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Claus H. Stumpff

  

DER NETTE FRAUENMÖRDER 

Kriminalroman

 

 

© 2014 Claus H. Stumpff

V.01

http://www.chsautor.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zum Inhalt

 

Im Allgäu verschwinden nacheinander fünf Touristinnen, alle gut situiert und in heiratsfähigem Alter. Sie hinterlassen in Pensionen und Hotels ihr gesamtes Handgepäck. Es gibt keine Hinweise auf ihren derzeitigen Aufenthaltsort. Seitens Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft wird bereits das Schlimmste befürchtet. Zeuginnen beschreiben detailliert und übereinstimmend einen Mann, der die vermissten Frauen jeweils von ihrem Urlaubsquartier abgeholt hatte. Aber die Suche nach dem Verdächtigten und seinen möglichen Motiven bleibt weiterhin erfolglos.

Der erfahrene Kriminalist Peter Gerber wird als Sonderermittler eingesetzt, ein Mann, dessen Vergangenheit und wirklicher Name nur seinem unmittelbaren Vorgesetzten, Kriminalrat Roland Wagner, bekannt ist. Auch Gerber scheitert zunächst an der raffinierten Vorgehensweise des Frauen-Entführers. Aber als er auf eine erste Spur stößt, überschlagen sich die Ereignisse und es kommt zu einem Eklat.

Während des Schwurgerichtsprozesses am Landgericht München erleben der Vorsitzende Richter, der Staatsanwalt und die Geschworenen eine unglaubliche Überraschung.

 

 

Hinweis

 

Wegen des Datenschutzes und zwecks Vermeidung von Konflikten erscheinen in diesem Roman nicht die tatsächlichen, sondern fiktive bzw. keine Namen von Objekten, wie z.B.

 

- von Straßen und Gebäuden

- von öffentlichen und kulturellen Einrichtungen

  wie Behörden, Postämter, Polizeiinspektionen, Theatern,

  Zeitungs-und Buchverlagen.

 

Die Handlung dieses Romanes ist frei erfunden. Namentliche Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen, mit Firmen sowie staatlichen bzw. privaten Institutionen wären also rein zufällig und unbeabsichtigt.

 

 

 

 

Prolog

 

Die Menschen im Regierungsbezirk Allgäu stehen unter Schock, seitdem dort innerhalb weniger Tage fünf junge Frauen – allesamt Touristinnen – verschwanden. Da es keinerlei Hinweise auf ihren derzeitigen Aufenthaltsort gibt, gehen Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft davon aus, dass sie alle das Opfer eines Massenmörders wurden. Eine groß angelegte Suchaktion beginnt. Der Bevölkerung wird erhöhte Wachsamkeit empfohlen, besonders Frauen im heiratsfähigen Alter sollten äußerste Vorsicht walten lassen und nachts nicht mehr allein hinausgehen.

 

* * * * *

Aus dem Polizeibericht:

 

Die 22-jährige Zahnarzthelferin Angelika Müller aus Wuppertal hatte am 1. Juli in Altusried bei der Witwe Josepha Wendler für zwei Wochen ein Ferien-Appartement angemietet. Sie verschwand kurz darauf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.

Am 5. Juli traf im Hotel Allgäuer Hof in Kempten die Handelsvertreterin Christa Bachhuber ein, die vier Tage zu bleiben gedachte. Auch Sie verschwand schon nach der ersten Nacht.

Am Abend des 15. Juli bezog die 24-jährige Carmen Baumgartner ein Zimmer im Gasthof Roter Ochse in Oberstdorf. Sie gab an, eine begeisterte Bergsteigerin zu sein und beabsichtigte, etwa eine Woche zu bleiben. Auch sie verschwand plötzlich und spurlos.

Die 26-jährige Krankenschwester Maria Pfeiffer aus Würzburg besuchte am 20. Juli ihre Schulfreundin Daniela Haberzettl in Immenstadt, wo beide ein glückliches Wiedersehen feierten. Danach wurde auch sie nicht mehr gesehen.

