D e r P i r a t
von
Frederick Marryat
1782 - 1848
Aus dem Englischen
übertragen von Dr. Karl Kolb
Herausgegeben 1857 von der
Hoffmann'sche Verlags-Buchhandlung
Stuttgart
Text neugefasst und als E-Book veröffentlicht
von Claus H. Stumpff
www.chsautor.de
Cover aus Meyers Konversations-Lexikon 1895
Der Seeräuberschoner Avenger unter seinem Captain Cain versetzte die Handelsschifffahrt weltweit in Angst und Schrecken. Den Schiffsbesatzungen war bekannt, was sie erwartete, sollte je ihr Schiff vom Avenger gekapert werden. Dieser Schoner war einst für den Transport afrikanischer Sklaven nach Südamerika bestimmt. Nach Beendigung des Sklavenhandels wandte sich Captain Cain einem anderen Betätigungsfeld zu, nämlich dem Raub wertvoller Güter von Handelsschiffen, wobei deren Crews und Passagiere brutal niedergemetzelt wurden. Auf Befehl der englischen Admiralität nahm die Dreimast-Fregatte Entreprise die Verfolgung des Avenger auf, um dessen verbrecherisches Treiben zu beenden.
Der Autor Frederick Marryat war seinerzeit Fregattenkapitän auf einem solchen Kriegsschiff. Seine somit authentische Darstellung von Gefahren, denen die Seeschifffahrt im 18. und 19. Jahrhundert ausgesetzt war, bilden die Grundlage dieses außergewöhnlichen Romans. Darin werden sowohl die Grausamkeit der Piraten geschildert, wie auch die tragischen Ereignisse beim Untergang eines Großseglers infolge eines Orkans.
Menschliche Schicksale sowohl auf dem Seeräuberschiff Avenger als auch auf der Fregatte Entreprise, sowie eine mit Kanonen und Musketen ausgetragene Seeschlacht sorgen für ein Höchstmaß an Spannung. Aber auch der typisch britische Humor Frederick Marryats kommt in einigen Kapiteln zum Ausdruck. Darüber hinaus stellt sein Roman ein Sittengemälde des 18./19. Jahrhunderts dar.
Es lohnt sich, die Biografie Frederick Marryats zu lesen – siehe am Schluss.
Frederick Marryats 1836 fertiggestellter Roman »Der Pirat« (Original: »The Pirate«) wurde 1857 von der Hoffmann'schen Verlags-Buchhandlung Stuttgart in deutscher Sprache herausgebracht. Vermutlich ist dieses Werk weitgehend unbekannt geblieben. Es erschien als Doppelband zusammen mit dem Roman »Die drei Kutter« (Original: »The Three Cutters«).
Frederick Marryat – der als »Captain Marryat« Weltruf erlangte – darf man als großartigen, fantasiereichen und humorvollen Erzähler bezeichnen. Nur hätte sein Roman »Der Pirat« ein Lektorat benötigt, denn er enthält nicht nur zu viele ausufernde Situations- und Landschaftsbeschreibungen, sondern auch unnötige Wiederholungen und Flüchtigkeitsfehler. Nicht zu Unrecht wurden seine hastigen schriftstellerischen Aktivitäten kritisiert, denn innerhalb von nur neunzehn Jahren schuf er etwa 30 Werke.
Um diesen fesselnden Roman als eBook veröffentlichen zu können, war eine Überarbeitung und Neufassung des Textes erforderlich, ohne dass dadurch der Charme des im 19. Jahrhundert üblichen, oft recht ausschweifenden Schreibstils verloren geht. So wurden allzu schwülstige Passagen dem heutigen Sprachgebrauch behutsam angepasst. Bei komplizierten und nicht mehr zeitgemäßen Formulierungen bzw. Satzkonstruktionen erfolgte eine textliche Neufassung. Außerdem wurden auf diskriminierende Bezeichnungen wie Neger bzw. Negerweib abgeändert.
Der Roman vermittelt einen wunderbaren Einblick in die Geschichte der englischen Kultur und des Seefahrertums im 18. und 19. Jahrhundert.
Die Bucht von Biskaya
Es war gegen Ende Juni im Jahr 1795, als sich in der Bucht von Biskaya nach einem für diese Jahreszeit ungewöhnlich heftigen Sturm das aufgewühlte Meer allmählich beruhigte. Es gab nun den Blick frei auf das Wrack eines Schiffes, von dem nur noch der Aufbau aus dem Wasser herausragte. Hin und wieder wurde der geborstene Schiffsrumpf von den über ihn hinwegstürzenden Wellen hinuntergedrückt, und wenn das Wasser zu den Steuerbordluken an den Seiten hinausfloss, stieg er wieder nach oben.
Wie viele tausend Schiffe, wie viele Millionen an Wert mögen schon – aus Unwissenheit oder Furcht preisgegeben – in der alles verschlingenden Tiefe des Ozeans ihren letzten Bestimmungsort gefunden haben? Welche Mengen an Gütern sind in seinem Sande begraben, welche Reichtümer unter seinen Felsen versteckt? Doch, so ungeheuer die Masse des Verlorenen sein mag, das nun im Meere liegt, in den meisten Fällen wurde der Verlust nur verursacht durch Unkenntnis eines der ersten Naturgesetze, nämlich des Gesetzes der spezifischen Schwere.
