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Angel Melody

 

 

Ich rannte.
Sie waren hinter mir her.
Nicht zum ersten Mal, doch diesmal war es zu weit gegangen. Ich konnte nicht mehr.
Ich war noch nie eine gute Sportlerin gewesen.
Sie kamen immer näher.
Was sollte ich bloß tun?
Sie verfolgten mich, ließen nicht von mir ab, ließen mir keine Chance Luft zu holen.
Ich rannte immer weiter.
Lange würde ich das nicht mehr durchhalten.
Doch mich ihnen zu stellen, davor hatte ich zu viel Angst. Was würden sie mit mir machen?
Sie waren wütend. Bis jetzt war ich ihnen jedes Mal entkommen, ein schwaches kleines Mädchen gegen diese Jungs, jedes Mal hatte ich gewonnen.
Ob ich mich stundenlang auf der Toilette versteckt hatte oder ihnen bis zuhause davongerannt war, ich hatte es jedes Mal geschafft.
Doch diesmal hatten sie mich in eine andere Richtung gedrängt, entgegengesetzt meines Zuhauses oder der Schule, hier wusste ich nicht wohin.
Wieso tat denn niemand etwas?
Wir liefen an der Straße entlang, vorbei an unendlich vielen Menschen, und niemand half mir!
Ich fühlte mich so einsam, obwohl um mich viele Leute waren. Nun war die Straße aus.
Der Fluss. Direkt vor mir. Kein Entrinnen, kein Zurück.
Was nun?
Ich konnte mich ihnen nicht stellen. Sie würden mich totprügeln! Ich hatte ihnen nie etwas getan, ich war nur nicht so wie sie mich gerne hätten.
Zu langweilig, Brille auf der Nase, klein und unauffällig.
Ich passte so gar nicht zu den „Perfekten“ meiner Klasse, ich war so... anders.
Das gefiel ihnen nicht. Sie wollten mich zurechtstutzen oder mich zumindest loswerden.
Doch eine andere Schule kam nicht Frage. In der Nähe gab es keine und ein Internat in der Ferne konnten wir uns nicht leisten.
Was nun? Ohne zu denken stürmte ich in den Fluss. Er war eiskalt.
Es dauerte nur eine Sekunde bis mich die Fluten umschlungen hatten.
Sie nahmen mir den Boden unter den Füßen und rissen mich mit voller Kraft mit.
Ich hörte die Jungs noch lachen als ich sicher schon eine Meile abgetrieben war.
Ich strampelte und versuchte mich ans Ufer zu retten doch ich war einfach zu schwach.
Was sollte so ein kleines Mädchen von 13 Jahren schon gegen diesen Fluss ausrichten?
Es war erschöpfend zu strampeln, doch es hatte sowieso keinen Sinn. Ich würde sterben.
Wen würde es stören? Freunde hatte ich fast keine. Meine Familie würde sich bald mit meinem Verschwinden abgefunden haben. Ich hatte ihnen nie viel bedeutet. Ich war einfach nicht das geworden was sie gern gehabt hätten: Eine hübsche kleine Diva. Meine kleine Schwester machte die Anstalten genau das zu werden und so war ich ihnen in letzter Zeit immer weniger wichtig geworden.
Während ich so nachdachte, schwanden meine Kräfte. Ich trieb immer noch mit der Strömung, vorbei an unserem kleinen Dorf immer weiter weg, wohin wusste ich nicht.
Irgendwann musste ich ohnmächtig geworden sein...

Als ich meine Augen wieder öffnete, blickte ich in zwei blau-weiße Flecken. Ich musste im Fluss meine Brille verloren haben!
Als sich meine Augen ein wenig an die Anstrengung gewöhnt hatten, erkannte ich, dass es zwei Augen waren, die mich aus einem hübschen Jungengesicht freundlich ansahen. Wo war ich? Im Himmel? So lieb hatten mich die Burschen aus meiner Klasse vorher noch nie angesehen!
"Na endlich! Ich dachte schon du wachst nie auf!", lachte eine süße Stimme, die ganz augenscheinlich zu diesem Gesicht gehörte.
Ich versuchte mich aufzusetzen und mein Retter wich ein Stück zurück, um mir ein wenig Platz zu lassen. Ich sah mich um. Es war wunderschön.
Es sah aus als wäre ich auf einer Insel gelandet, zumindest lag ich an einem atemberaubenden Sandstrand und, soweit ich das erkennen konnte, war ich umgeben von Bäumen und Palmen. "Wo kommst du denn her? Du siehst aus wie eine kleine Wassernixe!", kicherte er.
Er musste ja einen komischen Humor haben, wenn er meine Situation so witzig fand. Ich blickte an mir hinunter. Er hatte Recht, ich war pitschnass und voller Seegras.
Ein zweites Mal blickte ich mich um. War es möglich, von dieser öden Vorstadt, in der meine alte Heimat lag, in dieses Paradies zu wechseln?
Dem Jungen schien es nicht zu gefallen dass ich bis zu diesem Moment noch kein Wort an ihn gewandt hatte. "Hey Kleine, hast du im Wasser deinen Mund verloren? Übrigens, ich bin Jason."
Er hatte wirklich einen komischen Humor... Er reichte mir seine Hand und ich nutzte sie, um mich an ihr hochzuziehen. "Tschuldige...", antwortete ich kleinlaut. Wie sprach man mit Jungs? Ich hatte keine Ahnung, diese Art des Gesprächs hatte ich bisher noch nie benötigt.
"Ich...ich bin Melody." Ich entzog mich seiner Hand und ging zum Rand des Wassers. War es ein Meer, ein See oder gar nur ein Fluss? Ich wusste es nicht, ich war nie interessiert daran gewesen wohin der Fluss mündete, der aus unserem kleinen Städtchen führte.
Ich beugte mich zum Wasser hinunter um mein Spiegelbild auf der klaren Oberfläche des Gewässers betrachten zu können. Doch was ich sah war nicht das kleine Ding aus meiner Erinnerung, das schwache, hässliche Etwas. Im Wasser spiegelte sich ein hübsches Gesicht, das ich noch nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte, ich hatte mich ja noch nie ohne meine Brille im Spiegel betrachtet. Ich dachte ich hätte mir den Kopf gestoßen, dieses süße Abbild konnte doch nicht von mir stammen!
Jason sah mir belustigt dabei zu, wie ich kopfschüttelnd das Wasser betrachtete. Dieser Junge fand wirklich alles komisch. "Melody...", wiederholte er leise. "Das passt." Hä? Ich hatte meinen Namen immer sehr schön gefunden - fast zu schön für mich. Meine Klassenkameraden ließen sich oft böse Spitznamen für mich einfallen, weil sie meinten dass ich wohl kaum hübsch genug wäre um "Melodie" genannt zu werden. Sie redeten mir das so lange ein, bis ich selbst daran glaubte und mich von diesem Moment an nur noch Mel nennen lies. Doch dieser Junge schien das alles völlig anders zu sehen. Er musterte mich von oben bis unten und lächelte zufrieden, als ob er mich hübsch fände! Mich! Das war mir nicht ganz geheuer.
Schön langsam wollte ich wissen, ob auf dieser Insel- falls es überhaupt eine war, ich hatte ja noch nicht die ganze gesehen- noch andere Menschen wohnten, und vor allem, ob sie alle so seltsam waren wie Jason.
Um das herauszufinden, wendete ich mich von meinem Retter ab und begann, die Insel zu erkunden.

Es schien Jason nicht sehr zu gefallen dass ich so wenig Notiz von ihm nahm, denn er lief mir nach und redete ununterbrochen auf mich ein. Wo ich herkäme, wie alt ich sei, wie ich in den Fluss geraten war und so weiter, all diese unwichtigen Dinge wollte er von mir wissen! Wieso konnte er sich nicht damit zufrieden geben dass ich jetzt hier war und meine Vergangenheit ruhen lassen?
Ich war schon drauf und dran sie zu verdrängen, sodass mir nicht danach war ihm auf seine Fragen auch nur eine einzige Antwort zu geben. Doch das schien ihn nicht weiter zu stören, denn als er merkte dass ich nicht sehr gesprächig war fing er einfach an von sich zu erzählen. Da mich die Einzelheiten seines Lebens aber gerade genauso wenig interessierten schaltete ich meine Ohren auf Durchzug und konzentrierte meine Gedanken auf die Natur, die mich umgab.
Ich war mir immer noch nicht bewusst wo genau ich mich befand und auch nicht, ob diese vermeintliche Insel überhaupt eine war. Sie war größer als ich gedacht hatte, viel größer sogar. Wir wanderten nun schon eine ganze Weile am Strand entlang, aber es sah alles ziemlich gleich aus, wenn auch atemberaubend schön. Dass dieser wundervolle Ort sich in der Nähe meiner alten Heimat befinden sollte war mir unbegreiflich, hier war es viel zu schön um es in Verbindung mit meinem grauen Stadtleben zu bringen.
Nach und nach kehrte das Gefühl in meinen Körper zurück und ich spürte zwei Emotionen, die so stark waren dass ich mich auf nichts Anderes mehr konzentrieren konnte: Ich war extrem hungrig und natürlich total erschöpft und müde. Zweiteres wollte ich vor meinem "Retter" natürlich nicht zugeben und so versuchte ich dieses Bedürfnis so gut es ging zu unterdrücken. Doch hungrig zu sein, dieses Gefühl war mir nicht bekannt. Ich lebte immer in einem Haushalt mit durchgehend vollem Kühlschrank, zu dem ich jederzeit gehen und ihn plündern konnte.
Doch hier war kein Kühlschrank. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, eine verwöhnte kleine Göre zu sein. Ein Mädchen, dass alles hat, dem nichts fehlt.
Doch, an einem fehlte es mir immer: an Freunden. Doch die konnte man nicht kaufen. Jedes kleine käufliche Detail das mir jemals für mein Glück fehlte wurde mir in den Schoss gelegt, an nichts hatte es mir je gefehlt.
Der Hunger wurde immer unerträglicher, zehrte an meinen Nerven, doch ich war zu schüchtern oder auch zu stolz um diesem Jungen zu sagen was mich quälte, um ihm meine Sorgen mitzuteilen, meine Probleme verständlich zu machen. Irgendwann jedoch wandte mir Jason den Kopf zu, wahrscheinlich fiel ihm nichts mehr ein was er mir noch nicht erzählt hatte, obwohl es mir wahrscheinlich auch nicht aufgefallen wäre wenn er über Gummibälle oder Schaukelpferde gesprochen hätte, so wenig Aufmerksamkeit hatte ich ihm geschenkt.
Scheinbar hatte er meinen gequälten Gesichtsausdruck bemerkt, denn er meinte: "Du musst ja riesigen Hunger haben! Wer weiß wie lange du in diesem Fluss getrieben bist!"
Ich überlegte. Der Tag an dem ich diese Auseinandersetzung gehabt hatte...es musste ein Donnerstag gewesen sein. "Welchen Tag haben wir heute?", fragte ich den Jungen. Er hatte mich neugierig gemacht. Wie lange konnte man wohl in einem Fluss treiben ohne zu ertrinken?
"Wir haben Sonntag. Wann bist du denn hineingefallen?" Doch seine Frage hörte ich schon nicht mehr, ich war so fasziniert von diesem einen Wort. Sonntag...ich konnte doch nicht vier Tage lang im Wasser getrieben sein!
"Jason...", setze ich vorsichtig an, "Wann hast du mich gefunden?" "Ich glaube es war... Ja, Freitagnachmittag muss das gewesen sein. Du warst ganz schön lange ohnmächtig, ich dachte schon ich hätte dich verloren."
Waaas? Ich war schon eineinhalb Tage aus dem Wasser? Wieso war ich dann immer noch triefend nass? Die Algen versteh ich ja, wahrscheinlich hatte er sich nicht getraut mich anzufassen, aber die Sonne musste mich doch in der Zwischenzeit schon dreimal getrocknet, wenn nicht gar verbrutzelt haben!
"Jason, wie ist es möglich dass ich trotz meiner langen Zeit im Trockenen so nass bin?" Verlegen starrte er auf seine Füße. Zum ersten Mal fiel mir auf dass er barfuß war. "Naja...ähm...also das ist mir jetzt schon ein bisschen peinlich...", stotterte er vor sich hin.
“Spucks aus Kleiner!", sagte ich in einem Tonfall, der eher nach seinem als nach meinem klang. "Naja, du warst so lange ohnmächtig dass ich mir...naja, ich hab mir Sorgen gemacht. Und damit du endlich aufwachst, hab ich dir...", bei diesen Worten wurde er immer leiser, so sehr schämte er sich, "...naja, ich hab einen Kübel kaltes Wasser über dich geschüttet."
Also auf die Idee wäre ich jetzt nicht gekommen. Vor Überraschung blieb mir erst mal der Mund offen stehen und Jason blickte immer noch zu Boden, als hätte er Angst dass ich extrem wütend auf ihn sein würde. Doch wieso sollte ich? Ich verspürte keinen Grund um wütend zu sein! Er hatte nur mit allen möglichen Mitteln versucht mir zu helfen, dass konnte man ihm ja wohl kaum übel nehmen.
Wir gingen eine Weile schweigend nebeneinander her, bis sich mein Magen wieder zu Wort meldete, diesmal so laut, dass auch Jason darauf aufmerksam wurde. "Ach ja, vor lauter Peinlichkeiten kommt dein Magen zu kurz!", lachte er. Gut dass er darauf zurückgekommen war, aber wo sollte ich in dieser Einöde etwas zu essen herbekommen? Ich hatte auf unserem gesamten Rundgang noch kein einziges Haus gesehen, geschweige denn einen Supermarkt!
Doch ohne zu zögern steuerte Jason einen nahen Baum an, nahm Anlauf und wuchtete sich mit aller Kraft dagegen. Dann entfernte er sich eilig vom Baum, denn schon in der nächsten Sekunde knallten 5 riesige Kokosnüsse auf das Stück Boden, auf dem er eben noch gestanden hatte. Er hob die größte der Früchte auf und schlug sie gekonnt auf einen riesigen spitzen Stein, den ich bis zu diesem Moment noch nicht entdeckt hatte. Staunend blieb mir der Mund offen stehen. Noch nie hatte ich jemanden in einer solchen Geschwindigkeit eine Kokosnuss öffnen sehen! Wir hatten einmal eine zuhause, doch wir brauchten damals Stunden um sie zu öffnen und verloren dabei die gesamte Kokosmilch, weil die Schale in viele kleine Stückchen zersprang.
Doch Jason hielt mir nun eine perfekte halbe Kokosnuss entgegen, die mit Kokosmilch gefüllt war. "Danke...", stotterte ich, immer noch überwältigt von seiner Geschicklichkeit. Gierig schlürfte ich die Kokosmilch hinunter und kratzte das Fleisch aus der Schale, um es genüsslich zu verspeisen. Als ich meine Mahlzeit beendet hatte und mir genüsslich die Lippen geleckt hatte, wurde mir klar, dass ich außer Jason bis jetzt noch nichts Menschliches auf diesem Fleckchen Erde entdeckt hatte, kein einziges Haus, geschweige denn eine andere Person.
"Sag mal Jason, wann kommen wir denn endlich zu deinem Haus?", fragte ich ihn nach einer Weile. Ich war schrecklich müde und sehnte mich nach einem gemütlichen Bett. Eine Weile war es still, also schaute ich ihn an. Sein Blick war zu Boden gesenkt und er wirkte traurig.
"Oder zu anderen Menschen? Wo sind denn alle?" Als er immer noch nicht antwortete, stellte ich mich vor ihn und blickte ihm ins Gesicht. "Jason?" Als er den Kopf hob, sah ich eine Träne über seine Wange rollen. Schnell wandte er sich wieder ab, er wollte seine Schwäche vor mir nicht zeigen. "Jason, was ist denn los?"
Ich war ehrlich betroffen als dieser so selbstbewusst wirkende Junge plötzlich weinend vor mir stand. Was war der Grund für sein plötzlich so verändertes Verhalten? Er antwortete immer noch nicht. Irgendetwas von dem was ich gesagt hatte musste ihn schwer getroffen haben, denn bisher hatte er noch nie so lange seinen Mund gehalten. "Hab ich was Falsches gesagt?" Hoffentlich war er nicht sauer auf mich, in dieser Einöde würde ich ohne ihn nicht lange überleben! Endlich drehte er sich um. Seine Augen waren rot und verquollen und an seiner Wange lief eine letzte Träne hinab.
"Nein....", flüsterte er so leise, dass ich mich zu ihm beugen musste, um ihn zu verstehen.“Es ist nur..." Vor schluchzen bekam er kein Wort mehr heraus. Ich hätte ihm zu gern ein Taschentuch gegeben, doch leider war der gesamte Inhalt meiner Taschen immer noch feucht. "Es... es gibt keine anderen Menschen. Auch keine Häuser. Ich lebe hier ganz allein. Schon lange."
Damit hatte ich nicht gerechnet. Kein Haus? Kein Bett, kein Kühlschrank, kein Kleiderschrank oder ein Bad? Und weit und breit keine Menschen? Wie war das möglich? Ich war überwältigt von dieser Nachricht, lehnte mich an den Kokosbaum und lies mich zu Boden sinken. Mit einem Mal war alle Müdigkeit da und meine Lider wurden schwer. Ich musste darüber nachdenken was er gesagt hatte.
Allein... und das schon lange. Wie hielt ein Mensch so etwas aus? Wer weiß wie lange Jason wirklich schon hier lebte, doch so traurig wie er geklungen hatte musste es schon eine Weile her sein.
Plötzlich meldete sich mein bildliches Gedächtnis zu Wort. Steckbriefe. Es war schon eine Weile her seit sie gehangen hatten, vielleicht sogar schon ein Jahr. Ich erinnerte mich an das Foto, das mir gefallen hatte, und an das weinende Paar das die Zettel an jeden einzelnen Baum gepinnt hatte und jeden Passanten nach dem Jungen befragte. Ich hatte den Inhalt des Zettels nie gelesen, ich wusste genau dass ich den Jungen nicht kannte. Niemals hätte ich damit gerechnet ihn hier vor mir stehen zu sehen.
"Sie haben nach dir gesucht.", flüsterte ich. Vielleicht interessierte es ihn, dass er seinen Eltern wichtig gewesen war. Er sagte nichts, doch er lies sich neben mir zu Boden sinken. Ich war jetzt so müde, dass ich meinen Kopf auf seine Schulter fallen lies. Es störte ihn nicht, und so schlief ich eng an ihn gekuschelt ein.

