Brief erst zu entdecken, nachdem er das Ganze als Selbsttäuschung seiner Mutter betrachtet hatte, das war wie ein Schlag auf den Kopf. Nunmehr hatten sich alle Luftschlösser der letzten Stunden in Nichts aufgelöst, und als er sich langsam von seinem Schrecken erholte, überkamen ihn die schlimmsten Vorahnungen. Endlich hob er den Brief auf und verließ hastig den verhängnisvollen Raum.
›Ich wage es nicht, ihn hier zu lesen!‹, sagte Philipp zu sich. Dann setzte er seinen Hut auf und verließ die Hütte, ohne ein Ziel vor Augen zu haben.
Er schlug einen nur von wenigen Leuten begangenen Weg ein und setzte sich unterwegs auf eine Bank. Dort blieb er eine Weile, immer wieder den geheimnisvollen Brief betrachtend. Schließlich drehte er ihn um. Das Siegel war schwarz. Philipp seufzte. ›Ich kann ihn jetzt nicht lesen‹, dachte er bei sich und stand wieder auf, um seinen ruhelosen Spaziergang fortzusetzen.
Nach einer halben Stunde hielt er inne und sah, wie die Sonne langsam unterging. ›Vielleicht ist sie das Auge Gottes‹, sinnierte Philipp. Aber warum, barmherziger Schöpfer, hast du mich dafür auserwählt, eine solch schreckliche Aufgabe zu übernehmen?‹
Er suchte nach einem Ort, wo er sich unbeobachtet fühlen konnte, um dort das Siegel zu brechen und die Botschaft aus der Geisterwelt lesen zu können. Hinter einem kleinen Buschwerk setzte er sich ins Gras, um nicht von Vorbeigehenden gesehen zu werden. Die Sonne war inzwischen untergegangen. ›Es ist dein Wille, Herr!‹ sagte er zu sich, und auch mein Schicksal; beides muss erfüllt werden.‹
Philipp legte die Hand auf das Siegel – das Blut fuhr ihm heiß durch die Adern, als er sich vorstellte, dass der Brief von keinen irdischen Händen übergeben wurde und das Geheimnis eines hingerichteten Mannes enthielt. Der aber war sein leiblicher Vater, der mit diesem Schreiben um Errettung aus einer ausweglosen Lage flehte. Philipp fasste jetzt seinen ganzen Mut zusammen, brach das Siegel und las endlich:
An Catharine:
Einer dieser Außerirdischen, der Mitleid hatte mit mir – einem zum ewigen Leben als Geistwesen verdammten Mörder – verriet mir, wodurch allein meine Seele Frieden fände. Nur wenn es mir gelänge, an Bord eines Geisterschiffs die heilige Reliquie zu empfangen – auf die ich den verhängnisvollen Eid schwor – um sie in Demut zu küssen, dann würde ich endlich die Totenruhe finden, wie auch die Schiffsmannschaft, die aus ebensolchen armen Seelen bestünde.
Ob sich wohl jemand dazu bereit findet, eine so gefahrvolle Aufgabe zu übernehmen? O Catharine, wir haben doch einen Sohn – doch nein – nein, lasse ihn aus dem Spiel. Bete für mich und lebe wohl!
William Vanderdecken.
›Dann ist es also die grauenvolle Wahrheit‹, dachte Philipp, ›und als mein Vater lebte, wurde über ihn ein schreckliches Urteil gesprochen. Und er deutete auf mich – auf wen anders sollte er es auch? Bin ich nicht sein Sohn und ist es nicht meine Pflicht? Ja, Vater‹, rief Philipp laut, indem er auf seine Knie niederfiel; ›du sollst diese Zeilen nicht vergebens geschrieben haben.‹
Philipp erschien es, als hielte er den Brief noch immer fest umschlossen, aber auf einmal hatte er nichts mehr in der Hand. Er blickte auf das Gras, um zu sehen, ob er ihn habe fallen lassen – aber der Brief war verschwunden. War denn alles nur Einbildung? Nein, nein; er hatte jedes Wort gelesen. Leise sprach er: ›Du meintest also mich und keinen anderen. Höre mich an, Vater – wenn es dir gestattet ist – ich schwöre bei der heiligen Reliquie, dass ich das Urteil von dir abwenden will, selbst wenn ich dabei den Tod erleiden müsste. Dieser Sohnespflicht will ich nachkommen, und wenn ich sie erfüllt habe, bist du von dem schrecklichen Urteil erlöst und darfst endlich Ruhe finden. O Gott im Himmel, der du den übereilten Schwur meines Vaters aufgezeichnet hast, tue nun ein Gleiches mit dem Gelöbnis, das der Sohn auf das geheiligte Kreuz leistet. Sollte ich es aber nicht erfüllen, dann soll mich eine noch grausamere Strafe treffen als jene, die mein Vater erdulden muss.‹
Während er noch über alles grübelte, vernahm er plötzlich die Stimmen von Männern, die sich unweit von ihm auf der Wiese niederließen. Er achtete kaum auf ihr Gespräch, aber fühlte sich gestört und wollte daher nach Hause zurückkehren. Die Männer unterhielten sich zwar nur leise, erweckten aber plötzlich seine Aufmerksamkeit, da sie mehrmals den Namen von Mynheer Poots erwähnten. Er fand heraus, dass sie noch in dieser Nacht das Haus des kleinen Doktors überfallen wollten, da sie davon ausgingen, dass dort viel Geld zu holen sei.
