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Der Schattenmann
 
Ich horchte auf, als ich glaubte, Schritte hinter mir zu hören. Es war nur ein dumpfes Geräusch, kaum wahrzunehmen. Ich hasste es zu so später Stunde alleine unterwegs zu sein.
Die dumpfen Geräusche folgten mir, auch nachdem ich um einige Ecken gebogen war. Ich wirbelte beim Gehen herum, um meinen Verfolger überraschen zu können, doch die Straße war leer. Ich starrte angestrengt in die Schatten am Wegesrand. Vielleicht war dort jemand in Deckung gegangen. Ich beschloss rasch nach Hause zu gehen und die Geräusche zu ignorieren. Ich bildete sie mir bestimmt nur ein. Schließlich war ich müde und erschöpft. Womöglich schlief ich schon während des Laufens ein und träumte. Nein. So müde ist niemand.
Trotz meines beschleunigten Ganges blieben die Geräusche in meiner Nähe. Sie synchronisierten sich mit meinen Schritten. Es klang, als würde jeder Tritt auf den Boden hinter mir widerhallen. Als liefe ich durch eine gewaltige Halle. Ich wurde nervös. Ich hielt inne und das Hallen ließ nach. Ich schloss die Augen, und lauschte in die Dunkelheit. Der kühle Nachtwind pfiff durch einen Baum und brachte ihn zum Rascheln. Da, plötzlich und unerwartet schnell kamen die dumpfen Geräusche auf mich zu und noch bevor ich ahnte, was dort vor sich ging, griff jemand mein Handgelenk und drückte es fest. Erschrocken drehte ich mich meinem Angreifer entgegen, doch zu meiner Überraschung stand dort niemand. Dabei konnte ich den Griff ganz deutlich spüren. Es tat weh. Was ging hier nur vor? Wer oder was hielt mich fest? Auf dem Boden bewegte sich etwas. Ein Schatten. Die Umrisse bildeten eine menschlich aussehende Gestalt.
Als ich meine Entdeckung endlich begriffen hatte und die Umklammerung an meinem Handgelenk noch fester geworden war, riss ich mich los, panisch, und rannte um mein Leben. Sofort nahm der Schatten die Verfolgung auf. Ich schrie um Hilfe, mir kamen die Tränen. Nirgendwo war mehr ein Mensch in den Straßen unterwegs. Ich lief und lief, ohne überhaupt zu wissen, wohin. Ich spürte etwas nur haarscharf an meiner Schulter vorbei streichen. Er hatte mich fast eingeholt. Ich versuchte noch schneller zu laufen. Mein Herz drohte zu zerspringen. Ich hatte solche Angst.
Immer noch um Hilfe rufend, fand ich mich augenblicklich in einer Sackgasse wieder. Nun stand ich da. Panisch sah ich mich um. Da erblickte ich eine Feuerleiter. Ich stürmte los, doch in dem Moment wurde ich an den Haaren zurückgezogen. Schmerzhaft landete ich mit Rücken und Kopf auf dem harten Steinboden. Ich schrie auf. Der Schatten zog weiter an meinen Haaren. Ich glitt über den Boden, entfernte mich von der Leiter. Da kam von irgendwoher eine Stimme: „Gib nicht auf.“ Sie klang sanft und vertraut. Da fasste ich neuen Mut und riss meine Haare mit aller Kraft von meinem Verfolger los und stürmte erneut auf die Leiter zu. So schnell wie ich es noch nie zuvor in meinem Leben getan hatte, kletterte ich die klapprigen alten Sprossen hinauf. Oben angekommen fand ich mich auf einem flachen Dach wieder. Ich hörte die Leiter unter mir leise klappern. „Er kommt. Was mache ich nur?!“ Wie gelähmt stand ich da. Egal wohin ich laufen würde, es würde mit einem metertiefen Fall enden. Und wenn ich dann noch nicht tot wäre, würde der Schatten mich hilflos am Boden erwischen. „Komm hierher.“ Wieder diese Stimme. Sie klang von irgendwo aus der Ferne. Doch dort war überall nur Dunkelheit. Das Licht der schwachen Straßenlaternen reichte kaum bis hier herauf. „Komm zu mir. Hab keine Angst.