Das Schiff, dessen Wrack wir erwähnten, befand sich allem Anschein nach in einer höchst gefährlichen Lage, ähnlich der Lage eines Ertrinkenden, welcher sich noch an einen Strohhalm hängt; aber in Wirklichkeit war es sicherer vor dem Hinabsinken in die Tiefe des Meeres, als manches stattliche und rasch segelnde Fahrzeug, wenn seine furchtlosen Bewohner nur an schnelle Ankunft im Hafen dachten.
Es war der von Neworleans aus gesegelte Circassier, ein stattliches, gut ausgerüstetes Handelsschiff mit einer größtenteils aus Baumwolle bestehenden Ladung. Der Captain war ein guter Schiffsführer; die Schiffsmannschaft bestand aus kühnen und geschickten Seeleuten. Als sie das atlantische Meer durchkreuzten, waren sie in den erwähnten Sturm geraten und in die Bucht von Biskaya hineingetrieben worden, wo, wie wir später ausführlich erzählen werden, das Schiff entmastet wurde und ein Leck bekam, der alle ihre Anstrengungen, das Wasser abzuhalten, vereitelte. Es waren nun fünf Tage, seit die von Schrecken ergriffene Mannschaft das Schiff in zwei Booten verlassen hatte. Von diesen war das eine versunken, und alle, die sich darauf befanden, hatten den Tod in den Wellen gefunden; das Schicksal der andern war ungewiss.
Wir sagten, die Mannschaft habe das Schiff verlassen, ohne damit zu behaupten, dass jedes lebende Wesen sich davon entfernt habe. Wäre dies der Fall gewesen, so würden wir unsern Lesern durch Beschreibung eines leblosen Dinges die Zeit geraubt haben. Szenen des Lebens sind es, was wir zeichnen wollen, und so war auch hier noch Leben in dem zerrissenen, nun dem Spiele der Meereswellen preisgegebenen Schiffsrumpf. In dem auf dem Deck angebrachten Küchenverschlag des Circassiers, der hier glücklicherweise gut genug befestigt war, um der Gewalt der sich brechenden Wellen zu widerstehen, waren drei menschliche Wesen zurückgeblieben: Ein Mann, ein Weib und ein Kind. Die beiden ersten zählten zu den als primitiv geltenden Schwarzafrikanern, die lange das Schicksal erlitten, von der Küste Afrikas fortgeschleppt zu werden, um fern von ihrem Vaterland schwerste Arbeiten zu verrichten. Allein das Kind, welches an der Brust des dunkelhäutigen Weibes lag, war von europäischem Blute. Nun aber sah es in der Tat tödlich blass aus, als es vergeblich Nahrung aus der erschöpften Brust seiner Amme zu ziehen suchte, während Tränen über deren schwarze Wangen herab rannen, wenn sie von Zeit zu Zeit das Kind an ihre Brust drückte, oder es leewärts umwandte, um es so vor dem schäumenden Wasser zu schützen, das sie überschüttete, so oft eine Welle zurückfloss. Unbekümmert um alles übrige außer ihrer leichten Bürde sprach sie nichts, obgleich sie vor Kälte schauderte, und das Wasser ihre Knie benetzte, so oft der Schiffsrumpf unter die Wellen getaucht wurde. Kälte und Schrecken hatten einen Wechsel in ihrer Gesichtsfarbe hervorgebracht, die nur etwas Gelbliches oder Kupferfarbiges zeigte.
Der Mann, welcher ihr Gefährte war, saß ihr gegenüber auf der eisernen Bank an der inneren Seite des Schiffs, einem sonnigen und warmen Plätzchen, das aber nun nur ein ermüdender Sitz für einen Verunglückten, Durchnässten und Erschöpften sein konnte. Er hatte viele Stunden lang nichts gesprochen; seine erschlafften Gesichtsmuskeln, seine dicken, weit über die eingefallenen Wangen hervorstehenden Lippen, die hohen Backenknochen, die Augen, welche wenig außer dem Weißen sehen ließen – kurz, die ganze Gestalt bot einen weit bedauernswürdigeren Anblick dar, als das Weib, dessen Gedanken nur auf das Kind, nicht auf ihre eigene Person gerichtet waren. Doch seine Sinne waren noch immer wach, obgleich seine Kräfte durch ein Übermaß des Leidens ertötet zu sein schienen.
»O weh!« rief die Schwarze nach einigem Schweigen mit matter Stimme und neigte erschöpft ihren Kopf nach hinten. Ihr Gefährte erwiderte nichts, beugte sich aber vor, öffnete die Tür einen kleinen Spalt und sah hinaus in die Richtung, aus der der Wind kam. Die Gischt spritzte ihm in die Augen und über sein Gesicht und er seufzte.
»Was denkst du, Coco?« fragte die Afrikanerin, indem sie fürsorglich das Kind aufdeckte und ihren Kopf zu ihm herabbeugte. Nur ein Blick der Verzweiflung war Cocos Antwort.
