„Lilly, lass uns etwas versprechen.“ Ich blickte meine beste Freundin fragend an. „Was denn?“
„Naja, wir haben es beide nicht sehr leicht. Wir haben beide schon darüber nachgedacht, uns das Leben zu nehmen, richtig?“ Ich nickte benommen. „Na dann, lass uns etwas versprechen. Wir werden uns nicht selbst umbringen, weil wir wissen, dass der andere alleine nicht klarkommen würde. Wir wissen, dass der andere verzweifeln würde und sich auch umbringen müsste. Richtig?“
Ich blickte sie entgeistert an. Doch natürlich hatte sie Recht. Wir hatten schon oft darüber gescherzt, darüber, dass wir ohne einander nicht leben könnten. Weil nur wir uns wirklich kannten. Und nur wir wussten, dass wir beide psychische Wracks waren. Wir konnten nicht ohne einander.
„Stimmt. Was sollen wir tun?“ Sie sah mich mit starkem Blick an. „Wir schreiben einen Vertrag. Dieser besagt, dass es uns verboten ist, uns selbst umzubringen. Sollte einer den Vertrag brechen, gilt als Konsequenz, dass der jeweils andere innerhalb eines Jahres sein Leben beendet. Einverstanden?“
Ich verstand nicht, wie sie das so ruhig und sachlich sagen konnte. Es ging um unseren Tod!
„Lilly, versteh mich richtig. Es geht nicht darum, dass ich will, dass du dich umbringst, wenn ich es tue. Sondern darum, dass ich etwas habe, was mich davon abhält, mir das Leben zu nehmen.
Wenn ich weiß, dass mein Tod deinen bewirken würde, würde ich mir tausend Mal öfter überlegen, ob ich es wirklich durchziehe. Verstehst du?“ Jetzt verstand ich. Und ich fand es logisch, ging es mir doch genauso.
Also schrieben wir den Vertrag. Und unterzeichneten. Mit unserem Blut. Auf dass er nie gebrochen würde.
„Lilly, es ist Zeit.“ Die Stimme meiner Mutter schallt die Treppe herauf. Ich kann sie hören, doch das macht nichts. Nichts könnte mich jetzt aus meinem Bett bekommen. Seit 2 Tagen schon liege ich hier, den Kopf die meiste Zeit ins Kissen gedrückt, und rühre mich kaum von der Stelle. Heute muss ich wohl. Heute ist der Tag ihrer Beerdigung. Wie hypnotisiert stolpere ich die Treppe hinunter und zur Tür hinaus. Natürlich musste Mama mich aus dem Bett zerren und mich halb anziehen, denn ich war kaum in der Lage, irgendetwas selbst zu erledigen. Ich war einfach nur stocksteif und stumm. Mama lässt sich neben mir ins Auto fallen. Sie sieht mich einen langen Moment lang besorgt an, dann startet sie den Wagen. Ich bin ihr sehr dankbar, dass sie mich begleitet. Alleine würde ich diesen Tag wohl kaum überstehen. Mum hatte sie zwar kaum gekannt, doch sie wusste, wie wichtig sie mir gewesen war. Nachdem wir einige Kilometer gefahren waren, hält sie es doch nicht mehr aus. „Kind, jetzt ist es dann genug. Du hast 2 Tage nichts gegessen und kein Wort gesprochen. Ich verstehe dass du getroffen bist, aber das muss wieder aufhören. Ich gebe dir noch Zeit bis morgen Abend, dann such ich dir einen Trauerberater, okay?“ Ich antworte natürlich nicht. Ich hatte kaum wahrgenommen, was sie gesagt hatte. Ich kann die ganze Zeit nur an sie denken.
Melanie. Sie, die mir mein Leben geschenkt hatte, als ich dachte, ich hätte es längst verloren. Die mir half, aus den Tiefen meiner Seele wieder hervorzukriechen. Mit der ich diesen Vertrag geschlossen hatte. Ich unterschrieb, weil ich sie so sehr brauchte. Weil ich sie immer noch so sehr brauche. Ich unterschrieb, um eben dies zu verhindern, was nun bittere Wahrheit geworden war. Ich unterschrieb. Und hänge nun hier drin. Hänge an ihr. Hänge mit meinem Leben an ihrem Tod.
