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Ein Traum vom Frühling


Jania freute sich mehr als alle anderen Elfen auf den Frühling. Dies war das erst Jahr, in dem sie offiziell als Frühlingselfe dienen durfte. Davor war sie nur mit langweiligen Arbeiten beauftragt worden, musste die kleinen Elfen hüten oder in der Küche putzen. Doch als das neue Jahr begann wurde ihr Name auf der Lister der Frühlingselfe vorgelesen. Jania konnte ihr Glück immer noch nicht fassen. Frühlingselfe. Das bedeutete den ganzen Tag von herrlich duftenden Blumen umgeben zu sein und ein herrliches Kleid aus Blütenblättern zu tragen. Jania hatte schon feste Vorstellungen, wie ihr Kleid aussehen sollte. Die Blätter sollten von einer Rose sein. Aber nicht von irgendeiner. Sondern von einer der Rosen aus dem Beet der weißen Frau.
Die weiße Frau lebte schon lange in dem Reich der Elfen. Sie strich immer mal wieder die hölzerne Umgrenzung des Reiches und kümmerte sich um den schrecklich großen Betonklotz, der in der Mitte stand. Auf der einen Seite des Betonklotzes befand sich ein kleines Beet und in diesem blühten herrlich dunkelrote Rosen. Das Beet wurde von einem seltsam glänzenden Gebilde überspannt, das bewirkte dass die Blumen immer blühten, man sie jedoch nicht riechen konnte. Jania hielt es für ein magisches Schutzschild, doch sicher war sie sich nicht. Die weiße Frau kam ihr nicht wie eine Hexe vor. Es war von den Oberelfen verboten worden, die Blumen anzurühren, aber wenn Jania schnell war, würde sie es schaffen.
Sie wollte nicht wie die anderen Neulinge in einem einfachen Kleid aus Gänseblümchen erscheinen. Das wäre doch langweilig und im nächsten Jahr teilten sie sie dann vielleicht als Winterelfe ein. Für Jania war es ein schrecklicher Gedanke, die schönen Blumen zu vereisen und den Bäumen die Blätter wegzunehmen. Das war doch gemein! Neue Sprossen zu sähen fand sie viel schöner. Die Welt zum blühen zu bringen. Und damit sie im nächsten Jahr wieder dabei war, wollte sie als schönste Elfe hervorstechen. Dafür brauchte sie die Rosen der weißen Frau. Aber das würde schon klappen. Es erforderte nur eine gute Planung.
Als Jania am nächsten Tag aus der Vorbesprechung kam, trug sie einen großen Krug frischen Morgentau mit sich herum. Sie lächelte und schwebte entschlossen zum Wächter des Beets. Der Stand an dem Schutzschild, dass in der Sonne herrlich funkelte. Jania winkte dem Wächter und schwebte näher.
„Ich hab einen Abstecher gemacht um die Sonne zu genießen.“, erklärte sie ihm, „Den Tau bringe ich in den Versammlungssaal.“
„Du bist ein braves Mädchen.“, meinte der Wächter lächelnd.
Jania strahlte ihn an und schwebte langsam auf dem Boden nieder, bis sie auf den harten Platten stand, die das Gras abgrenzten.
„Es ist immer wieder schön, selbst zu gehen.“, sagte sie und summte vor sich hin, während sie in wiegendem Schritt an dem Wächter vorbeilief. Plötzlich kam sie in Straucheln und der Krug glitt aus ihren Händen. Jania versuchte noch das Gleichgewicht zu halten doch es nutze nichts, sie schwankte und stürzte mit ausgestreckten Armen in den Scherbenhaufen. Panisch schrie sie auf, doch es half nichts, ihre Unterarme wurden von den spitzen Kanten zerschnitten.
„Oh Gott!“, der Wächter keuchte auf und schwebte eilig auf Jania zu.
„Mädchen, ist alles in Ordnung?“
Jania fing an zu heulen und ließ die Tränen wie Sturzbäche ihre Wangen runter laufen.
„Es tut so weh!“
„Steh auf, wir schweben rasch zum Krankenhaus!“
Doch Jania schüttelte energisch ihren Kopf. „Ich kann nicht gehen! Es brennt so.“
Sie blickte den Wächter aus tränenverschmierten Augen an und der Anblick des Leidens wurde durch das Blut an ihren Unterarmen noch verstärkt.
„Natürlich. Ich hole Hilfe.“, der Wächter hielt sich nicht länger auf und schwebte eilig davon. Jetzt blieb Jania nicht viel Zeit.
Rasch sprang sie auf, wischte sich die Tränen ab und griff nach einer besonders scharfen Scherbe. Dann schwebte sie hoch zu dem Riegel, der das Schutzschild zuschloss. Jania drückte mit ganzer Kraft dagegen, doch er rührte sich nicht von der Stelle. Sie drückte und zerrte doch nichts passierte. Wie kriegte der Wächter ihn nur auf?
Plötzlich kam ihr eine Idee. Sie hatte mal die weiße Frau beobachtet, wie diese einen Riegel am Betonklotz nach unten gedrückt hatte. Also probierte Jania es in diese Richtung und eine Wand glitt auf, so dass sie endlich die Rosen riechen konnte. Es war herrlich. Jania schwebte unter dem Schutzschild herum und fühlte sich wie in einem tollen Traum. Sie lachte und badete ihr Gesicht in den weichen Pollen der Rosen, dann erinnerte sie sich an ihre Aufgabe. Vorsichtig hob sie die Scherbe auf und schnitt ein paar Blütenblätter ab. Von jeder Blüte nur so wenige, dass es nicht auffiel. Diese verstaute sie in ihrer Tasche und grinste dann. Sie hatte es tatsächlich geschafft. Ihr Kleid würde der absolute Hingucker werden, da war sie sich jetzt schon sicher.
Jania schwebte langsam auf den Boden und landete vorsichtig zwischen den Dornen. Sie klemmte sich die Scherbe unter den Arm, als sie plötzlich ein Geräusch hörte. Draußen vor dem Schutzschild näherten sich Elfen!
Jania rannte sofort los, doch ihre Scherbe verhedderte sich in dem großen Stängel des Rosenstrauchs. Sie zerrte so fest sie konnte, doch anstatt rauszugehen verhakte er sich immer tiefer darin. Schließlich gab sie es auf und schwebte eilig nach draußen. Die bewegbare Wand stemmte sie zu und ließ sich dann wieder in kläglicher Haltung auf den Boden sinken. Schon kam der Helfertrupp an.
Den ganzen Tag wurde sie umsorgt und verwöhnt, ihre Unterarme massiert und mit einer Salbe eingeschmiert. Jania fühlte sich großartig, besonders wenn sie daran dachte wie toll ihre Mission gelaufen war. Dieser Frühling würde ihr Frühling werden.