Als ich erwachte, war es dunkel. Ich hob den Kopf und sah, dass es wohl mitten in der Nacht war. Ich musste stundenlang an Jasons Seite geschlafen haben! Wenigstens war ich jetzt ausgeruht und der Arme hatte sich wieder so weit beruhigt, dass er jetzt tief und fest schlief. Nun blieb mir Zeit zum Nachdenken.
Ich war also gefangen auf einer Insel, von der es kein Entrinnen gab. Würde es einen Ausweg geben, wäre Jason schließlich nicht mehr hier! Und was jetzt? Ich konnte nicht den Rest meines Lebens in dieser Einöde verbringen, mit nur einem einzigen Menschen an meiner Seite und ohne jegliche Elektronik!
Wir mussten einen Ausweg finden! Aber... wenn Jason hier schon so lange festsaß, wieso sollte dann gerade ich die Lösung finden? Ich war verzweifelt. Ich vermisste meine Familie, und die Aussicht, dass ich sie möglicherweise nie mehr wiedersehen würde, machte meine Stimmung auch nicht gerade besser. Leise und unbemerkt liefen mir die Tränen über die Wangen. Das hier war nicht mein Zuhause! Ich war 13, ich sollte um diese Zeit eigentlich gemütlich in meinem Bett liegen und träumen, stattdessen saß ich hier im Dschungel fest mit einem Jungen, der zwar älter war als ich, aber nicht weniger hoffnungslos.
Während ich so dasaß und weinte, wurde der Himmel langsam orangerot und ich erblickte den schönsten Sonnenaufgang, den ich jemals in meinem Leben gesehen hatte. Der rote Feuerball spiegelte sich im Wasser und die ganze Insel wurde in ein wunderschönes Licht getaucht. Also zumindest an die unglaubliche Schönheit dieses Ortes würde ich mich wohl nie gewöhnen.
Langsam erwachte der Körper neben mir und mit ihm alle Ängste und Probleme des vergangenen Tages. Eilig wischte ich mir die Spuren meiner Schwäche aus dem Gesicht und versuchte meine Gefühle in den Griff zu bekommen. Vor Jason wollte ich schließlich keine Schwäche zeigen! Und nun? Während der Junge sich reckte, erhob ich mich von meiner inzwischen ziemlich unbequemen Stellung und ging zum Ufer des Wassers, um mein Aussehen zu prüfen. Natürlich war es unsinnig, in einer solchen Situation über Dinge wie seine Haare oder Augenringe nachzudenken, doch ich wollte vor Jason nicht dumm dastehen. Ich wusste nicht genau wieso, aber es war mir wichtig, was er über mich dachte. Nun war auch er endgültig wach und rieb sich die Augen. Als er sah, dass ich schon stand, erhob er sich eilig, um bei mir keinen schlechten Eindruck zu erwecken.
Schweigend ging ich los, und er stolperte hinter mir her, bis er auf meiner Höhe war und mir einen guten Morgen wünschte. Doch ich war schon wieder in Gedanken versunken. Was machte man den ganzen Tag, wenn man auf einer Insel festsaß? Plötzlich entdeckte ich einen umgeknickten Baum und mir kam eine Idee. Wir könnten uns doch ein Floß bauen, um zurück nach Hause zu kommen!
Meine fröhliche Stimmung wurde jedoch von der Erkenntnis getrübt, das die Strömung des Gewässers von meinem Heimatort wegführte und wir deshalb nur noch weiter weg treiben würden! Was soll’s, dachte ich, es ist besser weiter weg unter Menschen und möglicherweise in der Nähe einer Zugstation zu sein, als hier alleine im Nirgendwo! Also ging ich auf den Baum zu und deutete Jason, mir zu helfen. Wir zerlegten also den Baumstamm und banden die einzelnen Holzstücke mit langen Lianen zusammen, bis keine mehr zu finden waren.
In der Zwischenzeit war es später Nachmittag geworden und ich hatte echt keine Lust mehr, auch nur einen Finger zu rühren. Jason machte sich auf um etwas zu essen zu besorgen, während ich mich bemühte, ein Feuer zu entfachen, was mir leider kläglich misslang. Bei seiner Rückkehr trug Jason zwei große Fische mit sich, die er gleich am Feuer gebraten hätte, wenn eines vorhanden gewesen wäre. Da ich jedoch noch ein unfähiger Inselneuling war, musste er leider auch diese Aufgabe bewältigen, obwohl ich ihn gerne mit meinen Künsten begeistert hätte. Als wir endlich beide satt waren, war die Sonne schon untergegangen und ich legte mich unter ein paar Holzstücke, die ich zu einem Dach zusammenstellte. Den Boden polsterte ich mit Gras und Moos aus, so war mein improvisiertes Bett fast angenehm. Jason lehnte sich wieder an einen Baum und wir beide waren binnen weniger Minuten eingeschlafen.

Als ich am nächsten Tag schon früh erwachte, machte ich mich auf, um neue Lianen zu suchen. Immerhin wollte ich so schnell wie möglich von hier weg. Als meine Arme so voll geladen waren, dass ich mich gerade auf den Rückweg machen wollte, entdeckte ich am Strand eine ungewöhnliche Erhebung.
Sie wurde immer wieder vom Wasser überspült, so dass ich nicht erkennen konnte was es war. Neugierig wie ich nun mal war legte ich meine Lianen nieder und ging langsam auf das komische Etwas zu. Als ich direkt davorstand, wurde es gerade von einer neuen Welle überspült.
Ich konnte meinen Augen kaum trauen: Ganz augenscheinlich war es ein Mensch! Vor mir lag das wohl hübscheste Mädchen, dass ich jemals gesehen hatte. Sie hatte lange, blonde Haare, die ganz mit Seegras vermischt waren, und trotzdem immer noch hübsch aussahen. Außerdem hatte die Kleine den hellsten Hautton, den ich jemals gesehen hatte. Ich hätte sie gerne noch näher betrachtet, doch hier im Wasser konnte ich sie nicht liegen lassen.
Das Mädchen war zierlich wie eine Elfe, so dass es sogar mir nicht schwer fiel, sie hochzuheben. Ich presste sie an mich, ohne Rücksicht darauf zu nehmen dass ich ganz nass wurde, und trug sie an den Strand. Dort legte ich sie in den warmen Sand. Noch nie hatte ich so ein hübsches Gesicht gesehen. Schmal, zierlich, ganz und gar zerbrechlich sah sie aus. Ihr Mund war klein und perfekt geformt, ihre Gesichtszüge waren schöner und gleichmäßiger, als ich sie je bei irgendeinem Model gesehen hatte. Das Kind hatte sich immer noch nicht bewegt.
Langsam ergriff mich die Panik. Was, wenn sie gar nicht mehr aufwachte? Es war schwer neben diesem Mädchen zu sitzen und darauf zu warten dass sie sich rührte, aber so konnte ich sie wenigstens genau betrachten. Ihre Nase war ganz ähnlich wie die von Jason, und auch ihr Mund hatte Ähnlichkeit mit dem von... Jason. Das war doch nicht möglich! Jedes noch so kleine Detail, das ich an ihr musterte, hatte in irgendeiner Weise Ähnlichkeit mit Jason! Schön langsam drehst du durch Mel, sagte ich zu mir selbst. Immerhin war dieses Mädchen hier nicht Jason, noch nicht mal annähernd! Und eigentlich war mir nicht bewusst, dass ich so sehr in diesen Jungen verliebt wäre, dass ich nichts anderes mehr sehe! Nein, das musste eine Verwechslung sein. Wahrscheinlich bildete ich mir das alles nur ein.
Die Kleine war auch während meinem ganzen Monolog noch nicht zu sich gekommen, und langsam machte ich mir wirklich Sorgen. Sollte ich versuchen, sie bis zurück zum Lager zu tragen, oder sollte ich sie hier liegen lassen und Jason zu Hilfe holen? Nein, allein lassen würde ich das Mädchen sicher nicht. Aber ob ich es schaffen würde, sie bis zurück zu tragen? Immerhin hatte ich mich ein ganzes Stück von dem Floß entfernt, und ein bisschen Gewicht hatte sie doch noch... Naja, wie wärs erst mal mit der Methode, mit der Jason mich wach bekommen hatte?
Also ging ich wieder zurück zum Ufer und versuchte, soviel Wasser wie möglich mit meinen Händen zu schöpfen und möglichst viel davon zu der Kleinen zurückzubringen. Als ich das sicher fünf Mal wiederholt hatte, rührte sich endlich etwas. Das Mädchen fing an zu prusten und jede Menge Wasser spritzte aus ihrem Mund. In dem Moment fiel mir ein, dass Erste Hilfe wahrscheinlich eine zielführendere Methode gewesen wäre um dem Körper Leben einzuhauchen, doch diese Erkenntnis kam leider etwas zu spät. Ich versuchte nun zu ermöglichen, dass alles Wasser aus dem Körper entweichen konnte, und nach einigen Minuten war das scheinbar gelungen. Das Mädchen hörte auf zu spucken und ich lies sie wieder zurück in den Sand sinken. Ihre Augen waren immer noch geschlossen, sie hatte sich sehr verausgabt und musste erst wieder zu Kräften kommen. Als sie dann die Augen aufschlug, traf es mich völlig unerwartet und ich schwankte leicht. Solch blaue Augen hatte ich mein Lebtag lang bisher nur in einem Gesicht gesehen. Das konnte doch wohl kein Zufall sein! Langsam bewegte sie sich und flüsterte: “Wo bin ich?“ Da ich ihr das nicht genau sagen konnte, antwortete ich wahrheitsgetreu: „Ich weiß es selbst nicht so genau... Aber du bist in Sicherheit. Dir kann nichts mehr geschehen. Ich bin Melody, und wer bist du?“ Jason verschwieg ich vorerst, ihn würde sie noch früh genug zu Gesicht bekommen, und ich würde endlich erfahren, ob es für diese Ähnlichkeit irgendeine Erklärung gab.

Es dauerte eine Weile, bis sie ihren Mund wieder aufbekam, doch dann stotterte sie verwirrt:“ Ich...ich weiß es nicht! Ich weiß nicht mehr wer ich bin!“ Vor lauter Panik begann die Kleine bitterlich zu weinen und ich hatte keine Ahnung was ich tun sollte. Da ich sowieso schon nass war und sie mir so Leid tat, rutschte ich näher an sie heran und schloss sie in die Arme. So eng aneinander gepresst saßen wir einige Zeit da, bis ihre Tränen versiegten und nur noch ihr verzweifeltes Jammern zu hören war.
Noch einmal begann ich. „Fangen wir einfach an. Weißt du wo du her kommst?“ „Nein.“ Das konnte schwierig werden... „Na gut... Wie alt bist du?“ Sie überlegte lange, bevor sie antwortete. „Ich weiß nicht genau... Ich denke, zwischen zehn und vierzehn, aber ich habe nicht die geringste Ahnung wie alt ich genau bin!“ Sie war immer noch total verzweifelt. Es musste schrecklich für das Mädchen sein, nichts von sich selbst zu wissen, nicht einmal ihren eigenen Namen! Es blieb mir nichts anderes übrig, irgendeinen Namen brauchte das Mädchen nun mal, und so beschloss ich, einfach drauflos zu raten. Vielleicht war ja der Richtige dabei? „Okay, wie könntest du denn heißen? Ich rate und du sagst ob ich nah dran bin okay? Versuchen wir's: Sarah?“ „Ich weiß nicht, glaub nicht...“ „Sunny? Elly, Kathrin, Nora?“ „Nein, das ist es nicht! Ich habe keine Ahnung!“ „Jamie, Wanda, Chris, Ashley? Nicht mal nah dran? Das gibt’s doch nicht! Rose, Evelyn, Annie?“ „Halt! Annie! Es ist es nicht, das weiß ich, aber ich glaube es ist nah dran...“
Ich überlegte. Ich hatte keine Lust mehr weiter zu raten, viel lieber würde ich mit dem Mädchen zurückgehen und sie Jason vorstellen! „Okay, folgender Vorschlag: Da mir momentan nichts Besseres einfällt, werde ich dich einfach Annie nennen, bis wir deinen richtigen Namen herausgefunden haben, okay?“ 'Annie' war damit einverstanden, und so schlug ich ihr vor, mich zu unserem Lager zu begleiten. Sie war noch etwas schwach auf den Beinen, also stützte ich sie, doch dafür mussten leider die Lianen zurückbleiben. Nicht so wichtig, dachte ich, durch Annie kommt momentan genug Schwung ins Inselleben!

