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„Hier Rot Drei. Die Sau direkt vor die Büchse gelaufen.“, sagte Miguel mit ruhiger Stimme in das winzige Mikrofon, das knapp unter seinem Kinn festgeklebt war, „Ich wiederhole, die Sau ist direkt vor die Büchse gelaufen.“
„Verstanden, Rot Drei.“, kam die schnarrende Antwort, „Rot Führer wird sich mit den anderen zurückziehen. Bringen Sie das Schiff in den Hafen.“
Miguel lächelte vor sich hin. Wie oft hatte er diesen Satz schon gehört. Das lag natürlich hauptsächlich daran, dass er der Beste war. Keiner konnte so effizient, so lautlos und so unauffällig morden.
Er lud klickend sein Barret und spähte dann durch das Visier.
Den Mann, den er erblickte, hatte er noch nie zuvor real gesehen, doch er entsprach den Aufnahmen der Überwachungsvideos, die er sich am Vortag angeschaut hatte.
Ohne Zweifel die Zielperson Angus Loyd.
Loyd hatte keine Ahnung, dass er sich gerade wortwörtlich im Fadenkreuz befand und nahm entspannt einen Schluck von seiner Cola. Er gurgelte ziemlich unappetitlich die Flüssigkeit hinunter, was ihm empörte Blicke von einer Dame mittleren Alters mit einem schwarz-weiß gefleckten Chihuahua auf dem Arm einbrachte. Doch Loyd kümmerte das nicht.
Miguel gönnte ihm noch einen Schluck von der Cola, dann zog er langsam den Abzug. Die Kugel sauste durch die Luft und bohrte sich perfekt in Angus Brust, sodass er, ohne noch einen Ton von sich geben zu können, zusammenbrach.
Die Frau mit dem Hund schrie panisch auf und eilte auf Loyd zu, doch Miguel kümmerte das nicht mehr. Er begann rasch, seinen kurzfristigen Arbeitsplatz abzubauen und machte sich dann eilig daran, zu verschwinden. Wenn ihn jetzt jemand erspähte, saß er in der Tinte.
Doch wie immer ging alles glatt. Miguel war ein Profi, ein profimäßiger Profi, dem keine Anfängerfehler passierten. Er warf kurz einen Blick zurück auf Loyd, den die Frau jetzt mit einer hoffnungslosen Herzmassage, die eher auf seinen Magen zielte, wieder zu beleben versuchte und sein Gesicht verzog sich amüsiert. Selbst wenn die Lady eine ausgebildete Notärztin wäre, würde sie es nicht schaffen, Loyd aus dem Reich der fliegenden Engel zurückzuholen.
„Hier Rot Drei, das Schiff ist im Hafen. Und zwar sowas von.“

Das Mädchen stand in der Tür. Die haselnussbraunen Augen fixierten ihn mit einem interessierten Blick. Sie machte einen Schritt und blieb dann stehen.
„Kann ich dir helfen?“
Ihre Stimme war so zart wie die einer Elfe.



