Kapitel 1
Es ist jetzt bereits 2 Jahre her. Es war Sommer und ich war 16. Die Ferien hatten vor einer Woche angefangen und ich war gerade mit meiner Mutter im Urlaub. An unserem letzten Tag war es heiß und windstill. Ich beschloss, die letzten Stunden am Strand zu verbringen, welcher bekannt war für seine kleinen Schätze. Mir lief damals ein Mann mit Metalldetektor über den Weg, was dort keine Seltenheit war. Er blickte verzweifelt um sich. Ich fragte ihn, ob ich ihm helfen könne. Er errötete und grinste.
„Ich müsste mal ganz dringend wohin, könnten Sie solange auf den hier aufpassen?“
Ich unterdrückte ein Kichern.
„Klar, kein Problem.“
„Vielen Dank!“
Er drückte mir den Detektor in die Hand und flitzte davon. Ich schaute ihm nach, keine Ahnung wieso. Vielleicht war ich nur neugierig, ob er es rechzeitig schaffen würde. Als er im Toilettenhäuschen verschwand, wandte ich mich ab und starrte auf den Detektor. Das Gerät ließ sich leicht mit einem Knopfdruck einschalten. Langsam machte ich ein paar Schritte. Das Gerät piepte langsam vor sich hin. Nach kurzer Zeit folgten die Töne in immer kürzen Abständen. Aufregung stieg in mir auf.
Reg dich nicht so auf! Wahrscheinlich ist das nur ein rostiger Nagel!
Aber meine Neugierde gewann. Je weiter ich ging, desto schneller wurde das Piepen und bald ließ es sich nicht mehr steigern. Als ich zur Toilette hinaufschaute, sah ich den Mann, der bereits zurückkehrte. Schnell zog ich meine Sandalen aus und markierte meine Fundstelle. Vorsichtshalber rannte ich ihm entgegen, damit er nicht neugierig wurde.
„Hier, bitte.“
„Vielen Dank. Wüsste gar nicht, was ich ohne Sie getan hätte.“
Er nahm den Detektor und verschwand winkend. Ich kicherte.
Was Sie dann getan hätten, kann ich mir denken.
Ich versuchte angestrengt eine bildliche Vorstellung zu vermeiden, dann drehte ich um und rannte zu meiner Markierung zurück. Nachdem ich meine Sandalen wieder angezogen hatte, begann ich sofort zu graben, erst in trockenem Sand, dann in feuchtem, bis meine Hände von etwas Wasser umspült wurden. So viel ich wusste hatte dieser Teil des Strandes noch vor kurzem unter Wasser gestanden.
Nach einer viertel Stunde hatte ich so tief gegraben, das meine Arme zu kurz waren um weiter zu machen. Der Sand hatte sich schmerzhaft unter meine Fingernägel gedrückt. Ich versuchte vergebens ihn loszuwerden. Dann überlegte ich, was nun zu tun sei. Als ich mich umschaute, fasste ich einen kleinen Garten ins Auge, an dessen Zaun eine Schaufel lehnte. Ich spielte mit dem Gedanken, sie mir schnell mal auszuleihen. Nach kurzen Gewissensbissen rannte ich so gut es im tiefen Sand ging auf sie zu, schnappte sie mir und machte wieder Kehrt. Ich blieb unentdeckt. Dann schaufelte ich eifrig los, bis meine Hände brannten. Das Holz in meinen Händen schien alt zu sein. Es kratzte und es war ein Wunder, dass ich mir nicht bei jeder Bewegung einen Splitter zuzog. Als auch die Schaufel fast zu kurz wurde, stieß ich endlich und tatsächlich auf etwas Hartes. Ungläubig starrte ich auf das metallisch glänzende Etwas. Der Drang und die Neugierde, die in mir aufstiegen, ließen mich trotz Rückenschmerzen und Hitze immer weitergraben. Mehr und mehr glattes Metall kam zum Vorschein. Nach etwa einer Stunde hatte ich ein metallenes Rechteck freigelegt, ca. 2 Meter lang. Ich erschrak bei dem Gedanken, es könne ein Sarg sein. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich legte die Ränder der Kiste frei. Mir war klar, dass ich so nie an sie rankommen würde. Also schaufelte ich eine Schräge in den Sand, an einer der kurzen Seiten der Kiste, an der eine Art Henkel befestigt war. Obwohl meine Arme sich bereits anfühlten wie Blei zog ich mit aller Kraft die Kiste aus dem Loch. Es schmerzte unheimlich. Ich biss meine Zähne zusammen, bis sie knirschten. Meine Finger waren rutschig vom Schweiß. Als die Kiste sicher auf dem Sand lag, wollte ich sie natürlich sofort öffnen, aber so sehr ich mich auch bemühte, der Deckel rührte sich nicht. Ich ließ mich auf den Boden fallen und schnappte nach Luft. Meine Lungen brannten. Meine Haare klebten an meiner nassen Stirn. Eine Weile lag ich da, um mich zu sammeln. Jeder Muskel meines Körpers schmerzte. Ich beobachtete die Wolken und dachte über den Inhalt der Kiste nach.
Ein Schatz? Ein Leichnam? Oder einfach nur wertloses, weggeworfenes Zeug?
Irgendwann hielt ich die Neugierde nicht mehr aus und stand auf. Mir entfuhr ein Stöhnen. Ich hätte schwören können meine Knochen wären zerbröselt.
Unser Ferienhaus stand zwar nicht direkt am Strand, aber auch nicht weit davon entfernt, also fasste ich einen Entschluss; Ich würde diese Kiste dorthin schleifen und wenn es das Letzte wäre, das ich tat! Also ergriff ich den Henkel und stemmte meine Füße in den Sand, um sie in Bewegung zu setzen. Ich brauchte fast 15 Minuten, um die Kiste über den Strand zu ziehen und noch ein paar, bis zu unserem Ferienhaus. Vor der Haustür ließ ich sie erst einmal liegen, rannte, oder besser taumelte zurück zum Loch, holte die Schaufel, lehnte sie wieder an den Zaun und stolperte zurück zu meinem Fund. Als ich vor der Tür stand, überlegte ich, was zu tun sei. Erst einmal die Kiste ins Haus und alles Mum erklären. Ich kramte den Schlüssel aus meiner schweißdurchnässten kurzen Hose und schloss auf. Mit allerletzter Kraft zog ich die Kiste ins Haus.
„Was soll das denn werden?“
Erschrocken blickte ich zu meiner Mutter auf. Ich keuchte schwer.
„Bitte, Mum. Ich habe die Kiste am Strand ausgegraben. Sie geht nicht auf. Bitte lass sie uns mitneh....“
Dann wurde alles schwarz. Ich war ohnmächtig geworden. Als ich aufwachte konnte ich durch ein Fenster die Abenddämmerung erkennen. Ich lag auf dem Sofa in unserem Ferienhaus. Der Schweiß an meinem Körper war fast getrocknet, dennoch waren meine Sachen noch feucht und kalt. Mich fröstelte es. Als ich aufstehen wollte, hielten meine Schmerzen mich davon ab.
„Na, Schlafmütze?“
Mum kam herein und half mir, mich aufzusetzen.
„Du hast gut 5 Stunden geschlafen. Alles ist abreisefertig. Ich habe deine Sachen gepackt und die Kiste auf den Rücksitzen verstaut. Einige der Nachbarn waren so freundlich zu helfen.“
„Wir nehmen sie mit?“
Meine Augen weiteten sich vor Aufregung.
„Danke, Mum!“
Ich sprang ruckartig auf, woraufhin mir ein leiser Schrei entfuhr. Eigentlich wollte ich ihr um den Hals fallen. Stattdessen stand ich da wie zur Säule erstarrt.
„Komm, ich helfe dir ins Auto.“
Langsam und vorsichtig schleppten wir uns nach draußen. Als wir im Wagen saßen, fuhren wir sofort los. Ich hatte nicht einmal mehr dran gedacht, mich umzuziehen, aber die Sachen waren ja eh alle eingepackt.
„Wie hast du dieses Ding überhaupt gefunden?“
„Ich hab kurz für jemanden auf einen Metalldetektor aufgepasst.“
Sie schaute mich kurz an.
„Aha.“
Ich lächelte nur und schlief nach kurzer Zeit wieder ein.
Kapitel 2
Ich wurde mitten in der Nacht von meiner Mutter geweckt. Wir waren zu Hause angekommen und ließen, bis auf das Wichtigste, erst einmal alles im Auto und gingen schlafen. Aber ich war nicht mehr müde und musste ununterbrochen an die Kiste denken. Ich saß an meinem Fenster und starrte in den Sternenhimmel. Um Mitternacht gab ich den Kampf gegen meine Neugierde auf, suchte im Keller nach Irgendetwas, womit ich die Kiste aufbekommen konnte und fand eine Brechstange. Ich dachte lieber erst gar nicht darüber nach, wofür Mum sie brauchte. Als ich das Haus verließ, meldeten sich meine Muskeln. Wäre ja auch ein Wunder gewesen, wenn die Schmerzen plötzlich weg gewesen wären. Insgeheim nahm ich mir vor, nie wieder Sport zu treiben. Ich öffnete eine der hinteren Autotüren und zog die Kiste mit einem kräftigen, schmerzhaften Ruck heraus. Sie fiel donnernd auf den Asphalt unserer Einfahrt, sodass ich kurz zusammenzuckte und mich umsah, ob in benachbarten Häusern Lichter angingen. Dann machte ich mich daran, sie aufzubrechen. Ich stieß die Brechstange so gut es ging zwischen Deckel und Kiste. Wütend fragte ich mich, wieso das blöde Ding nicht aus Holz sein konnte. Der Deckel gab etwas nach, aber er war schwer. Mit aller Kraft stemmte ich mich auf die Stange und wünschte mir zum ersten Mal in meinem Leben ein paar Kilos mehr zu wiegen. Mit einem letzten, kräftigen Ruck stieß ich den Deckel dann zu Boden. Ich warf die Brechstande zur Seite und beugte mich langsam, mit wild pochendem Herzen, über die Kiste. Mein Atem ging stoßend und ich konnte meinen Herzschlag hören. Diese unbändige Neugierde!
In der Kiste lag eine rote Decke, aber das konnte meiner Meinung nach ja nicht alles sein. Ich streckte meine Hand nach ihr aus. Meine Finger zitterten vor Aufregung so wild, dass ich Angst hatte, etwas anderes in die Finger zu bekommen, als nur die Decke. Ich konzentrierte mich angestrengt auf eine Ecke des Stoffstücks, das leicht nach oben geklappt war und ergriff es. Schwer atmend und hörbar schluckend wartete ich, bis sich mein Herzschlag etwas beruhigt hatte. Dann begann ich, die Decke langsam zurückzuziehen. Sie enthüllte etwas, das aussah wie Haare. Silberne Haare. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Also wirklich eine Leiche? Oder ein Tier? Ich zog weiter. Ein Ohr. Etwas weiter, ein geschlossenes Menschenauge. Also wirklich eine Leiche!
Ich ließ die Decke fallen. Sie klappte so zurück, dass das Auge aufgedeckt blieb. Ungläubig starrte ich es an. Plötzlich öffnete es sich. Nein, es riss beinahe auf! Kleine Schlitzpupillen weiteten sich, wie bei einem Tier. Ich war total erschrocken. Die goldene, kalte Farbe der Iris blendete mich beinahe. Ungläubig schaute ich auf das Auge hinab, das mich weit aufgerissen anstarrte. Ich trat ein paar Schritte zurück, ohne meinen Blick abzuwenden. Was auch immer da in der Kiste gelegen hatte sprang plötzlich auf und stand vor mir. Die Decke sank langsam zu Boden. Ich stand wie gebannt da. Mir stockte der Atem. Dann verspürte ich nur noch zwei Dinge; Verwirrung und Überraschung.
Ein Junge? Und dann auch noch schätzungsweise in meinem Alter? Ich wandte meinen Blick auf etwas anderes, das mir ins Auge stach.
Flügel.
Der Typ hatte Flügel.
Er starrte mich unentwegt an, wie ein Falke, der Beute gesichtet hatte. Verdattert glotzte ich zurück. Ich rieb mir die Augen, kniff mir in den Arm, aber ich wachte einfach nicht auf. Eindringlich musterte ich ihn. Der Typ rührte sich kein bisschen. Er erinnerte mich an eine Statue des gefallenen Engels. Sein silbernes Haar, seine goldenen, tierartigen Augen... Er war zwar angsteinflößend, aber irgendwie auch schön. Die Hose, die er trug, sah überraschend normal aus und auch sein nackter Oberkörper zeigte nichts Ungewöhnliches. Seine Flügel waren pechschwarz, und das sogar noch in der Dunkelheit. Sie waren dunkler als alles, was ich je gesehen hatte. Trotzdem schienen sie zu leuchten.
Ich ging einen vorsichtigen Schritt auf ihn zu und streckte meine Hand nach ihm aus. Meine Angst war wie weggeblasen.
„Ha... Hallo.“
Noch ein vorsichtiger Schritt. Doch wie bei einem aufgeschreckten Vogel weiteten sich seine Augen und er flog lautlos in die Dunkelheit. Ich sackte auf die Knie. Wortlos starrte ich hinaus in die schwarze Nacht.
„Lindsay! Bist du verrückt?! Was machst du da draußen?!“
Meine Mutter stand in der Haustür. Ich drehte mich zu ihr um. Schwankend stand ich auf, ging langsam und total verwirrt auf sie zu und lehnte mich ohne jedes Wort an sie.
„Lin, was hast du denn?“
Ich konnte spüren, wie sie sich umsah.
„Du hast die Kiste aufbekommen?“
Ich antwortete nicht.
Kapitel 3
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte meine Mutter die Kiste in den Keller geschafft. Ich stand auf und zog die Gardinen zur Seite. Grelles Sonnenlicht trat in mein Zimmer. Ich blinzelte. Mir tat alles weh. Beim Anblick des strahlend blauen Sommerhimmels und dem Vogelgezwitscher kam mir alles von letzter Nacht wie ein böser Traum vor. Wahrscheinlich war es sogar einer gewesen. Ich beschloss, dieses Thema abzuhaken und alles als Traum abzustempeln, auch wenn es ein sehr realer gewesen war.
Ich musste lachen. Ein Junge mit Flügeln, sehr real?
Es war 11.18 Uhr. Ich zog mich an und putzte mir die Zähne. Als ich aus dem Bad in den Flur trat, kam mir sofort der Geruch von überaus gut gelungenem Speck und Rührei entgegen. Ich ging langsam, um meine Muskeln nicht so sehr zu beanspruchen, in die Küche. Meine Mutter stellte gerade meinen Teller auf den Tisch.
„Guten Morgen, Mum."
Sie sah zu mir auf und lächelte.
„Guten Morgen. Hast du gut geschlafen?"
„Ja, tief und fest, aber ich hatte einen echt fiesen Traum."
„Falls du das mit der Kiste meinst, dass war kein Traum."
Ich setzte mich unbeeindruckt.
„Wenn du wüsstest, was ich gesehen habe, dann würdest du mir glauben, dass es ein Traum war."
„Aber es war kein Traum.", beharrte sie, „Ich habe dich schließlich ins Haus geholt."
Mein Herz schlug etwas schneller. Ich wollte mich unter gar keinen Umständen von ihr überzeugen lassen.
„Es war aber ein Traum."
Mum setzte sich neben mich und legte ihre Hand auf meine Schulter.
„Erzähl doch mal, was du gesehen hast."
Sie tat erst mir Speck, Ei und Toast auf, dann sich selbst. Wir aßen schweigsam, wobei mir jeder Bissen im Halse stecken blieb. Ich wollte dieses Thema einfach abhaken, aber Mums Blicke durchbohrten mich unentwegt. Nach ein paar qualvollen Bissen gab ich das Essen auf und schob meinen Teller beiseite.
„Also.", begann ich entschlossen und berichtete ihr so genau wie möglich, was ich in der Nacht gesehen hatte. Sie hörte aufmerksam zu. In kürzester Zeit hatte ich ihr alles erzählt.
„So, das war’s. Dann bist du rausgekommen."
Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und atmete tief ein. Ich hatte wohl zu schnell gesprochen. Auch Mum sackte in die Polsterung zurück.
„Du hast Recht. Das war ein Traum. Vielleicht bist du vor der offenen Kiste eingenickt oder schlafgewandelt."
„Ja, wahrscheinlich.", seufzte ich. Aber ein dumpfes Gefühl der Lüge blieb zurück.
Kapitel 4
Die nächste Ferienwoche verlief ruhig. Meinen Muskelkater hatte ich überstanden, ich traf mich mit Freunden und unternahm ab und zu irgendwas. Anfang der dritten Ferienwoche verabredete ich mich mit zwei Freundinnen, um in die Disco zu gehen. Ich hatte neue, hochhackige Schuhe gekauft und wollte sie gleich testen. Damit hatte ich mir im Nachhinein doch zu viel vorgenommen. Ich hielt es nicht einmal zwei Stunden auf der Tanzfläche aus, bis ich mich verabschieden musste und mich auf den Heimweg machte. Es war fast schon dunkel. Ich ging den Bordstein einer abgelegenen Straße entlang, raus aus der Stadtmitte. Meine Mum und ich wohnten etwas außerhalb, zwischen Feldern und in der Nähe eines Waldes. Um mich herum war die Straße von vielen dunklen Gassen gesäumt, welche größtenteils zum Abstellen von Mülltonnen genutzt wurden. Eigentlich fühlte ich mich nicht wohl dabei, so spät alleine unterwegs zu sein, aber meinen Freundinnen den Abend verderben wollte ich auch nicht.