Das ist der Grund. Der Grund, warum ich nicht schlafe, nicht esse, nicht weine. Wir haben den Vertrag geschlossen. Fast fünf Jahre ist das jetzt her, doch vergessen hatten wir ihn nie. Nun ist sie tot. Und sie hat sich umgebracht. Das steht außer Frage. Nur heißt das für mich…
Der Wagen hält. Gut so, dann habe ich wenigstens keine Zeit mehr, nachzudenken. Ich steige wie ferngesteuert aus und bleibe auf der Straße stehen. Meine Mutter nimmt mich an der Hand. Alleine könnte ich wohl keinen Schritt gehen. Ich lasse mich von ihr zum Eingang der Kirche ziehen. Dort stehen sie. Ihre Eltern. Wie viele Stunden habe ich bei ihr zuhause verbracht. Wie oft war ich an diesem Ort. Ihre Eltern waren fast wie eine zweite Familie für mich. Sie nun so trauern zu sehen brach mir das Herz. Würde es meinen Eltern auch so gehen, in einem Jahr? Ich habe diesen Moment nie kommen sehen.
Meine Mutter zieht mich zu ihnen. Ich will dort nicht hin. Ich will einfach nur weit, weit fort. Würde mich so gerne losreißen, würde so gerne einfach wegrennen. Doch das kann ich nicht. „Mein aufrichtiges Beileid.“ Meine Mutter spricht mit ihren Eltern. Herr und Frau Lohner. Eine heile Familie, immer waren sie das. Zumindest hatten sie sich immer bemüht, dieses Bild aufrecht zu halten. Das wird ihnen nun schwer fallen. „Danke.“ Ganz leise spricht sie nur. Ihre Mutter. Nur sieht sie dabei nicht meine Mutter an. Sie sieht mich an. Mit dunklem Blick sieht sie mir ganz fest in die Augen. Ich erstarre wie ein Eisklotz. Ich möchte das nicht. Ich möchte niemals diesen Blick in den Augen meiner Mutter sehen. Ich halte es nicht mehr aus. Ich drehe mich weg und ziehe meine Mutter vorwärts. Sie gibt mir die Schuld. Ich weiß nicht warum, aber sie gibt mir die Schuld. Die Schuld für Melanies Tod. Und ich könnte doch selbst nicht sagen, ob ich Schuld habe oder nicht. Ich habe sie nicht davon abgehalten. Das ist Schuld genug.
Von der Feier bekomme ich kaum etwas mit. Viele Menschen sind da, viele Schulkollegen, Familie, Freunde. So viele Menschen weinen. Ich höre nicht auf das, was gesagt wird. Ich versinke immer tiefer. Ich will nicht, dass diese Situation sich wiederholt. Doch was kann ich dagegen tun? Ich habe mein Schicksal besiegelt. Ich sehe mich um, immer und immer wieder. Kann nicht still sitzen. Meine Mutter findet mich peinlich. Schon ok. Jedes Gesicht versuche ich einzufangen. Mir genau einzuprägen. Alle die verschiedenen Arten von Trauer. Die letzte Beerdigung, auf der ich war, war die meines Vaters. Ich kann mich nur wenig daran erinnern. Ich war erst 12. 8 Jahre sind vergangen, ohne dass ich solche Blicke sah. Und da ist er wieder, dieser Ausdruck in den Augen, den ich damals nicht deuten konnte. Unverständnis. Heute weiß ich es. Die Menschen hier verstehen den Tod genauso wenig wie die Menschen damals. Er war erschossen worden. Sie hatte sich aufgehängt. Er war unschuldig gewesen. Sie ebenso. Und trotzdem mussten sie beide sterben. Ich sehe nur einen Unterschied. Er wollte leben. Sie jedoch…
Auf dem Weg nach Hause. Ich spreche kein Wort. Meine Mutter spricht kein Wort. Still. Die Situation hat etwas Träges, Wartendes. Warten worauf? Wäre es leichter sofort? Ich bin unentschlossen. Verzweifelt.
