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Mir fehlt etwas...
Ganz tief in meiner Seele, in einer kleinen versteckten Ecke.
Kein Außenstehender wird es bemerken und selbst ich vergesse hin und wieder, dass an diese Stelle meines Innenlebens einmal etwas hingehörte.
Ich bin noch immer auf der Suche. Ich versuche immer wieder vergeblich, mit diesem Thema abzuschließen, dieses Kapitel zu beenden, dass Buch unserer Erlebnisse zuzuschlagen und im Feuer des Vergessens zu vernichten.
Es ist, als suche ich ein verschollenes Familienmitglied. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, so sinnlos es mir auch erscheint und so sehr es mich auch schmerzt, an die gemeinsame Zeit zurück zu denken. Manchmal schaffe ich es monatelang, nicht an sie zu denken und dann ganz plötzlich, ohne jede Vorwarnung erinnert mich irgendetwas Belangloses an früher. Wie zum Beispiel die Themenvorgabe für diese autobiografische Kurzgeschichte.

Geschwister werden mich verstehen. Wer spürt nicht eine gewisse Verbindung zu seinen Schwestern und Brüdern, egal wie wenig man sich kennt oder wie weit man voneinander entfernt sein mag.
Kann eine Außenstehende zu einer Schwester werden?
Bei mir ist es passiert. Und wenn ich mir dieses Gefühl ins Gedächtnis rufe, bin ich den Tränen nahe. Ich habe eine Schwester verloren, im Dschungel der Gesellschaft. Mein Herz schlägt noch immer für sie. Ich liebe sie genauso, wie ich meinen leiblichen Bruder liebe und ich werde es wohl auch immer tun. Wieso ist mir so kalt, wenn ich an sie denke? Warum muss ich zittern? Wieso verkrampft sich mein ganzer Körper und ich möchte weinen...
Wie kann es sein, dass sich ein Mensch, der aufrichtig geliebt wird, vollständig abwendet und verschwindet? Seine Spuren verwischt? Ist es die Schwester, die mir fehlt? Oder ist es die beinahe, aber eben nur beinahe, vollkommene Gewissheit, die einzige Chance auf einen lebenslangen Freund verloren zu haben? Ich beneide die Menschen, die sich noch immer mit den Freunden aus ihrer frühesten Kindheit treffen. Ich kann mich nicht einmal richtig für sie freuen.
Seit dem Kindergarten waren wir unzertrennlich. Mindestens einmal die Woche mussten unsere Mütter hin und her fahren, damit wir uns sehen konnten. Für mich war sie von Anfang an meine Schwester. Als würden wir nur in getrennten Gegenden leben, aber uns von Geburt an kennen. Wir erlebten Abenteuer, wie nur Kinder sie erleben. Wir spielten auf Bauplätzen, an Bächen. Ich nervte ihre Katzen mit meinen Streicheleinheiten. Wir saßen an Halloween um Mitternacht vor einem Gruselfilm und aßen Eis. Vor lauter Schreck landeten unsere Schüsseln fast auf dem Teppich. Wir übernachteten oft in des anderen Bett. Sie war die perfekte Schwester, wie ich fand.

Wir wurden älter.

Sie wechselte nach der Grundschule auf eine Schule in ihrer Gegend.

Wir hatten weniger Zeit und immer weniger Lust auf Kinderspiele. Ich hasste es, erwachsen zu werden.
Sie fehlte mir so sehr...
Dennoch sahen wir uns selten, aber regelmäßig und ich liebte sie keinen Deut weniger.

Sie ging für ein ganzes Jahr fort. Nach Australien. Sie sagte es mir nicht einmal . Ich erfuhr erst Wochen nach ihrer Abreise davon. Etwas zerbrach in mir. Sie war einfach fort. Für ein ganzes, furchtbar langes Jahr...

