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Aus einem Tagebuch

 

Schon gleich dem Übertritt von der Grundschule ins Gymnasium waren sich alle Schüler in meiner Klasse einig in ihrer Abneigung gegen diesen Lehrer. Jeder von uns versuchte ihn zu ärgern, wo immer sich dafür eine Gelegenheit bot. Das lag nicht zuletzt an seinem äußeren Erscheinungsbild: Viel zu weite Jeans schlabberten um einen beinahe ekelhaft flachen Hintern. Ein eiförmiger Schädel mit Ansätzen einer Glatze und mit viel zu groß geratenen, weit abstehenden Ohren saß auf einem dünnen, dafür umso längeren Hals. Darüber hinaus verlieh ihm seine mit Sommersprossen übersäte Hakennase das Aussehen eines Gockels. Wenn er sich aufregte, hatte seine Stimme Ähnlichkeit mit den Krähversuchen eines pubertären Zwerghahns oder variierte – je nach Grad seines Wutanfalls – zwischen dem Gemecker einer Ziege und dem Gekläffe eines Straßenköters. Derart boshafte Vergleiche hatten uns stets größtes Vergnügen bereitet. Für weitere Belustigung sorgte schließlich sein Name: Er lautete nämlich Eugen Hamisch. Damit verband sich sofort die Assoziation zu dem bayrischen, wenig schmeichelhaften Adjektiv ›damisch‹. Bereits am ersten Tag verpassten wir ihm den Spitznamen ›Damischer Ritter‹, den er eine Zeit lang behielt.

   Dr. Eugen Hamisch war als junger Studienrat gleichzeitig mit uns Zehnjährigen an unsere Schule gekommen. Er unterrichtete in den Fächern Deutsch und Musik, jedenfalls unternahm er den löblichen, wenn auch aussichtslosen Versuch, uns für die Sprache der großen deutschen Dichter und die musikalischen Stilrichtungen vergangener Epochen zu begeistern. Im Jahr vor Eintritt in die Kollegstufe bekamen wir ihn leider als Klassenlehrer. Inzwischen hatte er es zum Gymnasialprofessor gebracht.

   Hin und wieder erlebten wir recht vergnügliche Unterrichtsstunden, wenn es uns nämlich gelang, seinen Ärger auf uns bis zur Weißglut aufzustacheln. Als einmal Freiligrats Ballade ›Prinz Eugen, der edle Ritter‹ durchgenommen wurde, brach unsere Klasse – wer konnte uns das verdenken – in schallendes Gelächter aus. An diesem Tag wurde der ›Damische Ritter‹ in ›Prinz Eugen‹ umbenannt. Und dabei blieb es dann auch.

Aber unser Missfallen an Prinz Eugen lag nicht ausschließlich an seinem karikaturistischen Äußeren. Daran hatten wir uns im Laufe der Jahre sogar gewöhnt. Nein, es war seine Ungerechtigkeit, speziell bei den Benotungen, die uns ständigen Frust bereitete und ihm unsere Missachtung eintrug. Vielleicht wollte sich dieser widerwärtige Typ an uns Schülern dafür rächen, dass er von der Natur nicht gerade mit übermäßiger Schönheit ausgestattet war. Was konnten wir denn dafür? Hätten wir uns einen so abstoßend hässlichen Lehrer ausgesucht? Nein, bestimmt nicht!

Eines der wenigen Highlights im Musikunterricht war unsere Klassenfahrt zu den Bregenzer Opernfestspielen, wo Mozarts Oper ›Die Entführung aus dem Serail‹ auf dem Programm stand. Als wäre es dieses musikalische Ereignis nicht wert gewesen, darüber im Unterricht sachlich zu diskutieren, wurde hier alles bis ins letzte Detail zerpflückt. Wir mussten einen Deutschaufsatz darüber anfertigen, was uns jede Erinnerung an die prachtvoll illuminierte Aufführung auf der Operninsel im Bodensee raubte. Ausgerechnet ich wurde dazu auserwählt, mein Essay vorzulesen und begann – nichts Böses ahnend – mit dem Satz: »Neulich machten wir eine Klassenfahrt zu den Bregenzer Festspielen ...«
   »Halt, halt!« kreischte Prinz Eugen dazwischen. »Bitte etwas korrekter ausdrücken! Was heißt hier ›neulich‹? Das Ganze liegt doch erst zehn Tage zurück. Das Wort ›neulich‹ verbindet man im Sinne der linguistischen Semantik mit ›zeitlich etwas zurückliegend‹ aber keinesfalls mit ›vor zehn Tagen‹. Besser würde sich hier die Präposition ›kürzlich‹ eignen. Dieses Thema hatten wir doch neulich schon ausführlich behandelt.«