Es war nun ungefähr acht Uhr morgens, und die Brandung des Ozeans hatte sich schnell gelegt. Um Mittag teilte sich ihnen die Wärme der Sonne durch die Planken des Verschlags mit, indem ihre Strahlen einen schmalen, aber hell leuchtenden Streif durch die Spalten der verschlossenen Fensterluken herabsenken. Der Schwarze schien allmählich wieder aufzuleben; zuletzt stand er auf, und versuchte unter manchen Schwierigkeiten aufs Neue die Türe aufgleiten zu lassen. Der gewaltige Andrang der See hatte allmählich nachgelassen, und nur von Zeit zu Zeit brach noch eine Welle über das Schiff herein. Sorgfältig an den Türpfosten sich haltend suchte Coco die Außenseite zu gewinnen, um den Horizont überschauen zu können.
»Siehst du da was, Coco?« fragte das Weib, von dem Verschlag aus bemerkend, dass seine Augen fest nach einer bestimmten Seite hin gerichtet waren.
»So wahr mir Gott helfe, ich meine, etwas zu sehn; aber ich habe so viel Salzwasser im Auge, dass ich es nicht deutlich erkenne«, erwiderte Coco, das Salz von sich abreibend, das sich während des Morgens auf seinem Gesichte kristallisiert hatte.
»Und was glaubst du zu sehen, Coco? «
»Nur ein kleine Wolke«, erwiderte er, indem er wieder in den Verschlag trat, und mit schwerem Seufzen seinen Sitz auf der eisernen Bank einnahm.
»Weh' mir«, rief die Schwarze, die das Kind aufgedeckt hatte, um nach ihm zu sehen, während ihre Kräfte schwanden. »Armer kleiner Massa Eddard, er sieht ganz schlecht aus, er wird wohl bald sterben, fürchte ich. Sieh, Coco, er hat keinen Atem mehr.«
Der Kopf des Kindes fiel von der Brust der Amme zurück und sein Leben schien erloschen.
»Hast du für den Kleinen keine Milch mehr? Wenn nicht, wie kann er leben? Aber halt, Judith, ich stecke ihm meinen kleinen Finger in den Mund; gewiss ist Massa Eddard noch nicht tot, wenn er daran saugt.«
Coco steckte seinen Finger in den Mund des Kindes, und fühlte einen kleinen Druck des Saugens.
»Judith«, rief Coco, »Massa Eddard ist noch nicht tot; nun probier mal, ob du noch einen Tropfen Milch in der Brust hast«!
Die arme Judith schüttelte traurig den Kopf, und eine Träne rollte über ihre Wangen herab; sie wusste, dass ihre Natur erschöpft war.
»Coco«, sagte sie, wobei sie ihre Wange mit der Rückseite ihrer Hand abwischte, »ich habe keine Milch mehr, alle Milch ist weg.«
Dieser Ausspruch, womit Judith ihre Liebe zu dem Kinde dargelegt hatte, brachte Coco auf einen Gedanken. Er zog sein Messer aus der Tasche und schnitt damit kaltblütig bis auf den Knochen seines Zeigefingers hinein. Das Blut floss und tröpfelte ans Ende des Fingers herab, den er nun in den Mund des Kindes steckte.
»Sieh', Judith, Massa Eddard saugt daran, also ist er nicht tot!«, rief Coco, bei dem Erfolg seines Versuches auflachend und ihre fast hoffnungslose Lage vergessend.
Das Kind, durch diese sonderbare Nahrung wieder belebt, gewann allmählich seine Kräfte zurück und saugte eifrig an dem Finger.
»Schau, Judith, wie es Massa Eddard schmeckt«, fuhr Coco fort, »nur zu, Massa Eddard, nur schön saugen! Coco hat zehn Finger und Massa Eddard kann lange daran saugen, bis er genug bekommen hat.« Doch das Kind war schon satt und fiel auf Judiths Arm in tiefen Schlaf. »Coco, sei so gut und schau wieder hinaus«, bat Judith, worauf Coco wieder hinaus kroch und abermals den Horizont beobachtete.
»So wahr mir Gott helfe, Judith – ich sehe ein Schiff«, rief Coco freudig.
»O wunderbar«, rief Judith mit matter aber freudiger Stimme, »dann wird Massa Eddard nicht mehr sterben.«
»Ja, so wahr mir Gott helfe, dass das Schiff zu uns kommt«, sagte Coco. Als hätte er auf einmal seine frühere Kraft wieder erlangt, kletterte er nun auf das Deck des Verschlags, setzte sich mit verschränkten Beinen darauf, schwang dann sein gelbes Tuch in der Hoffnung, dadurch die Aufmerksamkeit der Schiffsleute auf sich zu ziehen; denn er wusste, wie leicht dieses kaum über die Wasseroberfläche ragende Wrack übersehen werden konnte.
Ein glücklicher Zufall wollte, dass das Schiff, welches sich als eine Fregatte auswies, seinen Lauf direkt auf das Wrack des Circassiers fortsetzte, obgleich dies von den Wachen auf den Mastspitzen noch nicht bemerkt worden war, da diese ihre Blicke auf den Horizont gerichtet hatten. Kurz darauf sah sich die kleine Gesellschaft auf dem Wrack von einer neuen Gefahr bedroht; sie mussten befürchten, von der Fregatte gerammt zu werden, da diese nur noch eine Kabellänge von ihnen entfernt die Meereswellen weit hin schäumend vor sich her trieb und immer weiter ihre rasche Fahrt fortsetzte. Coco schrie, so laut er konnte, und erregte dadurch glücklicherweise die Aufmerksamkeit der Seeleute, welche gerade auf dem Bugspriet standen, um das Stagsegel an der Fockstange aufzustauen, nachdem es aufgehisst worden war, um nach dem Sturme wieder zu trocknen.