Nach einiger Zeit hörte ich rechts von mir Gerumpel. Ich folgte dem Geräusch, weil ich immer gerne die Katzen aufsuchte, die sich in den Mülltonnen bedienten. Wenn Mum das wüsste würde sie mich wohl töten, aber das war mir egal. Ich steuerte auf die hinterste Mülltonne zu und schaute dahinter. Dort bedeckte eine große Plastikplane etwas. Ich griff nach ihr und zog sie zurück. Sofort sackte ich auf die Knie. Der Junge aus meinem Traum starrte mich an. Er saß zusammengekauert hinter der Mülltonne, völlig verwahrlost. Sein silbernes Haar glänzte kaum noch und erinnerte einen an diese Gestrüppkugeln aus Westernfilmen. Seine Hose war an den Knien aufgeschürft. Einer seiner Flügel schien gebrochen zu sein. Er hing schlapp herunter. Sein Blick sah gehetzt und ängstlich aus. Das konnte nicht einmal die Kälte seiner Augen verbergen. Als er mich sah, drückte er sich schützend an die Wand, an der er lehnte, ganz so, als wäre ich eine Bedrohung für ihn.
Was mich total beeindruckte war die Katze, die in seinen Armen schlief. Auch diese schien er schützen zu wollen. Sie wachte auf und miaute und als ob er antworten wollte, miaute der Typ auch, wobei er mich jedoch nicht aus den Augen ließ.
Er beherrschte also die Katzensprache?
Ich beobachtete die Katze. Sie war echt süß, klein und bunt getigert. Als ob er meine Gedanken gelesen hätte, streckte der Junge sie mir entgegen. Ihm schien klar zu sein, dass seine Angst mir gegenüber unberechtigt war. Dennoch waren seine Bewegungen zögerlich. Erschrocken starrte ihn an, berappelte mich aber gleich wieder und nahm die Katze auf den Arm. Als sie mich kratzen wollte, miaute der Typ wieder und sofort zog sie die Krallen ein. Ich musste fast lachen. Ein Junge der miaute war zu komisch. Fragend und gleichzeitig ein Lachen unterdrückend musterte ich ihn. Er lächelte ein wenig, als ich ihn ansah und antwortete auf meinen fragenden Blick:
„Ich hab's in deinen Augen gesehen."
Sofort schossen mir Tausende von Fragen durch den Kopf.
Ganz ruhig, nichts überstürzen.
Ich räusperte mich und versuchte ruhig zu klingen.
„Du verstehst mich?"
Er nickte.
„Ich kann jede Sprache, wenn ich sie nur einmal gehört habe."
Ich streichelte die Katze. Ihr Fell war seidig und glatt. Ihre Wärme durchfuhr meine Finger. Ich liebte dieses Gefühl. Dann schaute ich wieder zu dem Jungen auf.
„Wie heißt du?"
„Marok."
Und schon hatte ich mich nicht mehr unter Kontrolle. Das Eis war gebrochen.
„Ich bin Lindsay, aber meine Freunde nennen mich Lin!"
Ich errötete. Mir war noch gar nicht bewusst geworden, wie süß er eigentlich war und jetzt hatte ich ihn vor Aufregung förmlich angeschrieen. Er nickte nur und grinste, dabei fielen mir seine zu groß geratenen Eckzähne auf.
„Bist du ein Vampir?“
„Nein, aber du wirst wohl schon gemerkt haben, dass ich viel Tierisches an mir habe.“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Ja, kann sein.“
Jetzt war ich verlegen. So eine blöde Frage aber auch. Aber nun, da wir geredet hatten, erschien er mir fast schon normal, wie ein Mensch eben. Wir saßen eine Weile schweigsam da. Er schien mich leicht misstrauisch zu mustern. Mein Blick fiel wieder auf seinen geknickten Flügel.
„Wie ist das passiert?"
Er folgte meinem Blick und zuckte mit den Schultern.
„Hab mich in einer Stromleitung verfangen. Die Dinger sind ätzend."
„Hast du keinen Schlag bekommen?"
„Doch und wie!"
Er lachte kurz.
„Tut es sehr weh?"
„Es geht. Nach ein paar Tagen gewöhnt man sich fast dran."
Ich schaute nachdenklich zu Boden.
„Hey... Tut mir leid, wegen dieser Nacht. Ich hab dir bestimmt Angst gemacht."
„Nö. Irgendwie nicht."
Seine Augen weiteten sich ungläubig.
„Wie jetzt..."
Dann lachte er.
„Du hättest lieber Angst haben sollen. Ich war kurz davor dich zu töten! Ich dachte, du könntest ein Feind sein."
Ich verschluckte mich vor Überraschung. Nach einigem kräftigen Husten fand ich meine Stimme wieder.
„Du wolltest mich umbringen?!"
Er zuckte wieder mit den Schultern.
„Das haben Tiere so an sich. Wenn sie sich bedroht fühlen, greifen sie an.“
Ich grinste.
„Schon okay."
Wieder kurzes Schweigen. Als uns eine kalte Briese erfasste, bemerkte ich Maroks Frösteln.
„Du musst entsetzlich frieren, bist ja halb nackt."
„Auch daran gewöhnt man sich."
Ich setzte die Katze auf den Boden und stand auf.
„Was hast du vor?"
„Ich bedecke deine Flügel mit der Plane und dann kommst du mit. Keine Widerrede."
Er stand ebenfalls auf.
„Bestimmt nicht, ich habe keine Lust mehr auf Mülltonnen."
Ich warf einen kurzen verlegenen Blick auf ihn und war hin und weg.
„Man... du bist echt süß.“
„Was?“
„Ach, nichts!“
Ich errötete und bekam das Verlangen, mich für meine Blödheit zu ohrfeigen. Schnell beugte ich mich zur Plane herunter. Hinter mir hörte ich Maroks Schritte, die langsam näher kamen. Er beugte sich über meine Schulter.
„Du auch.“, flüsterte er und entfernte sich sofort wieder. Mir wurde heiß.
Okay, ganz ruhig. Dir hat gerade ein Typ mit Flügeln gesagt, du wärst süß. Na und?
Ich sprang schreiend auf und raufte mir die Haare.
Und wie soll ich bei so etwas ruhig bleiben?!
„Alles in Ordnung?“
Ich drehte mich entschlossen zu Marok um und versuchte normal zu klingen, vergriff mich allerdings im Ton.
„Natürlich! Komm, wir müssen los!“
Erschrocken schwieg er, während ich die Plane über seine Flügel warf. Inzwischen war es vollkommen dunkel geworden. Wir gingen schweigsam Seite an Seite. Einige Zeit später waren wir bei mir zu Hause angekommen und ich schloss die Wohnungstür auf.
„Lass die Plane noch drüber. Ich muss erst mal alles meiner Mutter erklären.“
Er nickte. Wir betraten den Flur. Sofort schaute Marok sich gründlich um. Ich hörte den Fernseher.
„Du bleibst bitte kurz im Flur, bis ich dich hole.“
Er nickte wieder, ohne mich anzusehen. Ich lächelte und ging. Mir gefiel seine Eigenart jetzt schon.
„Bin wieder da.“
Mum saß auf dem Sofa im Wohnzimmer und drehte sich zu mir um.
„Hi, wie war’s?“
„Gut, aber das ist jetzt weniger wichtig.“
Mum wusste sofort, dass Etwas nicht stimmte.
„Na dann, schieß mal los.“
In dem Moment konnte ich nicht ernst dreinschauen. Vielleicht war das ja auch besser so, damit sie sehen konnte, dass alles in Ordnung war.
„Weißt du noch, mein Traum von diesem Jungen?“
„Klar, was ist damit?“
Ich grinste breit.
„Es war kein Traum.“
„Wie bitte?“
Mum stand auf und betrachtete mich misstrauisch, wie jemanden, der den Verstand verloren haben könnte.
„Das glaubst du doch wohl selbst nicht.“
„Ich kann’s ja auch noch nicht wirklich glauben, aber es ist so. Ich habe ihn heute wiedergetroffen.“
Wortlos ging ich in den Flur zurück und ließ Mum verwirrt zurück. Ich zog die Plane von Maroks Flügeln und führte ihn zu ihr. Erschrocken starrte sie ihn an. Marok versuchte zu lächeln, aber er war wohl zu nervös. Ich deutete von der Seite auf ihn.
„Das ist Marok.“
Mum klappte das Kinn runter, als hätte ich auf einen Knopf gedrückt. Ich hatte sie noch nie so verwirrt und geschockt gesehen.
„Keine Sorge, er ist in Ordnung.“
Sie setzte sich langsam wieder auf die Coach, rieb sich die Schläfen und atmete tief ein.
„Okay.... Mir geht’s gut.“
Sie lehnte sich kurz zurück und schloss die Augen. Bald stand sie wieder auf und ging auf Marok zu.
„Tut mir leid. Ich musste das nur erst mal verdauen. Ich bin Victoria. Freut mich.“
Mit einem schüchterne Lächeln erwiderte er ihren Händedruck.
„Danke, ebenso.“
Mums Blick fiel auf Maroks geknickten Flügel.
„Ist der gebrochen?“
„Ich glaube schon.“
„Lin? Sieh mal im Telefonbuch nach der Nummer für die Tierarztpraxis und ruf dort an. Lass dir erklären, wie man so etwas verarztet.“
„Ja! Mach ich!“
Ich war überglücklich. Als ich mit dem Telefonbuch im Flur stand, gingen Mum und Marok in die Küche. Jetzt würde er endlich mal wieder was Gutes zu Essen bekommen. Ich fand die Nummer und wählte.
„Hier die örtliche Tierarztpraxis, was kann ich für Sie tun?“
„Ja, guten Tag. Können Sie mir vielleicht erklären, wie man einen am an der Schulter gebrochenen Flügel behandelt?“
Kurzes Schweigen.
„Ohne Vorkenntnisse sollten Sie so etwas nicht alleine machen.“
„Ah... okay. Ist Ralf da?“
„Doktor Miller? Er hat heute Nachtschicht. Er ist also noch bis morgen früh hier.“
„Okay, dann kommen wir in den nächsten Stunden mal vorbei. Vielen Dank.“
„Auf Widerhören.“
Ich legte auf und ging in die Küche, um Mum Bericht zu erstatten:
„Wir müssen da gleich hinfahren. Die meinten, wir bräuchten Vorkenntnisse.“
„Wie hast du dir das denn vorgestellt?“
„Ach Mum, lass mich nur machen. Ralf ist heute Nacht da.“
„Geht wohl nicht anders.“
„Marok, einverstanden?“
Er würgte schnell alles herunter, was er im Mund hatte, was viel gewesen zu sein schien.
„Ich vertraue dir einfach mal.“
Ich setzte mich und sah ihm beim Essen zu. Er schien das völlig zu ignorieren. Er aß auf und bedankte sich herzlichst bei meiner Mutter.
„Können wir dann los?“
„Ach herrje.“
Mum sah ratlos an Marok herunter.
„Wir haben ja gar nichts für ihn zum Anziehen. Ich hole mal meine Turnschuhe. Mit etwas Glück passt er rein.“
Marok errötete leicht.
„Und ich hole die rote Decke aus dem Keller. Sonst müssen wir wieder die Plane nehmen.“
Kurze Zeit später stand ich mit der Decke in der Küche. Mums Schuhe waren nur so klein, dass Marok noch reinpasste und somit waren wir startklar.
Kapitel 5
Wir fuhren durch die Nacht. Marok beobachtete Alles, an dem wir vorbei fuhren, ganz genau. Er bekam gar nicht mit, dass ich ihn beobachtete. Ich wollte wissen, wer er war, wieso er hier war. Ich konnte sein Spiegelbild im Fenster sehen. Seine Augen wirkten glasig. Er schien ganz woanders zu sein, in seinen Gedanken versunken.
„Marok?“
Er rührte sich nicht.
„Was genau bist du überhaupt? Woher kommst du?“
Ohne sich zu rühren, begann er zu erzählen:
„Ich bin eigentlich völlig normal, zu Hause zumindest. Ich bin ein Ilan.“
„Und wo bist du zu Hause?“
Marok seufzte schwer.
„Wenn ich das wüsste. Ich fühle mich, als wäre ich in einem anderen Universum gelandet. Viele von uns, musst du wissen, besitzen, wie ihr es nennt, übermenschliche Fähigkeiten. Wir sind eine sehr friedliche Art, was von eurer wohl nicht gerade gesagt werden kann. Nicht böse gemeint. Auf jeden Fall werden unsere Kräfte deshalb so gut wie nie missbraucht.“
„Und wie bist du dann hierher geraten?“
Er lächelte traurig. Ich blickte fragend zu ihm auf. Endlich drehte er sich um und schaute mich an.
„Du willst eine Erklärung? Der Grund, warum ich hier bin, ist schon fast lächerlich.
Es gibt ein Mädchen in meiner Welt, das total in mich verknallt ist. Aber wie das dann so ist, gibt’s auch einen Typen, der total in sie verschossen ist. Kurz und knapp, er hat mich aus Eifersucht hierher verbannt. Ich weiß nicht, wie er das geschafft hat. Er muss sehr stark sein. Er hat einen Fluch auf diese Kiste gelegt, den du gebrochen hast, als du sie geöffnet hast.“
Er versuchte zu lachen.
„Albern, oder? Und das obwohl ich gar nichts von ihr wollte.“
Instinktiv legte ich meine Hand auf seine.
„Wenigstens bist du bei uns sicher.“
Er drehte seine Hand um und umschloss meine fest. Ich überlegte angestrengt, womit ich die Stimmung lockern könnte.
„Hast du auch solche Kräfte?“
„Nicht, dass ich wüsste. Sie werden bei uns vererbt. Mein Vater hatte keine, aber meine Mutter. Eigentlich müsste ich ihre Kräfte haben.“
„Was konnte sie denn?“
Er grinste belustigt.
„Du bist echt neugierig.“
Ich errötete.
„Ist schon okay, ich mag das. Also meine Mutter hatte ganz besondere Kräfte. Sie konnte sie nur bei Ilans einsetzen, die sie über alles liebte. So wie bei mir.“
Sein Lächeln verschwand.
„Sie ist tot, oder?“
„Sie hatte die Macht unvorstellbare Kräfte zu entwickeln, wenn jemand, den sie über alles liebte in Gefahr schwebte. Sie konnte dann zum Beispiel unglaublich schwere Lasten heben. Aber anscheinend stirbt man nach diesem Kraftakt sofort, zumindest, wenn zu viel Kraft benötigt wird.“
„Und sie hat dich gerettet?“
„Ja. Sie hatte die Wahl. Mein Vater oder ich.“
„Was ist euch passiert?“
„Ein simpler Steinschlag. Mein Vater und ich wurden begraben. Meine Mutter hievte einen Felsbrocken von mir herunter. Ich entging nur sehr knapp dem Tode.“
Ich drückte seine Hand.
„Mein Vater starb noch unter den Trümmern. Ich war sechs.“
„Wirklich? Ich war wenigstens schon zehn, als mein Vater starb.“
„Das ist ja furchtbar!“
Jetzt musste Mum sich wohl doch mal einmischen.
„Du Armer! Und bei wem hast du dann gelebt?“
„Bei uns gibt es auch so etwas wie Ersatzeltern.“
„Es tut mir trotzdem leid.“
Wir fuhren auf den kleinen Parkplatz der Tierpraxis. Als wir die Empfangshalle betraten, wurden wir sofort misstrauisch gemustert. Kein Wunder. Man sieht ja auch nicht alle Tage einen verwahrlosten Jungen mit Decke auf dem Rücken und dann auch noch an so einem Ort. Wir traten vor den Schalter und wurden von einer Angestellten hinter einem Computer begrüßt:
„Guten Tag, wie kann ich helfen?“
Ich trat vor.
„Ich habe vor ein paar Stunden angerufen.“
Sie musterte uns.
„Und wo ist das verletzte Tier?“
Ich deutete auf Marok, welcher erschrocken zurückwich. Er dachte wohl, ich wollte ihn verraten.
„Unter der Decke. Fragen Sie bitte nicht weiter. Könnten Sie nachsehen, ob Ralf mich empfangen kann?“
Sie seufzte und bat uns einen Moment im Wartezimmer Platz zu nehmen. Marok schien sehr nervös.
„Das wird schon.“, beruhigte ich ihn. „Ich kenne den Tierarzt hier.“
Er lächelte trocken.
Nach ein paar Minuten bat uns eine Schwester in einen Behandlungsraum. Wir traten ein und schlossen die Tür hinter uns.
„Hi!“, begrüßte ich den Mann, der uns den Rücken zuwandte. Er drehte sich prompt um und lächelte, als er mich sah.
„Hallo! Schön dich zu sehen, Lin.“
Er musterte uns kurz.
„Und wo ist der Patient?“
„Na ja, weißt du... das ist schwierig. Du musst schweigen. Davon darf niemand erfahren.“
Seine Miene wurde ernst.
„Ich schweige wie ein Grab.“
Ich deutete auf Marok.
„Gebrochener Flügel.“
Ralf zog eine Augenbraue hoch.
„Du willst mir weis machen, der Typ da hat einen gebrochenen Flügel?“
„Er heißt Marok.“
Ich nahm seine Hand und zog ihn näher zu Ralf hin. Dann nahm ich die Decke herunter und deutete von der Seite auf den geknickten Flügel.
„Bekommst du das wieder hin?“
„Du willst mich wohl für dumm verkaufen!“
Ralf wurde wütend. Er mochte es gar nicht, wenn man ihn reinlegte. Schnell marschierte er auf Marok zu und zog an dem angeblich gebrochenen Flügel. Dieser schrie kurz auf, dann schlug er wild mit seinem unverletzten Flügel. Der Windstoß ließ einige Papiere durch die Luft segeln. Ralf ließ erschrocken von ihm ab. Marok wirbelte herum und starrte ihm direkt ins Gesicht, während er zu einem Schlag ausholte. Seine Nägel wuchsen zu Krallen und in seinen Augen spiegelte sich der Verteidigungsinstinkt eines in die Enge gedrängten Tieres. Sie waren nun vollkommen tierartig und strahlten eine enorme Boshaftigkeit aus. Ich sprang an seinen ausgestreckten Arm und hielt ihn fest umklammert.
„Nein! Tu es nicht!“
Sofort hielt er inne und blinzelte, als wäre er in Hypnose versetzt gewesen. Ralf fiel auf die Knie und starrte entsetzt ins Nirgendwo. Seine Brille hing schief auf der Nase, seine Haare standen zu Berge und er zitterte am ganzen Leib. Marok taumelte zurück, sich scheinbar selbst nicht bewusst, was passiert war.