Als wir uns dem Lager näherten, hörte ich Jason schon ungeduldig auf und ab gehen. Annie erschrak so sehr, dass sie sich hinter meinem Rücken versteckte und nicht mehr hervor kam. „Jason, ich bin wieder da!“, rief ich laut, und sofort schlugen die unruhigen Schritte in aufgeregtes Laufen um. Wenige Sekunden später stand mein Retter vor mir. Das zusammengekauerte Etwas hinter mir schien er vorerst nicht zu bemerken. „Da bist du ja endlich! Wo warst du so lange? Ich hab mir Sorgen gemacht!“ Der Wortschwall schlug so auf mich nieder, dass ich einen Moment brauchte um alles zu verarbeiten was er gesagt hatte. „Ich hab Lianen gesammelt! Doch dann bin ich auf etwas gestoßen, dass mich etwas vom Sinn meines Rundganges abgebracht hat.“ Mit diesen Worten zog ich Annie hinter meinem Rücken hervor. Als Jason sie sah, wurden seine Augen ganz groß, dann fiel er plötzlich um und rührte sich nicht mehr.

Was war denn mit dem los? Diese Frage stellte ich mir, bis mir auffiel, dass auch Annie, die nun vor mir stand, kreidebleich geworden war. „Annie? Stimmt etwas nicht?“ Sorgsam hielt ich sie fest, schließlich wollte ich nicht, dass sie mir auch noch umkippte! Vorsichtig zog ich das Mädchen zu Boden, wenn sie saß, konnte sie schließlich nicht mehr so weit fallen! Ich setzte mich ihr gegenüber und starrte ihr tief in die Augen. Jason ließ ich einfach liegen. Der würde schon wieder aufwachen, wenn er so weit war. „Annie...“, sagte ich langsam und ruhig, „sag mir jetzt ganz genau was los ist!“ Doch dazu kam die Kleine nicht. „Jason...“ flüsterte sie, bevor auch sie in Ohnmacht fiel. Hier saß ich nun, zwischen den einzigen anderen Menschen auf dieser Insel, die beide bewusstlos waren, und fragte mich was hier vor sich ging. Woher kannte Annie Jasons Namen? Ich war mir sicher dass ich den Jungen heute noch nicht erwähnt hatte! Oder doch? Hatte ich ihn nicht vorher gerufen? Ich wusste es nicht mehr… Nun fiel mir wieder ein, was ich vorher beobachtet hatte: Wie ähnlich sich die beiden sahen.
Doch wenn sie sich kannten, wenn sie gar miteinander verwandt wären, dann müssten sie sich doch freuen, und sich nicht so schrecken dass sie beide umfallen! Viele Fragen waren nun offen, doch auf ihre Beantwortung würde ich warten müssen, bis die beiden wieder wach waren.

Nach einer halben Ewigkeit öffnete Jason endlich seine Augen. Annie war immer noch ohnmächtig, ihren Kopf hatte ich in meinen Schoss gelegt und ich streichelte ihr gedankenverloren übers Haar. Jason wurde immer aktiver, setzte sich auf und blickte auf Annie hinab, dann presste er die Augen zu. Als er sie wieder öffnete und das Mädchen immer noch da lag, schüttelte er ungläubig den Kopf. Langsam wird er verrückt, dachte ich im geheimen, wahrscheinlich hat er zu viel Sonne abbekommen.
„Jason, ich will jetzt endlich wissen was hier los ist!“, sagte ich so energisch wie möglich, doch die einzige Antwort die ich bekam war ein immer wieder gemurmeltes: „Das kann doch gar nicht sein, das ist unmöglich! Das bilde ich mir nur ein!“ „Ich warte!“, drängte ich und klopfte mit den Fingern auf die Erde. „Naja, ich dachte…“, setzte er an, doch in diesem Moment begann sich das Mädchen zu rühren. „Wer ist sie, Jason? Ich weiß dass du es weißt! Sie weiß nicht mehr wer sie ist, nicht mal wie sie heißt, doch sie scheint dich zu kennen! Woher kennt sie dich Jason?“ Wenn Annie Jasons Namen kannte, dann würde Jason ja wohl auch Annies wirklichen Namen kennen, oder? Das Mädchen begann sich aufzusetzen, die Augen immer noch geschlossen, und flüsterte dabei immer wieder Jasons Namen. Dieser war noch ganz überwältigt und begann zu stottern. „Sie heißt…Angel…Angy ist ihr Spitzname. Wahrscheinlich konnte sie sich darum…mit Annie identifizieren…“
Gut, ok, nun wussten wir ja ihren Namen, doch ich musste nachbohren. „Woher kennst du Angy? War sie eine Freundin? Eine Bekannte? Und wieso bist du so erschrocken als du sie gesehen hast, und sie auch?“ Als Angy nun die Augen öffnete und Jason geradewegs ins Gesicht sah, war das für ihn zu viel des Guten. Jason fiel dem Mädchen um den Hals und begann bitterlich zu weinen. Was war bloß mit ihm los?

Minutenlang standen die beiden so eng umschlungen da und schluchzten, und ich hatte immer noch keine Ahnung was hier vor sich ging! „Jason, Angy! Sagt mir endlich was hier los ist!“ Mit verwunderten Gesichtern, als ob sie überrascht wären dass ich auch noch da war, wendeten sich die beiden mir zu. Immer noch hielt Jason Angy eng umschlungen, als könnte sie jeden Moment wegrennen!
„Angy? Ja, dass muss es sein! Wie hast du das herausgefunden?“, stieß das Mädchen hervor. Ihr Gesicht war vor lauter Freude noch schöner geworden, falls das überhaupt möglich war. „Jason hat es mir gesagt… Also, jetzt kommt mal zur Sache! Ich will endlich wissen was hier los ist! Woher kennt ihr beiden euch?“ Langsam wurde ich richtig wütend. Die beiden strahlten hier wie Honigkuchenpferde, nachdem sie eine Weile zuvor noch vor Schreck über den Anblick des Anderen umgekippt waren, und ich war als einzige immer noch nicht eingeweiht!
Jason strahlte die Kleine an, als wolle er unbedingt, dass sie ihre tolle Geschichte erzähle. Da Angel dass scheinbar auch merkte, begann sie zögerlich, jedoch immer noch freudestrahlend zu erzählen: „Nun ja, ich weiß nicht mehr wirklich viel… Ich weiß nur dass er da“, sie blickte dabei voller stolz Jason an, „Jason heißt und dass ich ihn kenne, jedoch habe ich ihn seit ewigen Zeiten nicht mehr gesehen, nicht mehr seit…“ An diesem Punkt stoppte dass Mädchen mit ihrer Erzählung und wurde ganz blass. Aus lauter Angst sie könnte noch einmal umfallen, riet ich ihr: „Ruh dich lieber noch ein wenig aus, Angy. Es war ein anstrengender Tag für dich.“ Sanft löste ich die Kleine aus Jasons Griff und führte sie ein Stück weg, wo ich ihr half sich ins Gras zu legen. Schon nach wenigen Minuten war sie eingeschlafen.

Als ich zurück zu Jason kam, schüttelte dieser unwillig den Kopf. „Das kann doch nicht sein, dass sie sich nicht… Wieso weiß sie nicht mehr… Sie müsste doch…“, hörte ich ihn ununterbrochen murmeln. „Jason, was ist hier los? Da sich Angy ja an fast nichts zu erinnern scheint, könntest du mir doch mal eine Erklärung liefern! Woher kommt dass Mädchen, wer ist sie und woher kennst du sie?“
Nun war ich wirklich neugierig, und wenn ich nur noch ein paar Minuten länger auf die Antwort warten musste, würde ich platzen!

„Ok, also ich weiß nicht ob ich das erklären kann, ich versteh‘s ja selbst nicht! Aber ich kann es versuchen… Also es war vor drei Jahren, glaub ich… Ich weiß es gar nicht mehr genau… Also, ich lebte damals mit meiner Schwester und meinen Eltern in einer kleinen Stadt. Wir wohnten in einem kleinen Haus in der Nähe des Flusses. Eines Tages ging ich mit meiner Schwester zum Spielen in den Wald. Sie war damals zehn und ich war zwölf. Wir spielten also im Wald verstecken und plötzlich hörte ich sie laut aufschreien. Im selben Moment durchbrach das Geräusch quietschender Reifen die Stille. Als ich in die Richtung lief, aus der ihr Schrei gekommen war, gelangte ich immer weiter aus dem Wald hinaus. Ich stürmte durch das Gebüsch um so schnell wie möglich bei meiner Schwester zu sein, und achtete nicht darauf, dass ich mich dabei an den Dornen blutig kratzte. Als ich aus dem Wald auf die Straße trat, sah ich sie. Es war grässlich sie so zu sehen. Sie lag am Straßenrand, ein Bein komisch von sich gestreckt und ihr lief Blut am Kopf hinab. Ich rannte zu ihr und ließ mich neben sie auf den Boden sinken. Ich hatte keine Ahnung was ich tun sollte, keine Ahnung von Erste Hilfe! Woher sollte ich überhaupt wissen ob sie noch am Leben war? Ich beugte mich über sie um zu hören, ob sie noch atmete, doch ich hörte nichts. Ich war verzweifelt und völlig außer mir, ich hatte noch nicht einmal ein Handy um Hilfe zu rufen! Es blieb mir nichts anderes übrig als auf Hilfe zu warten. Doch auf dieser kleinen Straße kam nur sehr selten jemand vorbei. Bis sich also endlich ein Wagen in unsere Nähe verirrte, die Fahrerin einen Krankenwagen rief und meine Schwester endlich im Krankenhaus landete, war sie schon gestorben. Herzkreislaufstillstand, sagten die Ärzte. Wieso ich sie nicht wiederbelebt hatte, fragten sie. Aber wie sollte ich? Ich konnte dass alles noch nicht! Es war schlimm genug für mich hilflos neben meiner geliebten kleinen Schwester zu sitzen und ihr dabei zuzusehen wie sie starb, und die Ärzte warfen mir das auch noch vor! In diesem Moment habe ich mir geschworen Rettungssanitäter zu werden, um anderen Menschen das Leben zu retten und so den Tod meiner Schwester wieder gut zu machen, doch daraus wird wohl nie etwas werden…“
Ich war geschockt von dieser Erzählung. Was Jason in seinem Leben schon alles mitgemacht hatte, dass war wirklich schrecklich. Wieder musste ich mich an die weinenden Eltern erinnern, die die Zettel aufgehängt hatten. Nun konnte ich verstehen, warum sie so traurig gewesen waren, als ihr Sohn verschwunden war. Bei dem Schicksalsschlag war dass ja kein Wunder… „Die Geschichte ist wirklich schrecklich Jason… Aber ich verstehe nicht, was das alles mit Angel zu tun hat!“
Doch plötzlich wurde mir der Zusammenhang bewusst. Die Ähnlichkeit… wie schockiert sie beide waren als sie sich sahen… und dann noch die unglaubliche Schönheit… Aber… dass konnte nicht sein! Sie war kein Geist, sonst hätte ich sie nicht anfassen können! Und sie konnte nicht leben, immerhin hatten die Ärzte gesagt sie sei tot! Was war sie dann?