»Hart Steuerbord!«, erscholl der Befehl.
»Steuerbord!« klang die Antwort vom Deck, und im selben Augenblick wurde das Steuer umgedreht, wie es in solchen Fällen auf Kriegsschiffen geschieht, obgleich nicht zu leugnen ist, dass die Schiffsbesatzung bei der Ausführung solcher Befehle sorgfältiger verfahren dürfte, wenn eine genauere Erklärung über das, was passiert war, gegeben würde.
Die oberen Leesegel schlappten und flatterten, das Focksegel killte und der Klüver blähte sich auf, als die Fregatte wendete und nahe am Wrack vorbeistreifte. Dieses kam nun unter den Schiffsbug zu stehen und schwankte so heftig unter dem weißen Schaum des aufgeregten Wassers, dass Coco nur mit Mühe seinen Posten auf dem Verschlag behaupten konnte. Auf der Fregatte wurden nun die Segel gekürzt und aufgezogen, ein Boot wurde herabgelassen, und in kurzer Zeit waren Coco, Judith und das Kind aus ihrer schrecklichen Lage befreit. Die arme Judith, die nur um des Kindes Willen sich aufrecht erhalten hatte, übergab es einem Offizier, der sie abholte, fiel dann in eine leichte Ohnmacht und wurde in diesem Zustand auf die Fregatte gebracht. Coco, sobald er auf einer der Bänke am hinteren Ende des Boots Platz genommen hatte, brach plötzlich in ein schallendes, nicht enden wollendes Lachen aus. Er konnte gerade noch die Fragen der Offiziere beantworten, bis auch er in Ohnmacht fiel und schließlich der Obhut des Schiffschirurgen übergeben wurde.
Der Junggeselle
Am Abend desselben Tages, an dem das Kind und das schwarze Paar durch das glückliche Erscheinen der Fregatte von dem Wrack gerettet werden konnten, saß Mr. Witherington in Finsbury Square allein in seinem Speisezimmer und hätte gern gewusst, was aus dem Circassier geworden war, und warum ihn noch keine Nachricht von dessen Ankunft erreicht hatte. Portwein und Sherry standen vor ihm, und obgleich es draußen ziemlich warm war, brannte doch ein kleines Feuer im Kamin, weil, wie Mr. Witherington meinte, dies das angenehme Gefühl der Behaglichkeit erhöhte. Nachdem Mr. Witherington eine Zeit lang die Decke seines Zimmers, an der doch gewiss nichts Neues zu entdecken war, aufmerksam betrachtet hatte, füllte er sich ein neues Glas mit Portwein und begann dann, es sich noch bequemer zu machen, indem er drei weitere Knöpfe seiner Weste aufmachte, die Perücke auf seinem Kopfe etwas zurückschob und seine Knie von dem Zwange befreite, welchen ihnen die Knöpfe seiner Beinkleider auflegten. Er vollendete das wichtige Geschäft dadurch, indem er zwei in seinem Bereiche stehende Stühle zu sich herzog, auf den einen er seine Beine legte, während er auf den andern seine Arme stützte. Wie sollte es ihm dadurch noch an Behaglichkeit fehlen? Er erfreute sich schließlich einer guten Gesundheit, eines guten Gewissens und eines Einkommens von achttausend Pfund jährlich.
Zufrieden mit sich schlürfte Mr. Witherington seinen Portwein, stellte dann sein Glas wieder hin, fiel in seinen Sessel zurück, pflanzte seine Hände vor der Brust auf, steckte seine Finger ineinander, und in dieser gewiss höchst behaglichen Lage begann er wieder, über das Ausbleiben des Circassiers nachzudenken.
Der Vater des Mr. Witherington war ein jüngerer Sohn aus einer der ältesten und stolzesten Familien des Westbezirks von Yorkshire. Wie bei jüngeren Söhnen üblich, in deren Adern patrizisches Blut fließt, sollte er sich für eine der vier Berufsarten, die ihr Erbteil bilden, entscheiden: Für die Armee, das Seewesen, das Rechtsfach oder die Kirche. Zur Armee zu gehen, war seine Sache nicht, weil, wie er sagte, das Marschieren nichts Angenehmes sei. Die Marine tauge nicht für ihn, da unter Stürmen und bei dem Verzehr verschimmelten Zwiebacks kaum an Behaglichkeit zu denken wäre. Das Rechtsfach ebenso wenig, weil er hier des friedlichen Auskommens mit seinem Gewissen nicht sicher sein könne, was ebenfalls die Behaglichkeit störe. Und auch die Kirche verwarf er, weil ihm bei jedem Gedanken an den geistlichen Stand seine Einbildungskraft ein schmales Einkommen, einen beschwerlichen Dienst und ein Dutzend Kinder, als unzertrennlich mit diesem Berufe verbunden, vor Augen führte. Das waren Berufe, durch die alles eher als Behaglichkeit hätte erreicht werden können. Zum Schrecken seiner Familie entzog er sich allen diesen edlen Gebieten und nahm das Anerbieten eines alten, den Grundsätzen der Familie abtrünnig gewordenen Oheims an, eine Stelle in seinem Geschäft einzunehmen, um eines Tages sein Teilhaber zu werden. Die Folge war, dass seine Verwandten sich enttäuscht von ihm lossagten und nie mehr nach ihm fragten. Somit war er genauso von der Familie ausgestoßen, als es einem ihrer weiblichen Sprösslinge bei etwaigen ärgerlichen Fehltritten geschehen wäre. Wie dem auch sein mag, Mr. Witheringtons Vater widmete sich emsig seinen Geschäften, wurde nach einigen Jahren Handelspartner, und nach dem Tode des alten Mr. Witheringtons, seines Oheims, fand er sich im Besitz eines riesigen Vermögens und eines Überschusses an barem Geld in seiner Kasse. Mr. Witheringtons Vater kaufte hieraufhin das Haus in Finsbury Square und hielt es für angeraten, sich nach einem Weibe umzusehen.