Sie kam zurück. Nicht ein Brief. Selbst die Emails blieben irgendwann fort. Ich nahm mir fest vor, sie für mich zurück zu gewinnen, sobald sie nach Hause kam. Ihre Mutter verriet mir das Datum. Sie ließ sich nicht erreichen.
Nach einer ganzen Weile, ich kann mich nicht erinnern, wie lange es dauerte, bekam ich sie zu fassen und konnte endlich, endlich wieder mit ihr reden, ihre Stimme hören, aber ihre Begeisterung hielt sich in Grenzen. Auch ihre Zeit war knapp bemessen. Sie tanzte nun sehr viel. Die Wertvolle Zeit, die ich mit ihr verpasste, bekamen nun andere zugeteilt. Freunde aus ihrem Tanzkurs. Ich durfte mit zu einer Tanzparty, obwohl ich nicht einen Standardtanz beherrschte. Ich war ein totales Mauerblümchen. Ein zu kurzes T-Shirt und meine schreckliche Lieblingsschlaghose aus Kindeszeiten. Meine Haare platt und langweilig. Zu allem Überfluss war ich auch noch furchtbar amateurhaft geschminkt... Sie hingegen war schon fast eine Frau geworden. Sie war elegant gekleidet. Ihre Haare hatten einen schönen Schnitt. Die Tanzfreunde schienen zu den „cooleren Kids“ zu gehören. Ich fühlte mich fehl am Platz und meine beste Freundin hatte kaum Zeit für mich. Ich gab mein Bestes, um irgendwie rein zu passen in diese Gruppe von Menschen, die mir so fremd waren, als sprächen sie eine andere Sprache. Dennoch traf ich mich öfter mit ihnen. Über die Zeit hinweg dauerte es immer ein wenig länger, bis meine Freundin mal wieder Zeit für mich hatte und immer waren die Anderen dabei. Mit jedem Mal fühlte ich mich unbehaglicher. Meine nervige und kindische Art stieß die gesamte Gruppe immer heftiger von mir fort. Sie rissen meine geliebte Schwester mit sich. Die Barriere zwischen uns war nicht mehr zu leugnen.

Nach einiger Zeit der Funkstille geschah es dann. Ich versuchte weiter mit ihr Kontakt zu halten, doch sie wurde immer abweisender, bis sie mich um ein Gespräch bat. Am Telefon versteht sich.
Was sie mir gestand hätte mich nicht härter treffen können, wenn ich es nicht bereits geahnt hätte. Sie erklärte mir mit fast lächerlicher Gleichgültigkeit, dass ihre Freunde mich peinlich und zu albern fänden und wie sie es erzählte, ließ es keinen Zweifel daran, dass es ihr genauso ging...
Sie legte auf. Ich legte auf. Ich weinte und sie bemerkte es nicht einmal. Ich weinte dicke, schwere Tränen, denn in meiner Seele hatte sich ein Riss gebildet, der vielleicht nie wieder heilen würde.

Von diesem Tag an riss sie sich endgültig von mir los. Sie versuchte, dass geschwisterliche Band zu kappen. In meinem Innersten öffnete sich eine Tür und ich versuchte, sie gehen zu lassen, doch das Band, dass mich schmerzlich an sie fesselte existiert noch heute. Wenn ich dir Tür zu dieser einen reservierten Ecke meiner Seele für sie verschließe, dann kappe ich die Verbindung endgültig. Doch jedes Mal, wenn die Tür beinahe ins Schloss fällt, kommt ein Windstoß und öffnet sie wieder ein Stück und das Band zerrt unbarmherzig an mir. Es sorgt dafür, dass ich meiner Schwester im Geiste hinterher renne, um sie eines Tages doch wieder in mein Innerstes eintreten zu lassen. Jedes Mal, wenn ich es fast geschafft habe, sehe ich ein Foto, träume von ihr oder treffe sie sogar wieder.
Zu allem Überfluss wohnt sie seit einiger Zeit ganz in meiner Nähe.
Seit ich von ihrem Umzug erfahren habe, steht die Tür wieder weit offen und ein eisiger Wind bläst herein und lässt mich vor einsamer Kälte zittern. Alle paar Monate sehe ich sie auf der Straße oder im Zug und ich sage mir: Geh vorbei. Lass sie endlich los!

Doch das Band ist jedes Mal stärker und zwingt mich zu einem kleinen Gespräch, für dass sie nie wirklich Zeit zu haben scheint. Immer förmlich und emotionslos. Ob sie mal Zeit für ein gemeinsames Eis hat? Sie meldet sich, wenn sie Zeit hat

, sagt sie. Seit nunmehr einem Jahr warte ich darauf...

Jedes Mal ist es ein Stich ins Herz und dennoch leuchtet meine Seele bei ihrem Anblick auf. Und das ist auch gut so. Für die Wärme, die mir ihre Freundschaft geschenkt hat, werde ich so lange frieren, bis jede Hoffnung begraben ist und das Band ganz von alleine reißt und wenn ich so lange friere, bis eines unserer Leben ein Ende gefunden hat.

Sie ist schließlich meine Schwester.


Impressum

Texte: Geschrieben von Melanie Kespohl
Bildmaterialien: Titelbild gefunden auf www.deviantart.com von littlemewhatever.
Tag der Veröffentlichung: 05.10.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme diese Geschichte meiner verlorenen Schwester.

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