Bereits am 8. Juli war die 24-jährige Metzgerei-Verkäuferin Waltraud Kirchner nicht mehr in das von ihr angemietete Appartement im Bergdorf Knottenried im Oberallgäu zurückgekehrt. Ihre Vermieterin, die Witwe Rosalia Millert, hatte das Verschwinden der jungen Frau erst nach zwei Wochen gemeldet.

Die intensiven Ermittlungen der Kriminalpolizei blieben bislang erfolglos. Überall stoßen ihre Fahnder auf ein Geflecht von Widersprüchen, Lügen und Heimlichkeiten.

 

Doch plötzlich überschlagen sich die Ereignisse und es kommt zu einem Eklat.

 

 

 

Kapitel 1

 An einem schwülen Hochsommertag in der Polizeiinspektion der Kreisstadt:

Kriminalrat Roland Wagner legt die Münchner Morgenpost zur Seite. Nachdenklich schaut er den ihm gegenüber sitzenden Kriminalkommissar Peter Gerber an:

»Also, lieber Peter, jetzt bis du gefragt. Innerhalb von rund zweieinhalb Wochen verschwinden unter Hinterlassung aller ihrer Habseligkeiten vier junge Frauen, alle in den Zwanzigern, also in bestem heiratsfähigem Alter. Sie alle scheinen mit dem gleichen Mann liiert zu sein, bei dem es sich nicht nur um einen raffinierten Heiratsschwindler, sondern sogar um einen gewissenlosen Mörder handeln könnte. Du allein bist ja dafür verantwortlich, dass diese mysteriösen Vorgänge schnellstens aufgeklärt werden, ehe uns die Zeitungsschreiber Untätigkeit oder gar Unfähigkeit vorwerfen.«

Kriminalkommissar Peter Gerber hatte die Nacht hindurch gefeiert und sieht seinen Chef aus verschlafenen Augen an, wobei er nervös seine Unterlippe knetet:

»Was veranlasst dich zu der Annahme, dass in dieser Gegend ein Unhold herumläuft und gleich vier junge Weiber verschleppt?«

Wagner strich sich durch die schütteren, schon etwas ergrauten Haare und blätterte in den Papieren, die vor ihm lagen. Er streckte die Beine weit von sich und sagte:

»Um was könnte es sich denn sonst handeln? Wenn du es weißt, dann verrate mir es bitte!«

Peter Gerber stand auf, ging zum Fenster, warf einen Blick auf das Panorama der Allgäuer Berge, drehte sich wieder um und sagte mit einem Tonfall, als handelte es sich nur ums Wetter:

»Auch ich kann hier nichts weiter unternehmen, solange mir keine Details über das plötzliche Verschwinden der Frauen vorliegen. Natürlich besteht die Möglichkeit, dass es sich um schreckliche Verbrechen handelt, die von ein und derselben Person verübt wurden. Hoffentlich sind wir schon bald etwas schlauer«

Roland Wagner sieht seinen hageren, etwas jüngeren Kollegen belustigt an.

»Du drückst dich sehr vorsichtig aus! Aber trotzdem, du hast nun mal diesen Fall übernommen!«

»Na klar, einen schöneren Auftrag habe ich mir von dir auch nicht erhofft.«

Wagner lächelt und nickt zufrieden. »Einer muss ja schließlich der Dumme sein! Was wirst du also als Erstes unternehmen?«

»Ich habe schon veranlasst, dass übermorgen um 9:00 Uhr hier diejenigen Leute erscheinen, die mit den verschwundenen Frauen noch in letztem Kontakt standen, also Vermieterinnen, Hotelfrauen und so weiter. Weiterhin werde ich – hoffentlich in deinem Beisein – sämtliche zurückgelassenen Gepäckstücke, Utensilien, Anmeldescheine etc. in Augenschein nehmen. Und dann geht's los!«

Roland Wagner reibt sich erleichtert die Hände, denn immer wenn Gerber ›dann geht's los‹ äußerte, dann durfte man erwarten, dass es wirklich ›los‹ ging.