Miguel schreckte hoch.
Es war heiß in seinem Zimmer und sein Oberkörper glänzte vor Schweiß.
Mit dem Laken strich er sich kurz über die Stirn, dann fischte er seine kleine, handliche Beretta unter seinem Kopfkissen hervor und legte sie auf seinen Nachtisch.
Das kleine Mädchen geisterte immer noch in seinem Kopf herum. Entnervt rieb er sich die Schläfen. Warum verfolgte sie ihn?
Nach einer kurzen Dusche schlüpfte er in sein klassisches Outfit, ein schwarzes Hemd und eine schwarze Hose, dann steckte er seine Beretta in den Bund seiner Hose und machte sich auf den Weg zur Arbeit.
„Gute Arbeit gestern, Rot Drei.“, begrüßte Rot Führer ihn lächelnd, als er das große Gebäude betrat.
„Danke Sir.“, sagte Miguel respektvoll, auch wenn es ihm nicht behagte, dem Mann zu danken. Wenn es eins gegen eins wäre, könnte er es locker mit ihm aufnehmen, doch in der Agentur zählte Erfahrung über Können.
Jedenfalls kam es Miguel so vor.
Er strich sich das dichte schwarze Haar aus der Stirn und machte sich auf den Weg zu Schwarz, dem Boss der Agentur. Gestern Abend hatte er ihm noch mitgeteilt, dass er einen wichtigen Auftrag für ihn hatte.
Miguel hoffte, dass er im Falle seines sicheren Erfolges aufsteigen würde und dann selber Rot Führer sein konnte.
Respektvoll legte er seine flache Hand auf seine Brust und verneigte sich, als er eintrat.
„Ah, Rot Drei.“ Schwarz strich sich über die dunklen Stoppeln, die sich zu wilden Mustern rasiert über seinen Kopf zogen. „Ich habe da einen etwas…nun ja, eklatanten Auftrag für sie.“
Miguel zog langsam die Augenbrauen hoch. Eklatant meinte meistens nichts Gutes.
„Es geht um ein Mädchen.“, berichtete Schwarz weiter, „Sie ist die derzeitige Freundin von dem Sohn eines unserer Kunden und dieser möchte sie nun…beseitigen.“
„Was?“, fragte Miguel überrascht und vergaß ganz, kühl und gelassen zu bleiben, „Warum das denn?“
„Angeblich ist sie seiner Meinung nach nicht gut für seinen Sohn.“, erklärte Schwarz, „Nun, jedenfalls ist es immer so eine Sache, junge und schöne Frauen zu ermorden, die eigentlich nichts getan haben. Deshalb dachte ich, dass Sie gut für diesen Auftrag geeignet sind.“
„Ich verstehe.“, Miguel nickte kurz. Es freute ihn, dass er sogar schon beim Boss für seine Kaltblütigkeit bekannt war.
„Die Kleine sollte möglichst rasch sterben.“, meinte Schwarz und seine Stimme nahm wieder einen geschäftlichen Klang an, „Kein unnötiges Blutbad, kein Aufsehen. Lassen Sie es wie einen Straßenüberfall aussehen, klauen Sie ihr die Handtasche und stechen Sie sie kurz und sauber ab.“
„Ein tragisches Unglück.“, Miguel nickte wieder.
„Hier habe ich noch ein paar Fotos.“, Schwarz wühlte in seiner Tasche und klatschte ein paar Blätter auf den Tisch, „Da haben wir die Kleine ja. Ihr Name ist Elena.“
Elena. Miguel hatte das Gefühl, als würde ihm ein schweres Gewicht in den Magen fallen. Mit zitternden Fingern nahm er die Blätter in die Hand und wagte kaum hinzusehen. Als er es doch tat, wurden seine schlimmsten Befürchtungen war.
Diese Stupsnase mit den Sommersprossen, die klugen haselnussbraunen Augen und das dunkle, lockige Haar waren unverkennbar. Sie schien die Kamera nicht zu bemerken, die sie verfolgte.
Auf einigen Fotos war sie beim Einkaufen im Supermarkt, eine große Handtasche schlackerte an ihrer Schulter und die Haare waren unordentlich hochgesteckt. Auf einem anderen Bild hielt sie lächelnd die Hand von einem durchschnittlichen Jungen, der offensichtlich der Sohn des Kunden war. Sie schien glücklich.
„Ohne dich ist sie besser dran.“, sagte eine leise Stimme in ihm, „Sie braucht dich nicht!“
Miguel blätterte weiter, stieß auf Fotos, die sie in einer blauen Schuluniform und beim Eis essen mit Freunden zeigten. Sie schien eine ganz normale Jugendliche, knapp sechzehn Jahre alt und mit keinen größeren Problemen als der Auswahl der täglichen Kleidung.
„Sie ist noch sehr jung.“, sagte er schließlich und bemühte sich, seine Stimme unter Kontrolle zu haben, „Und sehr hübsch.“
„Sie werden den Job doch gut erledigen, oder?“, Schwarz beobachtete ihn prüfend hinter seiner dicken Sonnenbrille.
„Natürlich.“, Miguel verneigte sich wieder und verließ dann rasch das Büro.
Elena, warum ausgerechnet Elena? Er konnte es nicht verstehen. Sie war doch so unschuldig, so freundlich und nett. Warum wollte ihr jemand Schaden zufügen?
Er dachte an Mora und das gemütliche, sonnengelb gestrichene Haus. Es schien ihm wie eine fremde, glücklichere Welt, die nur in seinen Träumen existiert hatte.
Schon hatte er mit zitternden Fingern sein Handy herausgeholt und die vertraute Nummer gewählt, aber dann holte ihn doch wieder die Vernunft ein. Es war sinnlos, jetzt Panik zu stiften. Er musste sich erst mal beruhigen.
Miguel stieg langsam in seinen schwarzen Sportwagen und fuhr in der Stadt herum, nur um nachzudenken. Elena… Er konnte sich nicht vorstellen, sie zu töten. Das wäre, als würde er sich selber töten. Schließlich verdankte er ihr sein Leben.
Wie von selbst fand sein Wagen den Weg zu der Straße, zu dem Haus. Er fuhr langsam daran vorbei, sah, dass die Wände von sonnengelb zu einem hellen Rosa umgestrichen worden waren und ein fremdes Kind im Garten spielte. Stirnrunzelnd fuhr er nochmal daran vorbei. Das Kind, ein kleiner Junge, stolperte unbeholfen durch das Gras und versuchte, einen kleinen Ball in seinen Händen auszubalancieren, was ihm nicht gelang. Von Elena keine Spur, auch Mora schien nicht anwesend zu sein. Das Schild auf der Tür war auf eine gewisse „Familie Sandos“ ausgestellt. Der Name sagte Miguel überhaupt nichts.
Langsam begann er zu begreifen, dass der Traum, den er sich in all den Jahren aufrecht erhalten hatte, schon längst zerfallen war. Mora, Elena, das Haus, nichts war mehr so, wie er es verlassen hatte.