Mein Zimmer. Ich vergrabe mich unter Bildern und Zetteln. Ich will alles ausgraben. Alles, was mich an sie erinnert. Ich suche etwas, dass mir hilft. Auch wenn ich nicht weiß, inwiefern. Will ich mich erinnern? Will ich vergessen? Unbewusst suche ich wohl den Vertrag. Er muss hier sein, irgendwo. Ich suche danach, um ihn nochmals zu lesen, immer und immer wieder, nur um zu erkennen, dass er mir doch keine Lücke lässt. Er war eindeutig. Ganz bestimmt. Wir haben ihn so geschrieben, dass niemand eine Wahl hat. Damit sich niemand umbrächte. Ich verstehe nicht. Wie konnte sie das tun? Ich könnte niemals damit leben, wenn ich wüsste, dass sie sich nur meinetwegen töten würde. Niemals. Wie konnte sie das? Ich werde es wohl nie begreifen. Ich grabe weiter. Alle Zettel, Bilder, Alben, Briefe, Plüschtiere, Glücksbringer. Alles, was wir uns jemals gegenseitig geschenkt hatten. Was wir uns verraten hatten. So viele so geheime Dinge. Ich wusste so vieles von ihr.
Da ist etwas. Ein Buch. Ich hatte es wohl seit Jahren nicht in meinen Händen. Es ist mein altes Tagebuch. Seit ich schreiben kann, habe ich mindestens einmal pro Woche den Stift gezückt. Ich habe alles aufgeschrieben. Jedes gemeine Wort. Und jede befreiende Geste von ihr. Ich beginne zu lesen. Ganz von vorne.
Das Buch beginnt im Volksschulalter. Ich war 6. Doch vielleicht sollte ich noch weiter vorne anfangen. Ich war 2 Jahre alt, als wir aus Schweden hierher nach Wien zogen. Mein Vater, Kai, war Schwede. Meine Mutter Karolin ist Deutsche. Was ich bin, weiß ich nicht so recht. Meine Eltern lernten sich in Schweden kennen, als meine Mutter ein Auslandspraktikum für ihr Studium machte. Sie ist eigentlich Lehrerin, doch momentan arbeitet sie als fahrende Pflegerin. Oder so ähnlich. Ich hatte mich nie wirklich für ihren Beruf interessiert. Von vorn. Meine Eltern lernten sich also in Schweden kennen. Mama war gerade dabei, ihr Studium abzuschließen, Papa hatte seine Ausbildung bei der Polizei gerade beendet. Sie verliebten sich. Ziemlich kitschig. Mama wurde schwanger. Das passte ihr eigentlich grad nicht so rein, doch gemeinsam mit meinem Papa beschloss sie, mich zu behalten. Sie flog also nach dem Praktikum zurück nach Deutschland, beendete die letzten paar Monate ihres Studiums und flog dann wieder nach Schweden, um mich gemeinsam mit Kai großzuziehen. Ich wurde also geboren, und sie gaben mir meinen Namen. Einen schwedischen und einen deutschen Vornamen. Und Papas Nachnamen. Und so heiße ich nun Lillesol Isabel Veetje. Ich weiß, ziemlich lang und kompliziert. Doch das sahen sie wohl nicht so. Mein Name wäre auch total in Ordnung, wären wir in Schweden geblieben. Doch das sind wir nicht. Mein Papa bekam ein Stellengebot bei der Polizei in Wien. Es war genau das, was er gerne machen wollte, und es war auch besser bezahlt als sein bisheriger Job. Also packten wir alles zusammen und zogen um. Ich war gerade mal 2 Jahre alt.