 

 

 

Kapitel 2

 Keiner von Peter Gerbers Kollegen ahnt, dass sein richtiger Name Oliver Fahrnholz lautet. Nur Kriminalrat Roland Wagner weiß darüber Bescheid und behandelt den ihm unterstellten Kollegen stets freundschaftlich und respektvoll. Und das aus gutem Grund, wie der Leser später erfährt.

 

Oliver Fahrnholz wurde stets von Pech verfolgt. Als Achtzehnjähriger kam er der – damals noch bestehenden – Wehrpflicht nach, wo er als Zeitsoldat zum Leutnant der Reserve wurde. Danach studierte er in München Rechtswissenschaften, und trat dann als Referendar in die Kanzlei des Rechtsanwaltes Dr. Hanns Lewald ein, eines angesehenen Münchner Strafverteidigers. Nebenbei arbeitete er an seiner Dissertation und erwarb den Doktortitel.

Doch schon bald geriet Oliver in schlechte Gesellschaft. Für willige, hübsche Mädchen gab er mehr Geld aus, als er verdiente und pumpte ständig seinen um zehn Jahre älteren Bruder Jakob an, der mit einer Frau aus einer gutsituierten Industriellenfamilie verheiratet war.

Oft erschien Oliver zu spät und total verkatert in der Kanzlei oder zu einem Gerichtstermin. Kurzum, er lebte so frei und ungebunden wie wohl tausend andere junge Männer, die sich zunächst die Hörner abstoßen mussten, bevor sie sich unter das Joch der Ehe begaben. Das ging nur so lange gut, bis eines Tages das Schicksal unbarmherzig zuschlug.

 

Dem Rechtsanwalt Dr. Lewald wurde von einem Klienten ein Paket mit knapp drei Millionen Euro zu treuen Händen übergeben. Vermutlich handelte es sich dabei um ›Schwarzgeld‹, das am Finanzamt vorbei gemogelt werden sollte. Die gebündelten und nummerierten Geldscheine hinterlegte er – in Beisein des jungen Referendars Oliver Fahrnholz – in dem wuchtigen Stahlschrank, worin normalerweise nur Prozessakten aufbewahrt wurden. Dabei erklärte er einsichtsvoll, dass es ziemlich leichtsinnig sei, solche Summen statt im Banktresor in der Kanzlei aufzubewahren, umso mehr, als der Stahlschrank veraltet sei und einem halbwegs gewieften Einbrecher kaum Widerstand entgegensetzen würde. Dieser Feststellung stimmte Oliver Fahrnholz pflichtschuldig zu, wobei er sich vorstellte, wie wundervoll es wäre, über derart viel Geld zu verfügen.

Am nächsten Tag gab es ungewöhnlich viel Arbeit, manche Vorgänge hätten zwar durchaus liegen bleiben können, mussten aber nach Auffassung des Chefs sofort erledigt werden. Oliver sah sich daher gezwungen, Überstunden zu machen und arbeitete auch nach Feierabend noch als Einziger in der Kanzlei. Danach schloss er alle Türen sorgfältig ab und warf den Büroschlüssel – wie vereinbart – durch den Briefschlitz der Eingangstür. Weitere Schlüssel besaßen nur Dr. Lewald, sowie der Hausmeister Bauer, der immer morgens um sechs Uhr mit der Reinigung der Büroräume beginnt.

Am folgenden Morgen trat Oliver als Letzter zwar pünktlich seinen Dienst an, allerdings – nach durchzechter Nacht mit Freunden und leichten Mädchen – noch unausgeschlafen. Die anderen Kollegen waren bereits vor ihm eingetroffen und standen fassungslos vor dem geöffneten, restlos geleerten Kassenschrank. Die abgebrochene Schlosszunge der massiven Stahlschranktür lag davor am Boden.

Roland Wagner – damals noch Erster Kriminalhauptkommissar im Münchner Polizeipräsidium – führte die Untersuchung durch und hegte keinerlei Zweifel an der Täterschaft des Referendars Oliver Fahrnholz. Nur der besaß Kenntnis vom Inhalt des Stahlschrankes und war – seiner Meinung nach – nur aus krimineller Absicht allein im Büro zurückgeblieben.