„Jason, du meinst doch nicht…Angel… das kann doch gar nicht sein!“ Immer wieder schüttelte ich ungläubig den Kopf. Wie… ich meine, es konnte doch gar nicht sein, dass ein Mensch wieder auferstand! Das hatte bisher nur eine Person geschafft, und die war schließlich kein einfacher Mensch gewesen… Aber Jasons Schwester… Sie war doch nur ein kleines Mädchen, ohne jegliche Zauberkräfte oder sonstiges! Es konnte nicht sein… Angel konnte nicht seine Schwester sein! Das war einfach unmöglich! Wissenschaftlich nicht erklärbar! Nein, sicher ging seine Geschichte anders weiter, logischer.
„Jason, was hat dass denn jetzt alles mit Angel zu tun? Ich versteh immer noch nicht, was hier eigentlich vor sich geht!“ Jason senkte den Kopf und nickte. Wieso nickte er? Was war jetzt? Dieser Junge wurde immer rätselhafter… Plötzlich kam mir in den Sinn, dass das vielleicht die verspätete Antwort auf meinen vorherigen Ausstoß war… „Du meinst doch nicht… Angel… dass kann doch nicht sein! Red keinen Blödsinn! Sag mir jetzt was wirklich los ist! Wer ist sie? Ich will endlich die Wahrheit hören!“ Jason nickte immer noch. Das kann nicht sein! Er verarscht mich! Gleich setzt er ein Grinsen auf und erzählt mir die Wahrheit! Doch Jason blieb still. Es schien ihm wirklich ernst zu sein.
„Und dass sie… eine entfernte Cousine ist, die zufällig große Ähnlichkeit mit deiner Schwester hat? Kann doch sein oder?“ „Nein… sie ist es, ich bin mir hundertprozentig sicher dass sie es ist! Gut, sie ist etwas blasser als früher, und sie sieht reifer aus, noch hübscher als sie vorher war. Aber sie hat dieselben Augen, dasselbe Lachen, einfach alles an ihr ist wie ich es in Erinnerung habe! Sie muss es sein!“
Es war ihm wirklich ernst was er da sagte… Und eigentlich war ich mir sicher dass er nicht log, immerhin ging es um seine Schwester, seine über alles geliebte Schwester! Darüber machte man keine Scherze! „Aber Jason, du musst doch zugeben dass das alles ziemlich unlogisch klingt! Was ist sie? Sie lebt nicht, darüber sind wir uns einig, oder?“ Obwohl ich versucht hatte, es so sachlich und mitfühlend wie möglich zu formulieren, traten dem Jungen doch die Tränen in die Augen. Natürlich versuchte er sie zurückzuhalten, doch er schaffte es nicht ganz. „Du musst dich nicht für deine Trauer schämen Jason, das ist ganz normal. Tut mir leid dass ich das so gedankenlos gesagt habe.“ Wie konnten wir das Ganze bloß so abwickeln, dass es für Jason möglichst schmerzlos war? „ Es tut mir leid Jason, aber wir müssen einfach herausfinden was sie ist. Ein Geist kann sie aber auch nicht sein, denn sonst hätten wir sie weder angreifen können, noch würde sie jetzt schlafen.“ Zärtlich fiel Jasons Blick auf das schlafende Mädchen.
Mir fielen nur noch zwei Möglichkeiten ein, und beide waren so verrückt, dass ich sie Jason sicher nicht mitteilen würde. Na gut, die erste Möglichkeit fiel dadurch weg, dass sie schlief, zweitens weil sie in der Sonne lag und drittens weil ihr Körper ja vergraben war… Ein Vampir konnte sie also auch nicht sein, war eigentlich dumm von mir gewesen daran zu denken… Ihre Schönheit erinnerte mich nur so an mein Lieblingsbuch… Darin wurden die Vampire als wunderschön bezeichnet, makellos… So wie Angel.
Doch ihr Name hatte mich noch auf eine zweite Idee gebracht, doch die war wahrscheinlich genauso verrückt wie die erste. „Was denkst du, Melody?“, fragte Jason, als ich einige Zeit still geblieben war. „Naja, ich denke gerade die verschiedensten Möglichkeiten durch die in Frage kommen…“ Nun sah er mich gespannt an. Er war sehr interessiert was ich für möglich hielt, wie seine Schwester es schaffte auch nach ihrem Tod noch auf der Erde zu sein.
„Naja, es waren nur Theorien… Überhaupt ist eine verrückter als die andere… Ich glaube, ich sollte es dir besser nicht sagen.“ Jason blickte seine Schwester mit liebevollem Blick an, dann wendete er sich mir zu. „Sag es mir! Wir müssen es herausfinden, dabei kann jede Idee hilfreich sein.“ Ich überlegte. Eigentlich war meine einzige Angst, dass er wütend werden könnte, was ich seiner Schwester zutraute. Hofften wir das Beste. „Na gut… Aber du darfst nicht lachen! Und bitte sei nicht sauer. Es sind nur Ideen! Also… meine erste Eingebung habe ich schon wieder verworfen, es spricht alles dagegen…“ „Ich will sie trotzdem hören. Sag es mir!“ „Na gut, ok… Ich dachte… Sie könnte ja ein Vampir sein! Schau mich nicht so entsetzt an! Ich sagte doch ich hab es schon wieder verworfen! Naja und das zweite… Bisher habe ich noch nichts gefunden was dagegen spricht, auch wenn es sehr unwahrscheinlich klingt…“ „Jetzt sag schon! Mach es nicht so spannend!“
In diesem Moment rührte sich das Mädchen. „Sie wacht auf! Wir sprechen später weiter, ok?“, flüsterte ich, ich wollte nicht dass Angy etwas von meinen vagen Theorien mitbekam. Nun war sie wach und erhob sich. Sie kam zu uns herüber. Was nun? Was sollte ich sagen? Es war nicht gerade einfach ein Gesprächsthema zu finden, wenn man mit jemandem reden wollte der scheinbar schon tot war! Ich hatte absolut keine Ahnung wie ich anfangen sollte! Na gut, dann eben einfach drauf los.
„Guten Morgen Angy! Na, gut ausgeruht?“ Was machte es für einen Unterschied, das nicht morgen, sondern Abend war? Ganz egal! „Ja, ich denke schon…“, murmelte das Mädchen noch ziemlich verschlafen.
In dem Moment bekam ich Hunger. Wieso gerade jetzt? Naja, immerhin musste Angy auch Hunger haben, sie hatte schließlich den ganzen Tag noch nichts gegessen. „Du Jason, kannst du uns nicht etwas zu essen besorgen? Ich habe einen Bärenhunger! Wie steht’s mit dir Angel? Du hast ja auch schon seit Stunden nichts im Magen!“ Sofort machte Jason sich auf den Weg, bevor seine kleine Schwester überhaupt geantwortet hatte. „Naja, eigentlich bin ich gar nicht hungrig…“ Hä? Wie konnte das sein? Angel hatte schon den ganzen Tag nichts gegessen, das wusste ich genau, und vorher war sie sicher eine ganze Weile im Wasser getrieben. Wie konnte es sein dass sie nichts essen wollte? „Aber Angy, du musst doch etwas essen! Damit du wieder zu Kräften kommst!“
Gerade in dem Moment, als Angel trotzig die Lippe vorschob und sagte: „Ich will aber nichts essen!“, kam Jason zurück, die Arme voll geladen mit Kokosnüssen. „Was ist denn hier los?“ Ich blickte ihn verschwörerisch an und sagte dann: „Angel will einfach nichts essen!“ „Aber wieso denn nicht? Du musst doch ganz verrückt vor Hunger sein, oder etwa nicht?“
Das Mädchen blickte ihn kurz vertraulich an, doch dann sagte sie trotzig: „Nein, ich werde nichts essen! Ganz bestimmt nicht!“ Bevor ich sie zurückhalten konnte, drehte sie sich um und rannte davon. „Angy! Bleib doch hier!“ rief ihr Jason verzweifelt nach, doch seine Schwester hörte ihn schon nicht mehr. „Ach lass sie doch, die kommt schon wieder zu sich! Aber Jason… dass sie nichts essen will obwohl sie mächtigen Hunger haben müsste… Könnte dass nicht bedeuten…“ Jason sah mich nachdenklich an.
„Du hast mir deine zweite Theorie noch immer nicht verraten! Sag es mir, vielleicht ist es doch nicht so verrückt wie du denkst!“ Ach ja, meine Engelstheorie… Oh nein, ganz bestimmt nicht, unmöglich, dass konnte gar nicht sein! Dass konnte er doch nicht ernst meinen, oder? „Nein Jason, dass war doch nur Blödsinn, dass kann nicht sein!“ „Ich will es trotzdem wissen! Wir müssen doch endlich herausfinden was sie ist!“ Bei dem Wort „was“ verzog er das Gesicht. Na klar, wer betitelt seine eigene Schwester schon gerne als „es“? „Nein Jason, wirklich…“ Doch an seinem Blick sah ich, dass ich keine Wahl hatte. Ich musste es ihm sagen, ob ich wollte oder nicht.
„Gut, aber dass klingt jetzt sehr unwahrscheinlich, aber vielleicht gefällt dir diese Theorie ja besser als die mit dem Vampir… Na ja, da sie so hübsch ist, dachte ich mir… sie könnte ein Engel sein!“ Jason blickte nachdenklich. Er konnte doch nicht ernsthaft… er würde doch nicht… das konnte er doch gar nicht in Erwägung ziehen! „Es war nur eine blöde Idee Jason, du solltest dass nicht zu ernst nehmen!“
Doch ich sah ihm an, dass er genau dass tat: Er nahm es ernst. Hoffentlich würde er nicht… Doch da kam Angel auch schon zurück. Sie blickte ganz beschämt. „Es tut mir leid… Ich bin ausgerastet! Aber essen möchte ich trotzdem nichts.“ Ich blickte Jason verständnislos an, doch der sagte nur: „Das verstehen wir. Angel, ich wollte dich was fragen… Ob du noch weißt, woher du mich kennst?“
Das Mädchen senkte den Kopf und ich war mir sicher, gleich eine Träne rollen zu sehen, doch es kam nichts. Noch ein Anzeichen, dachte ich im Geheimen, doch dann erinnerte ich mich, dass sie ja bei ihrer Ankunft geweint hatte, also verwarf ich diesen Gedanken. „Nein“, flüsterte die Kleine, „alles, was vor meiner Ankunft auf dieser Insel geschehen ist, scheint wie ausgelöscht. Ich kann mich an diese Dinge nicht mehr erinnern.“ Sie tat mir so leid… Aber Jason würde ihr doch nicht antun… ihr zu sagen dass sie tot war! Nein, das konnte er nicht tun! Aber was sollten wir bloß tun? Sollten wir warten bis sie sich selbst erinnerte? Das konnte ewig dauern, und würde möglicherweise nie geschehen!
Wieder musste ich nachdenken. Wieso war sie zurückgekehrt? Es war doch nicht normal dass aus einem Menschen ein Engel wird, der zurück auf die Erde kommt, oder? Aber ich wusste nicht wie wir damit umgehen sollten. Wir konnten doch das arme Ding nicht darauf ansprechen! Doch. Ich würde es tun. Wie sonst sollten wir es je herausfinden?
„Angel, kann es sein, dass du… Jasons Schwester bist?“ Die Kleine sah mich mit großen Augen an. Ich dachte schon: Das war‘s! Ich hab sie geknackt! Doch sie sagte nichts. Nach einiger Zeit wandte sie sich an Jason. „Mein Bruder? Ich weiß nicht… Kann schon sein… es ist wie ein Schleier… also ob es schon ewig her ist… Aber ja, ich glaube ich hatte einen Bruder! Aber ob du das warst… Ich weiß es nicht…“
Sie sah wirklich verzweifelt aus. Aber immerhin… wenn es stimmte… dann war sie schließlich 3 Jahre tot gewesen… Wow… das war alles so verwirrend… Aber vielleicht ließen wir es lieber erst mal darauf beruhen… „Ok Leute, selbst wenn Angel keinen Hunger hat, ich schon! Und wie steht’s mit dir Jason?“ Doch wie immer dachte er nicht an sich selbst. Er war schon wieder dabei, eine der Kokosnüsse an einem Stein aufzuschlagen. Schon reichte er sie mir. „Danke!“, sagte ich, ließ mich auf den Boden sinken und fing gierig an zu essen.
An so einem Tag vergisst man schon mal auf körperliche Bedürfnisse, immerhin war so viel passiert! Ich blickte auf und sah, dass sich auch Jason und Angel mir gegenüber niedergelassen hatten. Auch J‘ hatte nun eine Kokosnuss in der Hand und aß sie begierig. Doch plötzlich stach mir etwas ins Auge. Ein glitzerndes Etwas, das von Angy’s Hals baumelte. „Angy, der Anhänger ist wirklich wunderschön! Woher hast du den?“
Eine Sekunde danach hätte ich mich für diese Frage ohrfeigen können. Als ob sie das wüsste? Wie dumm von mir… Angel schaute verwirrt. „Was für ein Anhänger? Ich trag doch gar keine Kette…“ „Stimmt, du hast früher nie Ketten getragen!“ Blitzschnell griff ihr Jason in den Nacken und öffnete den Verschluss. Ich reagierte hastig und das Schmuckstück landete in meiner offenen Hand.
Schweigend und staunend betrachtete ich den Anhänger. Er glitzerte wundervoll und sah so aus als wäre er nicht von dieser Welt. Er war sehr filigran und sah genauso zerbrechlich aus wie mein kleines Engelchen. (Jaa, jetzt nannte ich sie schon selbst so. Ich konnte es mir einfach nicht verkneifen…)
Er war kreisförmig, doch sein Inneres bestand aus vielen dünnen Linien, Kreisen und Mustern. Bei genauerem betrachten fielen mir verschiedene Dinge auf, eine Sonne, die sich durch das ganze Amulett zog, eine kleine Wolke, winzige, äußerst filigrane und ausgeschmückte Flügel, und zu guter letzt: Ein prächtig ausgearbeitetes Kreuz. Doch noch etwas fiel mir auf: Es schien einen Öffnungsmechanismus zu geben! Wahrscheinlich so ein Ding, in das man Fotos seiner Liebsten steckt. Doch so sehr ich mich auch mühte, das Ding wollte einfach nicht aufgehen! Es bewegte sich nicht mal einen Spalt! Als ich es über mich brachte, meinen Blick von dem Glitzer abzuwenden, reichte ich die Kette weiter an Jason.
„Ich glaube, man kann es öffnen, doch ich schaff es einfach nicht! Versuch du mal!“ Als Jason das Wunderwerk in Händen hielt, betrachtete auch er es erst einmal staunend. Doch dann machte er sich gleich daran, das Amulett zu öffnen. Doch wie er auch zog und zerrte, wie viel Kraft er auch anwendete, dieses Geheimnis blieb auch ihm verschlossen.
In der Zwischenzeit war es dunkler geworden, dichte Wolken schoben sich vor die Sonne. Ich hoffte nur dass es nicht regnen würde, denn dann würde diese Nacht nicht sehr angenehm verlaufen… Jason gab es auf. Er hielt den Gegenstand an der Kette hoch und ließ ihn sanft in Angels Hände fallen, die eine Schüssel bildeten. Ihre tiefblauen Augen ruhten nur einen kurzen Moment auf dem Schmuckstück, dann wurden sie ganz groß. Ihre Finger wanderten zum Öffnungsmechanismus. „Müh dich nicht, es geht ja doch nicht auf.“, meinte Jason trostlos. „Wahrscheinlich ist es durch das Wasser eingerostet.“
Doch Angel berührte den Knopf nur ganz leicht mit ihrem winzigen Finger, da begann sich der Anhänger zu öffnen. Aus dem inneren strahlte und glänzte es, und zeitgleich verzogen sich alle Wolken und die Sonne schien hell und gleißend auf uns herab. Ein Strahl war genau auf Angy gerichtet, die fassungslos in das Amulett hineinstarrte. Was war da bloß drin?
Plötzlich ertönte aus dem Inneren des Schmuckstücks eine leise, wundervolle Musik, die uns alle still werden ließ. Angel erhob sich vom Boden, doch nicht so, wie man es normalerweise tat. Sie flog.
Sie wurde hochgehoben in das Licht der Sonne, das heller schien als ich es jemals gesehen hatte. Und dort oben, in mitten des gleißenden Lichts, geschah etwas mit ihr, dass ich noch nie zuvor gesehen hatte. Ein Sonnenstrahl schoss direkt in ihr Herz und erhellte sie von innen heraus. Sie leuchtete und strahlte und war auf einmal noch viel schöner als sie zuvor gewesen war, auch wenn ich das niemals für möglich gehalten hätte.
Plötzlich war der Spuk vorbei. Angel fiel zu Boden und blieb zusammengekauert im Sand liegen, einige Meter von uns entfernt. Das Amulett hielt sie immer noch in den Händen. Es hatte aufgehört zu leuchten, doch es war immer noch geöffnet. Schnell sprang Jason auf und rannte zu ihr hin. Ich war etwas träger, ich war ziemlich geschockt von dem was gerade passiert war. Endlich war ich bei ihr angekommen. Doch als sie die Augen aufschlug, sah sie gar nicht verwirrt aus, wie ich das vielleicht angenommen hätte. Ihre Augen strahlten Weisheit aus, sie waren noch strahlender geworden und Angel wirkte plötzlich viel älter.
„Angel, was war das? Was ist passiert? Was ist mit DIR passiert?“, fragte Jason erschrocken. Doch Angy antwortete nicht. Sie richtete sich auf, ergriff das Amulett in ihrer Hand und holte etwas heraus. Es sah aus wie ein Brief. Langsam und den Blick starr auf das winzige Kuvert gerichtet, öffnete sie es. Angy warf nur einen kurzen Blick auf den Inhalt, dann streckte sie uns den Brief entgegen.
Ich war zu baff um ihn entgegenzunehmen, doch Jason reagierte rasch. Er nahm das Stück Papier entgegen und schaute es an. Ich lugte über seine Schulter und blickte erstaunt auf die wunderschöne Handschrift, die in allen Farben glitzerte. Der Brief war scheinbar wirklich an uns gerichtet. Jetzt war ich gespannt. Wieso befand sich in Angels Halskette ein Brief für Jason und mich? – das war ja wohl mehr als unheimlich… Aber nun war ich neugierig. Ich wollte endlich wissen was uns mit diesem geheimnisvollen Stück Papier mitgeteilt werden sollte.

Meine lieben Kinder

Ich weiß dass ihr in großen Schwierigkeiten seid.

Ihr bedeutet mir sehr viel und darum setze ich alles daran, euch zu helfen.

Jason, deine geliebte Schwester ist vor einigen Jahren zu mir gekommen. Ich weiß dass dir dieser Verlust sehr wehgetan hat und darum habe ich sie auserwählt, um euch zu helfen.

Ich weiß welche Vermutung du, kluge Melody, angestellt hast, und du hast Recht.

Angel ist ein Engel, ich habe sie euch gesandt, damit sie euch durch diese schwere Zeit begleitet und euch hilft, zurück zu euren Familien zu kommen.

Sobald sie ihre Aufgabe erledigt hat, wird sie wieder zu mir kommen und ewig mit mir leben.

Nützt diese Chance und bleibt stark, dann werdet ihr schon bald wieder zuhause sein.