An die Zeit in Schweden kann ich mich nicht mehr erinnern. Wir waren später einige Male im Urlaub dort, doch nun schon 8 Jahre nicht mehr. Ich wuchs also in Österreich auf. Mein Papa verdiente gut, so konnte meine Mutter bei mir zuhause bleiben. Ich ging also nicht in den Kindergarten. Als ich 6 Jahre alt war, überlegten meine Eltern, mich in die Schule zu geben. Doch da ich sehr schmächtig und schüchtern war und Angst vor anderen Kindern hatte, beschloss meine Mutter, mich zuhause zu unterrichten. Ein folgenschwerer Fehler. Meine Mutter machte das sehr gut, keine Frage. Sie hatte ja schließlich auch Grundschullehrerin studiert. Doch ich kam fast nie in den Kontakt anderer Kinder. Ich hatte keine Freunde. Ich spielte immer nur zuhause, in unserem Garten, nie im Park oder auf Spielplätzen. Ich lernte niemanden kennen. Ich hatte Tanzstunden, Instrumentalstunden, aber allein. Und wenn ich Kinder in der Musikschule traf, mieden sie mich. Kein Wunder, ich mied sie ja auch. Ich war ängstlich. Und ich war einsam. Doch dass ich einsam war, merkte ich kaum. Ich kannte keine Gesellschaft, ich hatte ja meine Eltern, mir fehlte es an nichts. Die Prüfungen, die ich jedes Jahr an der Volksschule in der Nähe ablegen musste, bestand ich mit Bravour. Meine Mutter war sehr stolz auf mich.
In dieser Zeit beginnt auch mein Tagebuch. Doch anfangs ist es noch ziemlich langweilig. Ich schrieb was ich gelernt hatte, was ich gespielt hatte, beschrieb den Urlaub in Schweden und Deutschland. In den ersten 4 Jahren erscheint nie der Name eines anderen Kindes, außer der meiner Cousine in Schweden, Svenja.
Als ich 10 war und auch die vierte Jahresprüfung mehr als erfolgreich abgeschlossen hatte, machte sich meine Mutter Gedanken über meine zukünftige Schule, denn weiter unterrichten konnte sie mich nicht. Ich hatte keinen Kopf, mit ihr die Schule auszuwählen. Ich war nur ängstlich und verzweifelt. Ich wollte nicht zur Schule gehen, also wollte ich sie auch nicht auswählen.
Nach langem Hin und Her hatte meine Mutter schließlich eine Schule für mich gefunden. Ein Gymnasium, da ich mir ja mit dem Lernen leicht tat. Es war ein gar nicht weit weg von unserem Haus, am Rand von Wien, und hatte einen entscheidenden Vorteil gegenüber allen anderen Schulen, die in Frage gekommen wären: Der Schwerpunkt lag auf Musik. Da ich schon seit meiner frühen Kindheit Unterricht auf der Geige nahm und auch privaten Ballettunterricht genommen hatte, konnte ich mir das durchaus ganz gut vorstellen. Ich wollte zwar nach wie vor nicht zur Schule gehen, doch diese Ausbildung erschien mir erträglich. Ich stimmte also zu.
Wenige Wochen später wurde ich zur Eignungsprüfung vorgeladen und eh ich mich versah war der September gekommen. Schulbeginn. Lasst uns hier mit meinem Tagebuch beginnen.
1. September 2003
Das war er also, mein erster Schultag. Mein Vater hat mich am Morgen zur Schule gefahren, ich verabschiedete mich aber noch im Auto. Ich wollte diese Herausforderung allein bewältigen. Ich betrat also dieses riesige Gebäude und verlor sofort die Orientierung. Ich war so froh, dass mich eine ältere Schülerin fragte, ob ich etwas suchte. Ich fragte sie nach der 1m, 1. Musikklasse. Sie begleitete mich zur richtigen Tür. Einmal tief durchatmen, los geht’s. Ich betrat also den Raum, und man, war das laut hier drin. So viele Kinder wuselten durcheinander, wie ich noch nie auf einmal gesehen hatte. Scheu sah ich mich um. Da war ein freier Tisch, ganz hinten. Schnell steuerte ich darauf zu, doch ich schaffte es nicht bis dorthin. Ein großer Junge, ich weiß jetzt dass er Paul heißt, hielt mich auf. Ich tauchte unter seinem Arm hindurch und setzte mich schnell.