»Er hat niemanden außer seiner Tochter bei sich«, sagte einer.
»Die ist mir viel lieber als sein Geld«, sagte ein anderer. »Also ausgemacht, dass ich sie mir nehmen darf?«
»Ja, wenn du sie dir nehmen willst, dann habe ich nichts dagegen«, sagte ein anderer.
»Es gilt! Wie viel ist denn so ein süßes Mädchen wert?«
»Ich denke fünfhundert Gulden.«
»Gut; sei’s drum – aber nur unter der Bedingung, dass sie in jedem Fall mir gehört, wie hoch sich auch mein Anteil an der Beute belaufen mag.«
»Aber es sollte mich doch sehr wundern, wenn wir aus den Truhen des alten Arztes nicht mehr als zweitausend Gulden herausholten.«
»Und was meint ihr – bleibt’s dabei, dass Baetens das Mädel haben soll?«
»Einverstanden«, erwiderten die anderen einstimmig.
»Wohlan denn«, sagte der Mann, der sich Mynheer Poots Tochter ausbedungen hatte, »ich liebte dieses Mädchen und hoffte, sie für mich zu gewinnen. Ja, ich machte ihr sogar einen Heiratsantrag, aber der alte Filz hat mich abgewiesen, mich, einen Fähnrich und Offizier; nun will ich mich an ihm rächen. Wir sollten ihn nicht verschonen.«
»Nein, das werden wir nicht«, erklärten die anderen.
»Wollen wir gleich aufbrechen, oder noch eine Weile warten, bis es dunkler geworden ist? Jetzt könnte man uns nämlich beobachten.«
»Wer sollte uns denn schon sehen, außer vielleicht jemand, der den Doktor zu einem Patienten abholt? Aber ich meine trotzdem, je später, desto besser.«
»Wie lange werden wir brauchen, um dorthin zu gelangen?«
»Sein Haus liegt nur wenige Meilen von hier entfernt. Wenn wir in einer halben Stunde aufbrechen, dann treffen wir gerade zur rechten Zeit ein, um die geraubten Gulden bei Mondschein zählen zu können.«
»Gut so. Bevor wir aufbrechen, setze ich einen neuen Stein in mein Zündschloss und lade meine Büchse. Das kann ich auch im Dunkeln machen.«
»Darin bist du ein wahrer Meister, Jahn.«
»Allerdings – und ich denke, diese Kugel soll dem alten Spitzbuben durch den Kopf sausen.«
»Gut; es ist mir lieber, wenn du ihn totschießt, als wenn ich’s machen müsste«, sagte ein anderer. »Er hat mir einst in Mittelburg das Leben gerettet, als mich alle bereits aufgegeben hatten.«
Philipp wartete nicht länger. Er lief geduckt hinter dem Gebüsch immer weiter, bis er den Wald erreicht hatte und machte dabei einen Umweg, um von dem Raubgesindel nicht entdeckt zu werden. Ihm war klar geworden, dass es sich dabei um aus der Armee entlassene Soldaten handelte, die derzeit in Massen das Land unsicher machten. Alle seine Gedanken zielten nur darauf hin, den alten Doktor und dessen Tochter zu warnen, sodass er für eine Weile sogar seinen Vater und dessen aufregende Enthüllungen vergaß. Da er die Gegend gut kannte, erreichte er schon bald das einsam gelegene Haus des Mynheer Poots. Philipp klopfte an der Haustür, aber nichts rührte sich. Nach weiterem vergeblichem Klopfen wurde er unruhig. Mynheer Poots könnte allerdings zu einem Kranken gerufen worden sein, aber seine Tochter musste doch im Hause sein. Philipp schrie daher so laut, dass sie es hören musste:
»Junge Frau, hört, was ich Euch zu sagen habe. Ich bin Philipp Vanderdecken und habe soeben vier Schurken belauscht, die einen Anschlag auf Euren Vater planen. Sie wollen ihn ermorden und seines Geldes berauben. In weniger als einer Stunde werden sie hier auftauchen, und ich kam her, um Euch zu warnen und Schutz zu bieten, soweit ich es vermag.«
Als Philipp noch immer keine Antwort erhielt, rief er:
»Junge Frau, so meldet Euch doch, falls Euch noch etwas an Eures Vaters und Eurem eigenen Leben liegt. Denkt auch an das Geld, das sie euch rauben wollen. Macht das Fenster auf und hört, was ich Euch zu sagen habe.«
Kurz darauf öffnete sich das obere Fenster, und Philipp erkannte selbst bei der jetzt herrschenden Finsternis die Gestalt von Mynheer Poots’ hübscher Tochter.