Da er noch immer viel von dem Stolz seiner Familie in seinem Wesen besaß, beschloss er, die Reinheit des Witheringtonschen Blutes nicht zu trüben und weder in Cateaton-Street, noch in Mincing Lane eine Frau zu holen. Somit wählte er, nachdem er hinlänglich Zeit und Mühe auf seine Ahnenforschung verwendet hatte, die Tochter eines schottischen Grafen, der mit nicht weniger als neun Töchtern in einer Kutsche von Leith nach London gefahren war, eben in der Absicht, edles Blut gegen Geld und Gut auszutauschen. Mr. Witheringtons Vater war so glücklich, zuerst als Freier in dieser ehrenwerten Familie auftreten zu können, und so durfte er unter den neun Ladys frei herausgreifen, welche er wollte. Seine Wahl fiel auf ein blondhaariges, blauäugiges und sehr großes Mädchen, das sich keineswegs übel ausnahm und auf der Liste ihrer Geschwister in der Familienbibel die vierte Stelle behauptete. Aus dieser Verbindung entstammten eine Tochter, die Moggy getauft wurde und bald unsern Lesern als eine Jungfrau von siebenundvierzig Jahren vorgeführt werden soll, sowie ein Sohn namens Anton Alexander Witherington Esquire, den wir soeben in einer sehr behaglichen Stellung, aber in ziemlich düsteren Gedanken verlassen haben.
Mr. Witheringtons Vater überredete seinen Sohn dazu, ebenfalls die Handelslaufbahn einzuschlagen. Der betrat allerdings nur gelegentlich das Kontor, ohne sich weiter ums Geschäft zu kümmern. Er hatte nämlich herausgefunden, dass sein Vater Geld in Hülle und Fülle besaß und es ihm üblicherweise einst hinterlassen würde.
Mr. Witherington der Ältere hatte sein ganzes Sinnen auf Erreichung der Behaglichkeit gerichtet. So nahm dann auch sein Sohn von früh an diesen Gedanken auf und es gelang ihm, in dieser Hinsicht eine noch weit größere Feinheit des Gefühls der Behaglichkeit zu erreichen, indem es für ihn nur zwei Klassen von Umständen gab, nämlich solche, die die Behaglichkeit förderten, und solche, die sie störten.
Unerwartet verstarb Lady Mary Witherington. Ihr Ehemann bezahlte die Rechnung des Leichenbestatters und war überzeugt, dass sie schnell und ohne Störung seiner Ruhe begraben wurde.
Mr. Witherington der Ältere wurde bald darauf durch einen Schlaganfall niedergeworfen. Nachdem er einige Tage im Bett zugebracht hatte, legte ihn ein zweiter Schlaganfall in die gleiche Gruft, welche Lady Mary Witherington einschloss. Dadurch befand sich der jüngere Anton Alexander Witherington, nachdem vierzigtausend Pfund für seine Schwester Moggy von der Erbmasse abgezogen worden waren, im Besitz einer jährlichen Rendite von achttausend Pfund und eines prächtigen Hauses in Finsbury Sqare. Er betrachtete dies als ein Einkommen, von dem sich behaglich leben ließ, und zog sich deshalb völlig aus allen Geschäften zurück. Zu Lebzeiten seiner Eltern war er Zeuge von unschönen Ehestandsscenen gewesen, wonach er die Ehe als etwas die Behaglichkeit Störendes verwarf. Darum blieb er Junggeselle.
Auch Moggy blieb unverheiratet; ob ihr schiefer, keineswegs einnehmender Blick etliche Freier von ihr abschreckte, oder ob sie dasselbe Missbehagen am Heiraten, wie ihr Bruder, von früh auf gefasst hatte, können wir nicht sagen. Mr. Witherington war drei Jahre jünger als seine Schwester, und obgleich er seit geraumer Zeit eine Perücke trug, hatte er dies doch nur der größeren Behaglichkeit wegen eingeführt.
Mr. Witheringtons Charakter bestand aus zwei Merkmalen, nämlich aus Sonderbarkeit und Wohlwollen. Höchst sonderbar war er, wie gewöhnlich alle Junggesellen. Männer sind ja überhaupt nur rauhe, ungeschliffene Kiesel, ehe sie sich durch Berührung mit dem schönen Geschlechte veredeln lassen. Und wunderbar ist es, wie durch die Macht der Frauen die rauhen Außenseiten der Männer abgeschliffen werden und sie ihr ganzes Wesen verändern.