An einem Tisch saß eine alte Frau. Sie blickte verwundert von ihrer Handarbeit auf, als das Mädchen mit ihm eintrat.
„Yaya, er braucht Hilfe.“, erklärte das Mädchen schlicht und zerrte ihn mit sich, „Er war da draußen ganz alleine.“
„Wo sind denn deine Eltern?“, fragte die alte Frau.
„Tot.“, sagte er leise, „Ich lebe auf der Straße.“
Die Frau lächelte milde. „Du wirst sie wiedersehen.“
Dann strich sie ihm über das Haar.



Miguel betrachtete die sorgfältig ausgeklügelten Instruktionen, die er soeben zugestellt bekommen hatte. Er sollte Elena auf den Weg zur Schule überfallen, ihr rasch ein Messer ins Herz rammen und dann wieder verschwinden. Ein Straßenplan zeigte die genaue Stelle, wo Elena jeden Morgen vorbeikam und eine Zeitleiste dokumentierte klar den Ablauf.
Miguel durchblätterte wieder die Fotos und versank in einer Nahaufnahme von Elena, die ihr bezauberndes Lachen zeigte. Ihre perfekten roten Lippen waren nach oben geschwungen und Miguel konnte sie praktisch hören.
Sanft strich er mit dem Finger über das Foto und dachte an die Zeit zurück, wo er jeden Tag ihr Lachen hörte. Ihre Stimme, die zu ihm sprach. Ihre Hände, die ihn beiläufig berührten. Ihre Haare, die wie eine Fahne hinter ihr her wehten und ihren süßen Duft verströmten.
Miguel wusste nicht mehr, was er tun sollte, was er tun wollte. Er wusste nur, dass er in der Zeit reisen wollte. Zurück zu dem Jahr, wo alles perfekt gewesen war.
Langsam ging er den Flur entlang und stieg in seinen Wagen. Er musste Elena finden. Sie sehen. Dann, so hoffte er, würde er die richtige Wahl treffen.
Vor ihrer Schule machte er halt und starrte stumm auf das Tor. Eine Menge Schülerinnen in Uniformen strömten hinaus, schnatterten wild miteinander und kümmerten sich nicht um den schwarzen Wagen, der unauffällig an der Ecke geparkt war.
Nach einer Weile erblickte Miguel auch Elena. Ihr Gesicht strahlte, während sie etwas ihren Freundinnen erzählte und dabei wild mit den Armen gestikulierte. Die langen schwarzen Haare fielen zerzaust um ihre Schultern und sie trug kaum Make-Up. Trotzdem war sie wunderschön. Sie sah aus wie das blühende Leben und Miguel fühlte sich absolut schrecklich, wenn er daran dachte, dass er dieses Leben auslöschen sollte. Warum ausgerechnet Elena?
Plötzlich blieb sie stehen und runzelte die Stirn. Ihr Blick bohrte sich in das schwarze Auto und fand sein Gesicht. Miguel war zu erschrocken, um sich zur Seite zu drehen oder wegzuschauen, er konnte sie nur anstarren.
Ihre Augen weiteten sich und sie schien fassungslos.
„Geht ihr schon mal vor, ich muss noch etwas…erledigen.“, sagte sie mit zittriger Stimme zu ihren Freundinnen, dann ging sie langsam auf das Auto zu.
Miguel spielte mit dem Gedanken, Gas zu geben und wegzufahren, doch die Straße war verstopft von lauter Eltern, die ihre Kinder unbedingt direkt vor dem Schultor abholen mussten.
Elena klopfte zaghaft gegen die Scheibe und fragte dann leise: „Miguel? Bist du das?“
Ihre Stimme klang noch genauso wie damals. Zart und sanft, wie die einer Elfe.
Er fuhr das Fenster herunter und starrte sie an.
„Miguel!“, sagte sie und klang freudig überrascht, „Ich hätte nie damit gerechnet, dich jemals…ich meine, ich weiß, wie schwer es für dich…Wahnsinn, was für eine Überraschung!“
Sein Fuß fand von ganz allein das Gaspedal und er fuhr langsam los.
„Warte!“, rief Elena, „Wir müssen reden!“
Er kämpfte mit sich selber. Sollte er etwas sagen? Sie warnen? Dafür sorgen, dass sie überlebte? Dann könnte er seinen Job vergessen. Aber sie….
Elena rannte nun neben dem Wagen her. „Sag doch was! Warum ignorierst du mich? Warum bist du weggelaufen? Mora und ich…“, sie schluckte, „Wir haben dich sehr vermisst!“
„Wo ist Mora?“, fragte Miguel schließlich.
„Tot. Ungefähr ein Jahr nachdem du weg warst ist sie gestorben.“, kleine Tränen traten ihr in die Augen, doch sie wischte sie energisch weg.
„Wo lebst du denn dann?“, erkundigte sich Miguel wie beiläufig, obwohl er es bereits wusste.
„Im Waisenhaus.“, erklärte Elena, „Es ist schrecklich dort! Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurück drehen.“
„Ich auch.“, sagte Miguel und drückte das Gaspedal durch, „Aber das geht leider nicht.“
Der Ausflug hatte gebracht, was er sich erhofft hatte. Er hatte seine Entscheidung getroffen.

