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Zeitreise




Der Professor nahm sorgsam die kleine Mutter in seine Finger und schraubte sie langsam auf die dazugehörige Schraube. Dann trat er einen Schritt zurück und atmete tief ein. Jetzt, nach über zehn Jahren war sein Werk endlich vollendet. Sie war vollendet. Die Maschine, die sein Leben verändert hatte und verändern würde. Seine Zeitmaschine. Durch die intensive Arbeit mit ihr war sie ihm sehr vertraut geworden und er nannte sie liebevoll Marie. Für Andere klang es vielleicht ein wenig makaber, doch seit er von der dramatischen Geschichte der Marie Antoinette erfahren hatte, war es sein sehnlichster Wunsch, ihrer Hinrichtung beizuwohnen. Er wollte ihr hübsches Gesicht in den letzten Sekunden ihres aufregenden Lebens sehen. Und als ihm dann die Pläne für den Bau einer Zeitmaschine in die Hände gefallen waren, ging sein sehnlichster Traum in Erfüllung. Er würde Marie Antoinette sehen.
Der Professor begutachtete die Maschine noch ein letztes Mal, dann breitete er sorgfältig ein großes, dunkelblaues Tuch darüber und verschloss die Tür hinter sich. Er nahm seinen dunkelbraunen Mantel und knöpfte ihn gewissenhaft zu, dann setzte er seinen schwarzen Hut auf und trat aus dem Haus. Es war ein sonniger Herbsttag, das Laub flog über die Straße. Der Professor schritt zügig den Weg entlang und betrat den Park.
An den Steinbänken um die kaum benutzte Feuerstelle hatten sich bereits zahlreiche Personen gesellt.
„Hallo.“, sagte der Professor und setzte sich dazu.
„Hi Prof.“, grüßte ihn die Menge.
Die Punkerin Angel wollte dem Professor eine Zigarette aufdrängen, die er dankend ablehnte.
„Ich habe heute mein Projekt beendet.“, erklärte er aufgeregt.
„Was’n für ein Projekt?“, Zeke fuhr sich verschlafen über die Augen. Er legte einen Arm um Angel und musterte den Professor etwas ziellos. „Arbeiten sie an etwas, Prof?“
„Seine Zeitmaschine!“, erinnerte der alte Herr Rolander Zeke mahnend, „Daran tüftelt er doch schon seit Jahren.“
„Heute habe ich sie vollendet.“, berichtete der Professor weiter mit stolzerfüllter Stimme, „Marie ist einfach perfekt geworden. Genauso, wie ich sie mir erträumt habe.“
„Was wollen sie jetzt mit der Zeitmaschine anfangen?“, fragte Schmidt interessiert. Seit jeher hatte er das größte Interesse an der Zeitmaschine gezeigt, höchstwahrscheinlich deshalb, weil er auch fest davon überzeugt war, dass unsichtbare Waldelfen den Park bevölkerten.
„Ich reise nach Frankreich, zu Marie Antoinettes Hinrichtung.“, der Professor bekam ganz leuchtende Augen, als er davon sprach, „Das wird ein unglaubliches Spektakel.“
„Ich weiß nicht, ob eine Hinrichtung so spannend ist.“, bemerkte Angel trocken und fischte eine Dose Erbsen aus ihrer Jackentasche, die sie kurz in die Flammen hielt und dann vor sich hin löffelte.
„Für meine Mission brauche ich auch Begleiter.“, sprach der Professor jetzt das Thema an, warum er überhaupt in den Park gekommen war, „Meine Freunde, möchtet ihr mit mir kommen?“
Zeke musterte den Professor kurz, dann fragte er: „Was springt dabei für uns raus? Kriegen wir Geld oder so?“
„Nun, ihr seid nachher um viel Erfahrung reicher.“, meinte der Professor leichthin.
Zeke schien nicht überzeugt. „Können wir auch Sachen aus der Vergangenheit einsacken?“
„Das dürfte eigentlich kein Problem sein.“, sagte der Professor nach kurzem Überlegen.
„Haben sie die Risiken auch ganz genau überprüft?“, mischte sich jetzt Angel ein.