Mr. Witherington erhob sich aus dem Traum, in den er gerade versunken war und langte nach der Schnur an dem Glockenzuge, welche der Kellermeister an die Lehne von seinem Stuhl binden musste, wenn er das Speisezimmer verließ. Das war eine Aufgabe, die er nicht vergessen durfte, denn Mr. Witherington stellte fest, dass es recht unbequem wäre, wenn man des Läutens wegen sich erheben müsse. In der Tat hatte Mr. Witherington mehr als einmal darüber nachgedacht, welche Vor- und Nachteile es hätte, beispielsweise eine Tochter von etwa acht Jahren zu besitzen, welche die Glocke ziehen, die Zeitungen lüften, die Blätter einer neuen Novelle aufschneiden und ihn dieser ermüdenden Verrichtungen entledigen könnte.
Aber es wurde ihm bewusst, dass eine achtjährige Tochter doch nicht immer in diesem Alter bliebe und dass sie seine Behaglichkeit weit mehr stören als fördern würde.
Mr. Witherington hatte an der Glockenschnur gezogen und war dann wieder in düstere Gedanken versunken.
Jonathan Trapp, so hieß der Kellermeister, erschien sofort, aber als er seinen Herrn in tiefem Nachdenken versenkt sah, blieb er eine Weile in der Tür stehen, aufrecht, bewegungslos und mit schwermütigen, in die Länge gezogenem Gesichte, gerade wie jemand, der an der Gruft eines Hingeschiedenen stumme Dienste zu leisten hat; denn je höher der Rang des Verstorbenen war, desto ausdrucksvoller muss man ein Trauergesicht aufsetzen, um entsprechend besser bezahlt zu werden.
Wir lassen Mr. Witherington sein tiefes Nachdenken fortsetzen, und Mr. Jonathan so geduldig wie ein Mietkutscherpferd an der Türe stehen, und wollen einstweilen die kurze Geschichte des Letzteren unsern Lesern mitteilen:
Jonathan hatte als Laufbursche gedient, ein Beruf, in dem sich die darin Tätigen dazu hergeben müssen, dass ihre Gebieter an ihnen durch ständige Fußtritte ihre schlechte Laune auslassen, um sie am Laufen zu halten. Sodann war er Lakai geworden und hatte mit dieser Stelle einen weitaus annehmlicheren Dienst übernommen als den zuvor erwähnten, und war endlich, weil er nicht höher in der Familie aufsteigen konnte, zur Würde eines Kellermeisters im Hause des älteren Mr. Witherington gelangt. Jonathan hatte sich daraufhin verliebt, wie denn ein Kellermeister nicht minder als sein Herr der Unbesonnenheit fähig ist. Weder er noch seine Liebste, welche einer Lady in einem anderen Hause gedient hatte, wollten sich warnen lassen, so oft sie schon die traurigen Folgen dieser Verirrung bei anderen hatten bemerken müssen; sie kündigten ihren Herrschaften und traten in den Ehestand.
Gleich den meisten Paaren ihres Standes, welche in ähnlicher Lage sich befinden, nämlich ihrer Heirat wegen ihre Stellen aufgaben, eröffneten sie nun eine Bierkneipe, wobei wir der ehemaligen Kammerjungfer, welche nun Jonathans Weib geworden war, die Gerechtigkeit widerfahren lassen müssen, zu berichten, dass sie lieber eine Garküche errichtet hätte. Aber sie ließ sich von Jonathan umstimmen, da dieser die Ansicht vertrat, dass kaum jemand ohne Hunger Lust zum Essen verspüre, während viele keineswegs Durstige etwas trinken wollten.
So wahr jedoch dieses sein mochte, so ist dagegen gewiss, dass sein Geschäft keinen guten Erfolg hatte. Und zwar wurde vermutet, dass Jonathans lange, schlanke, magere Gestalt der Kundschaft seines Hauses missfiel, da die Masse nun einmal geneigt ist, das rote Gesicht und den dicken Bauch des Wirtes mit der Qualität seines Bieres gleichzusetzen und darum hier, wo der Gastgeber das Bildnis eines Verhungerten abgab, kein gutes Ale zu bekommen glaubte. Kein Zweifel, dass es in dieser Welt oft auf den Schein ankommt und so ergab es sich, dass Jonathans Name, wegen seines leichenblassen Aussehens, gar bald in den Zeitungen erschien. Doch, was sein Verderben in dem einen Berufe gewesen war, gerade das verschaffte ihm nun in einem anderen sein Auskommen. Ein Mann, der sich als Schätzer, Tapezierer und Leichenbestatter einen Namen erworben hatte, heftete sein Augenmerk auf Jonathan. Er erkannte den Wert dessen eigentümlichen, leichenmäßigen Aussehens und bot ihm sogleich die Stelle eines stummen Totenbetrauers an. Er hatte nämlich einen Halbbruder von gleicher Statur wie Jonathan, mit welchem er ein Paar bilden sollte. Gar bald konnte Jonathan seinen eigenen, nur einige hundert Pfund betragenden Verlust vergessen, da er in seinem neuen Dienste Leute betrauern musste, welche Tausende durch den Tod verloren hatten. Sein stilles Wesen, seine aufrechte, bildsäulenartige Haltung, sein langes, schwermütiges Gesicht, wenn er vor den Prachttüren der Leute stand, welche die Pforte zu einer anderen Welt überschritten hatten, bildete nur zu oft einen krassen Gegensatz zu dem erheuchelten Schmerze der Erben. Doch in dieser alles zu verhandelnden Welt ist ja auch der Schmerz nichts wert, wenn er nicht bezahlt wird. Jonathan machte den letzten Gang mit etlichen Menschen, zuletzt auch mit seinem Weibe. Doch soweit wäre noch alles gut gewesen, wenn er nicht eines Tages auch seinen Herrn, den Leichenbestatter, ans Grab hätte begleiten müssen, was allerdings nicht sonderlich erfreulich für ihn war. Jonathan weinte nicht, aber auf seinem Gesichte zeigte sich stummer Schmerz, wie er seinem Herrn als Leichenführer bis zu dessen enger Behausung das letzte Geleit gab. Und als er nach der Rückkehr vom Grab zum Andenken an den Verstorbenen einen Krug Porter trank, saß er da mit manchen seiner Genossen, gleich einer Aaskrähe auf der Spitze einer Totenbahre.