Die weiße Frau weinte. Als Jania mit ihren Freundinnen durch das Gras tollte und den letzten Schnee zum Schmelzen brachte, sah sie wie die Frau sich die glitzernden Spuren von den Wangen wischte. Sie war offensichtlich gerade aus dem Schutzschild getreten.
„Seht mal!“, rief Jania den anderen zu, „Die weiße Dame weint!“
„Ich hab sie noch nie weinen sehen!“, stellte Tara mehr neugierig als bestürzt fest.
„Als das Monster verschwand, glitzerten ihre Augen oft!“, warf Marika zu Recht ein. Jania schauderte, als sie sich an das Monster erinnerte. Es war ein schreckliches Geschöpf gewesen, braun und sehr laut, mit seiner großen Nase hatte es ständig Elfen aufgespürt und dann gejagt. Doch die weiße Frau schien es gemocht zu haben, schließlich hatte sie es mit in den Betonklotz genommen.
„Warum sie wohl weint?“, fragte Lida leise, „Ob etwas passiert ist?“
„Ich weiß es nicht.“, meinte Tara und zuckte mit den Achseln, „Aber so schlimm wird es wohl nicht sein, oder?“
Doch es war schlimm. Nachdem Mittagessen wurden alle Elfen zu einer außerordentlichen Versammlung in der großen Halle zusammengerufen.
„Der Rosenstrauch stirbt!“, verkündete Marten, der Anführer dramatisch.
Sofort fingen alle Elfen an wild durcheinander zu schnattern.
„Was hat er denn?“
„Ist er etwa so alt?“
„Kann man ihn nicht retten?“
„RUHE!“, donnerte Marten.
„Wir tun bereits, was wir können, doch wir haben keine Ahnung warum der Rosenstrauch plötzlich eingeht.“, sprach er mit ruhiger Stimme weiter, „Etwas muss passiert sein. Hat irgendjemand was mitbekommen?“
Alle schüttelten die Köpfe, auch Jania. Sie konnte nicht anders, auch wenn ihr ganz flau im Magen wurde. Hatte die Scherbe etwa das bewirkt? Sollte sie etwas sagen? Nein. Die Strafe würde schrecklich sein. Am Ende würde sie nicht mit den Frühlingselfen mitfliegen dürfen. Und Jania wollte das doch um jeden Preis. Also hielt sie den Mund und starrte stumm auf den Boden.
„Jania? Ist alles in Ordnung, du bist so grün im Gesicht.“, stellte Lida bestürzt fest und strich Jania über die Wange.
„Mir geht es nicht so gut. Ich glaub‘ ich leg mich besser hin.“, sagte Jania kraftlos und schwebte aus der Halle. In ihrem kleinen Astloch, das sie mit Moos ausgelegt hatte fiel sie kraftlos in sich zusammen. In was für ein Schlamassel war sie da nur hineingeraten? Und wie sollte sie da wieder rauskommen?
Jania tigerte verzweifelt auf und ab. Ein Plan musste her! Vielleicht sollte sie mal selbst zum Schutzschild fliegen und die Rose inspizieren…? Das kam ihr plausibel rüber. Aber wie sollte sie sich da noch mal rein mogeln? Jania entschloss sich, auf ihren Frühlingselfenbonus zu bauen.