“ In mir sammelte sich erneut ein ungeheurer Mut. Ich fühlte mich beschwingt und frei. Da sah ich den Schatten zu meinen Füßen, bereit nach mir zu greifen. Ich lief los, geradewegs auf den Rand des Daches zu, und darüber hinaus. Meine Laufbewegungen trafen auf Luft. Auf was auch sonst? Mir wurde komisch. Für einen kurzen Moment schien ich in der Luft zu stehen. Dann fiel ich. Dennoch bat die vertraute Stimme, dass ich weiterlaufen sollte. Also lief ich. Immer schneller bewegte ich meine Beine und Füße, auf ein Wunder hoffend. Tatsächlich verlangsamte sich mein Fall. Ich lief durch die Luft. Als ich nach unten sah, erblickte ich meinen Retter. Ein schattiger Schleier legte sich wie ein transportabler Boden unter meine Füße und geleitete mich zu einer Laterne mit hellem Lichtpegel. Als ich fast den Boden berührte, löste sich der Schleier unter meinen Füßen und ich hüpfte hinein ins Licht. Bald war auch der Schattenmann wieder da. Ich sah ihn auf mich zukommen und wollte weglaufen, doch der freundliche Schleier schubste mich zurück. Da verstand ich endlich. Die Schatten konnten nicht ins Licht. Also konnte der Schattenmann hier nicht nach mir greifen. Der Schleier verschwand in der Nacht und der Schattenmann hielt wie erwartet vorm Eintreten ins Licht inne. Ich sah seine Schattenarme und Hände wild auf dem Boden gestikulieren. Ich schrie ihn an: „Tja, da hast du wohl Pech gehabt! Ich bleibe hier jetzt solange sitzen, bis die Sonne wieder aufgeht und dann bin ich sicher vor dir!“ Der Schatten ließ die Arme sinken, blieb jedoch lauernd an meiner Seite. Ich betete, dass die Lampe nicht plötzlich ausginge. Wie ich so dastand, unter der schützenden Lichtquelle, da kamen mir mit einem Mal die Tränen. Erst jetzt wurde mir meine Angst bewusst. Ich hatte gedacht, ich müsse sterben. Ich kauerte mich auf dem Boden zusammen. Mir war kalt. Wie spät mochte es wohl sein? Vielleicht Mitternacht. In 4-5 Stunden würde sicher die Sonne aufgehen. Solange würde ich hier noch ausharren müssen. Ich begann zu schluchzen. Ich dachte daran, dass ich von einem Dach gelaufen war und begann lauthals vor mich hin zu weinen. Es war so ein Wunder, dass ich noch lebte. Und alles nur dank dieses mysteriösen Schleiers.
Ich hatte in dieser Nacht alle Mühe nicht einzuschlafen, doch die Angst vor dem lauernden Schattenmann hielt mich wach. Dann bemerkte ich, dass das Licht der Laterne schwächer wurde. Im ersten Moment war ich schockiert und fürchtete erneut um mein Leben. Dann bemerkte ich den schmalen Lichtstreifen am Horizont, der den Sonnenaufgang ankündigte. Bald kitzelten die ersten hellen Strahlen mein Gesicht. Eine unglaubliche Erleichterung ergriff mich. Ich beobachtete den Schattenmann, der noch immer neben mir verweilte. Seine Erscheinung verblasste von Mal zu Mal, bis er völlig verschwunden war. Ich war unsicher. Was wenn er noch da war und ich ihn nur nicht mehr sehen konnte? Vorsichtig tat ich einen Schritt aus dem verblassenden Lichtpegel heraus. Nichts geschah und ich tat einen weiteren. Ehe ich mich versah, rannte ich erneut um mein Leben. Ich wollte so schnell wie möglich nach Hause. Erst dort würde ich mich sicher fühlen.
Als ich völlig aus der Puste mein Heim betrat, schaltete ich alle verfügbaren Lichter jedes Raumes ein, um auch ganz sicher sein zu können, dass der Schattenmann mich nicht fassen konnte. Ich legte mich ins Bett, um einen Moment lang zu verschnaufen. Unbeabsichtigt schlief ich ein.