Jonathan musste nun das Fach, welches er bisher innehatte, aus einem Grunde aufgeben, den wohl die meisten für die beste Empfehlung gehalten hätten. Kein Leichenbesorger nämlich wollte ihn einstellen, weil keiner einen Mann seinesgleichen finden und zu einem Paare mit ihm verbinden konnte. Unter dieser Widrigkeit leidend fiel Jonathan endlich der jüngere Mr. Witherington ein; er hatte dessen Eltern bedient und schließlich beide ans Grab begleitet. Er meinte, für seine früheren Dienste einige Ansprüche geltend machen zu können und wandte sich an den reichen Junggesellen. Zum Glücke für Jonathan stand gerade der jetzige Kellermeister des Mr. Witherington davor, dieselbe Torheit zu begehen, die jener früher begangen hatte, so dass Jonathan nun wieder seine alte Bestallung erhielt. Er beschloss, sein damaliges Treiben aufzugeben und sich nicht mehr mit Kammermädchen einzulassen. Dagegen ließ er auch jetzt noch, wie es ihm zur Gewohnheit geworden war, bei jeder Gelegenheit den einstigen Leichenbegleiter durchblicken, indem er niemals einer Anwandlung von freudigem Gefühle Raum gab, als höchstens dann, wenn er bei seinem Herrn bemerkte, dass sich dessen Lebensgeister zu einer höheren Sphäre erhoben hatten. Aber auch dann geschah es mehr aus Pflichtgefühl als aus wahrer Herzensfreudigkeit.
Jonathan besaß für den Stand, in welchem er lebte, keine geringe Bildung, und so hatte er sich während seiner Dienstzeit bei dem Leichenbestatter die Bedeutung und englische Übersetzung aller der lateinischen Inschriften, die an den Wappenschildern auf den Leichenwagen zu lesen waren, gemerkt und wusste sie nun bei jeder passenden Gelegenheiten ganz geschickt anzuführen.
Wir kehren nun zur Geschichte zurück. Jonathan stand noch immer an der Türe, hatte sie geschlossen und noch die Hand an der Schnalle.
»Jonathan«, sprach endlich Mr. Witherington nach einer langen Pause, »ich wünsche den letzten Brief von New York anzusehen, du wirst ihn auf meinem Ankleidetische finden.«
Jonathan verließ ohne einen Laut das Zimmer, und erschien dann wieder mit dem Briefe.
»Seit langer Zeit schon habe ich dieses Schiff erwartet, Jonathan«, bemerkte Mr. Witherington, indem er den Brief aufmachte.
»Yes, Sir, schon lange, die Zeit flieht, tempus fugit«, erwiderte der Kellermeister mit tiefer Stimme, seine Augen halb schließend.
»Ich hoffe zu Gott, dass ihm kein Unglück begegnet ist«, fuhr Mr. Witherington fort; »mein armes Bäschen und ihre Zwillinge liegen vielleicht jetzt, während wir reden, auf dem Meeresgrunde.«
» Yes, Sir«, erwiderte der Kellermeister, »die See begräbt viele und beraubt manchen ehrlichen Leichenmann seines Verdienstes.«
»Beim Blute der Witheringtons! Ich hätte ja keinen Erben mehr, müsste noch heiraten, und das Glück der Behaglichkeit wäre für mich dahin.«
»Wenig Behaglichkeit bietet der Ehestand«, tönte das Echo aus Jonathans Mund, »doch mein Weib ist tot; im Himmel ist Ruhe, in coelo quies.«
»Nun, wir müssen das Beste hoffen; doch diese Ungewissheit ist etwas sehr Unbehagliches«, bemerkte Mr. Witherington, nachdem er den Inhalt des Briefes wenigstens zum zwanzigsten Mal überblickt hatte.