„Alles ist komplett Risikofrei!“, bestätigte der Professor.
„Könnten wir nicht lieber zu einem Elvis-Konzert?“, fragte Schmidt dazwischen, „Ich habe gehört, dass bei einem Konzert Aliens aus einer fernen Galaxie kamen, um zuzuhören. Wir könnten sie fragen, ob sie eine Nachricht aus der Zukunft für uns haben!“
Der Professor überging dieses Kommentar und wandte sich nun Herr Rolander zu. „Wollen sie uns auch begleiten?“
„Jungchen, auf meine alten Tage würde ich sie sogar mit zum Urknall reisen.“, sagte Herr Rolander, „Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob die Zeitmaschine mein Gewicht aushält.“
Er tätschelte ein wenig schuldbewusst seine füllige Taille.
„Das klappt schon.“, der Professor war sehr erfreut, „Dann machen wir uns mal auf den Weg!“
Angel zog Zeke von seiner Bank und trottete neben dem Professor her zu seinem Haus, Schmidt und Herr Rolander bildeten das Schlusslicht.
In dem Keller des Professors bauten sich alle angemessen interessiert um das blaue Tuch herum auf und starrten das ihnen noch verborgene Gerät an.
„Prof.“, bemerkte Zeke plötzlich, „Tut mir leid, aber ich spreche kein Französisch. Ich habe die Schule geschmissen, bevor wir es bekommen haben.“
„Das ist kein Problem.“ Der Professor pfriemelte eine kleine Schachtel aus seiner Jackentasche und verteilte an jeden Teilnehmer eine kleine, rosarote Tablette.
„Was ist das?“, fragte Zeke misstrauisch, „Sieht aus wie Ecstasy oder so. Wollen sie uns unter Drogen setzen, damit wir nicht so aufgeregt sind? Kein Schlechter Plan, würde ich sagen.“
„Das ist eine Übersetzertablette.“, erklärte der Professor geduldig, „Sie ermöglicht es uns, jeder Sprache dieser Welt zu verstehen und fließend zu sprechen.“
„Und das funktioniert?“, Angel knabberte an ihrer Tablette, „Schmeckt nach Erdbeere.“
„Das ist ein beigemischter Geschmacksstoff.“, meinte der Professor und rückte mit einer Truhe an, „Jetzt müssen wir uns nur noch richtig kleiden, dann kann es losgehen.“
„Wieso, was ist denn falsch an uns?“, fragte Schmidt überrascht.
Der Professor ließ seinen Blick über die zerrissene und zerfetze Kleidung der beiden Punks Angel und Zeke gleiten, dann musterte er Schmidts Mischung aus Tweedjacket und weißer Röhrenjeans, beides aus der Altkleidersammlung, und schließlich warf er noch einen kurzen Blick hin zu Herr Rolander, der einen alten Hosenanzug mit ausgebeulten Knien trug.
„Sie würde einfach nicht in die Zeit passen, welche wir nun aufsuchen werden.“, sagte der Professor. Genaugenommen passte die Kleidung auch nicht wirklich in die heutige Zeit, aber das verschwieg der Professor wohlweißlich.
Angel stöberte in der Truhe und förderte ein prächtiges Kleid aus bestickter dunkelgrüner Seide hervor. „Darin sehe ich doch aus wie eine Trulle.“
„Damals sahen alle aus wie Trullen.“, meinte Zeke achselzuckend und stieg in einen schwarz Samtanzug, dessen Hosen ihm bis zu den Knien reichte und zu dem auch ein Spitzenverziertes schwarzes Hemd gehörte, in das er grinsend schlüpfte und zurecht rückte. „Ich finde, ich sehe klasse aus.“
Angel verdrehte nur die Augen und band sich etwas unbeholfen das Mieder, bis der Professor ihr zur Hilfe eilte.
Herr Rolander hatte sich schon wie selbst verständlich die schwarzen Lederschuhe geschnürt und sich die weiße Perücke aufgesetzt, so dass er jetzt wie ein waschechter Mann des 18. Jahrhunderts aussah. Schmidt hatte ebenfalls unter der Anleitung des Professors die richtige Kleidung angelegt und lehnte jetzt abwartend an der immer noch verborgenen Zeitmaschine.