»Was habt Ihr mir zu dieser späten Stunde mitzuteilen, junger Mann? Ich habe nichts von all dem verstanden, was Ihr mir zuriefet.«
Philipp ließ sie wissen, was er erfahren hatte, und bat darum, ihn einzulassen, um sie vor den Angreifern beschützen zu können.
»Es ist die reine Wahrheit, was ich Euch gesagt habe. Ihr sollt an einen dieser Bösewichte verkauft werden, dessen Name Baetens ist. Ich weiß, dass Ihr um das Geld nicht besorgt seid, aber denkt an Eure eigene Unversehrtheit. Darum lasst mich eintreten. Glaubt bitte nicht, dass ich mir das nur ausgedacht habe. Ich schwöre Euch, dass alles die reinste Wahrheit ist.«
»Baetens habt Ihr gesagt, mein Herr?«
»Wenn ich nicht irre, so war das sein Name; er sagte, er hätte Euch einmal geliebt.«
»Diesen Mann kenne ich, aber ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll. Mein Vater ist zu einer Gebärenden gerufen worden und bleibt vielleicht noch viele Stunden fort. Aber wie kann ich Euch die Tür öffnen – zur Nachtzeit – während mein Vater nicht da ist – und ich allein bin? Ich kann und darf das nicht, obwohl ich Euren Worten Glauben schenke. Gewiss seid Ihr nicht so verdorben, Euch das alles ausgedacht zu haben.«
»Nein – ich wäre dazu niemals imstande! Aber setzt nicht Euer Leben und Eure Ehre auf’s Spiel, sondern gewährt mir Einlass.«
»Und wenn ich’s täte, was könntet Ihr gegen so viele Männer ausrichten? Die Vier würden Euch als den einzigen Mann im Haus umbringen, also ginge ein zweites Menschenleben verloren.«
»Nicht, wenn Ihr über Waffen verfügt. Euer Vater wird sich wohl damit ausgestattet haben. Ich fürchte diese Strauchdiebe nicht und bin fest entschlossen, Euch vor denen zu schützen.«
»Und nun wollt Ihr Euer Leben für Leute wie mich und meinen Vater riskieren, die Ihr früher selbst den Flammen opfern wolltet? Ich danke Euch von Herzen, mein Herr, aber ich wage nicht, die Tür zu öffnen.«
»Wenn Ihr das nicht wollt, junge Frau, so warte ich eben hier draußen, obwohl völlig unbewaffnet und somit kaum in der Lage, mit vier bewaffneten Räubern fertig zu werden. Aber dennoch will ich standhalten und meine Aufrichtigkeit dadurch beweisen, dass ich alle Angriffe gegen Euch abzuwehren versuche.«
»Dann würde ich für Euren Tod verantwortlich sein! Nein, das will ich nicht! So schwört mir, mein Herr, bei allem was heilig ist, dass Ihr mich nicht täuschen wollt.«
»Ich schwöre das auch bei Euch selber, junge Frau, die Ihr mir wichtiger seid, als alles andere!«
Das Fenster schloss sich und gleich darauf erschien ein Licht und Mynheer Poots’ Tochter öffnete die Haustür. Sie hielt eine Kerze in der rechten Hand, und in der linken eine Pistole. Philipp bemerkte gleich diese Sicherheitsmaßnahme, aber suchte sie zu beruhigen.
»Junge Frau«, sagte er, ohne einzutreten, »wenn Ihr noch Bedenken habt, mich einzulassen, so ist es immer noch Zeit, die Tür zu schließen. Aber um Eurer selbst Willen bitte ich Euch, es nicht zu tun. Noch bevor der Mond aufgeht, werden die Räuber hier sein, und wenn Ihr mir Vertrauen schenkt, werde ich Euch mit meinem Leben beschützen. Nie könnte ich einem Mädchen wie Euch ein Leid zufügen!«
Wie sie so unschlüssig vor ihm stand – obwohl es ihr sonst nie an Mut mangelte – machte sie großen Eindruck auf Philipp. Ihr Kopf war unbedeckt und ihr Haar hing in langen Zöpfen bis über ihre Schulter hinab. Ihre einfache, aber gepflegte Kleidung unterschied sich von der, die die Mädchen in der hiesigen Gegend zu tragen pflegten.