»Du kannst jetzt gehen, Jonathan, ich werde gleich nach dem Kaffee klingeln.«
Mr. Witherington war nun wieder allein, und heftete seine Augen auf die Zimmerdecke. Er hatte soeben eine Cousine erwähnt; diese war eine Frau, die in hohem Grade seine Gunst erlangt hatte, wie denn seine Verwandten den Umstand, dass er selbst nichts von Geschäften wissen wollte, dazu benutzten, dem reichen Manne den Hof zu machen. Diese Cousine hatte entgegen ihrer adeligen Würde sich, ohne auf ihre Eltern zu hören, zu einem Liebesbunde mit einem jungen Lieutenant der Infanterie verleiten lassen. Hinsichtlich seines Vermögens war nur so viel zu sagen, dass sich seine Mittel ausschließlich auf den Sold eines Subalternoffiziers beschränkten. Arme Männer haben immer mehr Glück in der Liebe als reiche, weil sie weniger Sorgen haben, sich weniger auf die Wichtigkeit ihrer Person einbilden, da sie weniger selbstsüchtig sind und weit mehr an die Geliebte, als an sich selbst denken. So fragen denn auch junge Frauenzimmer, welche sich verlieben, nie danach, ob der Geliebte so viel Einkünfte hat, dass sie in Zukunft immer einen Topf ans Feuer stellen können. Zweifellos tun sie das deswegen nicht, weil sie in der Zeit der ersten Liebe den Appetit verlieren und dann befürchten, dass die Liebe stets den Mangel an Nahrung ersetzen werde.
Nun wenden wir uns aber an verheiratete Frauen mit der Frage, ob wir nicht mit Recht behaupten können, dass bei allen, die an ihrem Hochzeitstage das für die Gesellschaft bereitete Mahl beinahe mit Widerwillen ablehnten, sich bald darauf der verlorene Appetit mit Macht wieder einstellte. Gerade so erging es Cäcilie Witherington oder richtiger Cäcilie Templemore, die an ihrem Hochzeitstage den Namen gewechselt hatte. Ebenso erging es ihrem Gatten, der stets, auch während er ihr den Hof machte, einen guten Appetit gehabt hatte. Eine Folge davon war, dass die Rechnung des Regimentswirts – sie lebten nämlich in der Kaserne – innerhalb weniger Wochen zu einer beunruhigenden Höhe anstieg. Cäcilie wandte sich an ihre Familie, erhielt aber die freundliche Antwort, dass sie ihrethalben verhungern möge. Da diese Weisung ihr so wenig wie ihrem Gatten zusagte, schrieb sie ihrem Vetter Anton. Dieser antwortete, sie dürfe ihn gern nebst ihrem Manne mit ihrem Besuche beglücken, mit seinem Tische vorlieb nehmen und Finsbury Sqare zu ihrem Wohnsitz machen. Nichts anderes hätte sie sich wünschen können, aber eine Schwierigkeit stand in der Erfüllung dieses Wunsches noch entgegen: Templemores Regiment war nämlich in eine Stadt in Yorkshire einquartiert, also in ziemlicher Entfernung von Finsbury Sqare, und jeden Morgen um neun Uhr auf der Parade zu erscheinen, wenn er bei Mr. Witherington um sechs Uhr abends gespeist hatte, war eine nicht zu lösende Aufgabe. Mehrere Briefe wurden über diesen schwierigen Punkt gewechselt, und am Ende kam man überein, dass Mr. Templemore seine Stelle aufgeben und mit seinem schönen Weibe zu Mr. Witherington ziehen sollte. Er ließ sich dies gefallen und fand es weit behaglicher, um neun Uhr morgens zu einem trefflichen Frühstück auszuziehen, als zu einer militärischen Parade. Aber Mr. Templemore hatte einen ehrenhaften Stolz und einen festen Charakter, der ihm nicht erlaubte, als Müßiggänger zu leben. Nach einem zweimonatlichen Aufenthalt in dem behaglichen Quartiere, wobei er gänzlich von Wirtsrechnungen verschont blieb, teilte er Witherington unverhohlen seinen Plan mit und bat ihn, ihm zu einer Lage zu verhelfen, in der er sich selbst einen anständigen Lebensunterhalt verschaffen könnte. Mr. Witherington, der sich an das junge Paar inzwischen gewöhnt hatte, gab endlich, obgleich sehr ungern, seine Zustimmung. Ein höchst achtungswertes Handelshaus wünschte einen Handelspartner, um durch ihn seine in Amerika befindlichen Warenlager überwachen zu lassen. Mr. Witherington schoss die gewünschte Geldsumme vor, und wenige Wochen darauf segelten Mr. und Mrs. Templemore nach New York.
Mr. Templemore war fleißig und vorausschauend. Die Geschäfte liefen gut, und schon hofften er und seine Frau, in wenigen Jahren mit gutem Einkommen ins Vaterland zurückkehren zu können. Allein im Herbst des zweiten Jahres nach ihrer Ankunft in Amerika brach das gelbe Fieber aus, und unter den vielen tausend Opfern dieser pestartigen Krankheit befand sich auch Mr. Templemore; er starb ungefähr drei Wochen, nachdem seine Frau Zwillinge zur Welt gebracht hatte.
Mrs. Templemore stand als Witwe und Mutter von zwei kleinen Babys nun völlig allein da. Die Stelle ihres verstorbenen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Claus H. Stumpff - www.chsautor.de
Bildmaterialien: MidjourneyBot
Cover: Cover Gestaltung: Claus H. Stumpff
Lektorat: Claus H. Stumpff
Tag der Veröffentlichung: 30.01.2016
ISBN: 978-3-7396-3460-9
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