Nun johlte die ganze Klasse und ich fiel in das heitere Gebrüll ein. Zynisch grinsend sah ich den Lehrer an und erwiderte:
   »Das war erst vorige Woche und nicht neulich, Herr Dr. Damisch, äh, Verzeihung, Hamisch natürlich.« Wieder brüllte die ganze Klasse. Prinz Eugen bekam einen hochroten Kopf und fuhr mich wütend bellend an:
   »Setz dich! Das hat noch Konsequenzen!«

Die ›Entführung aus dem Serail‹ hatte damit zwar ein unlöbliches Ende gefunden, nicht aber mein Groll gegen Prinz Eugen. Meine Versetzung in die Abiturklasse drohte an den miserablen Noten in den Fächern Musik und Deutsch, meinem Wahlfach, zu scheitern. Schuld daran war natürlich niemand anders als der verhasste Dr. Hamisch, der sich anscheinend für erlittene Unbill revanchieren wollte. Ich hätte den Kerl umbringen können, denn das schlechte Zeugnis warf meine ganze Zukunftsplanung über den Haufen. Der maßlose Zorn auf diesen widerlichen, total ungerecht benotenden Lehrer verfolgte mich nun sogar bis in meine tiefsten Träume.

Es geschah etwas Schreckliches, als ich im Stadtwald mein abendliches Joggingprogramm abspulte. Ich lief hinter einem Mann her, der sich in Wegesmitte mit Hilfe zweier Stöcke schwungvoll vorwärts bewegte, nur nicht ganz so schnell wie ich. Nach einer Weile hatte sich der Abstand zwischen uns so weit verringert, dass ich nach links zum Überholen ausscherte. Mein Herz pochte heftig, als ich erkannte, wem dieser dürre Hals und die abstehenden Ohren gehörten. Schräg von hinten fiel mein Blick auf die gebogene Nase. Kein Zweifel! Hier übte sich Prinz Eugen in Nordic Walking. Plötzlich überwältigte mich die Wut auf ihn; alles lief jetzt vollautomatisch ab, wie in einem Film. Ich war zu einem computergesteuerten Roboter geworden, der nichts anderes als einprogrammierte Befehle auszuführen hatte. Ich verlangsamte mein Lauftempo, schwenkte wieder nach rechts ein und näherte mich von hinten dem Mann, bis ich seinen keuchenden Atem hörte. Nun versetzte ich ihm mit beiden Fäusten einen gewaltigen Stoß. Er geriet ins Stolpern, ließ beide Stöcke fallen und stürzte kopfüber auf den sandigen Waldboden. Ein unglaubliches Siegesgefühl überfiel mich, als ich ihn lang ausgestreckt vor mir liegen sah. Schnell kniete ich mich über seinen Rücken und umfasste seinen Hals, der so dünn war, dass sich die Fingerspitzen meiner beiden Hände überlappten. Dann drückte ich lange und fest zu. Erst als er sich nicht mehr rührte, öffnete ich die Umklammerung. Ich drehte seinen Kopf zur Seite, aber nur so weit, dass er mich nicht erkennen konnte, sollte er doch noch am Leben sein. Aber Prinz Eugen war tot. Mausetot. Ich hatte ihn tatsächlich erwürgt. Wollte ich das wirklich? Ja! Ich war mir dessen absolut sicher.

Es dämmerte bereits und leichte Panik ergriff mich. Ich blickte mich nach allen Seiten um, aber anscheinend hatte es keine Beobachter dieses Vorfalls gegeben. Nachdem ich offensichtlich keine verräterischen Spuren hinterlassen hatte, beruhigte ich mich wieder. Es erfüllte mich mit Genugtuung, meinen Widersacher auf so einfache Weise losgeworden zu sein. Nie würde man mich des Mordes an Dr. Eugen Hamisch überführen können. Zufrieden eilte ich nach Hause.