„Tu... Tut mir leid...“
Er rieb sich kurz ein Auge und atmete tief durch.
„Ich hätte Sie nicht umgebracht. Ich hätte Ihnen zwar eine verpasst, aber das wäre es auch gewesen. Ich kann nichts dafür, dass ist mein Instinkt.“
Ralf rückte seine Brille zurecht und schluckte hörbar. Schwankend stand er auf, wobei er sich am Behandlungstisch abstützte. Dann blieb er ein paar Sekunden dort stehen und sammelte sich. Marok beobachtete ihn mit besorgtem Blick. Nach einiger Zeit schien Ralf wieder ganz da zu sein.
„Okay, dann lass mich den Flügel mal sehen. Ich hoffe, ich habe es nicht noch schlimmer gemacht.“
Zitternd und übertrieben behutsam griff er erneut nach dem verletzten Flügel und musterte ihn. Auch Maroks Anspannung war deutlich zu spüren. Mum hatte sich bereits in eine Ecke verkrochen und las Zeitschriften. Das Alles schien ziemlich an ihr vorbei zu gehen. Ich fühlte mich dadurch wie im falschen Film
„Komm bitte mal mit. Ich muss das röntgen.“
Ralf ging zur Tür und spähte durch einen kleinen Spalt auf den Flur hinaus. Dann wandte er sich wieder uns zu. Es schien alles in Ordnung zu sein.
„Okay, dann lass uns kurz rüberhuschen.“
Marok folgte ihm leise und schnell in den Flur. Bereits nach ein paar Minuten kamen sie zurück. Ich war einfach stehen geblieben wo ich war und hatte gewartet. Ralf wies uns an, erneut zu warten, nachdem er Marok zurück gebracht hatte und wieder verschwand. Dann kam er mit den Röntgenbildern zurück. Ich gähnte.
„Lasst mir kurz Zeit, sie mir anzusehen.“
Marok war merkbar neugierig und versuchte, Ralf über die Schulter zu schauen. Nach einigen kurzen Blicken wandte sich Ralf von den Bildern ab und lächelte entschlossen.
„Das wird kein Problem. Er ist nur ausgekugelt.“
Er wandte sich an Marok.
„Das wird kurz ziemlich schmerzhaft... Kann ich darauf vertrauen, dass du nicht wieder austickst?“
„Tut mir leid, aber ich kann nichts versprechen.“
Ralf räusperte sich.
„Nun gut, ein schmerzhafter Ruck und dein Flügel ist fast so gut wie neu. Leider ist die Stelle inzwischen sehr gereizt, weil er schon so lange ausgekugelt ist.“
Marok wirkte unsicher.
„Okay. Aber ich kann wirklich nichts versprechen.“
„Klappt schon. Wenn du soweit bist, beiß hier bitte drauf.“
Er hielt Marok ein Stofftuch vor den Mund, dann stellte er sich hinter ihn und griff nach seiner Schulter und seinem Flügel.
„Okay, bereit?“
Marok nickte.
„Auf 3. 1... 2... 3!“
Ein kräftiger Ruck. Marok verkrampfte sich kurz und biss kräftig auf das Tuch. Dann nahm Ralf es ihm aus dem Mund und warf es in ein Spülbecken.
„So, dass war’s schon. Aber ich stütze ihn lieber noch ein bisschen, damit er komplett verheilt.“
Dann machte er sich daran, den Flügelansatz zu bandagieren und hängte ihn mit einer Verbandsschlaufe etwas an Maroks Hals, damit die Belastung weniger wurde. Im Prinzip, wie bei einem verletzten Arm.
„Und, wie fühlst du dich?“
Marok strahlte.
„Viel besser, danke!“
Endlich gesellte sich Mum wieder zu uns. Wir bedankten uns alle mehrmals.
„Was schulde ich Ihnen, Doktor Miller?“
Er grinste verschmitzt.
„Das lassen Sie bleiben. Wenn das hier wirklich geheim bleiben soll, sollten Sie mir besser gar nichts bezahlen.“
Mum lachte dankbar.
„Ihr solltet nach Hause fahren, es ist spät.“
Ich schaute auf die Wanduhr über der Tür. Kurz nach Mitternacht. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie müde ich war.
„Lasst den Verband drei Tage um, dann kommt noch mal vorbei.“
Ich war total froh, dass es Marok wieder gut ging. Als ich ihn angrinste, fielen mir erneut seine Haare auf.
„Marok, du solltest wirklich noch duschen bevor du ins Bett gehst. In der Zeit können wir ja dein Bett machen.“
Er gähnte laut.
„Meinetwegen.“
„Okay Kinder, dann lasst uns abhauen. Auf Widersehen Doktor Miller.“
„Auf Widersehen.“
Ich warf die Decke über Maroks Flügel und wir verließen die Praxis.
Kapitel 6
Um fast 1 Uhr richteten Mum und ich das ausziehbare Sofa im Wohnzimmer für Marok her. Er war bereits duschen gegangen, seine Hose in der Waschmaschine. Nach einiger Zeit war das Wasser nicht mehr zu hören. Mum klopfte einmal an die Tür, bevor sie diese einen Spalt weit öffnete, um die Hose hindurchzuschieben.
„Danke."
„Kein Problem."
Sie hatte alle Mühe gehabt, Marok die Dusche zu erklären. Er hatte sie zwar verstanden, aber mit der Wärmeregelung und mit dem Druck war er gar nicht zurecht gekommen. In meinem Zimmer zog ich mich um und entschied mich für ein Nachthemd ohne Ärmel, weil es draußen sehr heiß war. Ich fragte mich, ob ich bei der Hitze überhaupt schlafen konnte. Als ich in den Flur trat, kam Marok gerade aus dem Bad. Seine Haare klebten noch nass in seinem Gesicht.
„Du hast aber lange gebraucht."
„Hey, fürs erste Mal ging es doch."
Dann schaute er reflexartig an mir herunter und ich hätte schwören können, dass ein kurzes Entzücken über sein Gesicht huschte. Ich musterte ihn ebenfalls. Er sah echt gut aus, dünn und sportlich.
„Dann gehe ich jetzt mal ins Bad."
Er machte den Weg zur Tür frei, ohne mich aus den Augen zu lassen. Seine Blicke schmeichelten mir. Ich schloss die Tür hinter mir. Nach kurzem Innehalten putzte ich mir die Zähne und wusch mir das Gesicht. Als ich zurück in den Flur kam, sah ich Marok bereits im Wohnzimmer liegen und schlafen. Kein Wunder. Es war sicher eine lange und schwere Woche für ihn gewesen. Er sah total süß aus, wie er da lag. Ich hätte am liebsten vor Begeisterung losgequiekt. Schnell huschte ich in mein Zimmer, um meine Digitalkamera zu holen. Ich knipste ihn einige Male, bevor ich ihn eindringlich musterte. Alles war still, bis auf sein leises Atmen. Sein Gesicht war völlig entspannt und friedlich. Ich kniete mich neben ihn und strich eine silberne Haarsträhne von seiner Stirn. Dann stand ich auf und ging ebenfalls zu Bett.
Am nächsten Morgen schob ich die Gardinen zur Seite. Es war Dienstag. Grauer, wolkenverhangener Himmel.
Na toll, ich wollte heute doch raus.
Mürrisch gähnte ich, während ich zur Tür ging und sie öffnete. Ein kurzer Schmerz an der Stirn und ich taumelte zurück.
„Tut mir leid! Ich wollte gerade anklopfen! Hab ich dich doll erwischt?“
Ich blinzelte in die plötzliche Helligkeit des Flurlichtes. Marok stand vor mir, hastig mit den Händen wedelnd. Meine Augen gewöhnten sich schnell an das Licht und allmählich erholte ich mich von dem Schreck. Ich hielt mir die Stirn und machte mit der rechten Hand abweisende Bewegungen, damit er wusste, dass es mir gut ging. Er hatte mir im Prinzip an die Stirn geklopft.
Ich musste lachen.
„Es geht schon."
Mir fiel auf, dass Marok rot wurde, als er auf etwas zeigte. Der Träger meines Nachthemds war bis zum Ellenbogen herunter gerutscht. Schnell zog ich ihn hoch und für kurze Zeit wurde mein Gesicht heiß.
„Also, was wolltest du?“
Verlegen kratzte er sich am Kopf und schaute zur Seite.
„Ich wollte dich wecken...“
Ich schaute hinter mir auf eine Digitaluhr. Kurz nach 8 Uhr.
„Du wolltest mich in den Ferien um 8 Uhr wecken? Schon mal was von Langschläfern gehört?“
Er kratzte sich noch heftiger und wurde wieder rot.
„Na ja, ich bin schon seit 6 Uhr wach und hab einen riesigen Hunger.“
Wie auf ein Signal hin knurrte sein Magen. Schnell stemmte er seine Arme in den Bauch, um die Laute zu stoppen. Ich grinste breit und unterdrückte ein Lachen.
„Du hättest dich ruhig in der Küche bedienen können.“
„Ich wollte nicht einfach in den Schränken rumwühlen.“
„Okay, lass mir noch einen Moment. Du kannst schon mal in die Küche gehen.“
Wieder ein Knurren.
„Ich beeile mich wohl besser.“
Kurze Zeit später folgte ich ihm. Er saß auf der Bank und starrte mich erwartungsvoll an.
„Wie hast du überhaupt geschlafen?“
„Merkwürdiger Weise sehr gut.“
Ich schaute ihn fragend an.
„Wieso wundert dich das? Du warst doch mehrere Nächte draußen, oder?“
Er nickte kurz.
„Hast Recht.“
„Immer doch.“
Er lachte.
Ich stellte den Eierkocher ein und begann den Tisch zu decken, während er mir von der Küchenbank aus zusah. Dann nahm ich das Brot aus dem Schrank.
„Du?“
Ich drehte mich zu ihm um. Er sah mir so lieb entgegen, dass ich fast erschrak.
„Danke.“
Verdattert überlegte ich, warum er das gesagt hatte. Er stand auf und kam auf mich zu.
„Danke für Alles.“
Da ging mir ein Licht auf.
Er nahm mir blitzschnell das Brot aus der Hand, legte es zur Seite und schlang seine Arme um mich, seinen Kopf auf meine Schulter gelegt. Der Verband streifte meine Wange. Ich war erstarrt und musste einige Sekunden warten, bis ich seine Umarmung erwidern konnte. Sein Griff wurde fester.
„Danke.“
Ich genoss seine Nähe. Irgendwie gefiel mir sein Geruch. Wir standen einfach nur so da, bis das schrille Piepen des Eierkochers uns aufschreckte und wir voneinander abließen.
„Ähm... ich muss mich gerade um die Eier kümmern.“
Aber er stand nur da und schaute mich an. Ich lächelte, hatte es aber eilig mich umzudrehen, damit er mein rotes Gesicht nicht mehr sehen konnte, doch sobald ich ihm den Rücken zugewandt hatte, strich er von hinten eine lange braune Haarsträhne aus meinem Gesicht und gab mir einen kurzen Kuss auf den Hals. Ich erstarrte und bekam am ganzen Körper Gänsehaut. Dann brach ein Grummeln die Stille. Ich bekam sofort einen Lachanfall.
„Ist dein Magen emotionsgesteuert?“
Er begann ebenfalls aus voller Kehle zu lachen.
„Hey Kinder! Mich gibt’s auch noch!“
Mum stand in der Tür, rieb sich die Augen und gähnte genüsslich. Dann wünschte sie uns einen guten Morgen.
„Und Marok, wie hast du geschlafen?“
„Total klasse, danke. Und nicht nur dafür. Ich muss mich für Vieles bedanken. Sie haben mir sehr geholfen.“
„Nicht so förmlich, du kannst DU sagen.“
Er nickte fröhlich.
„Mum, ich habe dir ein Ei mitgekocht.“
„Oh, danke!“
Sie setzte sich an eine freie Tischseite im 90°-Winkel zu Marok. Ich schreckte die Eier unter kaltem Wasser ab, bevor wir alle frühstückten. Maroks Magen hatte nicht zu viel versprochen. Er aß so schnell, wie ich es noch nie zuvor bei jemandem gesehen hatte.
Den Rest des Tages verbrachte ich damit, ihm alles Mögliche zu zeigen. Wegen des schlechten Wetters wollte ich sowieso nicht raus. Ich brachte ihm haufenweise Spiele bei; Brettspiele, Computerspiele, alles, was mir gerade einfiel. Wir lachten fast ununterbrochen. Kein Wunder, er war leicht begriffsstutzig und ich war nicht gerade die beste Lehrerin. Am Nachmittag spielten wir dann einiges mit Mum zusammen. Wie sich bald herausstellte, war Marok in allen Spielen unschlagbar, sobald er sie richtig beherrschte. Am Abend ging meine Mutter auf die Geburtstagsfeier einer Freundin. Ich entschied mich dazu, mit Marok einen Film zu gucken und fand einen Vampirfilm im Fernsehprogramm. Es war bereits viertel nach Acht und der Film würde jeden Moment anfangen, also schaltete ich den Fernseher ein. Es lief noch Werbung.
„Marok?“
„Mhm?“
„Ich würde dich morgen gerne meiner besten Freundin vorstellen.“
„Glaubst du, das würde gut gehen?“
„Aber auf jeden Fall! Sie wird total auf dich abfahren.“
„Bin ich so wichtig?“
„Aber klar! Erstens, du bist total süß. Zweitens, du wohnst erst mal hier und drittens, du hast Flügel und kommst aus einer anderen Welt. So was verheimlicht man seiner besten Freundin nicht.“
„Das ist jetzt schon das zweite Mal, dass du mich süß nennst.“
„Das bist du ja auch.“
Er lächelte.
„Dann sag ich dir auch noch mal, dass du süß bist.“
Mein Gesicht wurde heiß, aber ich schämte mich nicht mehr dafür. Ich hatte mich noch nie so wohl gefühlt, wenn mir jemand so etwas sagte. Ich hatte mich allgemein bei einem Jungen noch nie so wohl gefühlt. Und ich war noch nie so zu jemandem hingezogen gewesen. Ich schloss einfach meine Augen und lehnte mich an seine linke Schulter und seine Arme legten sich um mich, als wäre es selbstverständlich. Ich kuschelte mich ganz fest an ihn und schaute zum Fernseher. Der Vorspann des Films begann. Mehr bekam ich nicht mehr mit, bevor ich einschlief.
Kapitel 7
Ich blinzelte. Mir war warm. Maroks Arme hielten mich noch immer. Sein Gesicht vor meinem, sein Atem an meiner Stirn. Sein gesunder Flügel bedeckte mich und war kuscheliger als jede Decke. Ich strich über seine Wange, drückte mich fest an seine Brust und schloss die Augen. Er rührte sich ein wenig, bis er mich noch fester hielt und sein Flügel meine Füße bedeckte, dann ein leichter Kuss auf meine Stirn und er lag wieder still, bis auf das fortwährende Auf und Ab seines Brustkorbs. Sein Herz schlug schnell und ich fragte mich, ob das daran lag, dass er so tierartig war, oder ob ich sein Herzrasen verursachte.
Gerade, als ich wieder in den Schlaf übergleiten wollte, klingelte es an der Tür. Marok rührte sich nicht. Ich schob vorsichtig seine Arme und den Flügel beiseite, innerlich den unverhofften Besuch verfluchend. Ein geschickter Satz über Marok hinweg und ich stand schwankend auf dem Wohnzimmerteppich. Sofort beeilte ich mich, die Tür zu öffnen. Meine nackten Füße nahmen sofort die unangenehme Kälte des Hausflurs auf.
„Kath, was machst du denn hier?“
Meine beste Freundin Katharina stand grinsend da und umarmte mich zur Begrüßung.
„Hey, immerhin haben wir schon Mittag und mir ist langweilig. Habe ich dich etwa geweckt?“
„Du kennst mich doch...“
„Tut mir leid.“
Ich rieb mir die Augen. Plötzlich kam mir Marok wieder in den Sinn und ich wurde hellwach. Es platzte einfach aus mir heraus:
„Ich muss dir jemanden vorstellen!“
„Was?“
Dann zuckte sie zusammen und schaute erschrocken an mir vorbei. Ihre Augen weiteten sich ungläubig. Mir wurden von hinten Arme um den Hals gelegt und Maroks Kopf erschien neben mir.
„Noch schlafen.....“
„Marok, was soll das? Du gibst mir ja nicht mal Zeit, sie auf dich vorzubereiten.“
Endlich schien er Katharina mit teilnahmsloser, schläfriger Miene zu bemerken und anzuschauen, während sie nur stocksteif dastand.
„Oh... tut mir leid.... Hab dich nicht bemerkt... Ich bin Marok...“
Ich verpasste ihm eine Kopfnuss.
„Versuch wenigstens interessiert zu klingen.“
Ich richtete mich wieder an Kath.
„Keine Panik.“
Ich schob Maroks Arme weg und stellte mich neben sie.
„Marok, dass ist Katharina. Meine beste Freundin.“
Er schien endlich wach zu werden.
„Ach, du bist das also. Sie hat mir gestern von dir erzählt.“
Endlich lächelte er. Kath rührte sich noch immer nicht, bis auf ihren Arm, der wie ein von fremder Hand gesteuerter Hebel langsam nach oben ging. Ihr Zeigefinger streckte sich und deutete auf Maroks Flügel.
„I... Ist der echt?“
Er glotzte sie leicht irritiert an, bevor er begriff und kurz lachte.
„Ja, ich hab sogar zwei davon.“
Kath drehte sich zu mir um.
„Und er ist wirklich in Ordnung?“
„Mehr als das.“
Ihr Gesicht hellte schlagartig auf.
„Wow, das ist ja abgefahren!“
Blitzschnell stand sie hinter ihm und griff nach seinem Flügel.
„Hey...“
Marok kam gar nicht hinterher, als sie ihr Fundstück gründlich abtastete.
„Der ist ja klasse!“
Sie benahm sich wie ein kleines Kind, dem man zu viel Kaffee gegeben hatte. Als Marok sich zu ihr umdrehte, griff sie blitzschnell nach seinem Kopf und starrte ihm direkt in die Augen.