***
Ich erinnere mich wieder. Schüchtern wie ich war, wollte ich nur aus der Schusslinie, und bloß nicht angesprochen werden. Doch dieser Paul stellte sich mir in den Weg. Er machte sich lustig über mich, und das, obwohl er mich noch gar nicht kannte. Schon zu diesem Zeitpunkt wusste er darüber zu reden, wie klein ich nicht war, wie schüchtern, blass und verängstigt ich nicht aussah. Ich hatte auch Angst. So schnell ich konnte, verzog ich mich auf den freien Platz. Das hatte schon gut angefangen.
***
Die Lehrerin betrat die Klasse, und schon bald waren die Sessel zu einem Kreis zusammengeschoben und es war Zeit für eine Vorstellungsrunde. Jedes Kind sagte brav seinen Namen und wo es wohnte. Als ich an der Reihe war, sagte ich: „Lillesol Veetje, Mooragasse“. Dann spielten wir noch ein paar Spiele, bekamen unsere Spints zugeteilt und solche Dinge. Der Tag war eigentlich ganz erfolgreich.
Redete ich mir damals ein. Ich erinnere mich an diese Runde. Ich hatte gestottert, ziemlich sogar. Es war der erste Schultag, und ich wurde bereits ausgelacht. Sie lachten über meinen Namen. Und über meine mickrige Statur. Ich weiß noch, als ich von allen Seiten hörte: „Lillesol… Was ist das denn für ein Name… Wo kommt die denn her… Die soll schon 10 sein… Die hab ich ja noch nie gesehn…“ Der Grundstein war also gelegt. Der Grundstein für eine absolut grausame und unerträgliche Schulzeit.
Anfangs redete ich mir noch ein, dass alles gut werden würde. Ich versuchte, Anschluss zu finden, mir Freunde zu erkaufen – doch es half alles nichts. Dieser erste Tag hatte sie alle verschreckt. Falls jemand meine Freundin hatte werden wollen, war sie durch diesen ersten Eindruck wieder davon abgebracht worden.
Meine Eltern bekamen von diesem ganzen Schlamassel nichts mit, denn meine Mutter war zu dieser Zeit gerade hochschwanger. Sie konnte an nichts anderes denken als an das Baby, und mein Vater war damit beschäftigt, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Ich verhielt mich also ruhig und erzählte nur positive Dinge aus der Schule, berichtete etwa von meinen vielen guten Noten. Doch sie hörten mir gar nicht zu. Dadurch merkten sie auch nicht, dass ich von manchen Fächern nicht erzählte. Von Mathe etwa. Darin war ich echt ziemlich mies. Aber irgendwie bekam ich das schon hin.
Manchmal abends, wenn ich in meinem Bett lag, kam mein Vater zu mir. Er las mir vor, das genoss ich wie nichts anderes. Doch mehr als eine Seite schafften wir selten, denn sobald meine Mutter bemerkte, dass Papa sich entfernt hatte, rief sie nach ihm und spannte ihn ein. Mir blieb dann nicht mehr als ein entschuldigender Blick meines Vaters, ein Kuss auf die Stirn und eine unruhige Nacht.
Ich vegetierte also vor mich hin, ging in die Schule, lernte, und beobachtete meine Eltern, wie sie bei den Babyplanungen den Kopf verloren. Wie froh war ich, als der Tag endlich da war.
2. Oktober 2003
In der Schule war alles wie immer – schrecklich einsam. Gestern hatte ein Mädchen aus meiner Klasse, Julia, mich gefragt, ob ich ihr bei den Englisch-Aufgaben helfen kann. Ich meinte, klar, sie könne sich gerne ansehen wie ich sie gelöst hatte und ich könne es ihr erklären. Doch sie nahm nur mein Heft, schrieb alles ab und gab es mir zurück. Ich glaube, sie ist eher nicht die ideale Freundin. Als ich heute nach Hause kam, lag ein Zettel auf dem Tisch. „Bin mit Mama im Krankenhaus. Dein Bruder kommt. Kuss, Papa“ Ich war also alleine und wartete und wartete, bis das Telefon klingelte. Es war Papa, er meinte, es gäbe Komplikationen, Mama müsse bis morgen im Krankenhaus bleiben, und er würde bei ihr bleiben. Mein Bruder wäre aber schon da, Tobias Stellan Veetje. Also ein freier Abend für mich. Ich mach es mir dann vor dem Fernseher gemütlich.