Als sie am Tag darauf vor dem Schutzschild stand, zeigte sie dem Wächter ihren Ausweis.
„Ich bin eine Frühlingselfe und möchte den Rosenstrauch sehen. Vielleicht kann ich helfen.“ Jania setzte ihr überzeugendstes Lächeln auf und blickte den Wächter aus großen Augen an.
„Na ja… Eigentlich darf hier keiner mehr rein.“, sagte er langsam.
„Bitte, was könnte ich denn Schlimmes machen?“, flehte Jania ihn an.
„Na gut. Aber nur kurz.“ Der Wächter schwebte nach oben und schob rasch die bewegbare Wand zur Seite.
Jania lächelte ihn dankbar an und schwebte rasch zum Rosenstrauch. Er sah wirklich mitgenommen aus, der Stiel war braun geworden und die Blüten wirkten schlaff und kraftlos.
Jania kontrollierte den Stiel und entdeckte den Punkt, wo die Scherbe im Stiel steckte. Die Pflanze war leicht darüber gewachsen sodass man nicht erraten hätte, was darin steckte. Die anderen Elfen würden die Scherbe nie finden. Jania versuchte sie rauszuziehen, doch sie kam nicht an sie heran. Spezielles Werkzeug wurde gebraucht.
Jania flog nach oben zu einer Blüte und setzte sich ratlos in eine hinein.
„Ich würde euch ja gerne retten.“, sagte sie verzweifelt, „Aber dann schmeißen sie mich raus. Was soll ich nur machen?“
Plötzlich ging die bewegbare Wand auf. Jania blickte auf und erwartete den Wächter zu sehen, der sie rausschmeißen würde. Stattdessen war es die weiße Frau.
Sofort duckte sich Jania an den Rand der Blüte. Ihr Herz pochte. Wenn sie jetzt entdeckt würde, könnte sie gleich ihren Rücktritt abgeben. Doch die weiße Frau berührte die Blüte nicht sondern ließ sich am Rand des Rosenstrauchs auf den Boden sinken und fing an mit gramerfüllter Stimme begleitet von Schluchzern zu sprechen:
„Rosenstrauch, ich bitte dich, werde wieder gesund! Du bist doch meine einzige Erinnerung an ihn! Gerhard hat Rosen immer geliebt. Als er dich in einem Gartencenter gesehen hat, war er sofort begeistert. Das Gewächshaus hat er gleich dazu gekauft und den ganzen Tag damit verbracht, es aufzubauen und dich dann sorgfältig darin einzupflanzen. Er hat dich jeden Tag gegossen, vielleicht erinnerst du dich. Seit seinem Tod bist du mein einziger Trost. Bitte, geh nicht ein!“
Die weiße Frau schluchzte wieder und Jania sah erneut Tränen auf ihren Wangen glitzern. Deshalb hatte die weiße Frau also geweint. Weil der Rosenstrauch kaputt ging und dass war allein Janias Schuld. Doch jetzt war es vorbei. Jania hatte eine Entscheidung gefällt. Sie würde den Rosenstrauch retten. Mit der Schuld, die weiße Frau so unglücklich gemacht zu haben wollte sie nicht leben.