Miguel spürte sein Messer, das sich bei jedem Schritt an seinen Oberschenkel drückte. Er versuchte es zu ignorieren und zog an den Riemen seines Rucksacks, damit er enger saß. Heute war der Tag der Tage, der Tag, an dem sich alles entscheiden würde.
Die Straße schien wie ausgestorben, doch er wusste, dass Elena bald hier sein wurde. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es genau 7:35 Uhr war. Noch zehn Minuten.

Elena schnappte sich eilig ihre Tasche und schlüpfte in ihre roten Turnschuhe, während sie ihre Frisur in einem Wandspiegel überprüfte.
„Heute gehst du aber nicht wieder zu deinem Freund!“, erklärte die Hausmutter streng, „Du musst deine Hausaufgaben erledigen!“
„Ja, ja.“, sagte Elena beiläufig. Bloß weil die Hausmutter niemals einen Mann haben würde, musste sie nicht gleich so streng mit den Mädchen sein. Jedoch hatte Elena gar nicht vorgehabt, sich mit ihrem Freund zu treffen. Ihre Gedanken schweiften immer wieder zu Miguel, wie er gestern vor ihrer Schule in seinem Auto gesessen hatte. Sein Blick war irgendwie gequält gewesen und Elena brannte darauf, den Grund zu erfahren. Sie würde ihn heute suchen und finden, das schwor sie sich. Aber jetzt stand erst mal die Schule an.
Leise vor sich hin summend schlenderte sie aus dem Haus. Dieser Tag würde ein guter Tag werden, sagte sie sich. Ein guter Tag.

Schwarz trommelte ungeduldig mit den Fingern auf seinem Schreibtisch herum. Er wusste nicht warum, aber irgendwas beunruhigte ihn. Heute würde Rot Drei diese Göre umbringen. Dann hatte er wieder einen erfolgreichen Auftrag unter Dach und Fach. Das war doch ein Grund zur Freude! Warum also hatte er so ein ungutes Gefühl dabei?
Nachdenklich scrollte er durch die Personalakte von Rot Drei und suchte nach Hinweisen. Er war schon fast am Ende angelangt, als ihn ein Punkt plötzlich stutzen ließ. Verblüfft las er die Zeile nochmal. Ihm wurde plötzlich ganz flau. Er hatte einen Fehler begangen. Einen großen Fehler.
Hastig sprang er auf und stürmte aus dem Haus.