Die Anderen halfen Angel, die Haare unter einer aufwändigen Perücke zu verstecken, denn obwohl damals tagsüber bei jungen Mädchen nicht besonders üblich war, eine Perücke zu tragen, sah der Professor kaum eine andere Möglichkeit, um das leuchtend lila gefärbte Haar zu verbergen.
Am Ende schafften sie es doch alle, reisefertig zu sein, obwohl sie eine etwas komische Gruppe abgaben, die beiden Siebzehnjährigen Angel und Zeke in Begleitung von Schmidt, der Ende Zwanzig war, sowie der 53-jährige Professor und der Anfang Siebzigjährige Herr Rolander.
„Dann wagen wir es.“, der Professor fasste das Tuch und zog es ruckartig nach unten.
Die Anderen starrten eine Weile stumm die Maschine an, dann sagte Angel zaghaft: „Das ist ein...Aufzug, oder?“
„Nein“, Der Professor war entrüstet und tätschelte Marie kurz, „Marie sieht auf den ersten Blick vielleicht aus wie ein Aufzug, aber sie ist eine Zeitmaschine. Man geht in sie hinein und fährt dann in das Jahr, in das man hinwill.“
Angel zog die Augenbrauen hoch und betrat allen voran mit ihrem rauschenden Kleid die Zeitmaschine. Die Anderen folgten ihr mit großen Augen, ausgenommen natürlich der Professor und Schmidt, welcher alles musterte und hin und wieder: „Hab ich’s mir doch gedacht.“ Oder „Genauso würde ich es auch machen.“, murmelte.
Der Professor bediente währenddessen die Knöpfe an der Wand. Anstatt der üblichen Anzeigen wie „erster Stock“ oder „Erdgeschoss“ befand sich hier ein kleines Tastenfeld mit Datum und Uhrzeit, daneben eines, in dem man die Koordinaten eingeben konnte. Der Professor gab die Werte ein, die er schon seit Jahren mit sich herumschleppte und er glaubte, dass in seine Glückseligkeit jeden Moment außer Gefecht setzen konnte, deshalb beherrschte er sich ein wenig.
Als er auf den Startknop drückte, machte die Zeitmaschine einen kleinen Ruck, dann bewegte sie sich wie ein ganz normaler Aufzug nach unten.
„Was würde passieren, wenn wir nach oben fahren würden?“, fragte Zeke.
„Dann würden wir in die Zukunft reisen.“, erklärte der Professor, „Maries Prinzip ist ganz einfach, sie fährt eine senkrechte Zeitleiste entlang und auf dem Nullpunkt befinden wir uns im Moment.“
„Wenn wir zurück kommen, ist dann viel Zeit vergangen?“, hakte Zeke nach.
„Überhaupt keine.“, sagte der Professor, „Wir entfernen uns ja aus der aktuellen Zeit und kehren dann wieder zu ihr zurück.“
„Krass.“, Zeke klopfte dem Professor begeistert auf die Schulter, „Sie sind echt ein Genie, Prof.“
Der Professor versuchte nicht allzu geschmeichelt auszusehen und winkte bescheiden ab. „Im Grunde könnte das jeder hinbekommen, wenn er sich intensiv mit den Strahlen beschäftigt, die…“
„Schon gut.“, Herr Rolander klopfte genervt mit seinem Gehstock auf den Boden, „Jungchen, meine Zeit ist knapp begrenzt, also beschleunige das Teil mal!“
„Tut mir Leid, aber durch die Zeit zu reisen erfordert eine Menge Energie.“, sagte der Professor leicht pikiert, „Das dauert schon mal bis zu fünf Minuten.“
Genau in diesem Moment machte der Aufzug einen Ruck und kam polternd zum Stehen.