Bevor Oliver von zwei Polizeibeamten abgeführt wurde, hörte er im Hintergrund Dr. Lewalds laut sagen: »Gestern Abend erwähnte ich im Beisein Gerbers, dass man solche Summen eigentlich nicht in einem veralteten Stahlschrank aufbewahren dürfe, denn für einen Ganoven sei dessen Öffnung völlig problemlos. In dem Milieu, in dem Herr Gerber sich zu amüsieren pflegt, mangelt es bestimmt nicht an Männern, die für Geld alles zu tun bereit sind. Ich bin mir daher sicher, dass Gerber entweder alleine oder mit einem seiner Kumpane den Kassenschrank aufgebrochen und ausgeraubt hat. Ich muss sagen, dass ich von dem jungen Mann, dem ich eine erstklassige Karriere zugetraut hätte, zutiefst enttäuscht bin.«

Wie sorgfältige Recherchen und die Durchsuchung seiner Wohnung ergaben, war Oliver Fahrnholz hoch verschuldet und hatte in diesen Tagen vergeblich auf ein weiteres Darlehen seitens seines Bruders Jakob gehofft. Nach Auffassung von Kommissar Wagner führte Oliver Fahrnholz einen ausgesprochen liederlichen Lebenswandel, was nicht den hohen moralischen Anforderungen an einen Vertreter des Rechts entsprach. Als man ihn einer Leibesvisitation unterzog, fand man in der Innentasche seiner Jacke ein Bündel aus tausend Euro-Scheinen, die mit jener Geldscheinsserie übereinstimmten, die Dr. Lewald am Tag zuvor zur Aufbewahrung übernommen hatte. Daraufhin wurde Oliver Fahrnholz in Untersuchungshaft genommen.

 

Vergebens beteuerte Oliver Fahrnholz vor dem Untersuchungsrichter und später im Gerichtsverfahren, dass er sich nicht erklären könne, wie dieses Geldbündel in seine Jacke gekommen sei.

Das von Kriminalhauptkommissar Wagner vorgebrachte Beweismaterial war allerdings zu belastend, weshalb Oliver Fahrnholz zu einer vierjährigen Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt wurde. Sein Bruder Jakob zeigte keinerlei Mitgefühl. Auf einen jammervollen Brief, worin Oliver ›beim Andenken an unsere verstorbenen Eltern‹ seine Unschuld beschwor, hatte er er nichts als abweisende Worte übrig, indem er schrieb: ›Belästige mich nicht mehr mit deinen Briefen, die ich nur noch mit Ekel in die Hand nehmen könnte. Ich habe keinen Bruder mehr! Der ist für mich gestorben, weil er auch meinen Namen mit Schande bedeckte!‹.

In den drei Jahren in der Justizvollzugsanstalt Straubing — ein Jahr wurde ihm seiner guten Führung wegen erlassen — klebte Oliver Fahrnholz Tüten, band Gebetbücher ein oder stanzte Ösen in Schuhoberteile. Am Tage bei der tristen Arbeit und nachts, wenn das Geschrei tobender Insassen durch die Hallen erschallte, dachte er nur an ein und dasselbe: ›Wie kann ich meine Unschuld beweisen, wie baue ich Tatsachen, Vermutungen, kleinste Vorkommnisse so auf, dass sie mich doch noch entlasten?‹ Da ihm in der Haftanstalt weder Papier noch Schreibzeug zur Verfügung stand, baute er sich im Geiste eine Verteidigungsstrategie zusammen, um damit die Wiederaufnahme des Strafprozesses zu erreichen.

 

Nach der Entlassung aus der Haft betätigte sich Oliver eine Weile als – allerdings wenig erfolgreicher – Staubsaugervertreter. Er verdiente nur so viel, dass er sich gerade ein winziges Appartement leisten konnte. Er besorgte sich einen ausrangierten PC sowie einen uralten Nadeldrucker. Hiermit erstellte er eine 153 Seiten umfassende Abhandlung, womit er seine Unschuld zu beweisen hoffte. Hilfe dabei versprach ihm sein ehemaliger Kommilitone Dr. Gunter Hirsch, der sich inzwischen als Rechtsanwalt niedergelassen hatte. Der überprüfte Olivers Konzept, hielt es für sehr gut, riet ihm aber noch zu einigen Ergänzungen und Änderungen.

