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Da stand es wieder, das kleine Mädchen. Alice. Es war das dritte Jahr in Folge, dass sie sehnsüchtig in das Wohnzimmer einer Familie starrte, welche ein paar Straßen weiter wohnte. Ein Ehepaar mit 3 Kindern war es. Unter einem riesengroßen Weihnachtsbaum, glitzernd von oben bis unten. Geschenke darunter, die bis über die ersten Äste des Baumes hinausreichten und diese leicht zur Seite knickten. Die Kinder, ein kleines Mädchen und ein kleiner Junge und ein sehr kleines Kind, von dem sie annahm, es sei ebenfalls ein Mädchen, standen voller Erwartung vor diesem Berg von Glück und schienen nur noch auf einen Startschuss zu warten. Sie schienen so glücklich.
Es war ein sehr großes Haus. Eine reiche Familie, die eigentlich gar nicht in diese arme Gegend passte. „Wegen der urigen Umgebung“, hatte sie die Dame des Hauses einmal in einem Gespräch erklären gehört.
Die alte verkommene Kirchturmglocke verläutete mit einem schiefen und vibrierenden Ton, dass es 6 Uhr abends sei.
„Ich komme zu spät!“
Schnell zog das kleine Mädchen die Öffnung ihrer zu kleinen Jacke enger zusammen und lief nach Hause, mit nassen Füßen und schmerzenden Ohren, denn der Wind konnte ungehindert in sie hineinblasen. Es begann zu schneien. Sie hielt kurz inne, starrte gen Himmel und ließ die kleinen weißen Wunder auf ihr Gesicht und auf ihre Zunge rieseln, bevor sie ihren Heimweg fortsetzte.
Sie musste nicht einmal klopfen oder aufschließen, denn die Haustür hatte kein Schloss. Es war nur eine aus alten Holzbrettern zusammengebastelte Holzplatte mit Scharnieren dran. Die Wohnung war durchflutet vom Geruch der gebrannten Mandeln. Sie waren ein weihnachtlicher Leckerbissen, um welchen sie und ihre kleineren Geschwister jedes Jahr bangten, denn Mandeln waren in solchen Mengen zu teuer. Sie erinnerte sich an den Geruch des Bratens, welcher aus dem Haus der Reichen geströmt war und verfiel in Selbstmitleid.
In der Wohnung war es kaum merklich wärmer als draußen, weshalb Alice all ihre Sachen am Leibe behielt, als sie die Wohnung betrat. Im kleinen Wohnzimmer, welches eigentlich das Schlafzimmer der Eltern war, denn sie besaßen kein Wohnzimmer, saßen bereits alle zusammen, ihre 4 Geschwister, Mama und Papa. Sie saßen aneinander gekuschelt auf der Matratze und starrten mich erwartungsvoll an, denn ohne Alice wollte keiner damit beginnen, die kleinen Köstlichkeiten zu verspeisen. Schnell setzte sie ihr bestes Lächeln auf und gesellte sich zu ihrer Familie, vor ihnen die Schüssel voll gebrannter Mandeln. Sie sollten nicht merken, wie schlecht es Alice mit ihrem Leben ging. Ihre Mama drückte sie an sich, gab ihr einen herzlichen Kuss auf die Stirn und wünschte ihr fröhliche Weihnachten. Alices Geschwister stimmten mit ein und ließen ein, wie Alice schien, übereuphorisches „Fröhliche Weihnachten!“ erklingen. Alice konnte sie nicht verstehen. Warum waren sie nur so fröhlich. Sie hatten doch nichts. Nur diese gebrannten Mandeln. Keine Geschenke. Kein Weihnachtsbaum. Kein Feuer im Kamin. Alice wünschte ebenfalls ein fröhliches Weihnachten, damit sich ihre Geschwister endlich auf die Nüsse stürzen konnten. Und das taten sie auch. Sie griff ebenfalls dazwischen. Immerhin bekam sie sonst nichts Leckeres dergleichen. Die Mandeln waren sogar noch leicht warm. Alice genoss diese Wärme fast mehr, als den Geschmack und versuchte sie irgendwie zu speichern. Alice schaute zu ihrer Mama auf. Sie sah traurig aus, setzte aber gleich wieder ein warmes Lächeln auf, als sie ihren Blick bemerkte.