„Na wer sagt’s denn.“, der Professor lächelte erfreut, „Wir sind angekommen.“
„Ich glaube, ich bleibe lieber hier drinnen.“, kam es unvermittelt von Angel, „Ich möchte in einem fremden Jahrhundert nicht als erstes den Kopf einer Frau rollen sehen.“
„Keine Sorge.“, sagte der Professor, „Marie Antoinette wird erst morgen hingerichtet. Ich dachte, einen Tag zur Eingewöhnung würde uns ganz gut tun.“
Schmidt trat begeistert vor. „Na dann rein in die die gute Stube!“ Er drückte auf den gekennzeichneten Knopf und die Türen des Aufzugs öffneten sich.
Alle sperrten begierig die Augen auf, um ja nichts zu verpassen, doch sie wurden von gähnender Leere erwartet.
„Wo sind wir?“, fragte Zeke verblüfft, der als erster seine Sprache wieder gefunden hatte.
Er machte einen Schritt vor und inspizierte seine Umgebung. „Ist das eine Scheune?“
„Fast.“, der Professor trat nun ebenfalls aus der Zeitmaschine und half Angel, die Schwelle in ihrem bodenlangen Kleid zu überwinden.
„Wird sie hier hingerichtet?“, fragte Schmidt begierig, „Haben die damals Leute in einer Scheune umgebracht? Ist ja irre!“
„Natürlich nicht.“, der Professor zog die Augenbrauen hoch, „Ich habe einen Stadtplan von der damaligen Zeit studiert und diesen leer stehenden Schuppen im Zentrum von Paris gefunden.“
„Und wie sollen wir in dieser Zeit überleben?“, Angel zog fragend die Augenbrauen hoch, „Krankheiten sowie mangelnde Hygiene überall, an jeder Straßenecke lauern gefährliche Killer und…“, sie holte tief Luft und wollte fortfahren, doch der Professor unterbrach sie.
„Angel, ich habe jahrelang auf diese Mission hingearbeitet.“, erklärte er ihr ruhig, „Glaubst du wirklich, du hättest irgendeiner Gefahr zu fürchten, wenn ich dabei bin?“
„Vor der Pest können sie mich auch nicht retten.“, sagte Angel.
„In diesem Jahr gab es in Paris keine Pest.“, sagte der Professor.
„Das sagen sie!“, Angel schnaubte, „Vielleicht hat es nur keiner aufgeschrieben.“
„Kindchen, die Aufregung ist das, was hier den Spaß ausmacht!“, rief Herr Rolander und knuffte Angel in die Seite.
„Können wir dann mal?“, Schmidt stand voll überschlüssigem Tatendrang vor der Tür und wartete nur auf den kleinsten Befehl, sie aufzustoßen.
„Ich denke schon.“, der Professor kümmerte sich nicht mehr um Angel, sondern nahm einen konzentrierten Gesichtsausdruck an, „Und vergesst nicht, verhaltet euch ganz normal und überhöflich!“
„Aber sicher doch!“, Schmidt öffnete strahlend die Tür und trat hinaus in die Sonne. Er befand sich auf einer eher verlassenen Seitenstraße, die gerade noch genug Licht von der langsam schwindenden Herbstsonne abbekam. Schmidt drehte sich einmal im Kreis, grinste vor sich hin und wandte sich dann einer Gruppe junger Frauen zu, die gerade mit gehetzten Schritten durch die Gasse eilten. Sie trugen einfache, aus Leinen gewebte Kleidung und hatten das Haar unter einfältigen Hauben verborgen.
„Offensichtlich Dienerinnen.“, bemerkte der Professor leise.
Schmidt schien sich daran nicht zu stören. Großen Schrittes näherte er sich der Gruppe und begann auch schon, mit lauter Stimme zu tönen: „Guten Tag, meine Damen! Mein Name ist Sebastian Schmidt und ich freue mich, euch kennen zu lernen!“
Die Frauen starrten ihn eine Weile tonlos an, dann versank die Vorderste in einen tiefen Knicks. „Sehr erfreut, Monsieur.“ Sie schüttelte ihr langes, dunkelbraunes Haar und warf ihm einen fragenden Blick zu, „Was treibt ein Herr euren Standes in diese Gasse?“
„Mein Hund ist mir abgehauen.“, sagte Schmidt und blickte sich suchend um, „Fiffi, wo bist du schon wieder hingelaufen?“
Der Professor vergrub stöhnend sein Gesicht in den Armen. „Es geht wohl kaum auffälliger, um klar zu machen, dass man nicht aus dieser Zeit stammt.“
Doch die Damen schienen eher amüsiert über Schmidt, als dass sie irgendwelche mysteriösen Hintergründe vermuteten.