Miguel sah durch sein Fernglas, wie sich Elena um die Ecke näherte. Mit dem kirschroten Mantel und den farblich passenden Turnschuhen war sie kaum zu übersehen und zog auch die Aufmerksamkeit einer Gruppe junger Männer auf sich, die ihr hinterher pfiffen.
Elena kümmerte sich nicht darum und versuchte, ihr Haar mit ihren Händen zu glätten. Sie schien völlig unbekümmert und ahnungslos, was sie gleich erwarten würde. Was er gleich tun würde. Nervös wischte er sich die Hände an der Hose ab und stopfte das Fernglas zurück in seinen Rucksack. Alles war bereit.

Elena dachte nicht mehr an Miguel, während sie so die Straße entlang schlenderte, bis er plötzlich vor ihr stand.
„Miguel!“, rief sie überrascht und starrte ihn an. Was machte er hier? Hatte er auf sie gewartet? Wollte er vielleicht doch reden?
Sein Gesicht war ernst, als er so auf sie zutrat. Elena glaubte, in seinen Augen ein rotes Funkeln zu erkennen.
„Miguel?“, fragte sie noch mal, diesmal etwas leiser.
Er starrte sie an und plötzlich spürte Elena, wie sie leichte Angst bekam. Hatte er schon immer diesen kalten Ausdruck in seinen Augen gehabt? Vorsichtig trat sie einen Schritt zurück und umklammerte ihren Oberkörper reflexartig mit den Armen.
„Was ist?“, Miguels Lippen verzogen sich zu einem kaum merklichen Lächeln, „Hast du etwa Angst vor mir?“
Elena wurde plötzlich bewusst, dass sie sich in einer abgelegenen Gasse befanden und kein Mensch in ihrer Nähe war. Niemand würde sie schreien hören.
„Ja…“, flüsterte sie.
„Das solltest du auch.“, meinte Miguel langsam.

Miguel befand sich nur noch wenige Zentimeter von Elena entfernt und konnte ihre Panik förmlich spüren. Sie zitterte leicht und ihre Augen weiteten sich.
Jetzt war der Zeitpunkt gekommen. Er musste es tun.
Rasch packte er sie an den Schultern und drängte sie gegen die Hauswand.
Elena schrie erschrocken auf und versuchte sich loszumachen, doch sie war nur ein Mädchen und hatte gegen ihn keine Chance.
„Elena!“, sagte er eindringlich zu ihr, „Hör mir zu. Du bist in großer Gefahr!“
„Was?“, japste Elena und hörte auf zu zappeln, „Was sagst du da?“
„Sie wollen dich töten…“, erklärte Miguel leise, „Sie wollen, dass ich dich töte…aber das würde ich nie zulassen.“
„Wer sind ´sie´?“, fragte Elena.
„Das spielt keine Rolle.“, sagte Miguel eindringlich, „Sie wollen dich töten, wegen deinem Freund. Sein Vater will dich beseitigen.“
Elena nickte plötzlich ernst. „Das habe ich mir schon fast gedacht.“
„Warum?“, fragte Miguel überrascht.
„Er hat mich erwischt, wie ich Pläne in seinem Büro gelesen habe.“, berichtete Elena rasch, „Sie gingen um irgendwelche Drogen, ich habe sie nicht ganz verstanden.“
„Elena, du musst verschwinden!“, sagte Miguel und schnallte seinen Rucksack ab, „Hier drinnen ist alles, was du brauchst. Kauf dir ein Zugticket und fahr weg. Schneide dir die Haare ab oder färbe sie blond. Ich habe dir einen gefälschten Pass ausgestellt, zusammen mit einer Adresse, wo du Hilfe finden wirst.“
„Warum tust du das alles für mich?“, fragte Elena.
„Du bist die Einzige, die ich noch zu sowas wie meiner Familie zählen kann.“, sagte Miguel.
Elena starrte ihn plötzlich wieder angsterfüllt an. Doch ihr Blick richtete sich nicht auf sein Gesicht. Sondern auf einen großen Schatten hinter ihm.