 

Oliver befasste sich jetzt intensiv mit dem Privatleben seines früheren Chefs Dr. Lewald, beobachtete ihn und seine Familie sowie alle Hausangestellten. Von einem früheren Kollegen, dem er zufällig begegnete, erfuhr er, dass sich Dr. Lewald schon vor vier Jahren von seiner Ehefrau getrennt hatte.

Bei seinen Hausbesuchen als Staubsaugervertreter machte er die Bekanntschaft der noch vor einigen Jahren als Sexsymbol gefeierten Schauspielerin Yvonne deVries. Obwohl sie bereits einen Staubsauger besaß, ließ sie ihn dennoch eintreten. Anscheinend fand sie Gefallen an dem gutaussehenden jungen Mann. Nach einer mehrstündigen, anregenden Unterhaltung nahm Yvonne gern Olivers Einladung an, das Gespräch am Abend in einem – für seine erstklassigen Weine bekannten Restaurant – fortzusetzen.

Die noch immer attraktive Yvonne deVries ist seit einem Autounfall gehbehindert und hat dadurch ihre Stammrolle in einem Münchner Theater-Essemble eingebüßt. Aber auch andere Bühnen wollten sie wegen dieser dauerhaften Behinderung nicht mehr engagieren.

Nach einigen Glas Rotwein wurde beider Stimmung immer heiterer und Yvonne deVries' zunächst vornehme Zurückhaltung wurde allmählich lockerer.

»Yvonne deVries ist natürlich mein Künstlername«, erklärte sie lachend. »Mein richtiger Name ist Laura Berghofer. Sie dürfen also gern Laura zu mir sagen.«

»Na klar, mache ich«, sagte Oliver, »mir liegt ohnehin nichts an der früher üblichen Förmlichkeit, mit der sich die Menschheit gegenseitig abkapselte. Ich heiße Oliver Fahrnholz, für Sie bin ich also der Oliver

»Da denke ich genau wie Sie. Allerdings bin ich bei zu schnellem ›Freundschaften‹ sehr vorsichtig geworden.«

Oliver zeigte sich überrascht als sie ihm verriet, dass ausgerechnet sein früherer Chef Dr. Lewald ihr vor drei Jahren vergeblich einen Heiratsantrag machte. Er hätte allerdings versucht, sie durch großzügige Zuwendungen an Geld und durch wiederholte Schenkungen teuren Schmucks umzustimmen, aber sie sei standhaft geblieben. ›Ich habe gar nicht geahnt, dass ein Anwalt so reich sein kann, um sich Schenkungen von zigtausend Euro leisten zu können.‹ Natürlich hätte sie seine Großzügigkeit nur zu gern angenommen und ihn eine Weile in dem Glauben gelassen, sich vielleicht doch noch für ihn zu entscheiden.

»Dann dürften Sie ja auch ohne festes Engagement ganz gut über die Runden kommen«, stellte Oliver fest.

»Da irren Sie sich aber gewaltig. Denn dummerweise hatte ich einem Banker, der mir laufend Avancen machte, mein ganzes Vertrauen geschenkt. Ich verkaufte also den gesamten Schmuck, den mir Dr. Lewald geschenkt hatte. Außerdem investierte ich den größten Teil meines Geldvermögens in Aktien und Fonds, die mir der Bankmensch als absolut ertragssichere Anlage empfahl und die jetzt kaum noch einen Euro wert sind. Ich bin jetzt ziemlich mittellos. So schnell kann es gehen, alles zu verlieren, nicht nur den geliebten Beruf.«

Obwohl der Rotwein auch Oliver ein wenig zu Kopf gestiegen war, erkannte er blitzschnell, dass kaum jemand anders als Dr. Lewald den Stahlschrank geöffnet haben konnte – nur zum Anschein mit brachialer Gewalt – um mit dem vielen Geld die bezaubernde Yvonne deVries an sich zu binden. Die Schauspielerin war also auch der Grund dafür dass sich Dr. Lewald von seiner Frau getrennt hatte, obwohl er drei noch unmündige Kinder zu versorgen hatte.