„Krasse Farbe!“
Als ihre Finger in Richtung seiner Lippen wanderten und sie sich anscheinend seine Zähne anschauen wollte, erwischte er ihre Hände gerade noch, bevor sie seine Kiefer auseinanderziehen konnte. Ich bekam einen Lachanfall und stützte mich an den Türrahmen. Beide glotzten mich wie auf Kommando an. Dann setzte Marok einen genervten Gesichtsausdruck auf und wandte sich wieder an Kath.
„Jetzt reicht es aber.“
Er ließ ihre Hände los, ohne sie aus den Augen zu lassen, doch sie strahlte weiterhin übers ganze Gesicht, ohne sich von seinen drohenden Blicken irritieren zu lassen.
„Wenn ich das meinen Freunden erzähle!“
Sofort packte Marok energisch ihre Schultern und schüttelte sie.
„Bist du irre?! Das darf keiner wissen!“
Sie bemerkte scheinbar sofort die Angst in seinem Ton. Ihr Lächeln wich einem schuldbewussten Nicken.
Alles war still. Man konnte die Anspannung in der Luft förmlich greifen. Marok ließ Kath los, machte einen Schritt zurück und stapfte dann in mein Zimmer. Die Tür knallte. Kath Augen wurden feucht. Ich nahm ihre Hand.
„Mach dir nicht zu viele Gedanken darüber. Ich habe ihn erst gefunden, nachdem er schon eine Woche auf der Straße gelebt hatte. Ich weiß nicht, was ihm in dieser Zeit alles passiert ist.“
Dann nahm ich sie mit ins Wohnzimmer und erzählte ihr, wie ich Marok das erste Mal gesehen hatte, wie er davongeflogen war und wie ich ihn dann wiederfand.
„Dann habe ich wohl wirklich Mist gebaut.“
„Quatsch. Das wird schon. Komm mal mit. Ich wette, er hat schon Schuldgefühle und will sich entschuldigen.“
Ich zog sie in mein Zimmer, wo Marok in meinem Bett lag und schlief. Ich ließ Kath an der Tür stehen, hockte mich neben das Bett und streichelte Marok über die Stirn. Er schlug die Augen auf. Nach kurzer Besinnung, nahm sein Gesicht einen schuldbewussten Ausdruck an.
„Tut mir leid.“
Ich lächelte.
„Das musst du ihr sagen.“
Er setzte sich auf, leicht überrascht, dass Kath nicht geflüchtet war. Sie stand an der Tür und spielte mit ihren Fingern, wie ein kleines Kind beschämt zu Boden starrend.
„Tut mir leid, Kath.“
Sie rührte sich nicht und schaute weiter zu Boden, doch Marok lächelte entschuldigend.
„Lass uns die Sache einfach vergessen, okay? Ich bin ziemlich ausgeflippt. Du hast nichts falsch gemacht.“
Sie schaute schüchtern auf und versuchte ebenfalls zu lächeln.
„Mir tut’s auch ganz doll leid.“
Langsam kam sie an meine Seite. Marok schaute mich plötzlich verwirrt an.
„Habe ich geschlafen?“
Ich kicherte.
„Ja, hast du.“
Er errötete.
„Gar nicht bemerkt.“
Kath blickte sich suchend um.
„Hört ihr das?“
Verständnislos suchte ich mein Zimmer ab und lauschte.
„Was denn?“
„Da war so ein... Brummen.“
Marok hielt sich schnell den Bauch und wandte sein knallrotes Gesicht von uns ab. Kath und ich lachten los.
„Typisch. Ich mache wohl besser Frühstück.“
„Passiert das öfter?“
„Ja.“
Schnell verließ ich mein Zimmer und ging in die Küche. Nach ein paar weiteren Minuten folgten Marok und Kath nach.
„Ich muss schon wieder gehen. Hab ne Sms bekommen.“
Ich umarmte Kath freundschaftlich zum Abschied.
„Okay, mach’s gut.“
„Klar. Du auch.“
Ich ließ sie los und sie richtete sich an Marok.
„Man sieht sich.“
Er lächelte überglücklich.
„Bestimmt.“
Sie wollte gerade den Raum verlassen, da hielt sie plötzlich inne und schien kurz zu überlegen. Dann drehte sie sich noch einmal zu uns um und musterte uns.
„Eine Frage noch... Seid ihr zusammen?“
Wir wechselten einen kurzen Blick und liefen beide rot an.
„Nein, eigentlich nicht.“
Kath zwinkerte mir zu.
„Das kommt bestimmt noch.“
Darauf rannte sie wie ein Blitz davon, als müsse sie sich in Sicherheit bringen. Ich schüttelte die Verlegenheit ab und ignorierte ihre These, um mich bald nach Maroks Meinung zu erkundigen.
„Na, wie findest du sie?“
„Na ja... nett...“
Er überlegte kurz.
„Irgendwie... durchgeknallt.“
Ich lachte.
„Ich etwa nicht?“
Sein Blick wurde weich.
„Schon irgendwie, aber auf eine liebenswerte Art und Weise.“
„Und wie ist es dann bei Kath?“
Er seufzte.
„Nervtötend.“
„Stimmt, aber man gewöhnt sich schnell daran.“
„Wenn du das sagst.“
„So hab ich wenigstens keinen Grund zur Eifersucht.“
Ich drehte ihm den Rücken zu. Mir wurde schnell bewusst, was ich da gerade gesagt hatte.
„Heißt das, du wärst eifersüchtig, wenn ich mich in sie verknallen würde?“
Ich schaute herausfordernd über meine Schulter nach hinten.
„Wer weiß?“
Er nahm meine Herausforderung an und kam näher.
Ein so was von süßer Blick!
Dann stand er direkt vor mir und schaute mir tief in die Augen. Mein Herz schlug augenblicklich schneller.
„Was hast du vor?“
Plötzlich unsicher wich ich einen Schritt zurück, doch er ließ nicht locker...
„Bin wieder dahaa!“
Marok schrak zurück und wir starrten zur Tür, wo Augenblicke später meine Mum auftauchte. Ich musste mich erst einmal sammeln und den letzten Moment verdauen.
„Hi Mum.“
„Hi, Victoria.“
„Tut mir leid, dass ich so lange weg war.“
„Kein Problem.“
„Habt ihr noch gar nichts gegessen?“
„Nein, Kath war gerade da.“
Sie schien leicht erschrocken.
„Ist auch alles gut gegangen?“
„Sie war hin und weg.“
Mum lachte.
„Na dann.“
Ich ging zum Kühlschrank, innerlich doch wütend über Mums Heimkehr.
„Ach ja, Mum. Morgen müssen wir wieder zu Ralf, oder?“
„Stimmt. Fast vergessen.“
Marok starrte meine Mutter erwartungsvoll an.
„Kommt dann mein Verband ab?“
Sie lächelte.
„Wahrscheinlich.“
Kapitel 8
Am nächsten Morgen fuhren wir direkt nach dem Frühstück zu Ralf. Er nahm Maroks Verband ab und machte ein neues Röntgenbild von seinem Flügel. Nach kurzem Studieren nickte er zufrieden.
„Sieht gut aus. Alles wieder in Ordnung. Beweg den Flügel mal.“
Ich wich etwas zurück, um ihm Platz zu machen und er schlug mit dem Flügel. Ein Windstoß fegte verschiedene Dokumente von den Tischen. Abrupt verharrte er in seiner Bewegung.
„Tut mir leid.“
„Ist schon okay, hab ich auch nicht dran gedacht.“
Ralf grinste zufrieden.
„Für so eine Show darfst du alles zerstören. Okay, dann mal alle raus hier, der nächste Patient wartet.“
Wir bedankten uns und gingen. Mum machte ein paar Umwege mit dem Wagen um an einigen Klamottenläden zu halten. Marok wartete, bis wir mit ein paar Pullovern, T-Shirts und Hosen zurückkamen. Während Mum Unterwäsche gekauft hatte, hatte ich mich um Socken, eine Jacke und eine Badehose gekümmert. Einen Schlafanzug wollte er nicht. Wir mussten lange überlegen, welche Sachen die richtige Größe hatten. Dadurch hatten wir von fast jedem Kleidungsstück mindestens drei Exemplare. Was nicht passte, konnten wir schließlich zurückbringen.
Im nächsten Laden kauften wir eine Zahnbürste und Shampoo und in der nächsten Apotheke Verband, um später Maroks Flügel an seinen Körper binden zu können. Die Idee war mir über Nacht gekommen. Dann erst fuhren wir nach Hause.
Als wir zurück waren, war es bereits Nachmittag und Marok hatte bis dahin die ganze Zeit im Auto rumgesessen und sich gelangweilt, obwohl ich ihm das Radio gezeigt hatte. Sofort probierte ich aus, wie ich seine Flügel am besten an seinen Körper binden konnte. Ich nahm den Verband und drehte seine Flügel in alle möglichen Richtungen, aber sie wollten einfach nicht auf seinen Rücken passen. Schließlich drehte ich die Ansätze seiner Flügel nach unten. Die Gelenke am Flügelansatz waren in fast alle Richtungen drehbar. Die Enden der Flügel legte ich über Kreuz auf seinen Rücken, waagerecht zum Hosenbund. In seinen Flügelspitzen waren keine Knochen, dadurch konnte ich die Stellen, die über seinen Rücken hinausragten, auf seinen Bauch biegen. Seine Federn waren erstaunlich elastisch und biegbar, wie weicher Gummi.
„Kannst du das so festhalten?“
Er nickte und drückte seine Flügelspitzen am Körper fest. Jetzt musste ich alles mit dem Verband fixieren.
„Ist das so einigermaßen auszuhalten?“
Marok drehte sich zu mir um.
„Müsste gehen.“
„Gut, dann zieh den mal drüber.“
Ich reichte ihm einen der Pullover, die wir gekauft hatten. Er passte und verbarg seine Flügel vollkommen. Durch den Verband gab es keine verräterischen Umrisse oder Wölbungen, auch wenn Marok so nicht ganz normal aussah, weil sein Rücken etwas zu dick schien. Auf jeden Fall konnte man so mit ihm raus, auch wenn seine Haare und seine Augen noch auffielen, aber das schiebt man zur Not auf gefärbt
und/oder Kontaktlinsen
.
„Der steht dir.“
Das Schwarz des Pullovers war klasse. Zum Einen würde es nicht so auffallen, wenn doch mal eine seiner schwarzen Federn hervorlugte und zum anderen betonte es seine hellen Haare und Augen. Er besetzte eine Zeit lang mein Zimmer und probierte alle Sachen an. Heraus kam er mit einem Stapel, der zurückgegeben werden konnte. Er reichte ihn meiner Mutter.
„Vielen Dank für die Sachen.“
„Keine Ursache. Gefallen sie dir?“
„Ja, sehr.“
Er wandte sich mir zu.
„Dir auch vielen Dank.“
Ich grinste.
„Ich habe ja nichts bezahlt.“
Dann kam mir etwas anderes in den Sinn.
„Mum, er braucht noch Schuhe.“
„Die habe ich extra noch nicht gekauft. Dafür müsste er zum Anprobieren mitkommen.“
„Die werden aber ganz schön blöd gucken, wenn er da barfuss erscheint.“
Sie zuckte mit den Schultern. Ich überlegte kurz.
„Wir können ja sagen, ihm wären die Schuhe im Schwimmbad geklaut worden, wir seien nur auf der Durchreise und er habe keine anderen mit.“
Mum schaute mich anklagend an, die Hände in die Hüften gestemmt.
„Ich hoffe, in der Schule benutzt du deine lebhafte Phantasie nicht für derartige Ausreden.“
Fast wäre mein Gesicht entgleist. Ich benutzte in der Schule fast jeden Tag irgendwelche Ausreden.
„Natürlich nicht.“, log ich und gab mein bestes Unschuldslächeln preis. Marok lächelte belustigt.
„Marok, ich zeige dir dann morgen die Gegend, okay?“
„Gerne!“
„Ach herrje!“
Ich griff mir and den Kopf.
„Hab ich ja total vergessen. Ich bin ja morgen zu einer Übernachtungsfeier eingeladen.“
Er seufzte enttäuscht.
„Theoretisch... könntest du doch mitkommen.“
„Sicher, dass das gut gehen würde?“
„Nö.“
Ich grinste breit.
„Ich rufe mal an und frage.“
Sofort griff ich zum Telefon.
Am nächsten Tag packte ich das Nötigste für Marok und mich zum Übernachten zusammen. Christine hatte erlaubt, dass ich ihn mitnehme. Ich freute mich total auf die Feier. Insgeheim wollte ich auch ein wenig mit ihm angeben. Wir mussten erst um 17 Uhr da sein, also hatten wir noch gut 5 Stunden Zeit. Mum war einkaufen und Marok saß gelangweilt auf dem Sofa und suchte die Fernsehprogramme durch. Ich lag, ebenfalls gelangweilt, mit dem Kopf auf seinen Beinen, starrte auf die schnell vorbeihuschenden Bilder und gähnte.
„Lass uns raus gehen. In den Wald oder so.“
Er schaltete den Fernseher aus und streckte sich.
„Gerne.“
Bei diesem Wetter hatte ich sowieso keine Lust in der Bude zu hocken. Die Sonne schien und es war heiß.
„Sag mal, kannst du mit den Flügeln schwimmen?“
„Klar, wieso?“
Ich drehte mich auf den Rücken und schaute zu ihm auf.
„Im Wald gibt es einen kleinen See. Dort ist so gut wie nie jemand. Hier wohnen nicht viele Leute und in der Nähe gibt es einen Badesee. Alle gehen dahin. Wir wären also ungestört.“
Marok saß schon ohne Oberteil da, weil es ihm zu heiß war. Seine Haut glänzte ein wenig vom Schweiß.
„Ich hätte nichts gegen eine Erfrischung einzuwenden.“
Ich grinste und stand schnell auf, um den Verband zu holen.
„Och nein... Dann wird mir ja noch wärmer.“
„Denk an den See.“
Wiederwillig ließ er sich die Flügel fixieren.
„Wir müssen zwar etwas länger laufen, aber das wirst du ja wohl schaffen.“
„Schade, dass ich hier nicht fliegen kann.“
„Stell dich nicht so an.“
Ich war mit dem Verband fertig und ging in mein Zimmer, um mir meinen Bikini anzuziehen. Meine anderen Sachen zog ich darüber. Marok schickte ich mit seiner Badehose und einem T-Shirt ins Bad. Schnell holte ich noch eine Liegedecke und etwas zu Trinken.
„Eine Flasche reicht, oder?“
„Klar.“
Er stand bereits im Flur und wartete. Als auch ich endlich soweit war, schlüpfte ich in meine Sandalen und reichte Marok die Decke.
„Auch das noch.“, schnaubte er.
„Meckere nicht, wir können uns ja abwechseln.“
Wie ein kleines Kind.
Marok musste wohl oder übel barfuss gehen. Vielleicht waren seine Füße ja nicht so empfindlich. Tiere trugen ja auch keine Schuhe. Ich öffnete die Tür.
„Na dann mal los.“
„Und was ist mit deiner Mutter?“
Ich schlug mir an die Stirn.
„Hast ja Recht!“
Ich flitzte in die Küche und schrieb einen Zettel:
Marok und ich sind im Wald. Kommen pünktlich zurück.
Ich legte ihn an ihren Stammplatz auf den Küchentisch und endlich machten wir uns auf den Weg. Es wehte nur eine schwache, warme Brise. Die Luft war feucht und stickig. Ich sehnte mich sofort nach dem kühlen See. Ich holte tief Luft und versuchte, mich an den Temperaturumschwung zu gewöhnen. Die Sonne knallte auf uns herab, kein einziges Wölkchen am Himmel. Sogar die Pflanzen vor unserem Haus schienen zu schwitzen.
„Also vom Gefühl her schätze ich die Temperatur auf mindestens 32 Grad.“
Marok nickte nur, während er über die Felder auf der anderen Straßenseite blickte. Dann gingen wir los, am Straßenrand entlang, bis wir den Wald erreichten. Die dunklen Schatten der Bäume zogen mich fast magisch an. Ich beschleunigte meine Schritte etwas, musste aber bald wieder stoppen, weil der schmale Pfad in den Wald hinein von Brennnesseln und Disteln gesäumt war, die von allen Seiten in Kniehöhe über den Weg ragten. Gerade, als ich die erste Distel übersteigen wollte, spürte ich Maroks Arme. Einen an den Schultern, einen an den Beinen. Er hob mich hoch und ich hielt mich an seinem Hals fest. Die Decke hatte er über seine Schulter geworfen. Ich fand das total süß von ihm. Er stapfte ohne jede Beachtung der Nesseln den Pfad entlang. Ihre Stiche schienen ihn gar nicht zu stören. Als wir diese Stelle hinter uns gelassen hatten, setzte er mich wieder ab.
„Machen dir die Dinger gar nichts aus?“
Er schleuderte eine Brennnessel von seinem Fuß.
„Nicht so sehr, dass es mich stören würde.“
Er nahm die Decke wieder unter den Arm und wir gingen weiter. Der Weg war gesäumt von Ästen und anderem Gestrüpp, aber Marok ignorierte alles. Im Schatten der Bäume war die Hitze etwas erträglicher geworden. Von überall her drang Vogelgesang zu uns durch und dann das Kreischen eines Falken. Ich suchte den Himmel nach ihm ab, aber die grünen Baumkronen versperrten mir die Sicht.
„Suchst du den Falken?“
„Ja, siehst du ihn?“
Er antwortete nicht. Verwirrt drehte ich mich zu ihm um. Er starrte gen Himmel und schien zu horchen. Nach kurzer Zeit formte er seine Hände zu einem Trichter und hielt sie sich an den Mund. Dann gab er die selben Laute von sich, wie der Falke. Immer und immer wieder. Ich suchte weiter in den Baumkronen. Der Falke stürzte durch eine freie Stelle herunter und setzte sich auf Maroks ausgestreckten Arm. Sie schauten sich kurz in die Augen, dann lächelte Marok mir zu.