„Monsieur, wir helfen euch gerne beim suchen.“, die Vorderste klimperte kokett mit den Wimpern, hakte sich bei Schmidt ein und zog ihn mit sich.
„Ehm, ich komme gleich wieder.“, rief Schmidt über die Schulter und machte sich mit den Damen auf und davon.
„Das war ja wieder mal typisch Schmidt.“, Angel verdrehte die Augen, „Wir sind kaum fünf Minuten da und er hat sich schon verdrückt.“
„Solange er wieder zurück kommt.“, murmelte Zeke kaum enttäuscht. Er war wie die Anderen eher froh, Schmidt einige Minuten zu entkommen.
„Und was unternehmen wir jetzt?“, Herr Rolander spähte zum Ende der Gasse hin, „Wenn Schmidt mit ein paar heißen Schnecken abhaut, möchte ich auch meinen Spaß haben!“
„Wir könnten uns mal auf dem Revolutionsplatz umschauen.“, schlug der Professor enthusiastisch vor, „Heutzutage heißt er Place de la Concorde. Er schließt direkt an zwei wichtige Sehenswürdigkeiten an, das Louvre und der Triumphbogen. Dieser existierte jetzt natürlich noch nicht.“ Wahrscheinlich hätte er noch Stunden so weiter gemacht, wenn Angel und Zeke ihn nicht ungeduldig weiter gezogen hätten.
Sie zockelten gemütlichen Tempos die Straßen entlang, der Professor lotste sie anhand einer Stadtkarte, die ihnen einige merkwürdige Blicke einbrachte. Nach einiger Zeit befanden sie sich endlich auf dem Revolutionsplatz und ihnen bot sich ein beeindruckender Anblick. Der Park zog sich einen gefühlten Kilometer weit an künstlich angelegten Teichen und malerischen Bächen vorbei, großen Wiesen luden zum flanieren ein und die Bäume rauschten zur passenden Untermalung in den schönsten Herbstfarben im Wind. Im Hintergrund erkannte man das Gebäude des späteren Louvre erkennen und rings herum standen große, prächtige Gebäude.
Angel riss die Augen auf und sagte leise „Wow…“ und Zeke pfiff anerkennend durch die Zähne.
„Ich hätte nicht gedacht, dass es in Paris schon immer so schön war.“, gab er zu.
Herr Rolander schnaubte nur. „Diese Franzosen glauben einfach immer, durch irgendwelche unnötigen Bauwerke protzen zu müssen. Alles nur Aufschneiderei.“
„Ich finde die französische Baukunst bezaubern.“, sagte Angel lächelnd und blickte staunend umher, „Wollen wir uns nicht auf die Wiese legen und ein bisschen abhängen?“
„Warte kurz.“, der Professor griff in seine Tasche und holte eine Flickendecke heraus, „Hier, für dich.“ Er reichte Angel die Decke.
„Danke.“, Angel strahlte und griff nach Zekes Hand, „Komm!“
Die Beiden rannten zu einer Wiese und legten sich auf ihre Decke, Angel bettete ihren Kopf in Zekes Schoß.
„Jetzt sind nur noch wir zwei hier.“, sagte Herr Rolander zu dem Professor, „Wie langweilig.“
„Wir könnten auf den Markt gehen.“, schlug der Professor vor, „Oder uns einfach nur umschauen.“
„Wie langweilig.“, grummelte Herr Rolander und blickte sich um, „Ich glaube, ich beschäftige mich lieber anderweitig.“
Er ging auf eine Gruppe Damen zu und sagte laut. „Ladys, wer möchte etwas mit mir unternehmen?“
Der Professor lächelte. Er sah Herr Rolander zu, wie er mit einigen Damen reiferen Alters von dannen zog, dann schwenkte er seinen Blick zu den Bauwerken und lächelte noch mehr. Es war toll in Paris zu sein.