Während Philipp mit ihr sprach, sah sie ihn zunächst furchtsam an, aber nach einer längeren Musterung seiner ganzen Erscheinung sagte sie: »Kommt herein, mein Herr, ich fühle, dass ich Euch vertrauen kann.«
Philipp kam gleich dieser Aufforderung nach. Die Tür wurde hinter ihm sogleich wieder verschlossen und verriegelt.
»Wir haben keine Zeit zu verlieren, junge Frau«, sagte Philipp; »aber nennt mir bitte Euren Namen, damit ich Euch richtig anreden kann.«
»Ich heiße Amine«, sagte sie ein wenig zaghaft.
»Ich danke Euch für das mir erwiesene Vertrauen. Doch wir haben keine Zeit zu verlieren. Gibt es im Haus Schusswaffen für zwei, und auch Munition dafür?«
»Beides ist genügend vorhanden. Ach, wenn doch mein Vater zu Hause wäre!«
»Ich wünschte es gleichfalls«, sagte Philipp. »Wäre er nur hier, noch bevor diese Mordsgesellen erscheinen. Hoffentlich kommt er nicht gerade während ihres Angriffs, denn sie haben es auf seinen Kopf abgesehen. Und falls sie ihn zum Gefangenen machen, werden sie sein Leben nicht schonen, es sei denn, dass er all sein Geld und Euch, verehrte Amine, als Lösegeld für seine Freilassung zahlt. Doch nun schnell zu den Waffen – wo sind sie?«
»Folgt mir«, entgegnete Amine, und führte Philipp in ein Zimmer im oberen Stock. Das war das Heiligtum ihres Vaters. Auf den Simsen an den Wänden standen viele mit Arzneien gefüllte Flaschen. In einer Ecke befand sich eine blecherne Kiste, und über dem Kaminmantel hingen zwei Gewehre sowie drei Pistolen.
»Sie sind alle geladen«, bemerkte Amine, wobei sie die Pistole auf den Tisch legte, die sie die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte.
Philipp nahm die Waffen herunter und untersuchte alle Zündpfannen. Dann ergriff er die auf dem Tisch liegende Pistole und stellte fest, dass sie sich ebenfalls in schussbereitem Zustand befand. Da sagte er lächelnd: »Diese Pistole sollte wohl mir gelten, Amine?«.
»Nein – nicht Euch – sondern einem Räuber, der sich möglicherweise Zugang verschafft hätte.«
»Zum Glück bin ich das nicht, Amine!«, sagte Philipp, »ich werde jetzt den Posten am Fenster im Zimmer nebenan einnehmen, aber Ihr könnt Euch hier zu Eurer Sicherheit einschließen.«
»Nein«, erwiderte Amine, »ich möchte bei Euch bleiben und die Waffen ständig laden – womit ich bestens vertraut bin.«
»Tut das bitte nicht!«, erwiderte Philipp, »Ihr würdet Euch nur unnötig in Gefahr begeben.«
»Und wenn schon, glaubt Ihr vielleicht, ich könnte hier müßig herumstehen, wenn ich einem Mann beistehen kann, der sein Leben für mich riskiert? Ich kenne meine Pflicht und werde sie erfüllen.«
»Ihr dürft Euch nur nicht blicken lassen, Amine«, fügte Philipp hinzu, »denn ich werde kaum einen Treffer landen können, wenn ich Euch gefährdet weiß.
Dann brachte Philipp die Gewehre und Pistolen in das Nebenzimmer. Er öffnete das Fenster und blickte hinaus, doch draußen herschte zunächst Stille. Aber schon wenig später vernahm er ein leises Stimmengewirr. Er schaute hinunter und erkannte trotz der Dunkelheit die vier Räuber, die vor der Haustür standen. Er zog sich vom Fenster zurück und erklärte Amine, die mit der Herrichtung der Munition befasst war: »Die Kerle beraten sich vor der Haustür. Ihr könnt Euch jetzt davon überzeugen, dass ich die Wahrheit gesagt habe.«
Amine erwiderte nichts, sondern ging zum Fenster und sah hinunter. Dann kam sie zurück, legte ihre Hand auf Philipp’s Arm und sagte: »Verzeiht mir meine Zweifel. Aber nun muss ich befürchten, dass mein Vater gerade jetzt nachhause kommt und dann
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Claus H. Stumpff
Bildmaterialien: MidjourneyBot
Cover: Cover Gestaltung: Claus H. Stumpff
Lektorat: Claus H. Stumpff
Tag der Veröffentlichung: 18.08.2016
ISBN: 978-3-7396-6967-0
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