„Er ist toll, oder?“
Ich nickte begeistert und konnte mich kaum beherrschen. Seine Fähigkeit mit Tieren zu reden, hatte ich ganz vergessen.
„Streck deinen Arm aus.“
Ich sah, wie die Krallen des Falken sich fast durch Maroks Haut bohrten.
„Ich glaube nicht, dass das so gut wäre. Seine Krallen würden mich verletzen.“
Trotzdem streckte er ihn mir entgegen.
„Du kannst ihn ja streicheln.“
Vorsichtig bewegte ich meine Hand auf den Kopf des Tieres zu. Der Falke blinzelte und drehte den Kopf verwirrt hin und her, bis meine Finger seine Federn berührten. Ich legte meine Hand auf seinen Kopf und strich ihm über den Rücken. Er schien es zu genießen. Marok belächelte das Schauspiel ausgiebig. Zum Schluss gab ich dem Falken einen Kuss auf den Kopf.
„Ich will ein Foto von euch machen.“
Marok lachte.
„Meinetwegen.“
Ich zog meine Kamera aus der Hosentasche und entfernte mich ein paar Schritte. Nachdem ich ein paar Bilder gemacht hatte, gab Marok dem Falken zu verstehen, dass er jetzt wegfliegen konnte. Ich schaute ihm kurz nach, dann strahlte ich Marok an.
„Danke.“
„Keine Ursache.“
Ich steckte die Kamera zurück in die Tasche.
„Er mag dich.“
„Hat er dir das gesagt?“
„Mhm.“
Mir fiel der Schweiß auf seiner Stirn auf.
„Lass uns weiter gehen, sonst schmilzt du noch.“
Also gingen wir weiter. Ich schmuggelte mich an seine Seite und nahm seine Hand. Bald waren wir am See angelangt. Marok ließ die Decke am Ufer fallen und fing sofort an, sein T-Shirt auszuziehen. Ich half ihm dabei, den Verband abzulegen und zog mein Top und meine Hose aus. Als ich im Bikini dastand und mich zu ihm umdrehen wollte, setzte er bereits zum Sprung ins Wasser an. Mich trafen einige kalte Tropfen am Arm. Vorsorglich legte ich die Decke über meine Sachen, dann folgte ich Maroks Beispiel und sprang. Das Wasser war angenehm kühl. Munter wollte ich ihm hinterher schwimmen, aber er war nirgends zu sehen. Ich bemerkte einen Schatten unter mir, konnte aber nicht mehr schnell genug reagieren. Blitzschnell packte Marok mich von unten an den Hüften, hob mich hoch und warf mich zurück ins Wasser. Erschrocken tauchte ich auf und schnappte nach Luft, während er schadenfroh zu lachen anfing. Ich versuchte in einem Gegenangriff seinen Kopf unter Wasser zu drücken, er berappelte sich aber schnell genug, um sich zu wehren. Darauf folgte eine wilde Wasserschlacht mit viel Gelächter. Irgendwann war ich so erledigt, dass ich abwehrend meine Hand ausstreckte und Marok zukeuchte, dass ich eine Pause brauchte. Ich schwamm Richtung Ufer, bis ich im seichten Wasser stehen konnte. Er kam hinter mir her und stand dann vor mir. Seine Hand näherte sich ganz langsam meinem Kopf. Zuerst strich er nur mit den Fingern, dann mit der ganzen Hand über meine Haare. Seine Bewegungen kamen mir sehr bekannt vor. Er strich mir über den Rücken. Ich bekam eine Gänsehaut.
Da fiel es mir ein. Genauso hatte ich den Falken gestreichelt.
Schnell gab er mir einen Kuss auf den Kopf, woraufhin er mir grinsend ins Gesicht sah.
„Jetzt kannst du verstehen, warum der Falke das mochte, oder?“
Ich wollte antworten, aber irgendwie ging das nicht. Ein merkwürdiges Gefühl überfiel mich. Sein Grinsen wich einem Lächeln, als er mich fest an sich drückte. Ein erneuter Kuss auf den Kopf. Mit beiden Händen hielt er mein Gesicht in seine Richtung. Mein Herz raste und mir wurde trotz des kühlen Wassers heiß. Er gab mir einen langen Kuss auf die Stirn, dann einen kurzen, sanften auf die Wange und bevor ich die Situation richtig realisieren konnte, auf die Lippen. Seine Hände strichen mir über die Wangen. Nach einem kurzen Moment löste er den Kuss und schaute mir in die Augen. Ich war komplett zur Salzsäule erstarrt und rührte mich nicht. Ein wahnsinniges Glücksgefühl machte sich in mir breit. Er lachte etwas.
„Alles okay?“
Ich nickte kurz, bevor ich, noch total perplex, zurücklächelte und mich an ihn schmiegte. Er spielte mit meinen Haaren.
„Ich hab mich echt total in dich verknallt, weißt du das?“
„Ich mich doch auch in dich.“
Daraufhin küsste er mich erneut. Ein Hund bellte in der Nähe. Es fiel mir schwer, von Marok abzulassen. Warum musste auch ausgerechnet heute jemand hierher kommen? Enttäuscht und leicht wütend schaute ich zu Boden. Marok kam an mein Ohr.
„Warte ab, bis wir zu Hause sind.“
Er grinste verschmitzt und mir wurde noch heißer. Insgeheim freute ich mich auf das, worauf er angespielt hatte.
Ein lauter Knall. Ich zuckte zusammen. Maroks Augen weiteten sich.
Erschrocken starrte ich zum Ufer hinüber. Ein Mann, daneben ein Hund, ein auf uns gerichtetes Gewehr.
Marok fiel und schlug aufs Wasser auf. Rotes Wasser.
Ein weiterer Knall. Ein kurzer Schmerz.
Schwarz.
Kapitel 9
„Lin, hörst du mich?“
Ich schlug die Augen auf. Alles war verschwommen. Ich nahm die Umrisse einer Person wahr, konnte sie aber nicht erkennen. Mein Körper war so taub, dass ich fast glaubte, ich hätte ihn verloren.
„Lin...“
Ich konzentrierte mich auf die Person. Die Stimme klang so weit entfernt, so dumpf. Langsam wurde das Bild schärfer und ich erkannte Mum, die sich besorgt über mich beugte. Ich versuchte, mich an irgend etwas zu erinnern. Die letzten Momente am See... Dieser Mann. Er hatte auf uns geschossen! Meine Blicke schweiften nervös durch den weißen Raum, in dem ich mich befand. Ich war total verwirrt. War ich im Krankenhaus?
Marok...
Ich setzte mich erschrocken auf. Mum schien erleichtert, dass ich zu mir gekommen war. Mir stiegen Tränen in die Augen.
„Wo ist Marok?“
Sie starrte mich nur wortlos an. Dann nahm sie meine Hand und blickte schweigend zu Boden. Ich entriss ihr meine Hand. Mein Herz begann zu rasen. Langsam spürte ich meinen Körper wieder. Gleichzeitig stieg ein unbändiger innerlicher Schmerz in mir auf.
„Mum! Wo ist er?“
„Ich weiß es nicht.“
Die erste Träne floss meine Wange herunter. Was ging hier vor? Das konnte alles nicht wahr sein.
Und was, wenn Marok...
Ich verbannte den Gedanken und sprang auf. Sofort durchfuhr mich ein stechender Schmerz, der mich auf die Knie zwang. Ich hielt mir die rechte Bauchseite und wusste nun, wo ich angeschossen worden war. Mum griff mir sofort unter die Arme und half mir aufs Bett zurück, obwohl ich das nicht wollte.
Wo war er? Wo war Marok? Mir war klar, dass ich in dem Moment keine Möglichkeit hatte, etwas zu unternehmen. Ab diesem Augenblick fühlte ich mich klein und hilflos. Widerwillig ließ ich mich von Mum zudecken. Ich ergab mich dem Unausweichbahren. Ich lag einfach da, starrte an die Decke, weinte leise und ignorierte alles um mich herum. Ein Arzt stellte mir Fragen, ich hörte nicht zu. Ein Gefühl der Einsamkeit ergriff mich. In mir wurde es kalt. Ich wollte zu ihm. Ich musste
zu ihm.
Was war mit ihm? Was war ihm passiert? Ich wollte ihn einfach suchen, alles Andere war unwichtig, doch ich wusste, dass sie mich nicht gehen lassen würden. Der Arzt und meine Mum redeten ununterbrochen auf mich ein. Ich solle wach bleiben und nicht die Hoffnung verlieren. Eine Flut aus Worten und Geräuschen.
Lasst mich doch einfach gehen! Lasst mich in Ruhe!
Ich schloss die Augen und versuchte, meinen Kopf zu leeren, an nichts mehr zu denken und alle Gefühle wenigstens für den Moment zu verbannen. Der Schock vom See saß immer noch in meinen Knochen. Ich war angeschossen worden. Ich hatte Marok umfallen sehen. Ich hatte sein Blut gesehen. Er war bestimmt tot. Wie sollte es auch anders sein?
Vielleicht sollte ich versuchen, alles zu vergessen, wieder alles als Traum abzustempeln.
Doch ich wusste, dass ich das gar nicht mehr konnte.
Die nächsten Nächte lag ich wach, die nächsten Tage beachtete ich nichts von dem, was um mich herum vor sich ging und wartete vergeblich auf Maroks Rückkehr, ganz in mich und meine Befürchtungen vertieft. Am vierten Tag schrie mein Körper nach Schlaf, wie ich es noch nie zuvor verspürt hatte, doch ich wartete weiter. Ich wartete, bis ich schließlich begann, seinen Tod zu akzeptieren und scheinbar selbst mit diesem Gedanken zu sterben. Am fünften Tag war es um mich herum endlich still geworden. Sie hatten es aufgegeben, auf mich einzureden. Nicht einmal mit meinen Freundinnen hatte ich ein Wort gewechselt, als sie da gewesen waren. Sie hatten an meinem Bett geweint. Mum war ununterbrochen bei mir, saß neben meinem Bett und schlief mit dem Kopf auf meiner Decke.
Ich hörte ich etwas Ungewohntes und schenkte einem Fenster den Rest meiner Aufmerksamkeit. Vor ihm saß der Falke, den Marok im Wald für mich gerufen hatte. Er klopfte mit dem Schnabel gegen die Scheibe. Es dauerte einen Moment, bis ich ihn wirklich realisierte, doch dann begann mein Herz wieder schneller zu schlagen. Gab es etwa doch noch Hoffnung?
Langsam stand ich auf, zwang meine scheinbar verrosteten Gelenke mir zu gehorchen und schwankte zum Fenster. Als ich es öffnete, sah ich ein Stück Pappe
in der Klaue des Falken. Sofort nahm ich es an mich. Ein winziges Pappstück mit roter, verschmierter Schrift. Nur zwei Worte:
Hilfe
Labor
Meine Augen weiteten sich. Er lebte noch. Ein Labor. Was würden sie dort mit ihm anstellen?
Ich bedankte mich bei dem Falken und drehte ihm den Rücken zu, woraufhin er einmal kreischte. Ich wandte mich ihm wieder zu und er begann mit den Flügeln zu schlagen. Ich drehte die Pappe um.
Folgen
Erwartungsvoll starrte ich den Vogel an, als ob ich innerlich die ganze Zeit über gefühlt hätte, worauf ich warten musste.
„Bringst du mich zu ihm?“
Ich streckte ihm meinen Arm entgegen und er landete darauf, wobei er anscheinend Acht gab, mich nicht zu verletzen. Seine spitzen Krallen schmerzten dennoch.
„Mum, wach auf!“
Ich rüttelte an ihrer Schulter.
„Lin?“
Plötzlich machte sie einen Satz und stand vor mir.
„Du bist wieder da!“
Sie erstarrte, als sie den Falken sah und glotzte ihn ungläubig an. Schnell reichte ich ihr den Zettel.
„Er wird uns zu Marok bringen!“
Mum las kurz.
„Das ist zu gefährlich...“
Ich hörte ihr gar nicht zu und rannte bereits zur Tür hinaus, den Gang entlang, über die Treppe ins Erdgeschoss und nach draußen. Erst da bemerkte ich, dass sie mir folgte. Wollte mich meine eigene Mutter etwa aufhalten?
Die Sonne ging gerade auf. Der Boden war noch kalt und feucht unter meinen nackten Füßen. Mein Körper wurde von einer Gänsehaut überzogen, weil ich nur ein weißes Nachthemd trug. Meine Wunde schmerzte leicht, schien den Bewegungen aber bereits wieder standhalten zu können. Für mich wirkte immer noch alles so unwirklich. Die letzten Tage war ich total in mich versunken gewesen und dieses traumartige Gefühl war nicht so einfach abzuschütteln. Ich hob den Falken in die Luft.
„Dann mal los, bring mich zu ihm.“
Er hob ab. Plötzlich wurde ich an den Schultern gepackt.
„Mum, lass mich!“
Auch der Falke stoppte. Ich bekam augenblicklich Panik.
„Lass mich los!“
Ich versuchte um mich zu schlagen, aber Mums Griff blieb eisern. Zwei Ärzte kamen ihr zu Hilfe. Ich hatte keine Chance. Mir kamen die Tränen, als ich aufgab.
„Ich muss ihm helfen!“
Ich wurde hysterisch. Als die Ärzte mich im Griff hatten, ließ Mum von mir ab und stellte sich vor mich. Sie wollte mein Gesicht berühren, aber ich schnappte nach ihrer Hand.
„Lin, bitte. Es hat doch keinen Sinn. Wie willst du ihm denn helfen?“
Unbändige Wut stieg in mir auf.
„Eigentlich hatte ich auf deine Hilfe gehofft! Das werde ich dir nie verzeihen!“
Die Schreie schmerzten in meinem ausgetrockneten Hals. Ich sah Mum an, dass meine Worte sie getroffen hatten. Sie versuchte zu lächeln, doch die Tränen stiegen ihr bereits in die Augen.
„Doch, dass wirst du.“
Ich konnte das nicht begreifen. Sie war mein ganzes bisheriges Leben lang immer für mich da gewesen. Und jetzt fühlte ich mich, wie eine Gefangene auf der Flucht!
Dann schoss der Falke wie ein Blitz von oben herab, hackte auf die Hände der Ärzte ein und zwickte ihnen in die Finger. Erschrocken ließen sie mich los und versuchten, ihn zu packen. Ich nutzte die Chance und lief los. Auch meine Mutter bekam mich nicht mehr zu fassen. Sofort erschien der Falke wieder vor mir. Hinter uns hörte ich wütende Flüche und schnelle Schritte. Ich rannte, so schnell ich nur konnte, während die aufgehende Sonne mich zu verspotten schien. Alles um mich herum schien plötzlich böse zu sein.
Vor mir erschien ein Kiesweg, doch ich durfte auf keinen Fall langsamer werden. Ich hielt den Atem an und verkrampfte meinen Körper, kurz bevor meine nackten Füße auf die kleinen Steine traten, die sich genüsslich in mein Fleisch bohrten. Ich hielt durch und rannte weiter, einen Schmerzensschrei unterdrückend. Hinter mir kamen die Schritte immer näher. Ich bekam wahnsinnige Angst. Sie würden mich bald einholen und ich konnte nicht noch schneller laufen. Die Verzweiflung trieb mir neue Tränen in die Augen, die mir die Sicht verschleierten. Ich wusste nicht, was ich tun sollte und schrie einfach los:
„Der Falke wird euch die Augen ausstechen, wenn ihr mich nicht in Ruhe lasst!“
Die Schritte stoppten abrupt. Hatte das wirklich gesessen? Ich wagte einen kurzen Blick über die Schulter. Die Ärzte und meine Mutter waren tatsächlich stehen geblieben. Einer der Ärzte hatte bereits ein Handy in der Hand. Sie würden bald nach mir suchen lassen. Ich rannte weiter, immer dem Falken hinterher, ohne auf den Weg zu achten. Vor uns erstreckte sich ein Wald. Ich trat auf Stöcke und Dornen.
Vor mir der Falke und ich wünschte mir Flügel.
Kapitel 10
Wie lange war ich schon unterwegs gewesen? Ich war total außer Atem, hatte Seitenstechen und meine Füße waren blutig. Das schweißnasse Nachthemd klebte an meinem kalten Körper. Um mich herum waren kaum Menschen zu sehen. Ich war planlos in einer kleinen Wohnsiedlung mit großen Häusern gelandet. Die paar Menschen, die mich sahen, huschten schnell an mir vorbei, als wäre ich eine Bettlerin. Vielleicht wollten sie auch nur keinen Ärger und hielten sich raus. Ich setzte mich auf eine Bank am Straßenrand, um zu verschnaufen und überblickte die mir so bekannte Gegend. Vielleicht war instinktiv hierher gelaufen. Neben mir auf der Rückenlehne saß der Falke.
Inzwischen knallte die Sommersonne auf mich herab. Mein Hals schrie nach Feuchtigkeit, doch ich hatte nicht einmal mehr Speichel zum Schlucken übrig. Ich wischte mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und hob einen Fuß an. Ein blutiger Abdruck blieb am Boden zurück. Ich beschloss, mir meine Wunden nicht genauer anzusehen und stellte ihn direkt wieder zurück. Ich schirmte meine Augen gegen die Sonne ab und überdachte noch einmal das bisher Geschehene. Mein Geist beruhigte sich unwillkürlich in dieser Atmosphäre. Ich musste mir fast zwanghaft zurück ins Gedächtnis rufen, dass die Situation, in der ich steckte, ernst war. Nach ein paar Minuten stand ich auf und streckte dem Falken meinen Arm entgegen. Er gehorchte sofort. Ich streichelte ihn und lief dann die Straße hinunter. Bald stand ich vor der Hilfe versprechenden Haustür. Mit meinem, vor Erschöpfung zitternden Finger, drückte ich die Klingel. Kaths Mutter öffnete nach kurzer Zeit und erschrak.
„Lindsay? Was ist passiert?“
Kath tauchte neben ihr auf.
„Lin!“
Ich machte eine abweisende Handbewegung.