„Du hast was?!“ Marten blaffte sie wütend an.
„Tut mir Leid.“, sagte Jania leise.
„Tut dir Leid?! Du hast den Rosenstrauch zerstört und Blütenblätter geklaut.“, Marten schien vollkommen fassungslos, „Mädchen, was hast du dir nur dabei gedacht!?“
„Der Rosenstrauch ist nicht zerstört!“, sagte Jania rasch, „Wenn man die Scherbe herauszieht und dann heilende Kräfte einsetzt, damit sie wieder zusammenwächst kann man sie retten!“
„Na ja. Wir können es versuchen.“, sagte Marten zweifelnd, „Aber nur damit du schon mal vorgewarnt bist, deine Strafe wird sehr hart ausfallen!“
„Ist mir egal.“, sagte Jania so fest sie konnte, „Wenn nur der Rosenstrauch gerettet wird.“

Die stärksten Elfen brauchten eine halbe Stunde, um die Scherbe rauszukriegen. Offensichtlich war sie richtig fest eingewachsen. Dann wischten sie sich erstmal den Schweiß aus dem Gesicht.
„Da hast du ja saubere Arbeit geleistet.“, meinte einer zu Jania.
Sie blickte stur gerade aus. „Immerhin ist die Rose jetzt gerettet.“
„Na ja, erstmal muss es gut heilen. Keine Ahnung, ob das klappt.“, sagte der Elf zweifelnd.
„Ich kann das.“, Jania drängelte sich an ihm vorbei und legte ihre Hände auf den Schlitz.
„Heile.“, flüsterte sie und grün pulsierende Blasen stiegen aus ihren Händen. Sie hefteten sich an den Schlitz und der Stiel begann langsam zusammen zu wachsen.
„Das machst du gut!“, sagte der Elf bewundernd, „Echt beeindruckend für dein Alter.“
„Finde ich auch.“, Marten schwebte von der Decke hinunter.
„Meister.“, der Elf verneigte sich ehrfürchtig.
Jania jedoch wagte nicht, Marten in die Augen zu schauen. Jetzt würde er gleich ihre Bestrafung verkünden.
„Jania, du bist eine begabte Frühlingselfe.“, sagte er langsam, „Deshalb wäre es eine Schande, dich rauszuschmeißen.“
Jania glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. „Ich bin noch dabei…?“
„Ja. Aber wenn du noch einmal so etwas machst, bist du endgültig weg vom Fenster.“, sagte Marten ernst.
„Nie wieder!“, versprach Jania glücklich.

Jania berührte sanft die Knospe. „Gehe auf und wachse.“, sang sie leise.
Die Knospe wurde kräftig grün und ging langsam auf. Jania strahlte. Jetzt hatte die Knospe die gleiche Farbe wie ihr Kleid, das aus zarten Blättern gefertigt war. Genauso einfach wie schön.
„Jania, schau mal her!“, rief Marika, die auch eine Frühlingselfe war.
Jania blickte auf und sah in die Richtung, in die Marika deutete. Die weiße Frau betrat gerade strahlend vor Glück Arm in Arm mit einem älteren Herrn den Garten.
„Haben sie schon meine Rose gesehen?“, fragte ihn die weiße Frau lächelnd.
Der Mann verneinte höflich und die weiße Frau führte ihn unter das Schutzschild. Jania schwebte rasch hinterher um den beiden zu zuhören.
„Ich habe sie schon ewig. Eigentlich gehörten sie meinem Mann.“, erzählte die weiße Frau, „Nach seinem Tod habe ich mich um sie gekümmert aber Ende Winter gingen sie plötzlich ein. Aber jetzt blühen sie wieder. So schön wie eh und je. Ein echtes Frühlingswunder.“
Jania strahlte. Ihr Frühling war schöner, als sie ihn sich erträumt hatte.

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Tag der Veröffentlichung: 20.10.2011

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