So verbrachten alle ihren ersten Tag in der Vergangenheit. Angel und Zeke lagen auf einer Decke und beobachteten ihre Umgebung, bis die Sonne unterging. Der Professor zog umher und klapperte alle Bauwerke ab, die er schon immer einmal sehen wollte. Schmidt und seine Bekanntschaften besuchten eine Schenke und tranken Wein, dann gingen sie tanzen. Herr Rolander traf sich mit einer Dame zum Nachmittagsdinner und verbrachte den restlichen Tag in ihrer erlauchten Gesellschaft.

Am nächsten Morgen erwachte Angel zusammengerollt auf der Decke. Neben ihr lag Zeke und schlief tief und fest. Angel setzte sich lächelnd auf und blickte umher. Im Park war schon ein reges Treiben zu Gange, obwohl von Joggern nicht die Spur zu sehen war.
Stattdessen bauten Herren in einfachen Anzügen eine Art Bühne auf. Darauf stellten sie eine Art Gerät, das sie mit einem Tuch bedeckten.
„Was ist das?“, überlegte Angel leise vor sich hin.
„Hast du was gesagt?“ Zeke gähnte und rieb sich verschlafen die Augen.
„Die haben da so eine Bühne aufgebaut und was draufgestellt.“, berichtete Angel ihm, „Was das wohl ist?“
„Na ja.“, Zeke verzog sein Gesicht, „Da sie heute diese Lady niedermurksen wollen, müssen sie ja irgendwas vorbereiten.“
„Oh.“, Angels Gesicht verdüsterte sich. „Ich weiß nicht, ob ich das wirklich sehen möchte.“
Sie zupfte ihre Perücke zu Recht und klaubte ein paar Blätter von ihrem Kleid.
„Komm schon, wir müssen den Professor finden.“, sie zog Zeke ungeduldig hoch.
„Und wo sollen wir anfangen zu suchen?“, fragte Zeke mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Ich würde mal sagen, auf dem Platz.“, sagte Angel und verdrehte die Augen.
Sie faltete die Decke zusammen und drückte sie Zeke in die Hand, während dieser gerade seine Schuhe band.
„Warum muss ich sie tragen?“, murrte Zeke.
„Ich bin eine feine Lady und trage nichts mit mir herum.“, kicherte Angel und hakte sich bei Zeke ein, „Komm schon!“
Der Platz war ziemlich überfüllt, Angel und Zeke schoben und kämpften sich durch die Menschenmenge, doch vom Professor keine Spur.
„Warum sind denn hier so viele?“, nörgelte Angel schließlich und lehnte sich seufzend gegen eine Mauer.
„Madame, heute stirbt die Frau unseres Unterdrückers.“, sagte ein gutgekleideter Mann in ihrer Nähe und blickte sie verwundert an, als freue dass jeden.
„Na und?“, Angel wedelte ungeduldig mit der Hand, als könnte sie die vielen Leute so vertreiben.
„Aber…“, der Mann schien schockiert, „Wir werden erlöst! Ist das etwas kein Grund zur Freude?“
„Ich finde den rollenden Kopf einer Frau wenig amüsant.“, murrte Angel.
„Für eine feine Dame reden sie ziemlich ungezogen.“, empörte sich der Mann.
„Monsieur, ich bin alles andere als fein.“, sagte Angel spöttisch lächelnd und knotete das Tuch um ihre Schultern auf.