„Ich habe keine Zeit. Ihr müsst mir helfen!“
Erschrocken über meine kratzige Stimme hielt ich meinen Hals. Kath trat besorgt vor.
„Ist es wegen Marok?“
Ich ließ von meinem Hals ab.
„Woher weißt du das?“
„Er war nie im Krankenhaus.“
Ich nickte nur und zeigte auf den Falken.
„Er wird mich zu ihm bringen. Ich musste aus dem Krankenhaus fliehen, sie wollten mich aufhalten. Nicht einmal Mum hat mir geholfen.“
Kath schaute bittend zu ihrer Mutter auf.
„Mama, bitte.“
Sie überlegte nicht lange und erkannte den Ernst der Lage.
„Okay Kinder. Ich weiß zwar nicht, was hier los ist, aber ich vertraue meiner Tochter. Ab zum Wagen.“
Schnell schlüpften sie in ihre Schuhe. Bevor ich in den Wagen einstieg, versuchte ich dem Falken klar zu machen, dass er vor uns herfliegen sollte. Er verstand und flog los.
„Folgen Sie ihm einfach.“
Sie startete den Wagen, schien aber sehr verwirrt über meinen Befehl.
„Ich will aber ein paar Erklärungen. Wer ist Marok überhaupt? Und wieso folge ich einem Vogel?“
„Marok ist mein Freund. Den Falken hat er mir geschickt, um mich zu ihm zu bringen. Er hatte eine Nachricht dabei.“
Kath saß hinter mir und beugte sich nun vor.
„Und was für eine?“
„Nur drei Worte: Hilfe, Labor und folgen.“
„Ah ja. Er hatte wohl nicht viel Zeit dir zu schreiben.“
„Mich hat am meisten beunruhigt, dass die Schrift dunkelrot und verschmiert war.“
„Glaubst du, es könnte sein Blut gewesen sein?“
„Ich hoffe, ich irre mich, aber ich denke schon, dass es das war.“
Wir hielten an einer roten Ampel. Der Falke setzte sich auf die Motorhaube, darauf wartend, dass es weiterging.
„Wieso sollte dieser Marok denn in einem Labor sein?“
„Er ist nicht normal. Sie würden es uns jetzt nicht glauben.“
Die Ampel wurde grün, der Falke flog von Neuem los. Ich schaute auf die Uhr im Armaturenbrett. Es war Mittag. Die Menschen auf den Gehwegen und in den Autos um uns herum starrten erstaunt zu uns herüber.
Ich hatte eine Gänsehaut, vom kaltgewordenen Schweiß und meine Füße schmerzten immer heftiger. Nach über zwei Stunden wortloser Autofahrt, flog der Falke auf einen kleinen, versteckten Pfad zu, der in einen Wald führte. Kaths Mutter parkte das Auto am Waldrand und wir stiegen aus. Der Wald war so friedlich, dass ich kaum mehr glauben konnte, weshalb wir eigentlich hier waren. Der Pfad bestand lediglich aus einer Linie von platt getretenem Gras, die sich durch die Bäume schlängelte. Jeder Grashalm, auf den ich trat, brannte in meinen Wunden und riss mich Schritt für Schritt in die Realität zurück. Ich bedeutete dem Falken, sich auf meinen Arm zu setzen. Er sollte sich ausruhen. Mir begann die Angst langsam den Rücken hinunterzukriechen. Wann würde ich Marok endlich finden? Wie würde es ihm gehen? Würde ich zu spät kommen? Was würden sie ihm angetan haben?
„Lin, was ist mit deinen Füßen?“
Kath erschien neben mir.
„Lauf einfach nie barfuss über Kies und Gestrüpp.“
Sie setzte zu einer Antwort an, entschied sich aber doch anders und schwieg. Ich biss mir auf die Unterlippe. Die Schmerzen wurden immer unerträglicher. Ich weiß nicht, wie lange wir gelaufen sind, bis wir uns am Rande einer großen Lichtung wiederfanden. Drei große, weiße Gebäude, vollkommen abgeschnitten von der Außenwelt, standen vor uns. Sofort lief ich auf sie zu, stoppte aber auf halbem Wege, als ich etwas hörte. Kath nahm meine Hand.
„Hast du das auch gehört?“
„Ja.“
Ich lauschte, als die Stimmen und das Gebell von Hunden hinter uns näher kamen. Ich drehte mich um, als gerade ein Polizist aus dem Wald trat.
„Leute, ich hab sie gefunden!“
Ich hörte mehrere Männer aus weiterer Entfernung reden. Das durfte doch nicht sein. Würde ich so kurz vorm Ziel zurück ins Krankenhaus geschleift werden? Plötzlich hörte ich aus Richtung der Gebäude das Klirren von Glas. Die Polizisten, die nun bereits nahe bei uns standen, verstummten und starrten ebenfalls zum Gebäude hinüber. Ein Schatten huschte über den Boden. Ich schaute nach oben und konnte es kaum glauben.
„Marok!“
Mir kamen die Tränen. Er sah furchtbar aus und schien sich kaum in der Luft halten zu können. Seine Flügel waren fast kahl. Ich rief erneut nach ihm:
„Marok!“
Einer seiner Flügel erstarrte plötzlich und er fiel. Sein Rücken traf hart auf dem Boden auf. Sofort lief ich zu ihm. Die Polizisten und Kaths Mutter standen stocksteif da. Nur Kath schaute besorgt zu uns herüber. Maroks Körper zuckte, wie ein abgetrennter Eidechsenschwanz, in den unnatürlichsten Bewegungen. Ich kniete mich neben ihn und weinte. Ich hatte solche Angst, ihn doch noch zu verlieren, obwohl ich ihn gefunden hatte. Panisch überlegte ich, was ich tun könnte. Marok starrte mich aus ausdruckslosen Augen an. Sie waren wie tot, wie Glasaugen. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er mich wirklich sah. Es machte mir Angst... Er machte mir Angst! Aber warum? Er wirkte so... tot... Nein, er war er. Ich durfte nicht kneifen. Er brauchte mich doch!
Eine Träne rann über sein Gesicht. Mir fiel auf, dass er noch immer seine Badehose trug. Überall an seinem Körper waren Einstiche zu sehen. An vielen Stellen klafften offene Wunden, viele bluteten noch. Er hörte einfach nicht auf zu zucken und zu zittern. Ich wollte es stoppen, einfach seinen Körper umklammern und ihn daran hindern, sich weiter so zu bewegen, doch ich saß nur stocksteif da. Auch seine Haare waren blutverschmiert, entlang einer Linie, längs über seinen Kopf. Mir wurde übel. Was hatten sie nur mit ihm angestellt?
Als ich mich endlich wieder rühren konnte, nahm ich vorsichtig seine Hand und hielt sie an meine Wange. Seine Haut war ebenso kalt, wie blass. Ich wollte sein Leiden irgendwie beenden. Ich musste
es irgendwie beenden! Vor mir erschien einer der Polizisten und musterte ihn.
„Bitte tun sie ihm nichts!“
Meine Stimme zitterte vor Verzweiflung. Wenn er ihn mir wegnehmen wollte, würde ich mich nicht wehren können. Vom Gebäude her kamen Stimmen und der Polizist entfernte sich wieder. Ich schaute ihm beunruhigt nach. Seine Kollegen nahmen vor dem Gebäude gerade zwei Männer fest, die scheinbar zu dem Labor gehörten. Sie trugen weiße Kittel und machten einen ziemlichen Aufstand, als sie nach den Blutflecken an ihrer Kleidung gefragt wurden. Mir fiel ein riesiger Stein vom Herzen, weil die Polizisten Marok in diesem Fall scheinbar als gequälten Menschen betrachteten und nicht als Monster, mit dem man ruhig Versuche machen konnte. Erleichtert wandte ich mich wieder Marok zu. Mit meiner freien Hand strich ich über seine Wange. Ganz allmählich ließ sein Zucken nach.
Es erschien mir wie eine Ewigkeit, die ich so neben ihm saß, ohne ein Wort zu sagen. Wir schauten uns einfach nur an und das genügte. Auch mein Ekel vor seinem Zustand verschwand. Da ich den Polizisten nicht antwortete, befragten sie zuerst Kath, ihre Mutter und dann meine. Sie war wohl, von mir unbemerkt, mit den Polizisten zusammen hergekommen. Bald trafen weitere Polizisten ein und umstellten das Labor. Marok lag endlich still und atmete wieder regelmäßiger. In seine Augen kehrte Leben zurück und auch seine Haut bekam wieder etwas Farbe. Nun fielen mir ganze Felsen vom Herzen. Er würde ganz bestimmt wieder gesund werden und dann würde er wieder bei uns wohnen können und dann wäre alles wieder gut.
Als ich etwas sagen wollte, hielt er mir zaghaft einen Zeigefinger an die Lippen und setzte sich unter Schmerzen auf. Ich wollte ihn daran hindern, doch er sah mir so liebevoll in die Augen, dass ich mich nicht durchsetzen konnte.
„Ich liebe dich.“, flüsterte er und strich mir durchs Haar. Seine Stimme flutete wie eine Welle durch meinen Körper. Ich fiel ihm augenblicklich um den Hals, nicht auf seine Wunden achtend und begann laut zu schluchzen. Er war sehr schwach. Beinahe hätte ich ihn umgeworfen. Angst und jedes Gefühl von Einsamkeit fielen von mir ab. Endlich war er wieder bei mir. Mein Geist schien diesem Alptraum endlich entkommen zu sein. Ich befand mich zurück in der Realität, in der Realität, in der die Welt nicht mehr so böse war.
„Ich hatte solche Angst um dich! Tu mir so etwas nie wieder an!“
Er schaute mir kurz in die Augen und küsste mich dann. Wir weinten und lachten. Alles schien wieder in Ordnung zu sein. Erst jetzt tauchte meine Mum neben mir auf, mit ihr die Polizisten. Nun war ich dazu fähig, ihnen Antworten zu geben. Marok wurde fürs Erste verschont. Er würde am nächsten Tag ausgefragt werden. Der Falke landete auf seiner Schulter. Marok streichelte ihn ausgiebig und schien sich mit einigen Kreischern überschwänglich zu bedanken, bevor der Falke davonflog. Ich schaute ihm dankbar nach. Die Polizisten staunten nicht schlecht.
Ohne Vorwarnung griff Marok nach einem meiner Füße, hob ihn hoch und musterte ihn. Ich war erschrocken und rührte mich nicht. Nachdem er sein Fundstück ausgiebig von allen Seiten untersucht hatte, starrte er mich entsetzt an.
„Was machst du denn mit deinen armen Füßen?“
Ich war überrascht, dass er plötzlich so schnell zu Kräften kam.
„Ich musste weglaufen. Sie wollten mich nicht gehen lassen.“
„Wieso, wo warst du denn?“
Ich zuckte kurz zusammen, als er etwas aus meinem Fuß zog.
„Im Krankenhaus.“
Er schaute bestürzt auf.
„Du wurdest auch angeschossen?!“
„Ja, direkt nach dir.“
Sein Blick wurde wehmütig, während er mich an sich zog. Ich konnte das frische, warme Blut einiger Wunden spüren.
„Und das alles wegen mir.“
Ich lächelte nur zufrieden.
„Mach dir keine Vorwürfe.“
Er begann sarkastisch zu lachen.
„Die Menschheit ist echt das Letzte.“
„Ja, da hast du teilweise leider Recht.“
Mum kniete sich zu uns.
„Lin...“
Ich reagierte nicht. Ich war schwach und hatte keine Lust, sie zu sehen.
„Schatz, kannst du mir verzeihen?“
Wutentbrannt starrte ich ihr ins Gesicht.
„Du solltest mir vorerst lieber aus dem Weg gehen!“
Mein Körper zitterte vor Abscheu. Marok ließ mich verwirrt los.
„Warum bist du so sauer auf sie?“
„Sie hat auch versucht, mich daran zu hindern, dich suchen zu gehen. Sie hat mir ihre Hilfe verweigert. Sie wollte dich einfach sterben lassen!“
Daraufhin wandte Mum sich Marok zu.
„Und du, Marok? Bist du jetzt auch böse auf mich?“
Er lachte.
„Nein. Ich bin jetzt nur froh, dass ich da endlich raus bin. Hauptsache, es ist vorbei.“
Ich war zu schwach, um meine Wut aufrecht zu erhalten. Mum lächelte, aber ihre Trauer war nicht zu übersehen.
„Mum, jetzt bleib ruhig. Ich bin zwar sauer, aber ich hasse dich nicht. Wie denn auch? Wegen eines einzigen Fehlers? Okay... Ein wirklich extremer Fehler, aber trotzdem. Sobald ich mich wieder abgeregt hab, ist alles wieder in Ordnung.“
Sie schien sehr erleichtert. Ein Polizist bat uns, ihm zu folgen. Er wollte uns ins Krankenhaus fahren. Wir halfen Marok in den Wagen, weil mit seinen Beinen etwas nicht stimmte. Sie gaben ständig nach. Im Wagen sitzend schlief ich sofort in Maroks Armen ein.
Ich war ja so glücklich.
Kapitel 11
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, vermisste ich Maroks Wärme. Ich lag alleine in einem der Krankenhausbetten. Sofort setzte ich mich auf und suchte den Raum ab. Im Bett neben mir lag meine Mutter und schlief. Aber wo war Marok nun schon wieder? Ich stand auf und fiel fast um, als ich auf den harten Verband trat, mit dem meine Füße verbunden worden waren. Langsam wackelte ich auf Mum zu und schüttelte sie wach.
„Wo ist Marok?“
Sie blinzelte verwirrt.
„Er ist nebenan. Sie haben ihn gestern noch behandelt.“
„Welche Zimmernummer?“
„219.“
Kaum, dass sie es ausgesprochen hatte, torkelte ich auf den Flur und öffnete die nächste Tür. Marok lag friedlich schlafend in seinem Bett. Ich schlich mich an und musterte ihn. Sein Kopf war verarztet worden und auch an seiner rechten Wange klebte eine Art großes Pflaster. An seinen Flügeln konnte man schon nach so kurzer Zeit Ansätze neuer Federn erkennen. Bei der schnellen Heilung würde er bald wieder fliegen können. Einer seiner Arme ragte unter der Decke hervor, auch dieser war mit Pflastern und Verbänden versorgt.
Ich wollte mich unbedingt zu ihm legen, aber dann würde ich ihn sicher wecken. Hin und hergerissen beobachtete ich ihn. Sollte ich ihn wecken? Ich wünschte mir, er würde einfach aufwachen und mich zu sich ziehen. Irgendwann hatte ich mich entschieden und strich entschlossen über seine Hand. Er rührte sich kurz, schlug die Augen auf und schenkte mir ein fröhliches Grinsen. Ich lächelte zurück und zeigte neben ihn.
„Darf ich?“
Er machte mir Platz und legte sich, so gut er konnte, auf die Seite. Schnell huschte ich mit unter die Bettdecke und schloss die Augen. Ich wollte gerne noch etwas schlafen, doch schon spürte ich, wie seine Lippen meine berührten und während er meinen Arm zu streicheln begann, schlang ich den anderen um seinen Hals, doch schon nach kurzer Zeit beendete er den Kuss überraschend.
„Tut mir leid, ich bin wohl noch zu müde.“
Ich lächelte.
„Ja, ich eigentlich auch.“
Gerade, als wir wieder einschlafen wollten, klopfte es an der Tür und Marok rief den unerwünschten Besuch herein. Zwei Polizisten traten an sein Bett.
„Entschuldigt die Störung, aber eure Befragung lässt sich nicht mehr weiter hinauszögern. Lindsay, wenn du bitte mit meinem Kollegen das Zimmer verlassen würdest?“
Enttäuscht ließ ich den Kopf sinken. Ich wollte bei Marok bleiben und schaute flehend zu ihm auf. Er nahm meine Hand.
„Es dauert doch nicht lange. Du kommst ja gleich wieder.“
Ich nickte, aber nur wiederstrebend. Marok gab mir einen Kuss auf die Stirn, ließ meine Hand los und ich verließ mit einem der Polizisten das Zimmer. Am Ende des Flurs gab es Sitzgelegenheiten. Ich folgte ihm dorthin und setzte mich.
„Okay, Lindsay. Dann erzähl doch bitte noch einmal, wie es zu den Schussverletzungen kam und dann alles Weitere bis gestern.“
Leicht genervt erzählte ich ihm von dem Mann, der plötzlich am Ufer stand. Ich sollte das einfach nur schnell hinter mich bringen.
„Er war älter, ich schätze mal, um die 60. Ich habe ihn nur ganz kurz gesehen. Er war grün gekleidet und das Gewehr war lang und braun. Ich vermute, er ist Jäger oder so. Einen grünen Hut trug er auch. Und der Hund, da konnte ich nur erkennen, dass er Schlappohren und ein weißes Fell mit braunen Flecken hatte. Er ging dem Mann etwa bis zu den Knien.“
Dann erzählte ich von meinem Krankenhausaufenthalt und wie ich Marok wiedergefunden hatte. Ich erzählte sehr ausführlich, damit es später keine Fragen mehr gab.
„Okay, sehr gut. Bitte bleib hier sitzen, bis wir Maroks Befragung auch beendet haben. Ich sage dir dann Bescheid.“
Dann ging er ins Zimmer 219 zurück. Es dauerte jedoch nur einige Sekunden, bis er es bereits wieder verließ und erneut auf mich zukam.
„Er will erst reden, wenn du dabei bist. Er meinte, er müsste dir sowieso noch alles erzählen. Solange du dich nicht einmischst, geht das wohl in Ordnung.“
Ich sprang auf, flitzte an dem Polizisten vorbei, welcher nur verdattert ins Leere starrte und hüpfte sofort wieder zu Marok aufs Bett. Er musste kurz darüber lachen und legte dann seine Arme um mich.