In Liebe,

euer Vater im Himmel

Jetzt war ich mehr als baff. Vater im Himmel? Hä? Sollte das etwa heißen… Ich hatte nie wirklich daran geglaubt dass es einen Gott geben sollte, nach allem was mir in meinem Leben wiederfahren war, doch in diesem Moment schien mir alles ziemlich klar. Wie sollte es anders sein? Ein solches Wunder, die Schönheit dieses Moments, der himmlische Glitzer… Es musste so sein.
Ich blickte auf. Jason schien äußerst verwirrt zu sein. Immer wieder blickte er auf den Brief, dann zu Angel, Brief, Angel… Als wäre er nicht sicher ob er das alles wirklich glauben kann. Doch mir war jetzt alles klar. Ich setzte mich neben Angy und nahm sie fest in den Arm. Ich war mir sicher, dass sie sich jetzt wieder erinnerte. Wie denn nicht, bei allem was gerade passiert war?
„Angel, alles in Ordnung mit dir?“ Ganz allmählich schwand der göttliche Glanz und sie sah wieder einigermaßen menschlich aus, wenn auch immer noch zu schön um wahr zu sein. „Ja, ich denke schon. Ich erinnere mich wieder. Mein Auftrag. Ich muss euch hier rausholen!“
Schon wollte sie aufspringen, voller Tatendrang, ihre Aufgabe zu aller Zufriedenheit zu erfüllen. „Warte! Lass dir etwas Zeit. Und lass Jason etwas Zeit. Es ist sehr schwer für ihn dich wiederzusehen und zu wissen, dass du bald wieder fortgehen musst.“ Traurig blickte die Kleine zu Boden. Sie sah furchtbar niedergeschlagen aus. „Wenn ich gewusst hätte, wie ihn dass fertigmacht, hätte ich gesagt, dass ich nicht…“
„Mach dir keine Vorwürfe, du konntest es ja nicht ahnen. Es ist nur ein ziemlicher Schock für ihn, dich wiederzusehen. Es war ihm sehr schwer gefallen mit deinem Verlust fertigzuwerden. Er hat es nie wirklich überwunden.“ In diesem Moment blickte er uns an. Den Blick leer, unergründlich. Doch ich spürte die Atmosphäre. Seine tiefe Trauer über das, was gerade passiert war. Nun war es ihm klar. Es gab keine Alternative mehr, keine Ausrede. Seine Schwester war tot. Ganz eindeutig. Und sie würde wieder verschwinden, sobald sie ihre Aufgabe erledigt hatte. Instinktiv wusste ich was jetzt geschehen würde.
„Nein! Ich will nicht nach Hause! Ich will hierbleiben! Du darfst nicht wieder weggehen…“ Er weinte. Er weinte ganz schrecklich. Jason hatte sich auf dem Boden zusammengekugelt, den Kopf in den Händen vergraben, und schluchzte ganz fürchterlich. Ich wusste nicht was ich tun sollte. Natürlich verstand ich seine Sicht der Lage, doch ich vermisste meine Familie. Ja wirklich, selbst wenn sie noch so schrecklich und nervtötend war, ich vermisste sie trotzdem.
Doch Jason tat mir leid. Ich würde ihm gern helfen, doch ich wusste nicht wie. Wir konnten nicht hierbleiben, doch wenn wir gingen, konnte Angy nicht bleiben. Ein Mittelding gab es nicht. Keinen Kompromiss. Irgendjemand wäre immer verletzt.
Ich wartete. Wartete darauf dass er sich wieder beruhigte und man vernünftig mit ihm reden konnte. Angy hatte den Arm um ihn gelegt und versuchte ihn zu trösten. „Es tut mir so leid. Ich hab keine andere Wahl. Es geht nicht anders. Du musst das akzeptieren. Ich weiß es ist schwer für dich das zu verstehen aber ich bin nun mal… tot.“ Bei dem Wort schauderte sie. Wahrscheinlich war es für Engel ganz natürlich, da musste man das nicht aussprechen. „Und es ist nun mal so. Tote Menschen gehören in den Himmel, nicht auf die Erde. Ich bin wirklich froh über diese Chance die ich bekommen habe, die Möglichkeit dich noch einmal zu sehen. Doch wenn ich gewusst hätte wie schwer es dir fällt mich gehen zu lassen, hätte ich den Auftrag abgelehnt.“
In diesem Moment schien es, als ob sie Jahre älter wäre als ihr Bruder. Die große Schwester, die ihren Bruder mit viel Liebe und Weisheit zur Vernunft bringen möchte. Doch dieser wollte nicht zur Vernunft kommen. „Nein! Du darfst nicht tot sein! Wenn du deinen Auftrag nicht erfüllst, musst du auch nicht zurück in den Himmel, oder? Ich muss nicht nach Hause, solange du nur bei mir bleibst.“
Die ganze Familienszene war ja wirklich rührend, aber was das nachhause kommen betraf hatte ich ja wohl auch noch ein Wörtchen mitzureden! „Was soll das Jason? Hast du eigentlich einmal an mich gedacht? Bist du echt so selbstsüchtig dass dein Glück das einzige ist was dich interessiert? ICH will nachhause! MIR macht es etwas aus mein ganzes Leben auf einer Insel zu verbringen! Auch wenn für dich momentan das einzig Wichtige ist dass Angel hier bleibt, für mich nicht! Ich glaube dass sie es ganz schön im Himmel hat, und es scheint auch nicht so, als ob sie um jeden Preis hierbleiben möchte! Denk nicht immer nur an dich! Angy ist tot, verdammt! Sie ist nun mal ein Engel, freu dich für sie und sei froh darüber, dass du sie noch einmal sehen durftest und du weißt wie es ihr geht. Doch sie muss zurück. Und wir auch!“
Ich konnte mich nicht daran erinnern schon jemals einen solchen Wutausbruch gehabt zu haben. Aber Jason machte mich echt fertig! Als ob sein Leben das Einzige wäre was zählt! Ich machte mich auf ein Kontra gefasst, doch es kam keines. Ich hatte den Kopf gesenkt, und so sah ich nicht, dass Jason zu mir gekommen war und nun wiederum mir den Arm um die Schultern legte.
„Es tut mir leid Mel… Ich hätte so nicht reagieren dürfen. Du hast Recht, ich habe nicht an dich gedacht, aber… Es ist so schwer für mich. Ich habe meine kleine Schwester gerade erst zurückerhalten, und schon wird mir gesagt, dass ich sie bald noch einmal für immer verliere. Ich muss irgendwie damit klarkommen, obwohl ich es lieber abstreiten würde.“
Eigentlich tat er mir jetzt leid. Doch ich hatte gerade meine ganze Wut hinausgelassen und war jetzt nur noch traurig. Ganz furchtbar traurig. Und wenn ich traurig war wollte ich einfach nur allein sein.
„Dann beeil dich lieber mal damit fertigzuwerden! Diese Insel macht mich kaputt! Ich kann nicht mehr!“ Mehr brachte ich nicht mehr heraus. Ich hatte ihn angeschrien obwohl ich schon gar nicht mehr wütend auf ihn war. Doch es musste sein. Sonst würde er nicht verstehen wieso ich jetzt weglief.
Ich lief zwischen Bäumen und Palmen hindurch, mitten durch diese wundervolle Landschaft. Doch ich sah sie gar nicht richtig. Die Tränen verschleierten meinen Blick und als ich kaum noch etwas sah, blieb ich stehen. Ich wischte mir ein paar Tränen aus den Augen und kletterte auf den nächsten Baum, dessen mittlere Äste die perfekte Möglichkeit baten, sich darauf zu verstecken. Die Tränen liefen mir unaufhörlich über das Gesicht und ich kugelte mich zusammen und ließ sie laufen. Die ganze Zeit die ich nun hier war hatte ich meine Angst, Verzweiflung und mein Heimweh so gut wie möglich unterdrückt, doch nun ging es einfach nicht mehr. Es musste raus. Doch ich wollte nicht dass mich irgendjemand so sah.
Die Knie fest an die Brust gezogen und den Kopf auf ihnen abgelegt, so saß ich lange da oben im Baum. Ich dachte nach. Zum ersten Mal ließ ich es zu dass ich mich an meine Familie erinnerte, an meine Haustiere und meine einzige Freundin. Ich vermisste sie alle mehr als ich mir eingestehen wollte. Auch wenn ich meine Familie nicht wirklich gut leiden konnte, ohne sie konnte ich nicht leben.
Genauso wie ohne meine Katze Moonlight und meine Kaninchen Krümel und Keks. Und vor allem nicht ohne Zoe.
Ich vermisste meine Freundin so sehr. Obwohl wir uns nur einmal im Monat sahen und sie so schrecklich weit weg von mir wohnte, war sie doch der wichtigste Mensch in meinem Leben. Doch sie hatte wahrscheinlich noch nicht einmal mitbekommen dass ich verschwunden war. Wie auch. Meine Eltern mochten sie nicht sonderlich. Nur weil sie sehr christlich war und meine Eltern rein gar nichts davon hielten. Immer wieder hatte sie versucht mich zu überreden sie mal in ihren Teenkreis zu begleiten, doch ich hatte immer abgelehnt. Ich glaubte ja selbst nicht daran, dass es einen Gott gab. Bis heute.
Die Tränen flossen so lange, bis scheinbar keine mehr übrigwaren. Ich hatte kein Zeitgefühl mehr, es war ziemlich dunkel geworden, ich saß scheinbar schon ziemlich lange hier oben, als ich plötzlich eine leise, helle Stimme hörte. „Melody? Darf ich raufkommen?“ Ich antwortete nicht. Ich war nicht unbedingt erpicht darauf dass sie mich so sah. Plötzlich ergriff sie meine Hand. Ich hatte sie nicht heraufklettern hören. Ich erschrak ganz furchtbar. „Wie… was… wie hast du das gemacht?“ „Ich weiß auch nicht… Einer der Vorteile von Engeln, schätze ich. Ich kann mich ziemlich lautlos bewegen.“ Sie grinste. Dass sah ich sogar im Dunkeln. Ihre Augen hatten immer noch diesen besonderen Glanz.
„Was willst du?“, fragte ich mit leiser, verheulter Stimme, und drehte mich weg, damit sie mich so nicht sah. „Jason hat sich Sorgen gemacht. Ich hab ihm gesagt dass du ein bisschen Zeit für dich brauchst. Es sind 2 Stunden vergangen. Dann hab ich mich auf die Suche nach dir gemacht.“ Ich hatte mich wieder etwas gefasst. „Wie hast du es geschafft mich zu finden? Es ist dunkel und die Insel ist groß.“ „Naja… ich habe auf deine Gedanken gelauscht.“
„Waaas? Du hörst meine Gedanken?“ Oh mein Gott. Nicht gut. Gar nicht gut. Dann hatte sie ja alles gehört worüber ich nachgedacht hatte… noch schlimmer. Sie hatte meine Theorien gehört. „Wann… hast du das herausgefunden?“ „Erst als das mit dem Amulett geschehen ist. Es ist mir auch im Himmel nicht aufgefallen. Ich frage mich…“ Ich war erleichtert. Das heißt dass sie nichts von meiner Vampirtheorie wusste. Wäre auch zu peinlich gewesen.
„Melody?“ Ich blickte wieder auf und schaute ihr ins Gesicht. „Ich würde dir wirklich gerne sagen ob Zoe weiß was mit dir passiert ist, doch ich kann es nicht. Ich höre keine Gedanken, die nicht von dir oder Jason stammen, jetzt kann ich euch nicht einmal sagen, ob eure Eltern nach euch suchen.“ Sie sagte eure, obwohl Jasons Eltern doch genauso ihre waren. Doch mittlerweile wunderte ich mich über gar nichts mehr. „Was denkt eigentlich Jason gerade?“ Ich wusste ganz genau dass mich seine Gedanken nichts angehen, doch ich war einfach zu neugierig.
„Er macht sich große Vorwürfe. Er weiß dass seine Gedanken ziemlich selbstsüchtig waren und überlegt gerade in allen Einzelheiten, wie er es wieder gutmachen kann.“ Sie grinste. Sie fand die Gedanken ihres Bruders wohl äußerst amüsant. „Ich glaube wir sollten zurückgehen.“, meinte ich. „Sonst kommt dein großer Bruder noch auf die Idee uns zu suchen.“ Geschickt machte ich mich daran, von dem Baum wieder herunterzukommen, doch als ich unten war, stand Angy schon bereit. „Und was denke ich jetzt?“, fragte ich sie scherzhaft. „Du bist ein bisschen eifersüchtig. Du wärst gern so gut wie ich.“ Nun lachte sie. Sie hatte ein wunderschönes Lachen. „Ach was! Du bist ein Engel, das zählt nicht! Sag mal, kannst du eigentlich fliegen?“
„Siehst du etwa irgendwo Flügel? Ne, echte Engel haben keine Flügel, das ist ja das Blöde. Hätte ich welche, wärt ihr schon längst hier weg. Da ich keine habe, müssen wir uns was anderes suchen um nach Hause zu kommen.“ Während wir so nebeneinander zurückgingen, ließ ich meiner Neugier freien Lauf.
„Nein, das darf ich dir nicht erzählen. Das auch nicht. Und das weiß ich leider selbst nicht.“ Irgendwie war es witzig dass sie jede meiner Fragen beantwortete, bevor ich sie überhaupt ausgesprochen hatte. Nur bei einer Frage blieb sie stumm, also stellte ich sie laut. „Was glaubst du, wieso du nur unsere Gedanken hören kannst?“ „Ich weiß es nicht. Ich hab da so eine Theorie, dass ich nur meine Schützlinge hören kann.“ Schützlinge?
„Soll das heißen du bist ein Schutzengel oder sowas?“ „Naja, das ist alles ein wenig kompliziert. Als ich gestorben bin, meinte der Chef der Schutzengel, dass ich am Besten geeignet wäre, um auf Jason aufzupassen. Doch es ist nicht so wie man sich das hier auf der Erde vorstellt, dass man immer mit ihm mitfliegt oder ihn von einer Wolke aus beobachtet.“, bei dem Wort Wolke grinste sie. Ich frag mich bloß wieso…
„Nein. Du hast ja mein Amulett gesehen. Es ist so, wenn Jason in Schwierigkeiten war oder irgendetwas brauchte, fing es an ganz hell zu leuchten. Dann konnte ich hören was los war und versuchen ihm zu helfen. Wie genau darf und kann ich dir nicht erklären, es ist ziemlich kompliziert. Jedenfalls, seit er hier auf dieser Insel gelandet war, leuchtete es durchgehend! Klar, ich wusste dass er meine Hilfe brauchte, doch ich wusste nicht was ich tun sollte. Deshalb habe ich um Rat gefragt. Gott meinte, ich solle mir Zeit lassen und mich gedulden, es sei noch nicht so weit. Dann kamst du. Und jetzt geriet ich wirklich in Panik, also fragte ich ihn nochmals um Rat. Darauf hin gab er mir diesen Auftrag: Euch zu retten.“
Jetzt war ich baff. Sie hatte Gott um Rat gefragt? Gott höchstpersönlich? Ging das denn? „Na klar geht das! Er hat ziemlich viel zu tun, doch für uns hat er immer Zeit. Mit uns meine ich aber nicht nur Engel, Mel. Ich meine auch Menschen. Es gibt wirklich viele Menschen die Gott um Hilfe bitten. Aber auch viel zu viele, die es nicht tun.“
Nein, ich hatte es nie getan. Zumindest nie so richtig. Ein kurzes Stoßgebet vor einer Matheklausur, ein bisschen beten in der Kirche und als ich klein war jeden Abend. Doch so richtig mit Gefühl und ernsthaft hatte ich das eigentlich nie getan. Mit jemandem reden den man weder sieht noch hört? Irgendwie unsinnig oder? Und verrückt. Das würde doch jeder sagen. Oder nicht?
„Nein Mel. Es sagt nur deswegen jeder weil sie alle zu viel darauf geben, was andere Menschen von ihnen denken. Es gibt nur mehr sehr wenige Menschen, die ihren Glauben offen bekennen. Und nur ganz wenige davon sind Jugendliche oder Teenager, so wie du. Überall herrscht der Gruppenzwang. Da behauptet man lieber etwas Falsches, als verprügelt zu werden.“
Das verstand ich. Das war bei mir immer genauso gewesen. Niemand wollte wissen ob ich gern klassische Musik hörte. Das war nicht in. Deshalb behauptete ich lieber etwas anderes, um nicht zu blöd dazustehen. „Aber deine Freundin, Mel. Hast du schon einmal darüber nachgedacht wie sie das macht, mit dem Teenkreis und so? Da muss es doch auch mehrere Leute geben, um so etwas zu eröffnen. Und Zoe geht noch einen Schritt weiter. Sie versteckt sich nicht und schämt sich nicht für das, was sie glaubt. Das ist sehr stark von ihr. Denn mittlerweile wird sie schon von den meisten Menschen in ihrer Umgebung so akzeptiert, wie sie nun mal ist. Du weißt es ja auch. Und du hast sie genauso akzeptiert, oder etwa nicht?“ Klar hatte ich das, sie war meine beste Freundin! Auch wenn ich nicht so dachte wie sie, war es mir eigentlich immer egal gewesen woran sie glaubte. Ich ließ mich nur nicht gerne zu Dingen überreden von denen ich nicht überzeugt bin…
„Aber nun bist du ja überzeugt! Zoe wird sich freuen! Ich bin mir ziemlich sicher dass sie mitbekommen hat dass du weg bist und dass sie dich vermisst, vielleicht hat sie sogar dafür gesorgt, dass jemand nach dir sucht. Dann brauche ich mich nicht so anzustrengen.“ Jetzt grinste sie wieder. Und ich musste über ihre Worte nachdenken.
War ich überzeugt? Von seiner Existenz grundsätzlich ja, aber würde ich deswegen gleich mit ihm reden? Ihm meine Probleme anvertrauen, obwohl ich gar nicht wusste ob er mich überhaupt hörte? Bekam man denn eine Antwort auf ein Gebet? „Also darüber dass er dich nicht hört brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Gott hört dich immer. Er weiß alles von dir, und hört dich auch, wenn du nicht mit ihm sprichst. Aber es ist immer besser wenn du dich persönlich an ihn wendest. Das mit der Antwort kann ich dir nicht sagen. Soweit ich weiß ist das Übungssache. Man muss erst lernen Gott zu hören. Aber rede doch mal mit Zoe darüber. Die weiß sicher besser Bescheid als ich. Und jetzt kannst du ja wirklich mal mit zum Teenkreis gehen! Die würden sich sicher freuen. Wie gesagt, es gibt nicht viele Jugendliche die ihren Glauben offen bekennen.“
Jetzt waren wir fast wieder zurück. Ich sah schon den Schein des Feuers durch die Bäume und hörte Jason mal wieder nervös auf und abgehen. „Ja, er macht sich immer schnell Sorgen. Wir sollten uns beeilen, damit er sich wieder beruhigen kann.“ Schon wieder hatte sie ein Grinsen auf dem Gesicht. Seit sie wieder ein Engel war, war sie viel fröhlicher! Kein Wunder, es war sicher nicht sonderlich schön wenn man nicht wusste wer man war…
Ich musste jetzt nachdenken. Über alles, was Angel gesagt hatte. Gott… dass war alles ganz schön kompliziert. Wie sollte das funktionieren? Irgendwie traute ich mich gar nicht mehr richtig so vor mich hin zu grübeln, aber Angel war gerade damit beschäftigt, Jason zu beruhigen. „Jason, es geht ihr ja gut. Komm wieder runter! Es ist nicht deine Schuld es war ganz normal wie du reagiert hast,…“
Ich blendete sie aus. Noch einmal dieses Gequatsche ertrug ich nicht. Ich wollte lieber über Zoe nachdenken. Ich hatte mir nie den Kopf darüber zerbrochen, wie sie das mit ihrem Glauben hinbekam. Das war einfach so. Das war nun mal sie. Ohne ihren Glauben konnte ich sie mir nicht vorstellen. Ob ich das auch könnte? So fest darauf vertrauen dass mir jemand hilft, den ich doch gar nicht sehen kann? Das war schon alles ganz schön kompliziert…
Ich würde so gern wissen ob Zoe nach mir suchte. Ob irgendjemand nach mir suchte. Ich vermisste Zoe und wollte sie gerade jetzt gern so viel fragen… „Angel, ich habe entschieden. Wir müssen hier weg. Oder, wenn es nicht funktioniert dass wir alle auf einmal gehen, musst du weg. Du schaffst es schon irgendwie aufs Festland. Du bist schließlich ein Engel! Na los, husch!“ Der letzte Satz war spaßhalber dazugesetzt, ich wusste sie würde es schon nicht falsch verstehen.
„Also Mel, das ist wirklich nicht so einfach… Wir sind ziemlich weit weg, und es wäre ja nicht so, dass ich übers Wasser gehen könnte oder sowas!“ Sie lächelte. Dass war eine tolle Vorstellung. Diese blonde Schönheit spaziert auf den Wellen aufs Land zu… Das würde den Menschen gefallen!