 

Roland Wagner, der Erste Kriminalhauptkommissar, der seinerzeit die Inhaftierung von Oliver Fahrnholz betrieben hatte, saß in der Münchner Polizeiinspektion 21 am Computer, als ihm seine Assistentin – eine junge Polizeimeisterin – einen Besucher meldete, der ihn in einer wichtigen Angelegenheit sprechen wolle. Wagner winkte zunächst ärgerlich ab, ließ ihn aber dann doch hereinführen.

Oliver Fahrnholz hatte seine Schüchternheit überwunden und trat ein. Wagner erkannte gleich den Mann, den er vor gut drei Jahren in die Untersuchungshaft befördert hatte.

»Na, Herr Fahrnholz, haben Sie alles gut überstanden?«, erkundigte er sich mitfühlend. »Ich hoffe sehr, dass Sie inzwischen wieder auf festem Boden stehen!«

Oliver Fahrnholz schluckte einige Male, atmete tief ein und sagte dann:

»Danke für die Nachfrage, Herr Kommissar. Ich habe statt vier nur drei Jahre abgesessen, das hatt mir aber auch gereicht. Aber ich fühle mich nach wie vor unschuldig.« Mit diesen Worten überreichte er Wagner sein vielseitiges Manuskript und sagte: »Wenn Sie das gelesen haben, werden sie davon überzeugt sein, dass kein anderer als Rechtsanwalt Dr. Hanns Lewald den eigenen Stahlschrank ausgeraubt hatte. Aber fürs Erste reicht es, wenn Sie zunächst nur die letzten Seiten dieses Manuskripts lesen. Dieser elende Gauner ließ mich im Gefängnis schmoren, um vor seinem Klienten, der ihm eine riesige Geldsumme anvertraut hatte, als Unschuldsengel dazustehen. Wie ich feststellte, hatte Herr Dr. Lewald einer bekannten Schauspielerin gleich danach größere Geldbeträge zukommen lassen, um damit ihre Gunst zu erlangen. Diese Dame hat sich bereit erklärt, als Zeugin auszusagen.«

 

Roland Wagner blieb nicht untätig. Der Strafprozess wurde wieder aufgerollt. Dr. Lewald musste erklären, woher er das viele Geld hatte, das er der Schauspielerin Yvonne deVries zukommen ließ. Dr. Lewald verstrickte sich in Widersprüche und ahnte, dass man ihm auf die Schliche gekommen war. Er befürchtete, wegen bestehender Fluchtgefahr in U-Haft genommen zu werden. Noch bevor man ihm Handschellen anlegen konnte, floh er in der Nacht vor dem angesetzten Untersuchungstermin nach Genua. Er entzog sich der Justiz, indem er sich auf seiner dort im Hafen liegenden Motoryacht erschoss.

 

Einige Wochen danach wurden beim Wiederaufnahmeverfahren am Landgericht München die seitenlangen Ausführungen des Oliver Fahrnholz verlesen und durch mehrere Zeugen auf den Wahrheitsgehalt hin bestätigt. Oliver Fahrnholz wurde für unschuldig erklärt, für die erlittene Haft wurde ihm eine Entschädigung zugesagt.

Gleich nach Abschluss der Verhandlung ging sein einstiger Gegenspieler Roland Wagner zu ihm und bat ihn um Verzeihung. Er schäme sich wegen seiner damaligen Voreingenommenheit und lud ihn – als Zeichen der Reue – zum Abendessen in ein erstklassiges Restaurant ein.

Vom Staat erhielt Oliver Fahrnholz nach dem ›Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen‹ 25 Euro für jeden angefangenen Hafttag, also rund 27.400 Euro. In der gleichen Zeit hätte er ein Nettogehalt von etwa 100.000 Euro verdient. Sein Bruder Jakob gratulierte ihm schriftlich zu seiner Rehabilitation, aber Oliver warf dessen Brief gleich in den Papierkorb.