Und da war er nun also, mein Bruder. Sie hatten ihm, wie mir, einen schwedischen und einen deutschen Vornamen gegeben. Nur in der anderen Reihenfolge, klugerweise. Das Negativbeispiel für die andere Variante steht ja auch hier.
Es wurde aber nicht besser, wie ich gehofft hatte. Es wurde schlimmer. Mein Bruder war ein Schreihals, eine Nervensäge, ein Problemkind. Er war ständig krank, schlief nicht, aß nicht – was auch immer. Auf jeden Fall hielt er meine Eltern auf Trab – und von mir fern.
So kam es denn, dass man zu Weihnachten beinah vergaß, mich zur Bescherung aus meinem Zimmer zu holen. Im Januar merkte niemand, dass ich alleine als die heiligen 3 Könige unterwegs war, da mich niemand begleiten wollte. Und meinen elften Geburtstag am 23. Februar vergaß meine Mutter offensichtlich auch. Ich sprach sie aber nicht darauf an. Ich verzog mich einfach in mein Zimmer und träumte davon, wie schön es wäre, eine Prinzessin zu sein, die niemandem egal war. Abends klopfte es an meine Zimmertür. Es war mein Vater. Er kam nach einer langen Schicht nach Hause und steckte nun seinen Kopf samt einem Paket durch meine Tür. Er hatte mich nicht vergessen. Er entschuldigte sich für meine Mutter und ließ mich das Paket öffnen. Es war eine Karaokemaschine. „Ich habe gehört, Mädchen in deinem Alter mögen soetwas.“, meinte er verlegen. Ich drückte ihn. Die Idee war sehr lieb, auch wenn ich niemanden hatte, mit dem ich das Gerät ausprobieren konnte. Wir räumten es in den Keller, damit ich ungestört damit üben konnte. Dort steht es heute noch. Sehr häufig verwendet wurde es nicht.
Nur eine Zeitlang war die Maschine öfter in Betrieb. Ich hatte eine Freundin gefunden. Ein Mädchen aus meiner Klasse, das mich gegen all die anderen verteidigte und mich wirklich mochte. Sie hieß Klara. Sie war sehr beliebt, und dadurch konnten mich auch viele andere Mädchen schlagartig leiden. Mein Karaoke-Keller wurde zum Partykeller. Ich war überglücklich.
26. Juni 2004
Nicht mehr lange bis zum Schulschluss. Heute war die Schulabschlussparty bei mir zuhause, im Karaoke-Keller. Es war wundervoll. So viele Mädchen aus meiner Klasse waren da, ich bin gerade richtig beliebt! Ich hoffe dass das noch lange so bleibt, es macht mir so viel Spaß, mit diesen Mädchen zu spielen und zu feiern. Aber gerade läuft es nicht so gut. Klara hat das Jahr in Englisch nicht bestanden, und wenn sie die Prüfung im Herbst nicht schafft, muss sie die Klasse wiederholen! Doch sie hat schon gesagt, dass sie nicht an dieser Schule bleiben würde. Sie würde an die Hauptschule gehen zu ihrer Cousine. Ich hoffe einfach nur dass sie es schafft. Ich weiß nicht, wie ich diese Schule ohne sie schaffen soll…
Natürlich hat sie die Prüfung nicht geschafft. Und wo ich mit einer Eins in Englisch aufstieg, wechselte Klara mit einer Fünf die Schule. Die anderen Mädchen waren sauer auf mich. Sie meinten, was ich für eine Freundin sei, dass ich ihr nicht geholfen, nicht mit ihr gelernt hätte. Dass ich ihr nicht eingesagt hatte und sie nicht abschreiben ließ. Sie kehrten mir den Rücken zu. Wie erwartet.