Plötzlich blickte Angel komisch. Ihr Gesicht wurde angstverzerrt und sie blickte starr geradeaus. „Angel? Was ist los?“, sagte ich hysterisch. „Eine Stimme. Sie hat Angst. Sie treibt. Im Wasser. Direkt auf uns zu! Sie wird gleich hier sein! Und jetzt… Ist es aus. Wahrscheinlich ist sie auch ohnmächtig geworden…“ „Wer war das, Angel? Wieso konntest du die Person hören?“ „Es war ein Mädchen. Und ich glaube fast… ich habe gerade einen Schützling zusätzlich bekommen.“ Sie blickte total verwirrt.
Kein Wunder, waren 2 Schützlinge denn nicht schon einer zu viel? Und wie wäre es dann erst mit drei? „Weißt du denn wer es ist? Kennen wir sie?“ Das war Jason. Er blickte ganz besorgt. Wahrscheinlich dachte er zurück an den Tag, an dem ich angeschwemmt wurde…
„Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube fast, es ist…“ „ZOE!“ Das war ich. Da war gerade ein Mädchen ans Ufer gespült worden, und ich war mir ziemlich, nein, ich war mir total sicher, dass das meine beste Freundin war. „Oh mein Gott! Zoe!“ Sofort rannte ich zu ihr hin. Sie rührte sich nicht. Sie lag auf dem Bauch, das Gesicht im Sand. Vorsichtig versuchte ich sie umzudrehen. Jason half mir.
Natürlich war sie es. Meine Zoe würde ich auf kilometerweite Entfernungen bei stockdunkler Nacht erkennen! Apropos stockdunkel, es war schon ziemlich finster hier am Strand. Ich nickte Jason zu und wir trugen Zoe zum Lagerfeuer, dort war es wenigstens schön warm. Sie war immer noch nicht aufgewacht. Langsam machte ich mir echt Sorgen. Ich machte dasselbe durch wie bei Angy, nur viel, viel schlimmer. Das hier war meine allerbeste Freundin!
Nun gut, sie war gleichzeitig auch meine einzige, doch dass zählte in diesem Moment nicht. Ich kniete ganz dicht neben ihr und drückte sie an mich. Sie musste einfach wieder wach werden! Denkt man denn wenn man bewusstlos ist? Ich hab ja keine Ahnung… Naja, mal ausprobieren, kann ja nie schaden. „Angel, hörst du was von ihr?“ Ich hörte mich ängstlich an, total leise und verzweifelt. „Nein Mel, tut mir Leid… Aber ich merke es sicher bevor sie aufwacht. Dann sag ich euch sofort Bescheid.“
Warten… Ich wollte nicht einfach nur hier sitzen und warten! Dabei hatte ich viel zu viel Zeit um nachzudenken, was denn wäre, wenn sie nicht mehr… „Hey, ich glaube es tut sich was!“ Das war ja schnell gegangen! Nein, wohl doch nicht. Jason war eingeschlafen, das Feuer war fast aus und Angel sah sehr müde aus…
Nur ich schien völlig munter. So lange war es mir gar nicht vorgekommen… Naja, ist jetzt auch egal. „Zoe? Hörst du mich?“ Sie regte sich nicht. „Gib ihr etwas Zeit. Sie kommt sicher gleich zu sich.“, empfahl mir Angy. Doch ich hatte keine Geduld. Sie sollte doch endlich aufwachen! Dann erinnerte ich mich, wie lange ich nicht zu mir gekommen war. Wie hatte Jason das bloß ausgehalten?
Jetzt rührte sich was. Zoe fing an sich zu strecken, also ließ ich sie los. Ich hatte sie immer noch im Arm gehalten. „Zoe? Süße? Hörst du mich? Wach auf Kleines! Du hast lange genug geschlafen!“ Sanft streichelte ich ihr übers Haar. Langsam fing sie an, ihre Augen zu öffnen. „So ist es brav. Kuck mal wer da ist! Ich bins!“
Einen kurzen Moment lang schaute sie mich ganz verdattert an, dann fing sie an zu stottern. „Mel? Bist du das? Ich… Ich hab dich gefunden! Ja! Ich hab dich gefunden!“ Zoe sprang auf und hüpfte freudestrahlend ums Lagerfeuer. Wir schauten ihr dabei nur verwundert zu. „Was? Wieso gefunden? Hast du mich denn gesucht?“ Ich war verwirrt. Ich hatte fest damit gerechnet dass Zoe nicht einmal wusste dass ich weg war, oder, falls sie es aus irgendeinem Grund herausgefunden haben sollte, dass sie traurig sein und beten würde.
„Na klar hab ich dich gesucht! Ich hab mir solche Sorgen gemacht als mir meine Mum die Vermisstenanzeige gegeben hat!“ Vermisstenanzeige? Für mich? Aber wie konnte die in Zoe’s Zeitung sein, sie lebt in einem anderen Bundesstaat! Ich verstand die Welt nicht mehr.
„Vermisstenanzeige? Warum? Wer sollte denn die aufgegeben haben? Meine Eltern würden doch nicht…“ „Und ob sie würden! Sie suchen dich, Melody! Sie sind total verzweifelt! Sie waren sogar total nett zu mir, als ich vor deiner Tür auftauchte und sagte ich wolle dich suchen.“
Zoe grinste. Sie grinste von einem Ohr bis zum anderen. Doch ich verstand immer noch nicht. „Aber meine Familie mag mich nicht! Wieso sollten sie nach mir suchen? Und du? Du bist extra zu mir gefahren, nur um…“ „Um dich zu suchen, ganz genau. Deine Familie liebt dich mehr als du glaubst. Sie haben Anzeigen in allen Staaten eurer Umgebung aufgegeben! In eurer Stadt hängen hunderte von Flugblättern und gestern war deine Vermisstenmeldung sogar in den Nachrichten!“ Ok, langsam. Zeitungsmeldung. Flugblätter. Nachrichten? Das klang so gar nicht nach meinen Eltern. Ich war ihnen doch immer ganz egal gewesen! Wieso sollten sie jetzt so angestrengt nach mir suchen?
„Weil sie dich lieben, Melody.“ Angel’s Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Ups, die konnte sie ja auch hören! „Aber Angel, ich verstehe nicht… Sie haben sich doch nie etwas aus mir gemacht und…“ „Aber sie brauchen dich. Du bist ihnen sehr wichtig, sie finden nur meist nicht den richtigen Weg dir das zu zeigen.“
Ich war immer noch verwirrt, aber… Jetzt wollte ich erst mal hören, wieso Zoe plötzlich hier gelandet war. „Also Zoe, du kamst zu mir, um mich zu suchen. Aber wie um alles in der Welt…“ „Wie ich das angestellt habe? Naja, es war eigentlich gar nicht so schwierig. Zuerst habe ich deine Eltern gefragt an welchem Tag du verschwunden bist. Dann habe ich in der Schule gefragt, ob irgendjemandem an diesem Tag etwas Merkwürdiges aufgefallen ist. Ein Mädchen hat mir dann erzählt, dass du eine Auseinandersetzung mit ein paar Jungs hattest. Diese habe ich dann aufgesucht und zur Rede gestellt.“ „Du hast waaas??“ Nein, das konnte ja wohl nicht wahr sein! Meine kleine Zoe gegen diese Jungs! Sie hätten sie fertigmachen können!
„ Na klar habe ich sie zur Rede gestellt! Sie meinten nur, sie hätten dir gar nichts getan, du wärst einfach vor ihnen davongerannt und sie seien dir dann nach.“ Diese Lügner! Gejagt hatten sie mich, getrieben wie… „Nana, Melody, was hast du denn heute für schmutzige Gedanken?“ Angel lächelte tadelnd.
„Gedanken? Naja, ist ja auch egal. Ich hab die Jungs dann gefragt wo du hingelaufen bist, und sie meinten, du seist wie ein aufgescheuchtes Huhn in den Fluss gestürzt! Natürlich glaubte ich die Geschichte nicht ganz, so wie sie die Jungen schilderten, aber ich wollte doch verfolgen wohin der Fluss führte. Eigentlich wollte ich ja zuerst eine Landkarte suchen und dir dann mit dem Boot hinterherfahren, doch als ich das Flussufer nach Spuren von Gewalt untersucht habe, da bin ich…“ Sie lächelte beschämt. „…nun ja, ich bin hineingefallen.“ Nun grinste sie wieder. Ihr niedliches Grinsen, bei dem man all ihre perfekten Zähne sehen konnte.
„Aber ich habe dich gefunden! Ich hab mein Ziel erreicht! Du bist gerettet!“ Sie war gerade so fröhlich, ich konnte ihr diese Illusion einfach nicht zerstören. Aber das erledigte schon jemand anderer für mich. Jason meldete sich zu Wort.
„Es ist ja wirklich toll dass du uns gefunden hast! Es gibt nur leider einen Haken: Wir sind nicht gerettet. Wenn du hier bist, wer soll uns denn dann von hier wegholen, deiner Meinung nach?“
Jason und sein Sarkasmus. Es gab nichts Schlimmeres. Nun sah ich Zoe an. Ihr ganzer Optimismus war aus ihrem Gesicht gewichen. Zurück blieb blankes Entsetzen. „Soll das etwa heißen… dass ihr… und ich jetzt auch… hier festsitzt?“ Ich sah sie schon, die erste Träne. Sie lief langsam ihr wunderschönes Gesicht hinab. Gut, es war nicht perfekt. Aber es war mein absolutes Lieblingsgesicht.
Zoe hatte wundervolle tiefbraune Augen, und auf ihrer süßen Stupsnase saß eine freche, pinke Brille. Ich war etwas verwundert dass ihre Brille den Fluss überlebt hatte, doch wahrscheinlich sollte es so sein. Ein paar süße Sommersprossen zierten ihre Wangen, und auf ihrer Stirn, gut versteckt durch ein paar Stirnfransen, saß eine große Narbe. Im trockenen Zustand hatte sie wunderschöne dunkelbraune Haare, die ihr wie ein seidiger Vorhang auf die Schultern fielen. Doch jetzt konzentrierte ich mich wieder auf die kleine Träne, die ihre gerötete Wange hinunterrollte.
„Das kann doch nicht sein, ich kann doch nicht… ich hatte doch alles ganz genau… ich wollte dich doch hier rausholen! Jetzt hab ich alles nur noch schlimmer gemacht…“ Jetzt weinte sie. Ich hatte meine beste Freundin bisher erst einmal so weinen sehen: Als ihr Großvater starb. Ansonsten war sie immer nur fröhlich. Sie durfte nicht weinen! Das war nicht richtig! Schnell nahm ich sie ganz fest in den Arm.
„Du solltest nicht hier sein Süße, aber ich bin froh, dass du es bist. Ohne dich würde ich immer noch glauben dass ich allen ganz egal bin und dass mich niemand sucht. Aber was sollen wir jetzt bloß machen?“ Zoe wand sich aus meinem Arm. Sie saß ganz still da und dachte angestrengt nach.
„Naja… dieser Fluss… von euch weiß nicht zufällig irgendwer wo der hinführt?“ Wir alle schüttelten betreten die Köpfe. „Ok. Was solls. Dann eben auf gut Glück.“ Langsam zogen sich ihre Mundwinkel wieder nach oben, bis sie heftig grinste.
„Was? Was willst du auf gut Glück machen? Ich verstehe gar nichts mehr…“ „ Ach Mel! Du bist doch sonst nicht so schwer von Begriff! Was sollen wir schon machen? Willst du etwa ewig auf dieser Insel festsitzen? Wir werden auf dem Fluss weiterreisen und schauen wo wir hinkommen!“
Nun meldete sich Jason zu Wort. „Diese Idee hatten wir auch schon. Wir haben sogar schon begonnen ein Floß zu bauen bevor Angel hier auftauchte. Die Frage ist nur wo das jetzt liegt… Überhaupt trägt es wahrscheinlich keine vier Personen. Da muss noch richtig was getan werden.“
Jetzt kam Angel. Unsere fürsorgliche, so wunderbar mütterliche Angel. „Das mag ja alles eine gute Idee sein, aber wir werden mit den Vorbereitungen bis morgen warten. Es ist schon dunkel und ehrlich gesagt bin ich hundemüde und ich glaube kaum dass es euch anders geht.“
Kurz war sie still, lauschte, dann sprach sie weiter. „Nein, ihr seid genauso müde wie ich. Jetzt wird geschlafen. Jason, kannst du das Feuer noch mal neu anmachen? Mädels, wir bereiten den Schlafplatz. Auf auf, los geht’s!“
Innerhalb kürzester Zeit war der Boden mit Moos gepolstert, das Feuer wieder schön warm und wir alle fix und fertig in unseren „Betten“. Es folgte ein gehauchtes „Gute Nacht“ und schon nach ein paar Minuten waren wir alle eingeschlafen.