   Am nächsten Morgen war ich schweißnass aufgewacht und hatte Gott dafür gedankt, alles nur geträumt zu haben.

   Das Abitur hatte ich schließlich – wenn auch erst ein Jahr später – mit Bravour geschafft. Nach und nach verblassten die Erinnerungen an meine Schulzeit unter der Last des Studiums.
   Eines Tages führte mich der Weg wieder an meinem damaligen Gymnasium vorbei. Es war um die Mittagszeit. Schüler und Lehrer strömten mir entgegen. Da! Schon von Weitem erkannte ich ihn: An dem eiförmigen Haupt, das nun allerdings von einer spiegelglatten Glatze gekrönt wurde, an den abstehenden Ohren und dem schlacksigen Gang. Dr. Hamisch kam direkt auf mich zu. »Sie sind doch ..., hm, lassen Sie mich mal raten!« Er sah mich freundlich lächelnd an. »Ich komme nicht drauf, bei den vielen Schülern, die ich hatte.«
   Ich nannte meinen Namen und freudestrahlend schüttelte er mir die Hand.
   »Ja richtig! Wie lange ist es her, seit Sie das Abi machten? Vier, fünf Jahre? Übrigens – schon neulich bemerkte ich Sie im Opernfoyer, als es ›Don Giovanni‹ gab. Die Schönheit an Ihrer Seite, war das Ihre Gattin?«
   Belustigt erwiderte ich: »Nein, meine Freundin. Aber das war nicht neulich, sondern schon vor einem guten Vierteljahr. Im Sinne der linguistischen Semantik würde ›vor einiger Zeit‹  wesentlich besser passen.“
   Ich hatte noch nie einen Menschen so herzhaft lachen hören wie in diesem Augenblick meinen ehemaligen, inzwischen etwas gealterten Lehrer. Schließlich meinte er:
   »Schon wieder haben Sie mich beim Schludern erwischt, genau wie damals, als Sie mich vor der Klasse in die Pfanne hauten! Aber wir Pauker sind halt auch nur Menschen. Als Lehrer fürchtet man nichts so sehr wie die Blamage.«

Ich sah ihn mir zum ersten Mal richtig an. Trotz seiner fortgeschrittenen Jahre besaß er strahlende, von Lachfalten umgebene Augen. Sein Teint war makellos und die Adlernase verlieh ihm etwas Aristokratisches. Der jetzt anscheinend glatt rasierte Kopf und die abstehenden Ohren passten gut zu seiner durchwegs ästhetisch wirkenden Erscheinung und drückten Lebenserfahrung und Würde aus. Das Alter hatte reichlich wettgemacht, was ihm in der Jugend versagt geblieben war.
   »Darf ich Sie zu einem Bierchen einladen?«, fragte er, als ich mich von ihm schon verabschieden wollte. »Vielleicht in den Biergarten dort drüben?«
   Ich überlegte kurz, willigte dann aber gern ein.

Noch lange saßen wir im ›Augustiner-Bräu‹ beisammen. Als ich verriet, welche Spitznamen ihm damals zuteil wurden, lachte er wieder:

»Das ist geradezu harmlos. Wenn Sie wüssten, welch schauderhafte Namen wir damals unseren Lehrern verpassten! Einmal verplapperte ich mich gegenüber meinem Geschichtslehrer und musste einen Verweis einstecken. Trotzdem bin ich inzwischen Leiter des Gymnasiums geworden.« Abermals strahlte er über das ganze Gesicht.
   Ich sparte nicht mit ehrlicher Bewunderung. »Tatsächlich? Seit wann denn?«, fragte ich.
  »Seit neulich!« antwortete er und sah mich schelmisch grinsend an.

Da konnten wir uns nicht mehr beherrschen und unser schallendes Gelächter erfüllte nun den riesigen Biergarten.

Bei frisch gezapftem Bier und knusprigen Brez’n wurde mir allmählich bewusst, was für ein großartiger und liebenswerter Mensch doch dieser Doktor Eugen Hamisch ist. Schade, dass wir damischen Jugendlichen das damals noch nicht erkannten.

 

Impressum

Texte: © Claus H. Stumpff - www.chsautor.de
Bildmaterialien: Claus H. Stumpff: Schulraum im ›Highland Folkmuseum‹ Newtonmore (Scotland)
Tag der Veröffentlichung: 24.12.2008

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