Der Mann glotzte ihr eine Weile unverfroren in den Ausschnitt, dann fasste er sich wieder. „Das sehe ich. Leider bin ich schon einer anderen Dame versprochen, aber in baldiger Zukunft…“
Angel kicherte und ließ sich von Zeke äußerst wiederwillig davon ziehen. „Hast du gesehen, wie der mir verfallen ist? Hätte nicht viel gefehlt und dem wäre der Sabber aus dem Mund gelaufen.“
„Du kleines Luder.“, Herr Rolander tauchte unvermittelt mit einer wohlhabend aussehenden Dame an seiner Seite auf, „Kannst du dich nicht mal in der Vergangenheit anständig benehmen?“
„Herr Rolander, ich bitte sie.“, Angel rollte mit den Augen, „Wer ist hier nicht anständig?“
„Madame Lebrun und ich haben uns nur unterhalten.“, erklärte Herr Rolander und verabschiedete sich von der Dame mit einem Handkuss, „Leben sie wohl, meine Liebe.“
„Hallo Leute.“, just in diesem Moment gesellte sich auch Schmidt zu ihnen, „Ich hab gehört, um zwölf Uhr geht’s hier zur Sachen und Maries hübsches Köpfchen wird dann nicht mehr zu ihrem restlichen Ich gehören.“
„Das ist wahr.“, der Professor stellte sich zu ihnen und lächelte, während er eifrig in ein Notizbuch kritzelte, „Ich werde alles genauestens festhalten.“
Angel murmelte etwas, das wie „Von Spinnern umgeben“ klang und blickte sich dann um, „Hängt hier irgendwo eine Uhr?“
„Gehen wir erstmal etwas essen.“, schlug der Professor vor und lud sie alle in ein vornehmes Restaurant ein, in dem es an diesem Morgen gar nicht gesittet zu ging. Alle unterhielten sich lautstark über die bevorstehende Enthauptung Marie Antoinettes und stellten Theorien auf, was ihre letzten Worte wohl sein würden.
„Wissen sie es, Prof?“, fragte Schmidt neugierig.
„Nein.“, der Professor klang etwas enttäuscht, strahlte dann aber wieder, „Doch wir werden es heute noch erfahren!“
Sie futterten sich durch zahlreiche merkwürdige Gerichte, wobei sich Angel beinahe wegen einem Muscheleintopf übergeben musste und Herr Rolander jede noch so kleine Speise bemängelte.
„Franzosen.“, schimpfte er, „Haben keine Ahnung von einer guten Küche.“
Dafür erntete er einige böse Blicke Umstehender.
Um Halb Zwölf machte sich Gedränge in dem Restaurant breit und auch der Professor stand hektisch auf.
„Es ist gleich soweit!“, verkündete er aufgeregt, „Wir sollten uns wieder zu dem Platz begeben.“
„Jetzt sind alle guten Plätze garantiert schon weg.“, nörgelte Schmidt.
„Ich habe den Platzwart bestochen, dass er uns Plätze in der ersten Reihe bereit hält.“, sagte der Professor mit stolzer Stimme.
„Na super.“, Angel seufzte tief und rückte ihr Mieder zu Recht. „Wollen wir dann?“
„Natürlich.“, der Professor musste sich beherrschen, um nicht laut aufzulachen. Gleich würde er das Ziel seiner Träume erleben, er wird live und in Farbe bei der Hinrichtung Marie Antoinettes dabei sein!
„Ihr wisst nicht, wie glücklich ich im Moment bin.“, schwärmte er.
„Ich wünsche, dass alles so wird, wie sie es sich erhofft haben.“, verkündete Zeke ungewohnt ernsthaft und klopfte dem Professor auf die Schulter, während sie sich durch die Straßen drängelten.
„Hey, was ist denn da vorne los?“, Angel stoppte unvermittelt, als Soldaten eine Straße absperrten.
Da ratterte schon ein Wagen heran, auf dem eine Frau mit schäbigen Kleidern und einem verhärmt wirkenden, aber trotzdem hochmütigen Gesicht festgebunden saß.
„Oh mein Gott, das ist sie.“, der Professor schnappte nach Luft, „Marie Antoinette!“
Er kritzelte sofort wild auf seinem Block herum. „Das muss ich unbedingt zeichnen!“
„Ich hab sie mir hübscher vorgestellt.“, sagte Angel, „Immerhin war sie eine Königin!“
„Wahrscheinlich haben sie ihr die Schönheit bei der Folter ausgetrieben.“, sagte Herr Rolander hämisch, „Von Madame Lebrun habe ich erfahren, dass sie ihr die Zehen abgeschnitten haben.“
„Alles nur Gerüchte.“, murmelte der Professor, während er weiter eifrig zeichnete.