 

Als ich am nächsten Morgen erwachte, blickte ich mich zuerst um. Es wurde gerade erst hell und ich war mir sicher die Erste zu sein, die aufgewacht war. Doch scheinbar hatte ich mich getäuscht. Der Platz, an dem gestern noch meine kleine Zoe gelegen hatte, war leer! Wo war sie bloß hin? Schnell sprang ich auf, die anderen ließ ich einfach weiterschlafen. Wo war sie bloß hin?
Inzwischen hatte ich echt das Gefühl diese Insel sei riesig groß, sie konnte echt überall sein! Ich entschied mich am Strand mit der Suche zu beginnen, und da fand ich meine Freundin auch schon bald darauf. Sie saß im Sand und blickte starr aufs Wasser. Gar nicht so fröhlich, wie sie sonst war.

„Zoe, was hast du denn?“, fragte ich leise, während ich mich neben ihr in den Sand fallen ließ. Auf ihre Antwort musste ich eine Weile warten, und selbst dann waren es nur gemurmelte Satzfetzten.
„Schlechte Idee… Wie?... Das Floß hält doch… Geht doch gar nicht…“ Bevor sie weitersprechen konnte, packte ich Zoe an den Schultern und drehte sie zu mir herum.
„Zoe, hör auf damit. Wir schaffen das. Wir müssen nur alle zusammenhalten! Wieso bist du denn plötzlich so unsicher? Du bist doch sonst immer so überzeugt von dir selbst! Außerdem haben wir Gottes Unterstützung – und zwar so richtig!“
Gerade erst war mir eingefallen dass Zoe ja noch keine Ahnung hatte, mit wem sie es bei Angel zu tun hatte. „Du… du glaubst? An Gott? So richtig? Was meinst du mit Unterstützung? Ach ich bin ja so froh!“ Schon fiel sie mir um den Hals. Ich hätte nie vermutet dass meine „Bekehrung“ in ihr eine solche Freude auslösen würde! Wow…
„Naja, wir haben echt coole göttliche Unterstützung bekommen! Weißt du, Angel ist nämlich ein Engel – ja, das mit dem Namen finde ich auch ziemlich passend – und Gott hat sie uns als Unterstützung in unserer Notsituation geschickt! Eigentlich ist sie ja Jasons tote kleine Schwester, aber das ist alles ein bisschen kompliziert. Tatsache ist, dass mit einem echten Engel auf unserer Seite unsere Mission ja gar nicht schief gehen kann!“
Nun war ich selbst ganz motiviert. Zoe blickte noch etwas verwirrt und ungläubig drein, doch das konnte ich ihr in ihrer Situation echt nicht verdenken. Immerhin hatte ich gerade von Engeln gesprochen. „Glaub mir Zoe, wir schaffen das. Ich weiß es einfach! Lass uns zurückgehen, Jason macht sich sicher schon Sorgen um uns, außerdem liegt ein anstrengender Tag vor uns!“
Liebevoll nahm ich sie in den Arm und im Licht der aufgehenden Sonne machten wir uns gemeinsam auf den Weg zurück zum Lager.

 

Als wir zurückkamen, war das Lager leer. Es war leer! Verdammt, wo waren die anderen bloß? Oh mein Gott oh mein Gott oh mein Gott, wie sollten wir hier bloß ohne Jason und Angel überleben? Wir wären aufgeschmissen!
„Ach Melody, jetzt denk doch nicht immer gleich so melodramatisch!“, meinte eine liebevolle Stimme hinter mir. „Ich bin doch da! Und Jason ist auch nur losgezogen um Essen zu besorgen. Diese Insel macht dich wirklich fertig, was?“
Oh ja, das tat sie wirklich. Langsam wurde es echt Zeit von hier wegzukommen.

 

 

„Ähm… Melody? Ich bräuchte jetzt mal ein bisschen Zeit… Um das Ganze zu verdauen… Ich geh ein wenig an den Strand ja?“

Ich sagte nichts und winkte Zoe nur, dass sie gehen konnte. Ich wusste ganz genau was sie jetzt brauchte: Ruhe, damit sie mit Gott darüber sprechen konnte. Ich fragte mich zwar immer noch wie man mit jemandem sprechen sollte den man nicht sah, aber ich wusste, dass Zoe das einfach brauchte, um klar denken zu können. Etwas Zeit, um schwierige Situationen mit sich selbst und ihm auszumachen. Wenn es sie glücklich machte…

So blieb ich also allein mit Angel zurück, die schon wieder Anstalten machte mir Antworten auf die Fragen in meinem Kopf zu geben, doch ich stoppte sie. Auch ich brauchte jetzt etwas Zeit für mich, also drehte ich mich auf dem Absatz um und schlug die entgegengesetzte Richtung ein wie Zoe. Ich fing an zu laufen, um den Kopf frei zu kriegen. Das brauchte ich jetzt: Etwas Luft, die mir um die Nase wehte, etwas Freiheit, Zeit für mich allein. Zuhause hätte ich mir an meinem Klavier alles von der Seele gespielt oder wäre in den Wald gegangen, um mich weit fort von Menschen auszuweinen. Auf dieser Insel war ich nun schon viel zu lang durchgehend in Jasons Nähe dass ich jetzt ganz genau spürte, wie sehr ich diesen Moment brauchte.

Eine Weile lief ich einfach vor mich hin, ohne besonders an irgendetwas zu denken. Meine Gedanken schwirrten herum, blieben immer nur kurz bei etwas hängen. Zoe… Meine Familie… Die Jungs… Das Floß… Gott…

Ein Gedanke nach dem anderen, doch nichts war in diesem Moment von Bedeutung. Wichtig war nur das Laufen. Die Luft. Die Erde.

Doch plötzlich fiel mir etwas auf. Nur ein Stück entfernt von mir lag unser Floß! Ich ging näher hin und betrachtete es. Es sah doch relativ solide aus, wenn auch nicht sonderlich groß. Es musste wohl noch verbreitert werden…

Ich wollte die Gedanken abschütteln. Jetzt nicht. Jetzt hab ich Zeit für mich.

Ich ließ mich auf das Floß sinken und stützte mein Gesicht in meine Hände. Diese Insel machte mich wirklich fertig. Ich brauchte meine Musik, um mich zu beruhigen, um mich zuhause zu fühlen. Doch hier gab es nichts. Kein Klavier, keine Gitarre, kein Radio. Nichts. Dann musste ich wohl selber ran.

Doch singen wollte ich nicht, ich fühlte mich nicht gut genug, als dass ich wollte dass jemand zufällig etwas hörte. Also summte ich nur etwas vor mich hin. Das Lied, das ich gerade am Klavier lernte. Auf den Tasten klang es schöner. Egal.

Ich versuchte einfach den Kopf frei zu bekommen. Ich drehte mich so, dass ich aufs Wasser sehen konnte, und verfolgte das Licht auf den leichten Wellen. Es schien, als wolle die Sonne einen Weg darauf zeichnen. Einen Weg zu… Gott. Ich schüttelte den Kopf. Das war verrückt. Das war einfach eine ganz normale Wasserspiegelung… Ich blickte auf gen Himmel. Was sollte da oben schon sein? Mein ganzes Leben war es mir schlecht gegangen, warum sollte ich jetzt beginnen daran zu glauben, dass da jemand war, der mich liebte? Plötzlich stockte ich. Hatte diese Wolke etwa… die Form eines Herzens? Wie schräg war das denn? Schnell drückte ich die Augen zusammen und öffnete sie wieder. Das Herz war immer noch da. Langsam verlor ich den Verstand. Ich weigerte mich strikt dies als Zeichen von Gott zu sehen, stand auf und drehte mich um. Pah, Gott! Da konnte Angel noch dreimal ein Engel sein und ich noch tausend Zeichen sehen, ich würde nicht glauben dass es ihn wirklich gab. Nicht für mich. Zu sehr hatte mich mein Leben schon enttäuscht, immer und immer wieder hatte es Kratzer in mein Herz geschabt, bis es so kaputt war, dass ich es mit einer Mauer umgab, damit die Funktionstüchtigkeit erhalten blieb. Doch keiner hatte nun mehr so leicht Zutritt zu meinem Herzen. Schon gar nicht Gott. Ich hatte das Gefühl, er habe mich die letzten 13 Jahre im Stich gelassen, wieso sollte ich ihm gerade jetzt vertrauen? Damit ich umso enttäuschter war, falls wir bei unserer Reise auf dem Fluss alle ertrinken würden? Nein, ich konnte ihm nicht vertrauen. Noch nicht. Zuerst musste er sich beweisen.

 

 

Ich machte mich also auf den Rückweg, obwohl ich eigentlich noch mehr Zeit für mich gebraucht hätte. Doch ich wollte plötzlich nicht mehr so allein hier draußen sein, nur ich und „Gott“. Oh nein, das hielt ich grade gar nicht aus, sonst würde ich gleich noch mehr komische Zeichen sehen. Also lieber zurück ins Getümmel werfen, dachte ich mir, und es wäre vielleicht nicht unpraktisch mir dabei ungefähr zu merken wo das Floss war, damit wir später daran weiterarbeiten konnten.

So in Gedanken lief ich einfach geradeaus zurück, in die Richtung, aus der ich gekommen war. Ich lief und lief, und irgendwie wurde mir immer komischer zumute. Hätte ich nicht schon längst angekommen sein müssen? Ich war doch gar nicht so weit weggelaufen. Wo war denn bloß unser Lagerplatz?

Ich blieb stehen und sah mich um. Da war nichts, nichts außer Bäumen und Palmen und so unerträglich viel von dieser Natur, die mich fast zu erdrücken schien. Plötzlich war ich ganz still. Ich lauschte. Und tatsächlich: Für Natur war es hier viel zu leise! Keine Vögel, kein Wind, kein Rascheln war zu hören. Nichts außer mir.

Das machte mich nervös. Schnell lief ich wieder los, rannte, stürzte förmlich zwischen den Bäumen hindurch. Nichts! Ich rannte immer weiter, bis ich mit meinen Kräften am Ende war. Das gab es doch nicht! Das konnte doch gar nicht sein! Irgendwann musste ich doch zu unserem Lager kommen, oder zumindest hinaus aus dem Dickicht zum Wasser! Doch da war nichts. Kein Ausweg, nichts außer vielen grünen Pflanzen. Und mir.

Ich verzweifelte. Ich warf mich auf den Boden und schrie vor Angst laut heraus. „Was soll das? Was willst du von mir? Was hab ich dir denn bloß getan? Das ist nicht fair! Ich bin schon auf dieser Insel gefangen, du kannst es mir doch nicht antun mich von meinen Freunden abzuschneiden! Ach bitte hilf mir doch, nur ein einziges Mal! Bitte!“ Weinend und am ganzen Körper bebend schlug ich auf den Boden ein und blickte immer wieder zum Himmel hinauf. Wenigstens ein Mal konnte er doch seine Arbeit machen, oder etwa nicht? Immerhin verzweifelte sein Schützling hier gerade! Und wie konnte es überhaupt kommen dass es keinen Ausweg mehr gab? Das war dann womöglich auch dieser tolle Gott? Wieso tat er mir das an?

Ich weinte immer noch und schlug immer wieder auf den Boden ein. Diese Ungerechtigkeit konnte ich einfach nicht ertragen!

Plötzlich kniete sich jemand neben mich und nahm mich in den Arm. Ich erschrak ganz fürchterlich. „Aber Mel, was ist denn los? Ich hab dich weinen hören.“ Ich blickte Zoe an und sah dann, dass sich hinter ihr eine Öffnung im Dickicht befand, durch die man ohne Probleme auf das Lager sah. Aber die war doch grade eben noch nicht da gewesen?

„Es ist so gemein! Gott ist ganz furchtbar unfair zu mir! Wieso tut er mir das an? 13 Jahre hat er mich im Stich gelassen und nun quält er mich nur!“ Ein paar Minuten lang wiegte mich Zoe nur im Arm und wartete, bis ich mich etwas beruhigt hatte. Dann erst fragte sie nach, und ich erzählte ihr alles, alles was ich auf dieser Insel schon mit ihrem Gott erlebt hatte, auch die Sache mit dem Weg auf dem Wasser und dem Wolkenherz. Und dann natürlich die Geschichte grade eben. Nun war ich richtig sauer. „Was soll das? Was fällt ihm ein mir den Weg abzuschneiden sodass ich glaube ich hätte mich verlaufen? Und dann? Ich verzweifle, und nichts passiert? Ich habe nach ihm gerufen, Zoe! Zum ersten Mal habe ich ihn gerufen, und er hat mir nicht geantwortet!“ Nun unterbrach mich meine Freundin. „Aber Melody, hast du denn gar nichts verstanden? Erkennst du denn nicht, dass er dir geantwortet hat? Schöner geht es doch kaum! Ich habe deine Schreie nicht gehört, nichts habe ich von deinen Problemen mitbekommen. Erst ab dem Moment, als du Gott um Hilfe gebeten hast, konnte ich dich hören und dir helfen. Siehst du es jetzt ein?“

Hm… das war wohl wirklich eine Überlegung wert. Aber… Das hieße ja… Dass er mich tatsächlich gehört hat! Blieb nur noch eine Sache zu klären… „Hey Zoe, eins versteh ich nicht. Wieso hat er mich denn überhaupt in die Situation gebracht?“

Doch in dem Moment begriff ich selbst. Ich hatte nicht auf seine Zeichen geachtet. Seine Wolke wollte ich nicht sehen. Ich hatte mich geweigert mit ihm zu sprechen oder zumindest über ihn nachzudenken. Darum brachte er mich in eine Situation, in der er wusste dass ich das tun würde – zu ihm rufen.

 

 

„Okay okay, ich hab ja kapiert. Gott ist ja sooo groß und hört alles und sieht alles und will mir immer nur helfen! Und? Wo war er die letzten Jahre, in denen ich seine Hilfe so dringend nötig gehabt hätte? Wo war er, als mich diese Typen verfolgten? Wo war er als ich im Fluss fast ertrunken wäre?
WO IST ER DENN BITTESCHÖN GEWESEN?“

Ich war sauer. Nein, eigentlich nicht. Ich war traurig, weil ich nicht einfach vertrauen konnte. Dazu saß die Vergangenheit zu tief. So oft hätte ich Hilfe gebraucht, wie dringend hätte ich Schutz benötigt, und wo ist dieser tolle Gott zu dieser Zeit gewesen? Wieso war mein Leben so beschissen? Ich dachte, er will nur das Beste für jeden von uns, so erzählte es Zoe doch immer. Toll. Das Beste was er für mich übrig hatte war ein Leben als Mobbingopfer? Na dankeschön.