 

Oliver Fahrnholz war jetzt zwar ein freier, unbescholtener Mann, allerdings hatte er drei Jahre seines jungen Lebens hinter Gittern verbringen müssen. Sein Vater war Tierarzt, mit einer gutgehenden Praxis in Sonthofen im Oberallgäu. Kurz bevor Oliver inhaftiert wurde, verstarb Dr. med. vet. Gerald Fahrnholz an den Folgen einer Tollwut-Infektion. Während Olivers Haftzeit nahm sich seine Mutter das Leben, nicht nur aus Kummer über den Tod des geliebten Mannes, sondern vor allem aus Gram wegen ihres kriminell gewordenen Sohnes.

Nach seiner Haftentlassung mietete Oliver zunächst ein Zimmer in einem Landgasthof bei Immenstadt im Oberallgäu. Gleich am nächsten Tag fuhr er weiter nach Sonthofen. Er hoffte, in seinem Elternhaus wieder sein einstiges Kinderzimmer bewohnen zu können, falls das Haus nicht inzwischen einen neuen Besitzer hatte. Das war jedoch nicht der Fall, allerdings fand er alles in einem erbärmlichen Zustand vor. Die Fenster waren blind vor Schmutz und zerbrochene Dachziegel lagen verstreut vorm Hauseingang. Der früher sehr gepflegte Garten glich jetzt einem Urwald. Aus der Rasenfläche wuchsen neben verschiedenen Sträuchern und Stauden auch dünne Stämme von Nussbäumen, Eschen und Birken empor. Als er durch die quietschende Haustür in die muffig riechende Diele kam, sah er auf dem Telefontisch einen Briefumschlag liegen. Eine unerfreuliche Nachricht befürchtend, öffnete er den Umschlag und zog ein doppelt gefaltetes Blatt heraus. Sein Bruder Jakob hatte ihm geschrieben. Immer wieder las er den in sauberer Handschrift verfassten Text:

 

Lieber Oliver, ich habe dir großes Unrecht zugefügt, als ich dich wegen deiner Haftstrafe aus meinem Leben verbannte. Wegen meines gemeinen Verhaltens dir gegenüber möchte ich dich um Verzeihung bitten und hoffe, es dadurch wieder gut zu machen, indem ich auf mein Erbteil voll und ganz verzichte. Das Haus soll also dein alleiniges Eigentum sein. Das Bankguthaben unserer Mutter habe ich nicht angetastet, du musst noch einen Erbschein beantragen und alles Geld soll dann dir gehören. Wie du weißt, sind meine Frau Henriette und ich recht vermögend und es tut uns nicht weh, auf das elterliche Erbe zu verzichten. So hoffe ich, dass wir uns schon bald wiedersehen und du mir die böse Verschmähung, die ich dir angetan habe, verzeihen wirst.

Dein alter Bruder Jakob‹

 

Oliver musste den Brief zweimal lesen und konnte den Sinneswandel seines Bruders zunächst nicht fassen. Er empfand große Dankbarkeit, denn nun war er aller finanzieller Sorgen enthoben. Schon bald suchte er Jakob in dessen Einfamilienhaus in Memmingen auf, wo sich die Brüder versöhnten und ein glückliches Wiedersehen feierten. Sie berieten sich auch über Olivers Zukunft. »Du könntest doch eine Anwaltskanzlei aufmachen, die Fähigkeit dazu hast du ja«, schlug ihm Jakob vor. »Unser Elternhaus böte dir – zusammen mit Papas Tierarztpraxis – genügend Platz dafür. Und wohnen könntest du da ebenfalls.«