„Können wir nicht weiter gehen, ich will es nicht verpassen!“, rief Schmidt trotzig wie ein kleines Kind.
„Ja ja.“, der Professor klappte seine Block zu und schritt nun wieder voran, „Beeilen wir uns besser.“
Die Menschenmenge stand nun dicht an dicht, doch der Platzwart erkannte den Professor und ließ ihn sofort zur ersten Reihe durch.
„Wie viel haben sie dem eigentlich gezahlt?“, fragte Zeke neugierig, doch der Professor war viel zu aufgeregt, um ihm zu antworten.
„Gleich geht es los.“, murmelte er immer wieder vor sich hin, „Gleich geht es los.“
„Abartig.“, sagte Angel und versuchte sich möglichst so hinzustellen, dass ihr der Blick auf die Bühne verwehrt blieb. Nur war das in der ersten Reihe kaum möglich.
Jetzt traten zwei Männer vor und rissen das Tuch von dem Gerät, das Angel am Morgen schon gesehen hatte.
„Das“, sagte der Professor langsam, „ist eine Guillotine. In der Revolution war sie sehr beliebt, fast alle Adligen starben in diesem Gerät.“
„Abartig.“, sagte Angel nochmal und starrte auf den Boden.
„Sie sollen schneller machen!“, sagte Schmidt und riss die Augen weit auf, um möglichst nichts zu verpassen.
Da ging ein Raunen durch die Menge. Marie Antoinette wurde zur Guillotine geführt. Sie bewegte sich selbstsicher und ohne Widerstand.
„Als würde sie ihr Schicksal akzeptieren.“, flüsterte Zeke fasziniert.
„Marie Antoinette war eine stolze Frau.“, sagte der Professor, „Selbst im Tod ließ sie sich ihre Würde nicht nehmen.“
Marie Antoinette setze sich wie vorgegeben auf die Guillotine und ein Mann entsicherte das Messer.
„Haben sie noch irgendwelche letzen Worte?“, fragte der Mann.
Der Professor spitze die Ohren.
Marie Antoinette schwieg eine Weile, dann sagte sie: „Sie stinken aus dem Mund.“
„Was?“, Angel vergaß ganz, dass sie wegschauen wollte und starrte Marie Antoinette entgeistert an, „Das hat sie doch nicht im Ernst gesagt?“
Doch die Anderen antworteten nicht sondern beobachteten nun den Mann, der an der Guillotine hantierte. Es gab ein schneidendes Geräusch und einen dumpfen Aufprall. Dann folgte Stille.
Angels Mund öffnete sich und sie hauchte: „Ist sie tot?“
Da brach der Jubel auf dem Platz aus, die Menschen klatschten in die Hände und stampften mit den Füßen. „Wir sind frei!“, schrie ein Mann ganz in ihrer Nähe und warf seinen Hut in die Luft.
„Lasst uns bitte hier verschwinden.“, sagte der Professor plötzlich mit eisiger Stimme.
Die Anderen folgten ihm wie gelähmt durch den lärmenden Platz hindurch.
„Prof?“, fragte Schmidt unsensibel wie immer, „Alles klaro?“
„Ich…ertrage den Jubel nicht.“, der Professor riss schweigend die Zeichnung aus seinem Heft und drückte sie einem Mann in die Hand. „Für sie.“
„Hey danke.“, der Mann lachte, „Ich bin übrigens Jacques-Louis David.“
„Sehr erfreut.“, der Professor eilte weiter und die Anderen rannten hinterher, bis sie endlich wieder in dem verfallenen Schuppen waren und den Aufzug betraten.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Angel behutsam.
Der Professor atmete tief ein. „Ja. Ich dachte nur, dass es Marie jetzt viel besser geht.“
Er stellte das Datum ihrer Ausgangszeit ein und lächelte endlich wieder. „Was für ein Abenteuer, nicht wahr, meine Freunde?“
Die Anderen nickten nur stumm.
„Und das nächste Mal“, sagte Schmidt in die Stille hinein, „gehen wir auf ein Elvis-Konzert.“

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Tag der Veröffentlichung: 31.01.2012

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