„Rot Drei.“, sagte ein fremder Mann zu Miguel. Seine Stimme klang ganz ruhig, doch seine Augen blitzten.
Elena wich erschrocken zurück. Wer war der Mann? Was wollte er von Miguel?
„Schwarz.“, Miguel verneigte sich kurz und machte eine komische Geste mit seiner Hand. „Ich bin gerade dabei, den Auftrag zu erfüllen.“
„Das Mädchen zu retten?!“, Schwarz zog spöttisch eine Augenbraue hoch. „Erst jetzt wird mir klar, dass ich es schon früher hätte wissen müssen. Ihre Vergangenheit ist ein einziges Rätsel, bis auf die Tatsache, dass Sie in Ihrer Schule eine Adresse angegeben hast, wo angeblich ihre Großmutter wohnte. Und dass in diesem Haus noch ein Mädchen lebte. Elena.“
Miguel trat langsam einen Schritt zu ihr heran und bedeckte sie. „Sie ist unschuldig. Lass sie gehen.“
Schwarz schnaubte. „So loyal stehst du also zu uns.“
„Ich lasse nicht zu, dass ihr sie tötet.“, erklärte Miguel fest.
„Dann ist das Verrat.“, Schwarz betrachtete ihn mit einem fast mitleidigen Blick.
Elena bekam gar nicht mit, wie schnell er sein Messer gezogen hatte, doch Miguel war schon bereit. Er schubste Elena hart zu Seite, während er sich auf den riesigen Mann stürzte.
„Lauf!“, schrie er ihr zu und verpasste Schwarz einen harten Karateschlag in den Magen, der ihn kaum zusammenzucken ließ.
Elena krabbelte auf allen vieren zum Rand der Gasse und betrachtete die Männer, die sich am Boden wälzten. Miguel tat das alles nur für sie. Damit sie überlebte.

Es sah schlecht aus. Schwarz war unglaublich kräftig und in Kampfsport ausgebildet. Er schaffte es, Miguel in ein Eck zu drängen und ihm so zuzusetzen, dass er Blut spuckte. Doch Miguel wusste, dass er es schaffen musste. Für Elena.
Mit einem Satz stürzte er auf Schwarz. Durch den Überraschungseffekt konnte er diesen überrumpeln und zu Boden drücken. Doch Schwarz hatte sich gleich wieder gefasst und stieß mit seinem Messer zu, das tief in Miguels Brust eindrang.
Miguel lächelte, auch wenn der Schmerz ihn zusammenfahren ließ. Schwarz war auf seine Falle hereingefallen. Die Hand, die eigentlich seine Brust schützte, war jetzt weg und Miguel konnte nun sein Messer in dessen Brust rammen.
Beide Männer gingen zu Boden, blutend und verletzt. Tödlich verletzt.
„Miguel!“, schrie eine Stimme.
Er versuchte durch die zunehmende Schwärze etwas zu erkennen. Lange Haare strichen ihm über die Haut und weiche Hände umfassten sein Gesicht, drückten auf seine Wunde und versuchten vergeblich, das viele Blut zu stoppen.
Elenas Gesicht schob sich durch das Meer aus Farben und Formen. Tränen rannen ihr über die Wangen.
„Du musst durchhalten. Ich rufe einen Krankenwagen!“, sprudelte es aus ihr heraus.
„Nicht…“, krächzte Miguel, „Du musst gehen. Es ist deine…einzige Chance…“
Sie starrte ihn stumm an. Miguel wusste, dass sie nicht dumm war. Sie würde das Richtige tun.
„Du kommst in den Himmel, das weißt du?“, wisperte sie ihm zu.
„Das hoffe ich.“, Miguels verzog sein Gesicht, als er zu lächeln versuchte.
Er hatte die richtige Entscheidung getroffen.

„Kann er bei uns bleiben, yaya, bitte?“, fragte das kleine Mädchen flehentlich und umklammerte seine Hand, „Ich habe doch sonst niemanden zum Spielen. Und er ist da draußen auch ganz alleine.“
„Willst du denn?“, fragte ihn die alte Frau.
„Wenn ich darf.“, sagte er schüchtern.
Sie lächelte. „Natürlich. Bei uns wirst du es gut haben. Du wirst ein Dach über dem Kopf haben und mit meiner Enkelin zusammen in die Schule gehen. Ihr werdet euch gut verstehen.“
Sie strich dem Mädchen über den Kopf.
Er wusste, dass er hier nicht für immer bleiben konnte. Dass er eines Tages wieder gehen musste. Denn er wollte seinen Weg finden, reich werden und alle armen Leute retten. Doch für eine Weile konnte er hier bleiben.
Das Mädchen zerrte ihn in dem sonnengelben Haus nach oben.
„Komm schon, ich zeige dir mein Zimmer.“, sie schien ganz aufgeregt, „Ich bin übrigens Elena.“
„Miguel.“, sagte er leise, „Ich heiße Miguel.“


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Tag der Veröffentlichung: 01.05.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Mein Beitrag für die dritte Runde des Kurzgeschichtentuniers

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