Erschrocken fuhr ich auf, als ich bemerkte, dass ich eingeschlafen war. Draußen war es bereits wieder dunkel. Mein Herz begann beim Anblick der schwarzen Nacht vor meinem Fenster wild zu pochen. „Beruhige dich. Du hast doch alle Lichter eingeschaltet.“ Mich selbst beruhigend schlich ich in die Küche, um mir einen Kaffee zu machen. Niemals würde ich jetzt freiwillig wieder einschlafen. Mit zitternden Händen führte ich meinen fast überschwappenden Koffeintrunk an meine Lippen und verbrannte mich prompt. Wie ich so vor mich hin fluchte, vernahm ich das Geräusch zersplitternden Glases. Ich ließ vor Schreck die Tasse fallen und drehte mich um. Da erklang das Geräusch ein weiteres Mal und noch ein Mal. Mit jedem Male wurde es in meinem Hausflur dunkler. Ich wich zurück und kauerte mich hilflos in eine Ecke. Mir kamen die Tränen. Jetzt war es aus. Die Dunkelheit schlich auf mich zu, mit jeder zerberstenden Glühbirne.
Bald brannte lediglich noch die eine Lampe, unter der ich mich zusammengekauert hatte und erbärmlich schluchzte. Innerlich schloss ich bereits mit meinem Leben ab. Da sah ich ihn. Der Schattenmann war zurückgekehrt. Er hatte mich gefunden und lauerte erneut zu meinen Füßen. Bald würde auch die letzte Lampe erlöschen. Dann würde er mich ergreifen und mich verschleppen. Wohin? Wer konnte das schon sagen. Die Lampe über mir begann bedrohlich zu summen, da klapperte es hinter mir am Fenster. „Komm heraus.“ Ohne weiter drüber nachzudenken, sprang ich auf meine Küchenanrichte und öffnete das Fenster. In dem Moment, als auch das letzte Licht erlosch, sprang ich hinaus. Ein eiserner Griff am Knöchel hielt mich zurück. Ich schrie auf. Dann hing ich dort, an meiner Hauswand, mit dem Kopf nach unten. Meine Nase blutete und schmerzte. Ich war heftig mit dem Gesicht an die Wand geknallt. Ich musste den Schock kurz verdauen, dann begann ich um mein Leben zu strampeln, doch der Schattenmann ließ einfach nicht locker. „Lass mich los du Monster! Ich will noch nicht sterben!“ Die Tränen schossen mir wie aus Eimern über die Stirn. In meiner Brust verkrampfte sich alles. Da bewegte ich mich auf einmal von der Wand weg. Mein Fuß immer noch im Griff des Unbekannten, lag ich nun waagerecht in der Luft. Ich lag auf dem Schleier, der mich zuvor bereits gerettet hatte. Er fühlte sich an wie eine weiche Wolke. Eine unglaublich wohlige Wärme durchfuhr meinen Körper. Ich ergriff den Schleier fest mit beiden Händen. Er umschlang mich und begann zu ziehen. Langsam entfernte sich mein Körper vom Fenster, der Griff um meinen Knöchel jedoch ließ nicht locker. Der Schattenmann wurde mit hinausgezogen. Nun hing er an meinem Fuß. Ich konnte seinen Schatten zwar nur am Boden unter uns sehen, dennoch war sein unsichtbarer Griff eisern. Wieder begann ich zu strampeln. „Geh endlich weg!“ Da umhüllte der Schleier auch mein Bein und der Schattenmann fiel. Als ich zur Erde blickte erkannte ich, dass er uns noch immer folgte, nun jedoch zu Fuß. „Was nun, lieber Schleier? Er lässt uns einfach nicht in Ruhe.“ „Keine Angst.“ Diese sanfte Stimme hallte in mir wieder und ich vertraute ihr. Belächelnd sah ich zu, wie wir über eine hell erleuchtete Straße schwebten. Der Schattenmann kam nun keinen Schritt weiter. Er hielt vor der ersten Laterne inne und an seinen Umrissen vernahm ich eine Bewegung, die einem Winken gleichkam. Verwirrt starrte ich ihn an, nicht sicher ob meine Augen mich nicht getäuscht hatten. Dann verschwand er aus meiner Sicht. „Wieso... hat er das getan?“ „Was denn, Liebes?“ Ich kuschelte mich erneut in den Schleier. Sobald diese wunderbare Stimme erklang, war ich ihr ganz und gar verfallen. „Ach nichts. Ich dachte nur, der Schattenmann hätte mir nachgewunken.“ „Das hat er auch, meine Süße.“ Noch immer benommen von diesem unbeschreiblichen Gefühl war ich unfähig, weiter über diese Aussage nachzudenken. „Weißt du...“ Da wurde der sanfte Klang meines Schleiers zu einer hämisch und dunklen klingenden Stimme. „... er hat dir lebe wohl sagen wollen.“ Da begann ich zu begreifen, doch es war zu spät. Der Schleier legte sich um mich und hielt mich fest. Ich konnte mich nicht mehr rühren. „Nein! Lass mich los!” Ich begann zu schreien, wie ich es noch nie zuvor getan hatte. Meine Lunge drohte zu zerspringen und mein Atem ging so schnell, dass ich befürchtete, in Ohnmacht zu fallen. „Wie du willst!“ Da fiel ich. Mein Leben begann an mir vorbeizuziehen. Alles durchlebte ich in diesem Moment noch einmal. Dann tauchte ich ein in eine unglaubliche Kälte. Der Schleier hatte mich in einen Fluss stürzen lassen. Er folgte mir augenblicklich und hielt mich erneut fest. Immer tiefer zog er mich hinab. Meine Lungen begannen zu schmerzen. „Du Närrin. So leicht bist du zu täuschen. Dabei tat der Schattenmann alles ihm Mögliche, um dich vor mir zu schützen.“ Der Schleier ließ ein hämisches Lachen ertönen und mir wurde schwarz vor Augen. Niemals werde ich erfahren dürfen, warum dies alles geschah.

Tut mir leid Schattenmann.


Impressum

Texte: Copyright by Melanie Kespohl
Bildmaterialien: Titelbild gefunden auf www.deviantart.com von frozenpandaman
Tag der Veröffentlichung: 18.10.2012

Alle Rechte vorbehalten

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