Diese Möglichkeit hatte Oliver noch gar nicht erwogen und dachte lange über Jakobs Vorschlag nach. Aber er hatte kein Interesse mehr an diesem Haus, schon wegen der zu erwartenden, hohen Instandsetzungskosten. Andererseits hatte er sich in der Allgäuer Provinz nie so richtig wohl gefühlt. Seit seiner Studienzeit war es immer sein erklärtes Ziel gewesen, sich später einmal in München niederzulassen. Außerdem war er vielen Einwohnern Sonthofens noch als Sohn des alten Tierarztes bekannt und musste befürchten, ständig und überall auf sein Schicksal angesprochen zu werden. Aber dann ließ er diese Bedenken doch fallen und mietete in Sonthofen ein gut eingerichtetes Ein-Zimmer-Appartement, um von dort aus den Verkauf des elterlichen Anwesens zu betreiben. Das Zimmer in dem Landgasthof bei Immenstadt gab er noch am gleichen Tag auf. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr ihm doch dieses – zwischen Immenstadt und Oberstdorf gelegene – Städtchen am Herzen liegt.

Schon bald hatte Oliver einen solventen Käufer gefunden. Da er nun über das erforderliche Kapital verfügte, erwarb er im Münchner Stadtteil Obermenzing eine Doppelhaushälfte. Die Vorbesitzer waren in die USA ausgewandert und so konnte er das wunderschön möblierte Haus zu einem äußerst günstigen Preis übernehmen. Somit war er auf einen Schlag alle Sorgen los und froh, endlich wieder ein normales Leben führen zu können. Nur unter der Einsamkeit litt er, denn das Schicksal hatte ihm nie die Gelegenheit geboten, sich nach einer passenden Frau umzusehen. Häufig begegnete er der bildschönen, etwa zwanzigjährigen Tochter des in der anderen Doppelhaushälfte wohnenden Ehepaars. Mit dem jungen Mädchen unterhielt er sich gern und machte sich bereits Hoffnungen. Aber diese zerplatzten wie eine Seifenblase, als er sie einmal Arm in Arm mit einem jungen Mann das Haus verlassen sah.

 

Das Fehlurteil und die erlittene Haftstrafe hatten Oliver psychisch stark belastet. Er war menschenscheu geworden und mied jedes Zusammentreffen mit früheren Freunden. Die Realisierung des Vorschlags seines Bruders, eine Anwaltskanzlei zu eröffnen, schob er immer wieder vor sich her. Ihm fehlte einfach der Mut, sich selbstständig zu machen. Er bewarb sich – leider erfolglos – bei einigen Rechtsanwälten, aber die störten sich an seiner Biografie. So bezog er zwei Jahre lang vom Jobcenter die ›Hartz IV‹ gennnte Grundsicherung.

Doch dann kam es zu einer schicksalhaften Begegnung, die sein Leben in beruflicher wie auch persönlicher Hinsicht total verändern sollte:

An einem lauen Sommerabend betrat er eine von zahlreichen Touristen besuchte Sonthofener Gaststätte. Er ging an einem Tisch vorbei, an dem sein damaliger Gegenspieler Roland Wagner saß. Dieser erkannte ihn sofort und bot ihm den Stuhl neben sich an. Oliver nahm das Angebot gern an, zumal alle anderen Plätze besetzt waren.

Oliver erfuhr zu seiner Überraschung, dass Wagner, dem er letztlich auch die Wiederaufnahme des Gerichtsverfahrens zu verdanken hatte, zwischenzeitlich zum Kriminalrat befördert und Leiter einer Dienststelle der Kriminalpolizei im Oberallgäu wurde. Wagner bemerkte den labilen Gemütszustand des vor vielen Jahren von ihm verhafteten und dann zu Unrecht verurteilten, wenn auch später rehabilitierten Mannes. Einer spontanen Eingebung folgend sah er ihn an und sagte augenzwinkernd:

»Komm doch zu uns, zur Polizei. So einen wie dich könnten wir gut brauchen. Du hast ja den Beweis erbracht, was für ein begnadeter Detektiv in dir steckt. Und außerdem wohnst du nicht weit von meiner Dienststelle, was ganz praktisch

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Claus H. Stumpff
Bildmaterialien: Jörg Brinckheger - pixelio.de Nr. 674183
Tag der Veröffentlichung: 28.01.2016
ISBN: 978-3-7396-3422-7

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