Ich drehte mich um und ging zurück zum Lager. Ich konnte mir nicht vorstellen dass Zoe eine Antwort auf meine Fragen hatte, und falls doch, wollte ich sie gar nicht hören. Sie liefen bestimmt nur darauf hinaus, dass Gott doch immer da gewesen sei, ich habe ihn nur nicht bemerkt. Klasse, jetzt liegt die Schuld für mein Unglück also bei mir? Also nein danke, auf diese Antwort konnte ich verzichten. Gott hätte schon etwas deutlicher auf sich aufmerksam machen können, ich meine, woher sollte ich denn wissen dass er da war? Wenn du 13 Jahre alt bist und noch nie sehr viel über ihn gehört hast, erkennst du wahrscheinlich sogar deutliche Zeichen nicht, oder?

Ich stapfte also wütend und traurig zurück und ließ mich an der Feuerstelle in den Sand sinken. Ich konnte das echt nicht mehr ertragen! Jetzt plötzlich ist er da, dieser Gott, und stellt mein ganzes Leben auf den Kopf! Wenn ich jemals lebend von dieser Insel wegkam, brauchte ich eine Therapie, dachte ich, denn ich war von vorne bis hinten gereizt und halb verrückt. Als Zoe kam und sich zu mir setzen wollte, vergrub ich mein Gesicht in meinen angezogenen Beinen. Ich wollte sie jetzt echt nicht sehen. Als meine Freundin merkte, dass ich jetzt nicht für ein Gespräch bereit war, setzte sie sich einfach neben mich und tat gar nichts. Doch – sie fing an zu summen. Ich kannte die Melodie nicht, also ließ ich mich gerne von ihr ablenken und entführen aus meiner Welt ins Reich der Fantasie. Doch als sie zu singen begann, kehrte ich schmerzhaft zurück auf den Boden der Tatsachen. „My god is an awesome god, he reigns from heaven above with wisdom, power and love…“ Schnell hielt ich mir die Ohren zu. Ich wollte jetzt ganz bestimmt nicht hören wie beeindruckend Gott nicht sei und wie toll er nicht regierte. Nein, das ertrug ich im Moment absolut nicht, darum stand ich auf und setzte mich zehn Meter von Zoe entfernt wieder hin. Ich wusste dass sie mir das nicht übelnehmen würde, immerhin kannte sie mich und meine Eigenheiten gut genug. Und Gott würde ja wohl hoffentlich auch verstehen, dass ich mich mit ihm erst langsam anfreunden musste

 

 

Keine Ahnung wie lange ich da so mit dem Kopf zwischen den Knien dahockte und weinte, ich war einfach nur verwirrt und überfordert mit der ganzen Situation. Sanft legte sich eine Hand auf meinen Rücken. Ich erschrak. „Deine erste Begegnung mit Gott, hm? Das kann einen ganz schön überfordern. Mach dir nichts draus, das wird schon.“ Klar, Angy hatte mal wieder in meinen Gedanken geschnüffelt. „Nein, das wird nicht! Ich will nicht an jemanden glauben, der ja angeblich mein Leben so toll lenkt und so toll für mich sorgt! Du hast ja keine Ahnung was ich durchgemacht habe! Er war nicht da! NIE! In allen Situationen, in denen ich ihn gut hätte gebrauchen können, stand ich ganz allein da! Wieso sollte ich bitteschön jetzt an ihn glauben? Nur weil du hier auftauchst und angeblich als Gottes Helferlein mein Leben retten willst? Vielleicht will ich das gar nicht! Wieso sollte ich zurückwollen? Hier werde ich nicht in einen Fluss gejagt oder ignoriert.“ Schnell steckte ich meinen Kopf wieder ein. „Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass es vielleicht einen Grund gibt, weshalb du hier bist? Überleg mal.“ Und mit einem Grinsen in der Stimme stand sie auf und ließ mich mit meinen Gedanken alleine. Pah, einen Grund um auf einer Insel zu stranden? Geht’s noch? Wenn das Gott mit seinen tollen Ideen war, hatte ich mit ihm noch ein Hühnchen zu rupfen. Ich meine, dann hätte er mich hier auch etwas sanfter absetzen können, oder? Ach, das wurde mir langsam alles zu dumm. Außerdem hatte ich Hunger. Also stand ich schnell auf und lief zum Strand, um mir das Gesicht zu waschen. Ich sah immer fürchterlich aus wenn ich geweint hatte. Als ich aber meine Hände ins Wasser tauchen wollte, war da plötzlich… Das war nicht mein Spiegelbild auf der Wasseroberfläche. Da war eine Frau, die ein bisschen aussah wie eine Mischung aus mir und meiner Mum, und sie lächelte mich an. Nein nein nein nein nein, das gibt’s nicht. Bestimmt nicht. Schnell tauchte ich meine Hände ins Wasser und wirbelte den Sand auf. Das hatte ich nicht gesehen. Das hatte ich mir eingebildet. Oh ja, das war nicht real. „Das war deine Zukunft.“ Schon wieder Angy. „WAS? Was will meine Zukunft hier? Die soll gefälligst da bleiben wo sie hingehört: In der ZUKUNFT!!“ Angel lachte herzhaft auf. „Aber Mel, ich meinte, das war ein Bild von dir aus der Zukunft. Hast du gesehen, wie hübsch und glücklich du bist? Alles, was du hier erlebst, wirst du für dein Leben mitnehmen und noch deinen Enkeln davon erzählen. Diese Zeit hier wird dein Leben verändern!“ Okay, nein. Das reicht. Ich will nicht wissen was irgendwann mein Leben beeinflusst. Ich will überhaupt nichts über meine Zukunft wissen. Ich wäre gern ein ganz normales Kind mit einem ganz normalen Leben! Na gut, von mir aus auch ein ziemlich normaler Teenager mit einem annähernd normalen Leben. Aber das hier? Das fiel alles eindeutig nicht in diese Kategorie!

„Weißt du, Gott wirkt sehr verschieden. Manchmal nur sehr wenig, und manchmal eben ziemlich heftig.“ Angy ließ sich zu mir in den Sand sinken, wo ich mich wieder verzweifelt zusammengerollt hatte. „Aber warum? Warum muss er sich unbedingt mein Leben aussuchen, um es erst schrecklich zu machen und es dann radikal zu beeinflussen? Hätte er nicht einfach von Anfang an da sein können? Hätte mein Leben nicht einfach von Anfang an funktionieren können?“ Jetzt weinte ich wieder. Wie viele Tränen musste diese Insel nun schon von mir ertragen? „Angy, ich kann einfach nicht mehr! Mein Leben war bescheuert, und das hier ist nicht besser! Ich will hier raus! Ich will weg, zu meinen Eltern, in ein normales Leben! Ich will nicht Gottes komisches Experiment sein…“
Angy wollte etwas erwidern, wollte ihn verteidigen, ihren Gott, doch ich ließ sie nicht. Ich wendete mich ab und lief schnell zum Lagerfeuer.

 

So ging das noch einige Tage weiter. Ich weinte und klagte und beschwerte mich über diesen Gott, der nicht darauf zu achten schien, was ich wollte. Angy wollte mich beruhigen, mir von ihm erzählen, doch ich hörte nicht zu.
Auch Zoe versuchte, mich für Gott zu interessieren, doch ich ließ mich nicht darauf ein.
Ich wollte einfach nur meine Ruhe, das war alles.
Oder noch besser: Endlich wieder nach Hause.

 

 

 

Ich war so sehr mit mir selbst beschäftigt, dass ich kaum mitbekam, dass Jason sich sehr selten blicken ließ. Er zog ständig allein durchs Gebüsch und erzählte nichts davon, was er so trieb. Nur mittags und abends brachte er Essen für uns, und jedes Mal wieder fragte ich mich, wo er das nun wieder aufgetrieben hatte. Doch er war für mich ein Rätsel. Ein wilder Dschungeljunge. Er lebte hier schon so viel länger als wir, dass er unsere Gesellschaft nicht brauchte. Aber gut, sollte es so sein.
Zoe verbrachte viel Zeit mit Angel und ließ sich von ihr Geschichten über Gott erzählen – Was bedeutete, dass auch ich meist alleine unterwegs war, weil ich das nicht hören wollte.

 

 

Alles änderte sich erst eines Tages, als wir alle abends um das Lagerfeuer zusammensaßen und aßen.
„Es ist fertig.“ Das war Jason. Er sagte es ohne jede Emotion, gerade so, dass niemand von uns auch nur annähernd wusste was er meinte. Außer eine natürlich.
„Mein Gott Jason, ehrlich? Das ist ja Wahnsinn!“ Begeistert stürzte sich Angel auf ihn und umarmte ihn stürmisch.
Ich blickte Zoe an. In ihren Augen stand, wie in meinen, ein einziges Fragezeichen.
„Um was bitte schön geht es?“ Zoe blickte Angel eindringlich an. Ich kannte diesen Blick. Meine beste Freundin war nun mal unsagbar neugierig. „Na los, raus mit der Sprache! Wir wollen uns auch freuen!“
Angel blickte Jason fragend an, dieser nickte. Da platzte es nur so aus ihr heraus.
„Jason hat das Floß fertiggebaut! So richtig schön groß, dass wir alle damit fahren können! Ich konnte es euch nicht früher sagen, es war doch nicht sicher ob er es schaffen würde, aber nun, nun ist es endlich fertig! Wir können aufbrechen!“
Ich war außer mir vor Freude. Aufbrechen. Das hieß, endlich wieder Asphalt unter meinen Füßen? Endlich wieder ein Dach über meinem Kopf? Endlich meine Familie wiedersehen?
„Gepriesen sei der Allerhöchste! Wir können endlich nach Hause!“ Zoe drehte sich schon freudig mit Angy im Kreis.
Doch ich war mir da nicht mehr so sicher.
Immerhin fuhr ein Floß nur mit der Strömung. Flussabwärts. Immer weiter fort von zuhause, hinein ins Ungewisse.

 

 

Kennst du das, das Zeitgefühl zu verlieren? Ich durfte es in dieser Zeit kennenlernen – es ist schrecklich.
Hier saß ich nun, zusammengepfercht mit den anderen, auf einem winzigen Floss. Seit Tagen, vielleicht waren es auch schon Wochen, ich wusste es nicht. Hier sah es einfach immer gleich aus, so dass ich das Gefühl hatte, nicht vom Fleck zu kommen. Immer weiter und weiter den Fluss hinab.
Auf diesem Floß bekam man Platzangst. Ich saß hier, Tag für Tag, wiegte mich vor und zurück und wartete nur darauf, endlich wieder Boden unter den Füßen zu spüren.
Abends legten wir an. Meistens zumindest. Manchmal war der Fluss so breit, dass wir es nicht schafften, zum Ufer zu gelangen. Darum war ich mir auch nicht sicher, wie lange wir bereits unterwegs waren. Ich hatte das Gefühl, mich im Kreis zu drehen, Tag für Tag.
Dazu kam, dass es überall, wo wir an Land gingen, fast genauso aussah wie dort, wo wir losgefahren waren.
Da war nur dieser seltsame Dschungel, überall.
Viel zu wild, um in der Nähe von Zivilisation zu sein.
Langsam verlor ich den Mut. Ich konnte nicht mehr, wollte nicht mehr. Ich hätte gerne aufgegeben.
Doch so weit kam es nicht.
Jedes Mal, wenn einer von uns strauchelte, zweifelte, verzweifelte, war ein anderer da, um ihn aufzubauen und ihm Mut zuzusprechen.
Jason lenkte uns sicher durch den Fluss und sorgte dafür, dass wir nicht verhungerten. Ich war dankbar, dass er sich um alles kümmerte, denn alles was ich zustande brachte, war, wie paralysiert Tag für Tag auf das Floß und wieder herunter zu steigen. Und – was auch nicht zu verachten war – nicht herunterzufallen. Dort endete meine Unterstützung an das Team aber auch.
Jeden Tag versuchten die Mädchen mich aufzubauen. Sie quatschten auf mich ein, wollten mich zum Lachen, zum Reden bringen. Doch ohne Erfolg. Ich schaffte es nicht, aus meinem Schneckenhaus hervorzukommen, ich war nur noch verzweifelt und wusste nicht mehr weiter.
Und Gott war mir so fern wie eh und je. Meiner Meinung nach hätte er uns ruhig mal ein bisschen lenken, vorantreiben, ans Ziel bringen können.
Doch so sehr ich Zoe und Angel auch Tag für Tag beten hörte, alles blieb wie es war.
Und ich verzweifelte jeden Tag mehr.

 

 

„Hey, Mel! Wach auf Mel! Komm schon!“ Jemand flüsterte mir leise ins Ohr. Was sollte das? Endlich hatte ich es geschafft, auf diesem Holzbrett auch nur annähernd gut zu schlafen, da wurde ich schon wieder geweckt.
Als ich den Schlaf abgeschüttelt hatte, merkte ich auch, was mich so irritiert hatte. Es war Jason, der mich geweckt hatte.
Jason, der seit dem Beginn unserer Reise nur wenige Worte mit mir gewechselt hatte. Er war so beschäftigt gewesen, sich um alles zu kümmern, dass er keinen Gedanken übrig hatte, um ihn auf das Mädchen zu verschwenden, das am Wenigsten zum Allgemeinwohl beitrug. Ich konnte ihn nur zu gut verstehen.
Wieso also weckte er mich?
Jason war schon wieder an die Vorderkante des Floßes geklettert, und ich folgte ihm und setzte mich zu ihm.
„Was gibt’s? Du redest wieder mit mir?“, fragte ich ihn neckisch.
„Dasselbe könnte ich zu dir sagen. Du warst auch nicht besonders gesprächig in letzter Zeit.“ Wo er Recht hatte, hatte er Recht. „Aber ich hab dich nicht umsonst geweckt. Schau mal!“
Im Licht der Morgendämmerung folgte ich seinem Fingerzeig und mir blieb der Mund offen stehen.
Es war so weit! Endlich! Wir hatten es geschafft!
Jason zeigte weit vor den Fluss entlang, und dort, kaum zu erkennen in der Ferne, stand ein Haus.
Ein wahrhaftiges, echtes Haus! Nichts hätte ich in diesem Moment lieber gesehen als dieses wundervolle Bauwerk.
„Hoffentlich ist es bewohnt…“, meinte ich skeptisch. „Ach, bestimmt! Siehst du nicht den Rauch aufsteigen?“
Und tatsächlich. Bisher hatte ich noch nicht darauf geachtet, doch nun fiel es auch mir auf. Aus dem Schornstein stieg Rauch auf.
„Wir müssen sofort die anderen wecken!“, flüsterte ich, nun freudig, das erste Mal seit langem.
„Lass sie noch ein wenig schlafen. Es wird noch den ganzen Tag dauern, bis wir dort angelangt sind. Ich wollte dich nur gerne aus deiner Trance erlösen.“ Jason schmunzelte schelmisch.
Bevor er etwas dagegen tun konnte, umarmte ich ihn stürmisch.
„Danke Jason.“ Mehr konnte ich nicht mehr sagen. Ich wollte nur noch den strahlenden Sonnenaufgang beobachten und hoffen, dass die Zeit nur schnell verging.

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Tag der Veröffentlichung: 01.07.2013

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