„Okay, dann kann ich jetzt ja erzählen. Nach dem Schuss weiß ich erst mal nicht, wie ich in das Labor gekommen bin. Ich bin erst zu mir gekommen, als ich schon dort war. Ich saß in einem kleinen Käfig. Ich passte so gerade rein. Zusätzlich war ich mit Ketten an Händen und Füßen gefesselt. Ich war das einzige Lebewesen in dem Raum, konnte aber Katzen, Hunde, Affen und andere Tiere nebenan schreien hören. Meine Schusswunde war nicht behandelt worden, aber so, wie sie sich anfühlte, hatte wohl jemand die Kugel entfernt. Es dauerte nicht lange, bis sechs weißgekleidete Männer zu mir kamen. Wie Ärzte sahen sie aus. Sie sagten kein Wort. Ich fragte sie, was sie von mir wollten und was sie mit mir vorhatten, aber ich bekam keine Antwort. Einer der Männer öffnete das obere Gitter meines Käfigs. Mir war klar, dass ich mich nicht wehren konnte. Zwei weitere Männer schoben dann links und rechts von mir jeweils eine Hälfte eines Geräts durch die Gitterstäbe, dass meinen Kopf festhalten sollte.“
Marok nahm meine Hand und drückte sie.
„Und dann haben sie mir mit einer Kreissäge die Schädeldecke aufgesägt.“
Ich schaute schockiert zu ihm auf. Ich vergaß für einen kurzen Moment zu atmen. Marok sah plötzlich wahnsinnig wütend und verletzt aus. Er drückte mich noch fester an sich und atmete tief durch. Es fiel ihm merklich schwer, alles zu erzählen, auch wenn er cool tat.
„Ich weiß nicht, weshalb sie das gemacht haben. Ich war in dem Moment nur froh, dass sie mich am Leben ließen.“
„Hast du nicht geschrieen?“
„Und wie ich geschrieen habe, aber Sie haben es ja gesehen. In der Gegend
konnte mich niemand hören. Die haben es einfach ignoriert, als könnten sie mich nicht verstehen. Ich habe mich da wirklich gefühlt, wie ein Tier.“
Er begann zu zittern. Der Polizist, der mich befragt hatte, ging zum Waschbecken in dem kleinen Bad des Krankenzimmers und brachte ihm einen Becher Wasser. Er trank ihn in einem Zug aus und fuhr fort:
„Danach ließen sie mich für den ersten Tag in Ruhe. Ich konnte die Nacht natürlich nicht schlafen. Ich ertrug die Schmerzen ja kaum.“
Mir rannen ein paar leise Tränen über die Wangen. Ich wollte aber nicht, dass Marok es bemerkte und unterdrückte ein Schluchzen. Er selbst starrte beim Erzählen ins Nirgendwo und schien alles noch einmal bildlich im Kopf durchzumachen.
„Am nächsten Morgen kamen nur zwei Männer. Einer zog meine Arme und Beine mit Hilfe der Ketten an das Gitter und der andere schnitt an mehreren Stellen „Proben“ heraus. Sie ließen mich mit den offenen Wunden zurück. Am dritten Tag hatten mich die gequälten Schreie der Tiere schon fast wahnsinnig gemacht. Ich wollte ihnen gut zureden, aber ich hatte Angst, dass die Typen meine Fähigkeit bemerkten, also dass ich mit Tieren reden kann. Abends kamen sie dann mit drei Spritzen. Die haben sie mir alle auf einmal verpasst und mich mit irgendwelchen Sensoren vollgestöpselt, um meine Herzfrequenzen und solche Sachen überwachen zu können. Ich redete die ganze Zeit auf sie ein, aber vergebens. Nach einiger Zeit wurde mir übel und ich begann zu zittern. Mein Herz schlug immer schneller und dann bekam ich spürbar hohes Fieber. Die Männer beobachteten alles wortlos und machten sich Notizen, während es mir schlechter und schlechter ging. Nach ein paar Stunden sprachen sie zum ersten Mal in meiner Gegenwart miteinander. Einer meinte, ich hätte fast 42° Fieber und würde wohl sterben. Darauf meinte ein anderer, er wäre sich da nicht so sicher. Bis jetzt würde ich mich gut halten. Nach einiger Zeit sank mein Fieber dann auch endlich auf 39°. Da brach auch schon der nächste Tag an. Am vierten Tag bekam ich zum ersten Mal etwas Wasser und Brot, ohne von meinen Fesseln befreit zu werden. Sie fütterten mich. Als ich gegessen hatte, kamen sie wieder mit drei Spritzen, von denen ich schwerwiegende Atemprobleme bekam. Den ganzen Tag saß ich da und versuchte verzweifelt zu atmen. Als es mir nachts wieder besser ging, fragte einer, ob sie neue Proben nehmen sollten. Also schnitten sie mir erneut Fleisch aus dem Arm. Andauernd nuschelten sie darüber, wie außergewöhnlich es sei, dass ich das alles einfach so überstand und dass ein Mensch längst tot sei. Wenn Sie mich fragen, wollten sie herausfinden, wie viel ich im Gegensatz zu einem Menschen aushalte. Nachdem, worüber die Tiere nebenan redeten, taten sie wohl dasselbe mit ihnen. Am Dienstag hörte ich dann den Falken am Fenster, den ich später Lin geschickt habe. Er wollte uns wiedersehen und hatte mich gesucht. Ich riss ein Stück von der Pappe ab, auf der mein Brot gelegen hatte und schmierte mit meinem Blut die Nachricht darauf. Der Falke schaffte es durch das Fenster. Es war etwas geöffnet gewesen. Dann hab ich ihm alles erklärt und ihn mit dem Zettel zu Lin geschickt.“
„Aber wie konntest du dich bewegen, um die Nachricht zu schreiben? Du warst doch in Ketten.“
„Wenn ich alleine war, waren die Ketten lang genug, eher wie eine Leine. Bewegungsunfähig war ich nur, wenn meine Arme und Beine an das Gitter gezerrt und dort fixiert wurden.“
„Ich verstehe. Fahre bitte fort.“
„Okay. Also nachdem ich den Falken losgeschickt hatte, wurde ich zum ersten Mal aus dem Käfig geholt. Ich war zu schwach, um mich zu wehren. Sie legten mich auf eine Metallplatte und fixierten meine Arme, Beine und meinen Kopf mit Metallfesseln. Einer der Männer machte ein Röntgenbild und malte dann auf meinem Bauch rum. Ein anderer nahm dann ein Skalpell und schnitt mir in den Bauch. Dadurch wurde ich ohnmächtig. Mein Glück war es dann, dass ich gerade wieder zu mir kam, als sie mich am nächsten Tag wieder irgendwo fesseln wollten. Sie hielten mich kaum fest, weil sie nicht mit meinem Aufwachen rechneten. Als ich zu mir kam und keine Fesseln spürte, dachte ich gar nicht weiter nach, riss mich einfach los und flog durch die Fensterscheibe. Erst da bemerkte ich, dass sie sich an meinen Flügeln zu schaffen gemacht hatten. Den Rest kennen Sie ja.“
Der Polizist steckte seinen Stift in seine Hemdtasche und schlug das Notizbuch zu.
„Ja, vielen Dank. Du hast uns sehr geholfen. Wir sind diesen illegalen Versuchen schon seit Monaten auf der Spur.“
Ich begann laut loszuweinen.
„Hey...“
Marok strich mir über die Wange.
„Jetzt ist doch alles wieder okay.“
Aber ich weinte immer lauter und konnte mich nicht beruhigen. Was sie ihm angetan hatten machte mich total fertig. Er lachte nur und nahm mich fest in den Arm.
„Du bist echt klasse!“
Vorsichtig drückte er mich aufs Bett und deckte mich zu, bevor er sich ebenfalls hinlegte. Jedes Mal, wenn ich ihn zwischen meinen Tränen hindurch sehen konnte, lächelte er fröhlich.
„Okay, wir lassen euch dann mal wieder alleine.“
Marok strich meine Tränen weg und rieb seine Nase an meiner. Ich überfiel ihn mit einem tränenüberfluteten Kuss. Er erwiderte und strich mir beruhigend durchs Haar. Seine Beine schlang er fest um meine, fast wie eine zweite Umarmung. Ich konnte sein Grinsen spüren. Ich beendete den Kuss und schloss die Augen.
„Bist du immer noch müde?“
Ich nickte nur.
„Okay.“
Ein sanfter Kuss auf die Stirn, dann lag auch er ruhig. Ich schlief schnell ein.
Kapitel 12
„Lin. Hey Schlafmütze, wach auf.“
Marok gab mir einen leichten Kuss auf die Stirn, woraufhin ich wiederstrebend die Augen aufschlug und in sein breites Grinsen blinzelte.
„Zeit zum Mittag essen.“
Ich starrte ihn verständnislos an und versuchte klar zu denken. Dann trat mir der Geruch von Fleisch in die Nase. Ohne mich aufzurichten drehte ich mich von Marok weg und starrte den Esstisch an, der direkt vor mir am Bett stand. Nachdem ich einen schmollenden Laut von mir gegeben hatte, schloss ich die Augen wieder.
„Iss doch schon, wenn du Hunger hast.“
Plötzlich spürte ich etwas warmes, feuchtes, glitschiges an meinen Lippen und riss erschrocken die Augen auf. Verdattert schielte ich auf das kleine gekochte Möhrchen, dass Marok mir an den Mund hielt.
„Ich will aber nicht alleine essen.“
Das Möhrchen roch gut und durch den Geruch bemerkte ich meinen Hunger. Also ließ ich mir von ihm das kleine orange Ding verfüttern.
„Warum bist du schon so munter?“
Schlaftrunken setzte ich mich auf und rieb mir den Schlaf aus den Augen. Marok überlegte kurz, um dann gleich wieder breit zu grinsen.
„Keine Ahnung.“
„Es liegt am Essen.“, sagte ich trocken, mehr feststellend als fragend. Er lachte nur.
„Kann schon sein.“
Ich zog den Esstisch näher ans Bett und griff nach dem Besteck. Wir saßen nun Rücken an Rücken, denn an seiner Bettseite stand ebenfalls ein Esstisch. Er aß unüberhörbar schnell. Als er fertig war, sah er mir beim Essen zu.
„Muss das sein?“
Er grinste nur wie ein kleiner Junge.
Als ich auch aufgegessen hatte, legte er sich wieder hin. Ich folgte seinem Beispiel und platzierte meinen Kopf auf seinem Bauch.
„Marok?“
„Was ist?“
„Glaubst du, deine Welt ist so was wie ein Paralleluniversum zu unserem? Ich meine, im Großen und Ganzen bist du wie wir.“
Er strich mir durchs Haar.
„Kann schon sein, nur das wir eindeutig die bessere Spezies sind.“
Ich lachte.
„Ja, wahrscheinlich.“
Ich setzte mich wieder auf und musterte seinen Flügel.
„Deine Federn sind schon wieder ganz nachgewachsen.“
„Anscheinend regeneriere ich mich schneller als ihr.“
Ich grinste zufrieden.
„Zum Glück.“
Marok zog das Pflaster von seiner rechten Wange ab. Wo vor zwei Tagen noch eine offene Fleischwunde geklafft hatte, war nun nichts mehr zu sehen. Nicht einmal eine Narbe war zurückgeblieben. Ungläubig starrte ich die Stelle an.
„Wahnsinn!“
„Hilfst du mir, mich auszupellen?“
Ich nickte nur und machte mich daran, seinen rechten Arm von den Verbänden und Pflastern zu befreien. Keinerlei Anzeichen von früheren Wunden.
„Ich bin froh.“
Marok setzte sich auf, hielt mein Gesicht fest und legte seine Stirn an meine.
„Und ich erst.“
Ich wollte mich losmachen.
„Jetzt wird erst mal der Verbandskram abgemacht.“
Doch er griff nach meiner Hand und starrte mich verführerisch an.
„Und dann...?“
Verwirrt glotzte ich zurück. Als ich seine Anspielung verstand wedelte ich abwehrend mit den Händen und lief knallrot an.
„Wir sind immer noch im Krankenhaus, vergiss das nicht! Außerdem sind meine Füße noch verletzt!“
Er kam trotzdem näher, ohne den Gesichtsausdruck zu ändern. Mir war klar, dass er Einiges mit mir vorhatte.
„Marok, bitte. Ich will nicht.“
Aber er hörte nicht. Seine Hände näherten sich weiter meinem Körper. Nicht wissend, was ich tun sollte, schloss ich die Augen. Als er mich dann plötzlich durchkitzelte, schoss eine Welle der Erleichterung durch mich hindurch. Instinktiv versuchte ich ihn wegzustoßen. Wir tollten eine Weile auf dem Bett herum, bis ich glaubte, vor lauter Lachen zu ersticken und mir die Tränen kamen. Als ich endlich ein „Hör auf“ herausbrachte, ließ er sofort von mir ab und ich strich mir die Tränen vom Gesicht. Marok saß triumphierend vor mir.
„Das war echt fies.“
„Hast wohl kurz an mir gezweifelt, was? Aber ich würde nie etwas mit dir anstellen, wozu du noch nicht bereit bist.“
Ich lief knallrot an, als ich die Lektion verstand.
„Ja, tut mir leid.“
Er zog mich für einen Kuss an sich, aber ich stieß ihn weg.
„Was heißt eigentlich, wozu ich
noch nicht bereit bin? Bist du etwa schon bereit aufs Ganze zu gehen?“
Er setzte ein süßes Casanovalächeln auf.
„Aber klar doch.“
Überrascht starrte ich ihn an.
Es klopfte an der Tür. Maroks Casanovagehabe brach augenblicklich in sich zusammen, als er den Besucher hereinrief. Ich saß nur völlig perplex da und starrte ins Leere. Eine Ärztin trat an unser Bett.
„Lindsay, ich würde mir jetzt gerne mal deine Füße ansehen.
„Was...? Wie...? Ah! Okay.“
Immer noch irritiert setzte ich mich an den Bettrand. Sie zog einen Stuhl heran und setzte sich. Ich sollte meine Füße auf ihre Beine legen. Dann begann sie, den Gips zu zerschneiden. Erst der linke Fuß, dann der rechte. Ich war gespannt, wie meine Füße an der Unterseite wohl aussahen. Vielleicht wässrige, eitrige Wunden mit Resten alter, stinkender Salbe und Creme. Die Ärztin musterte meine Füße kurz und nickte dann zufrieden.
„Alles bestens.“
Ich glotzte sie überrascht an, griff nach meinem rechten Fuß und zog ihn so nah wie möglich an mein Gesicht. Nichts Wässriges. Keine Salbenreste. Nur normal verkrustete Haut und kleine Narben. Die Ärztin lachte.
„Es sah schlimmer aus, als es war.“
„Das können Sie aber laut sagen!“
Marok kam von hinten an mein Ohr und begann zu flüstern.
„Jetzt hast du keine Ausreden mehr. Wir können wohl beide nach Hause.“
Dann biss er mich zärtlich. Und das vor der Ärztin!
„Und wie es aussieht ist unser Wunderknabe auch bestens genesen.“
Sie lächelte in Maroks Richtung.
„Ja, alles bestens.“
Ich nahm meine Füße vom Schoß der Ärztin und stellte sie vorsichtig auf den Boden. Keine Schmerzen. Die Krankenschwester wollte schon wieder gehen, doch ich hielt sie fest.
„Was ist?“
„Was wird jetzt passieren? Mit Marok meine ich. Die Öffentlichkeit sollte besser nichts über den Vorfall wissen.“
Sie sank wieder auf den Stuhl zurück.
„Eigentlich wollten wir seinen Fall vertuschen, aber ihr seid längst in den Nachrichten. So viel ich mitbekommen habe, sind die Menschen sehr beunruhigt. Um ganz ehrlich zu sein, sehen ihn die Meisten als gefährlichen Mutanten oder so etwas an. Ihr könntet Schwierigkeiten bekommen. Irgendein Reporter ist den Polizeiwagen gefolgt und hat euch heimlich gefilmt, als ihr am Labor ward. Und so, wie Marok aus dem Fenster flog, in der Luft hing und zuckte, sah er wirklich nicht sehr nett aus. Die gute Nachricht; sie haben die Laborleute festgenommen.“
Ich senkte meinen Blick, doch Marok schlang von hinten seine Arme um mich.
„Keine Sorge, Süße. Das schaffen wir locker.“
Ich schaute ungläubig zu ihm auf, in sein wie immer lächelndes Gesicht.
„Mach dir keinen Kopf.“
Dann wandte er sich an die Ärztin.
„Weiß irgendwer, dass wir hier sind?“
„Niemand. Nicht einmal meine Kollegen. Von Marok wissen hier nur ein paar, bei denen wir sicher waren, dass sie den Fall für sich behalten würden. Wir hatten sogar die Sirenen aus, als ihr hierher gefahren wurdet. Und dieses Zimmer gilt offiziell als unbelegt.“
Marok überlegte kurz.
„Weiß die komplette Öffentlichkeit von mir?“
„So ziemlich. Ihr seid Gesprächsthema Nummer 1.“
„Lin, dann wär’s wohl das Beste, wenn wir nach Hause fliegen, oder?“
„Wenn du mich tragen kannst?“
Er grinste.
„Bei so einem Fliegengewicht gar kein Problem.“
Ich grinste verlegen.
„Okay.“
„Aber lass uns bitte noch warten.“
Er rieb sich seinen Nacken.
„Mein Hals fühlt sich ein bisschen steif an.“
„Ja ist okay.“
Die Ärztin stand auf.
„Ich gehe dann mal wieder.“
Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, drehte ich mich zu Marok um.
„Soll ich dich massieren?“
„Ja, gerne.“
Ich krabbelte hinter ihn und begann, seine Schultern und seinen Nacken kräftig durchzukneten. Marok gab Laute von sich, die an ein Schnurren erinnerten.
„Das tut gut...“
„Hoffentlich hilft es auch.“
Nach fast 10 Minuten beendete ich meine Massage, weil meine Handgelenke zu sehr schmerzten.
„Das muss reichen.“
„Ja, danke. Wird wohl...“
Er hielt inne. Nach einer kurzen Pause drehte er sich zu mir um, ohne seinen Kopf zu drehen und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an.
„Ich kann meinen Kopf nicht drehen. Mein Hals lässt sich nicht bewegen.“
Kapitel 13
Ich glotzte Marok kurz an, dann drückte ich kurzerhand den Knopf der Sprechanlage an der Wand.