Nachdem die Familie alle Mandeln verputzt hatte, Mama und Papa wollten gar keine haben, sangen sie gemeinsam ein paar Weihnachtslieder. Alices Geschwister waren wie immer bei bester Laune und sangen aus voller Kehle.
Alice sah über die Schulter zum Fenster hinaus, um zu sehen, ob es noch schneite. Es schneite noch immer. Doch da war noch etwas anderes. Ein Gesicht eines kleinen Mädchens. Es war dunkel draußen und unser Zimmerchen wurde nur von einer einzelnen Kerzenflamme erleuchtet und dennoch erkannte sie das Gesicht. Es war das Mädchen aus der reichen Familie. Sie bemerkte Alices Blick und schien unsicher, was nun zu tun sei. Als sie sich abwandte um loszulaufen, rannte Alice ebenfalls wortlos zur Haustür, um sie aufzuhalten. Was wollte sie hier? Alice verstand nicht, warum sie nicht zu Hause war, bei ihren tollen Geschenken und dem Braten. Sie schmiss die Tür so feste auf, dass sie fast aus den Angeln fiel. Sie stellte sich dem reichen Mädchen genau in den Weg. Diese konnte nicht mehr rechzeitig bremsen, sodass beide in den weichen Schnee fielen. Sie sahen sich an. Die beiden Mädchen schienen sich schon ewig zu kennen. Alice fragte: „Was tust du am Weihnachtsabend hier? Ich weiß wer du bist. Warum bist du nicht bei deiner reichen Familie?“
Das reiche Mädchen stand auf und schüttelte sich den Schnee vom Leib. „Ich musste da einfach raus. Deine Familie beobachte ich schon länger.“
Alice stand ebenfalls auf. „Ich deine auch.“
So standen sie voreinander, beide sprachlos und unsicher und beide irgendwie unglücklich. In Alice tat sich eine merkwürdige Wut gegen dieses reiche Mädchen auf. „Was willst du hier? Du hast zu Hause doch alles, was du brauchst Und du amüsierst dich an meinem schlechten Leben.“
Verwundert schaute ihr das reiche Mädchen direkt in die Augen. „Schlecht? Wenn ein Leben schlecht ist, dann ist es doch meins.“
Dies sagte sie mit einer solchen Gewissheit, dass Alice verwirrt einen Schritt zurücktaumelte. „Was soll an meinem Leben denn gut sein?“
Ihr Blick wurde sehnsüchtig. „Die Liebe.“
Alice machte große Augen und versuchte, diese Worte zu verstehen. „Wie meinst du das? Ihr seht doch so glücklich aus, wenn ihr vor den Geschenken steht.“
„Ja, weil wir unsere Eltern fast nur an solchen Tagen sehen. Wir werden von einem Kindermädchen großgezogen. Von unseren Eltern kriegen wir Geld und Geschenke, aber dafür sind sie niemals für uns da.“
„Aber, ist das nicht auch toll?“
Sie sah Alice an, mit traurigen, verzweifelten Augen. „Ich würde sofort mit dir tauschen und nie mehr zurückwollen. In deiner Familie haben sich alle lieb. Deine Eltern kümmern sich um dich. Das ist dass Leben, das ich will.“
Alice versuchte sich vorzustellen, wie ihr Leben ohne ihre Eltern sein würde und konnte es nicht. Dennoch verstand sie, was dem reichen Mädchen so fehlte. Alices Eltern taten alles für sie. Sie liebten sie wirklich. Dafür sollte Alice dankbar sein.
In den nächsten Jahren kam das reiche Mädchen wieder zu Besuch, nur dass sie dann mit der armen Familie feierte und ihr sogar Geschenke mitbrachte. Es waren die allerschönsten Feste für Alice.


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Tag der Veröffentlichung: 05.12.2009

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