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Ich hatte einen Alptraum

Es ist ein Spiel. Ich laufe mit einer kleinen Gruppe durch einen dichten Wald. Es ist Herbst, denn den Boden bedeckt eine dicke Schicht aus braunem Laub. Jeder Schritt raschelt, dennoch versuchen wir uns so leise wie möglich fortzubewegen. In meiner Hand halte ich eine Spielzeugpistole. Wir sind auf der Suche nach anderen Mitspielern, um diese zu besiegen. Ich kenne die Regeln nicht und ich weiß nicht, wo ich bin. Dennoch habe ich gute Laune und bin voller spielerischer Anspannung. Die Pistole in meiner Hand ist jetzt echt. Es wird mir bewusst, ohne das sie sich äußerlich verändert hätte. Die Anspannung, die mein Team umgibt, schlägt im Bruchteil einer Sekunde von Spaß zu Ernst um. Ich weiß, dass es um Leben und Tod geht und hoffe insgeheim, dass wir auf niemanden treffen werden. Dann sind die Bäume um uns herum verschwunden und wir stehen völlig ungeschützt auf einer kleinen Lichtung. Vor uns erhebt sich ein Wall wie eine Mauer einige Meter Richtung Himmel. Von links her schreitet eine Reihe von ungefähr sechs Kindern ruhig den Wall entlang. Sie schauen nicht zu uns herunter und wir rühren uns nicht. Ich starre die Gruppe mit angehaltenem Atem an. Gehören sie zum Spiel? Es sind ganz normale Kinder in dicken warmen Jacken. Manche sind Mädchen, die anderen Jungen. Sie reden nicht und sie schauen sich nicht um. Als sie sich auf dem Wall genau vor uns befinden, bleiben sie wie auf ein Zeichen hin stehen und drehen sich zu uns um. Ihre Blicke zeigen keinerlei Emotionen. Eines der Kinder wirft etwas neben unserer Gruppe zu Boden. Ich gehe hin und schaue es mir an. Es ist grotesk und spricht eine eindeutige Sprache. Es ist eine Puppe. Sie ist schrecklich zugerichtet und sähe aus wie ein ermordetes Kind, wenn da nicht der Puppenkopf wäre, der nicht zum Rest der Puppe passt. Es ist die grauenhaft verzerrte Version eines erwachsenen Menschenkopfes. Er ist aus dem selben Material wie der restliche Puppenkörper, aber er verkündet den unausweichlichen Tod.

Ich kann nicht schreien. Die Angst ist mit einem Male so stark, dass ich nach außen den Anschein erwecke, als bliebe ich ganz gelassen. Ich bin zu keiner Reaktion fähig. Ich schaue hinauf zu den Kindern. Ihre Mimik bleibt weiter kalt und gefühllos. Sie tun alle zur selben Zeit einen Schritt nach vorne und gleiten kerzengerade vom Wall herab zu Boden. Sie stehen genau vor uns und starren uns an. Mein Team gerät in Panik. Einige flüchten, andere sind wie paralysiert. Die Kinder kommen langsam auf uns zu und gehen einfach an mir vorbei. Ich starre weiter geradeaus, unfähig meinen Kopf zu drehen und mich umzusehen. Ich weiß, dass diesen Angriff keiner überleben wird. Ich atme tief ein und versuche mein Schicksal zu akzeptieren. Meine Waffe halte ich längst nicht mehr in der Hand. Ich mache einen Schritt und dann noch einen. Mit jedem Schritt höre ich Menschen schreien und leblose schwere Körper in das Laub sinken. Ich mache einen Schritt nach dem anderen, weg von diesem Ort. Ich gehe, ohne nachzudenken, versuche mich ein letztes Mal an der Schönheit der Natur zu erfreuen. Ich schaue mir die Bäume an, den Himmel, atme die frische Herbstluft ein und verabschiede mich gleichzeitig von alldem. Nach einer Weile erreiche ich mitten im Wald ein modernes Toilettenhäuschen und betrete es. Ich möchte mir einen letzten einsamen Moment verschaffen, um noch einmal über mein Leben nachdenken zu können. Ich betrete das Haus, schließe die Tür ab und wasche mein Gesicht und meine Hände an dem einzigen Waschbecken. Ich schaue in den Spiegel, versuche weiter ruhig zu bleiben. Ich möchte einfach jede Minute, die mir noch bleibt, genießen und festhalten. Ich gönne diesen Wesen keine Genugtuung.

Ich schaue mich kurz um und sehe ein kleines Fenster. Für den Bruchteil einer Sekunde versucht mein Körper mich zur Flucht zu zwingen, doch ich unterdrücke die aufkeimende Panik, wohl wissend, dass die Anstrengung, durch dieses viel zu hoch gelegene kleine Fenster zu fliehen, das letzte wäre, was ich in meinem Leben fühlen würde. Also betrete ich eine der Kabinen und setze mich auf den Toilettendeckel. Ich schließe die Kabinentür drei mal ab und atme tief durch. Wenigstens drei Minuten werde ich noch haben, um ganz für mich zu sein. Da öffnet sich die Tür der Anlage, fast geräuschlos, jedoch laut genug, um mich aufhorchen zu lassen. Obwohl ich abgeschlossen hatte, war kein Geräusch einer Entriegelung zu hören gewesen. Ich will nach dem Schloss an der Kabinentür greifen, um wenigstens nicht ganz kampflos aufgeben zu müssen, doch die Tür ist bereits offen, wenn auch nur einen winzigen Spalt breit. Zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, stehen dicht vor der Tür und starren mich aus grinsenden, zu teuflischen Fratzen verzerrten Gesichtern an, mit glitzernden Augen, voller Mordlust und ungeduldiger Anspannung. Sie freuen sich mit ihrer kindlichen Fröhlichkeit darauf, mir das Leben zu nehmen. Ihr Grinsen reicht viel zu weit über ihre Gesichter. Die Haut spannt sich fast bis zum Zerreißen. Leise flüsternd flehe ich sie an, mir wenigstens noch ein paar Minuten zu schenken. Im selben Moment weiß ich, dass es zwecklos ist. Ich ärgere mich noch darüber, dass ich doch um mein Leben gefleht habe, da beginnen mir leise Tränen die Wangen hinunter zu rinnen. Die Kinder schnipsen einmal gleichzeitig mit ihren Fingern und das Schnipsen dringt direkt in mein Herz, lässt es augenblicklich langsamer schlagen. Mir verschwimmt die Sicht. Ich werde müde. Ich freue mich, dass sie mich sterben lassen, als wenn ich nur einschlafen würde und lächle ein trauriges erleichtertes Abschiedslächeln. Dann schnipsen die Kinder ein zweites Mal.

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Tag der Veröffentlichung: 04.02.2014

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