„Wir brauchen einen Arzt. Hier gibt’s Probleme.“
„Wir schicken sofort jemanden.“
Eine, vielleicht zwei Minuten später kam ein älterer Arzt in unser Zimmer und fragte nach dem Problem. Ich deutete auf Marok.
„Sein Hals ist irgendwie gelähmt.“
Marok ergänzte: „Ich kann den Kopf nicht drehen.“
„Kannst du nicken?“
Er schien es zu versuchen, aber nichts geschah. Der Arzt versuchte, seinen Kopf mit seinen Händen zu bewegen, aber auch ihm gelang es nicht.
„Seit wann hast du das schon?“
„Seit eben erst. Mein Hals hatte sich steif angefühlt, da hat Lin mich massiert und dann ging gar nichts mehr.“
„Und alles Andere kannst du bewegen?“
„Ja, aber mein linkes Handgelenk fühlt sich auch schon steif an.“
Marok begann kaum wahrnehmbar zu zittern. Ich drückte seine Hand.
„Das wird schon wieder.“
Aber wie sich nach mehreren Untersuchungen rausstellte, sollte es nicht besser werden. Nach über 3 Stunden wurden die Untersuchungen an ihm beendet und sie brachten ihn zurück in sein Zimmer. Der Arzt erklärte mir, dass die Lähmungen ungeahnte Folgen der Spritzen sein mussten, die Marok im Labor bekommen hatte. In der Zwischenzeit waren seine linke Hand und sein linker Arm bis zur Schulter hoch komplett steif und unbeweglich geworden.
„Ich muss leider sagen, dass er in kürzester Zeit vollkommen gelähmt sein wird. Vielleicht heute noch, vielleicht morgen, vielleicht auch erst nächste Woche. Wenn die Lähmungen nicht von alleine aufhören, wird er früher oder später daran sterben.“
„Und Sie können gar nichts dagegen machen?“
Merklich betroffen schaute er zu Boden.
„Nein, tut mir leid. Und das meine ich ernst. Der Junge ist höchst interessant.“
„Er ist doch kein Mittel zum Zweck!“
„So hatte ich das auch nicht gemeint. Keine Sorge.“
Er lächelte und ich glaubte ihm. Ich senkte den Kopf und huschte zu Marok ins Zimmer. Er lag dort und starrte an die Decke. Etwas Anderes blieb ihm ja auch kaum übrig. Als ich an seinem Bett stand schielte er aus den Augenwinkeln zu mir herüber. Um nicht zu weinen schluckte ich hörbar die ersten Tränen herunter.
„Hey, noch geht’s mir gut, okay?“
Ich nickte nur, weil ich befürchten musste, dass der Kloß in meinem Hals in einem Bach aus Tränen aus mir herausschießen würde, sobald ich den Mund aufmachte.
„Ich glaube, als nächstes ist mein rechtes Bein dran. Ich sollte mich jetzt wohl einigermaßen gerade halten, damit ich hier nicht als Krüppelfigur ende.“
Er lachte trocken. Ich schluckte noch einmal und schaffte es dann doch zu sprechen:
„Du musst nicht tapfer sein, Marok.“
„Dann geht’s mir aber besser.“
Er lächelte. Ich begutachtete seinen linken Arm. Der Oberarm lag gerade am Körper an, aber der unterarm stand im 90°-Winkel nach vorne ab, die Hand zur Faust geballt. Er folgte meinen Blicken so gut es ging.
„Mach dir keinen Kopf, dass mache ich schon genug für uns beide. Warten wir erst mal ab. Haben sie dir schon alles gesagt? Das sie glauben, ich werde sterben und so?“
Daraufhin fiel ich ihm um den Hals. Mit seinem rechten Arm zog er mich zu sich aufs Bett und umarmte mich so gut es ging. Ich hörte seinen schnellen Herzschlag und fühlte mich, als wäre es das letzte Mal. Marok strich mir über den Rücken.
„Ich liebe dich, Süße. Ich werd dich schon nicht einfach so verlassen.“
Jetzt brachen die Tränen gemischt mit einem Gefühl der Wut aus mir heraus. Ich hob den Kopf und starrte ihn von oben herab ins Gesicht.
„Woher willst du das wissen?! Du hast mich schon einmal verlassen! Hör auf, mir leere Versprechungen zu machen! Ich...“
Ich hielt inne, als mir sein trauriger Gesichtsausdruck bewusst wurde, der bereits feucht war von meinen Tränen. Er griff nach meinem Hinterkopf und drückte mich für einen Kuss nach unten.
„Tut mir leid. Du hast Recht. Die Ansprache war dämlich.“
„Ich werde es nicht verkraften, dich zu verlieren.“
„Es muss doch gar nicht so weit kommen. Vielleicht stoppt die Lähmung von selbst.“
Ich legte mich neben ihn, während er versuchte, mich zu beruhigen und nach langer Zeit versiegten meine Tränen dann auch.
Später am Tag, als Maroks Bein längst gelähmt war, kam Mum mit ein paar Sachen vorbei. Sie hatte ja noch nicht gewusst, dass Marok sie wohl nicht mehr brauchen würde, aber als sie an unser Bett trat, konnte man ihr deutlich ansehen, dass sie es gerade erfahren hatte. Sie sagte nichts zu dem Thema, schluckte aber laut. Sie wollte uns wohl nicht aufwühlen.
„Marok. In einer deiner Hosen ist was drin, deshalb hab ich die auch mitgebracht.“
„Ja, danke.“
Er schaute Mum nicht an. Er hätte es nicht gekonnt. Ich sagte nichts. Ich lag einfach nur da und sog Maroks Geruch ein. Wer wusste schon, wie lange ich das noch tun konnte.
„Ich glaube, es ist besser, wenn ich euch alleine lasse.“
Mit diesen Worten verschwand Mum, einen letzten Blick auf Marok ruhen lassend, ohne auf eine Antwort zu warten.
„Lin, ich wollte dir das eh noch zeigen. Kannst du mal die Hose holen?“
Ich stand auf und holte sie. Man merkte eindeutig das etwas in ihr war. Ich brachte sie ihm, während er sich mühselig aufsetzte. Dann kramte er kurz in einer der tiefen Hosentaschen und zog etwas heraus, dass aussah, wie ein Schmuckstück.
„Das ist mein Amulett.“
Er reichte es mir. Es war etwa so lang, wie meine Hand. Eine Art großes, silbernes T mit einer schwarzen Perle auf dem oberen Strich. Von unten her wickelte sich etwas, dass aussah, wie 2 goldene Bänder, um das T herum, bis nach oben um die Seiten. Sie wanderten weiter, bis sie einen Bogen über diesem bildeten, sich dort trafen, sich gegenseitig umwickelten, um dann in schönen Kurven am linken und rechten Ende des Ts zu enden. Links und rechts in den Bögen war je ein grüner Würfel befestigt, von welchem zu beiden Seiten rote, wellige Linien nach unten zurück zum T verliefen.
„Die Perle ist das eigentlich Wichtige. Sobald eine Frau bei uns schwanger wird, erscheint in der Nacht eine Perle bei ihr in der Hand. Die Farben sind oft unterschiedlich. Durch die Perle weiß die Frau von ihrer Schwangerschaft. Nach der Tradition haben die Eltern dann 7 Monate Zeit, die Perle für ihr Kind in ein Schmuckstück einzuarbeiten. Solange dauert die Schwangerschaft. Meistens wird die Perle in ein Amulett eingearbeitet. Bei Zwillingen gibt’s natürlich doppelt so viel zu tun. Ich hatte Glück. Meine Mum war sehr begabt. Es gibt auch immer wieder Kinder, denen ihre Perle peinlich ist, weil ihre Eltern nichts Schönes draus gemacht haben. Die Perle wirkt immer nur für das Kind, für welches sie bestimmt ist. Sie ist eine Art Verbindungsmöglichkeit. Vielleicht wie eure Handys, nur besser. Man muss dann nur an die Person denken, die man kontaktieren möchte und durch die Perle ist es dann möglich, telepatisch zu kommunizieren. Aber man kann über sie auch Fähigkeiten anwenden, also so, wie es bei mir war. Der Kerl damals hat mich auch über meine Perle und nicht persönlich hierher verbannt. Im Laufe der ersten Woche hier, hatte ich oft versucht, Kontakt zu meiner Familie aufzunehmen, aber ohne Erfolg. Ich kann also nur zurück, wenn sie mich finden und erreichen. Dann könnten sie mich wahrscheinlich zurück holen.“
„Da hab ich gar nicht mehr dran gedacht. Das du zurück willst, meine ich.“
„Dir ist doch wohl klar, dass das hier der falsche Platz für mich ist.“
Da war er wieder. Der Kloß, der mich am Sprechen hinderte. Meine Augen fühlten sich an, als würde jemand von innen gegen sie drücken, um die Tränen zu befreien.
„Hey...“
Marok beugte sich vor und streichelte meine Wange.
„Von Wegwollen ist ja gar nicht die Rede, aber es geht nun mal nicht anders. Fürs Erste ist ja nicht mal klar, ob sie mich überhaupt jemals finden werden.“
Mir wurde schlecht und ich wurde wütend.
Das ist ungerecht. Natürlich werden sie ihn finden. Entweder, er wird sterben, oder sie nehmen ihn mir weg. Das Schicksaal gönnt ihn mir doch sowieso nicht!
Ich gab dem Druck hinter meinen Augäpfeln nach und ließ den Wassermassen freien Lauf.
Das ist alles so gemein. Wieso darf ich nicht einfach glücklich sein? Was hab ich Schlimmes getan, dass sich alles gegen mich verschwört?
Marok zog mich an seine Brust.
„Bitte nicht weinen. Ich hasse es, wenn ich dich nicht trösten kann.“
Aber ich weinte weiter. Leise zwar, aber so tief, wie lange nicht mehr.
Wieso hasst mich das Schicksaal so? Wieso darf ich nicht bei ihm bleiben?
Kapitel 14
Ich bin wohl eingeschlafen.
Nach einer kurzen Pause setzte ich mich erschrocken auf. Wie gelähmt würde Marok wohl sein? Ich starrte ihn an und er starrte zurück, wie eine Puppe aus einem Horrorfilm. Ein unbeweglicher Körper mit lebendigen Augen. Es sah zum Fürchten aus.
„Ka... Kannst du noch irgendwas bewegen?“
Meine Stimme zitterte. Marok antwortete nicht. Ich bekam Panik.
„Kannst du nicht einmal mehr sprechen?“
Seine Augen wurden sichtbar feucht. Ich hatte Recht.
„O... Okay! Ganz ruhig... Einmal Zwinkern heißt ja, zweimal nein, okay?“
Er zwinkerte einmal.
„Kannst du noch irgendwas bewegen?“
Zweimal Zwinkern. Eine Träne rann über seine Wange. Ich wusste, ich musste jetzt tapfer sein für ihn. Das brauchte er jetzt. Also schluckte ich die Tränen herunter und versuchte ruhig zu sprechen.
„Wenn du einverstanden bist, nehme ich jetzt den Bus nach Hause. Da müssten irgendwo noch Magnetbuchstaben von früher rumliegen. Mit denen könntest du vielleicht irgendwie mit mir sprechen.“
Ein Zwinkern. In seinen Augen machte sich eine merkwürdige Anspannung breit.
„Willst du mir denn noch etwas sagen?“
Ein Zwinkern. Schnell drehte ich ihm den Rücken zu. Mir waren ein paar einzelne Tränen entwischt. Er sollte sie nicht sehen. Ich wischte sie weg, atmete tief durch und drehte mich wieder zu ihm um. Dann küsste ich ihn auf seine starren Lippen und lief in das kleine Badezimmer des Raumes, um mich so schnell wie möglich fertig zu machen. Ich rief ihm nur noch ein kurzes Tschüss zu, bevor ich hinauslief. Ich musste einfach für eine Weile weg, mich wieder fangen. Dann stand ich an der Bushaltestelle. Von allen Seiten her wurde ich angestarrt. Wahrscheinlich wegen der Nachrichten. Ich ignorierte die bohrenden Blicke spielend. Als ob ich jetzt an etwas Anderes hätte denken könnte, als an Marok. Wie er sich wohl fühlte? Wenn ich mir das vorstellte, alleine in einer unbeweglichen Hülle. Nicht sprechen können. Sich nicht rühren können. Wie in einem engen Sarg auf den Tod warten. Eine Figur unter Lebenden, die ebenso leben möchte. In diesem Moment lag Marok alleine in dem Zimmer, starrte an die Decke und wünschte sich nichts mehr, als zwischendurch einfach mal aufzustehen und ans Fenster gehen zu können.
Das mir Tränen übers Gesicht liefen merkte ich erst, als der Bus vor mir stand. Ich wischte sie mir weg und stieg ein. Außer mir saßen nur 3 weitere Fahrgäste im Bus. Ich setzte mich nach ganz hinten, um möglichst allein sein zu können. Es waren 20 Minuten Fahrt und ein paar Minuten Fußweg bis nach Hause. Mit einem Mal kam mir Maroks Lähmung unwirklich vor. Zu Hause angekommen hatte ich fast das Gefühl, als sei er schon weg. Mum war wohl auch nicht da. Still und verlassen erstreckte sich der Flur vor mir. Hinter jeder Ecke erwartete ich Maroks Lächeln. Erneut begann ich zu schluchzen und zu weinen. Trotz des verschwommenen Sichtfeldes rannte ich in den Keller, holte die Magnetbuchstaben samt Tafel in ihrer Kunststoffkiste aus der hintersten Ecke und lief schnell zur Haltestelle zurück. Dieses Mal setzte ich mich im Bus nach ganz vorne. So hatte ich nur die Scheibe der Fahrerkabine im Blick. Sollten die anderen doch starren, so viel sie wollten. Auf halbem Wege fing der Busfahrer plötzlich an zu schluchzen, gerade, als wir an einem Fluss entlang fuhren. Ich wollte gerade fragen, was los sei, da wurde das Schluchzen lauter und ich erkannte durch die leicht durchsichtige Kunststoffscheibe der Kabine die Umrisse einer Pistole. Das Schluchzen ging in ein Weinen über.
Aber das kann doch wohl nicht wirklich passieren!
Die Waffe klickte, ein Knall. Blut spritzte vor mir an die Scheibe und versperrte mir die Sicht nach vorne. Die Leiche des Fahrers schlug hörbar auf dem Lenkrad auf. Im Bus schrieen die Fahrgäste und die Leiche rutschte nach rechts in den Gang. Ich starrte sie an. Blut floss aus der Austrittswunde am Kopf. Ich war froh, dass er sich von unten in den Kopf geschossen hatte, sonst wäre die Kugel vielleicht durch die Scheibe hindurch auch in meinen Kopf geschossen.
Der Bus wurde langsamer, schließlich trat keiner mehr aufs Gas, doch als er dann plötzlich die Leitplanke durchbrach, schlug ich mit dem Kopf an die Scheibe und wir rasten eine Böschung hinunter. Die anderen Fahrgäste rasteten völlig aus, krallten sich in ihre jeweiligen Vordersitze und schrieen aus Todesangst. Ich hingegen begann zu überlegen, ob es so nicht sogar besser so sei.
Die Vorderscheibe des Busses schlug aufs Flusswasser auf und begann zu sinken. Durch mein leicht geöffnetes Fenster drang bald Wasser ein und lief über meinen Sitz. Leise begann ich zu weinen.
Es ist besser so. Gleich wird alles vorbei sein.
Ich spürte, wie der Bus in die Senkrechte ging. Ich hatte kein Problem damit. Mein Oberkörper lag locker auf der Kabinenscheibe, aber die anderen Gäste versuchten sich verzweifelt irgendwo festzuhalten.
Das Wasser war kalt. Irgendwie angenehm. Es betäubte mich ein wenig. Es dauerte nicht lange, bis der Bus komplett untergegangen war. Noch hielten die Fenster dem Druck des Wassers stand.
„Nein!“
Ich schaute zu den Anderen. Eine Frau versuchte hysterisch, einen Mann daran zu hindern, eine Scheibe mit dem Notfallhammer einzuschlagen.
„Ich werde nicht sterben!“
„Werden Sie auch nicht, wenn Sie die Scheibe heile lassen!“
Aber er schlug zu. Das Glas bekam Risse. Wir starrten die Scheibe an. Ohne weitere Vorwarnung zersprang sie und die Wassermassen durchfluteten den Bus. Der Mann wurde durch die Luft geschleudert, blieb aber bei Bewusstsein. Die Leiche wurde herumgewirbelt. Ich schaute weg, starrte ins Nichts, den Oberkörper auf die Scheibe gelegt, aber irgendwie immer noch sitzend. Noch konnte ich meinen Kopf über Wasser halten. Das Wasser war trüb und dunkel. Dann schlug die Vorderseite des Busses auf dem Grund des Flusses auf. Die Frontscheibe zersprang und der Bus wurde zusammengedrückt. Ich ignorierte die Schmerzen in meinem Bein, als es zwischen meinen Sitz und die Scheibe gequetscht wurde. Ich steckte fest. So würde ich auf jeden Fall sterben.
Die Anderen waren weg. Sie waren wohl durch das zerbrochene Fenster hinausgeschwommen. Ich freute mich für sie. So viel Glück auf einmal zu haben war bestimmt etwas Schönes. Ich war alleine, bis auf die Leiche, die durch den Bus glitt, getrieben von den Wasserströmen. Allmählich wurde mein Kopf von Wasser überflutet. Ich hielt die Luft an und schloss die Augen. Eigentlich wollte ich das Wasser einatmen und damit alles beenden, doch ich traute mich nicht. Da sah ich Marok vor mir, wie er dalag, alleine und gefangen in seinem eigenen Körper. Wie er weint und sich Sorgen um mich macht und nichts tun kann. Wie er alleine stirbt... Wie er in den letzten Minuten seines Lebens Angst hat...
Texte: Copyright by Melanie Kespohl
Bildmaterialien: Copyright by Melanie Kespohl
Tag der Veröffentlichung: 06.05.2009
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