Ich merke, dass mir Tränen in die Augen getreten sind. Schnell wische ich sie weg. Ich erinnere mich zu gut an den Sommer, der nun folgte. Meine Eltern interessierten sich nur für meinen Bruder, meine Freunde wendeten sich von mir ab. Ich verkroch mich in meinem Zimmer, bei strahlendem Sonnenschein zog ich die Vorhänge vor. Andere Eltern hätten mich wohl augenblicklich ins Freie zitiert. Meine bemerkten nicht einmal, dass ich nicht bei ihnen war.
Mitte des Sommers war es am Schlimmsten. Mein Bruder hatte einen schweren Infekt. Er musste ins Krankenhaus und sollte zwei ganze Wochen zur Beobachtung dort bleiben. Meine Mutter quartierte sich bei ihm im Krankenhaus ein, und auch mein Vater war die meiste Zeit dort – Ich aber sollte zuhause bleiben. Und so kam es, dass ich mit 11 Jahren lernte, für mich selbst zu sorgen. Ich übte mich darin, die geheimen Geldvorräte meiner Eltern zu finden, um mir Essen kaufen zu können. Ein schlechtes Gewissen hatte ich nicht. Meine Eltern hatten nicht darüber nachgedacht, wie ich mich in diesen Tagen versorgen sollte, meine Mutter hatte generell schon eine Zeit lang nicht mehr über mich nachgedacht.
Ich war unglücklich. Und einsam. Und wütend. Und an einem Tag, als ich all diese Gefühle nicht mehr in mir halten konnte, tat ich etwas Schreckliches.
8. August 2004
Heute war ein grauenvoller Tag. Ich war so wütend! Und irgendwie, naja… Ich bin in das Zimmer meiner Eltern gegangen. Mein Papa hat ja so eine Sammlung Glasfiguren, die er sehr liebt. Ganz viele verschiedene. Aber ich war so wütend! Da hab ich sie runtergeworfen. Jede einzelne. Ich hab sie alle zerbrochen. Als ich gemerkt habe, was ich getan hab, habe ich schrecklich geweint. Ich habe mich mitten in die Scherben gesetzt und geweint. Plötzlich ging die Tür auf, und eine Sekunde später schloss Papa seine Arme um mich. Er hob mich hoch und nahm mich auf den Arm. Ich weinte nur noch mehr, doch er flüsterte: „Alles ok, alles ist gut.“ Er war mir gar nicht böse.
Ich erinnere mich noch so gut an diesen Tag, wie ich da saß, inmitten all der bunten Scherben, und mich nur schuldig fühlte. Doch als Papa da war, schien alles besser zu werden. Er nahm mich in den Arm und sagte gar nicht viel. Ich hatte das Gefühl, dass er mich verstand, und das tat einfach so gut. Ich erzählte ihm alles. Dass ich das Geld genommen hatte. Wie wütend ich war. Dass ich meinen Bruder innerlich verfluchte. Mein Vater nickte nur, drückte mich wieder und flüsterte: „Tapper Tjej“, das ist schwedisch für „Tapferes Mädchen“.
Diesen Moment hielt ich in meinem Herzen fest, denn es war einer dieser Augenblicke, der mich durch dunkle Zeiten trug. Momente wie diesen gab es nicht so oft. Nur selten war ich mit Papa allein, denn meine Mutter hatte ihn fest in der Hand. Doch die Momente, die ich mit ihm erhaschen konnte, waren Gold für mich.
Bald hatte der Sommer ein Ende, und ich war eigentlich ganz froh darüber. Anstatt mich noch länger mit meiner Familie herumzuärgern, konnte ich nun wieder meinem Überlebenskampf in der Schule nachgehen. Ich ignorierte die Tatsache, dass mich meine Mitschüler mieden, und versuchte meine Leistungen auf einem guten Stand zu halten. Das gelang mir auch erfolgreich – außer in Mathe. Da schrappte ich immer zwischen 3 und 4 herum, noch ganz brauchbar, aber schon problematisch.
Der erste Geburtstag von Tobias wurde ganz groß gefeiert. Meine Mutter betonte, dass der Infekt im Sommer lebensbedrohlich gewesen war und dass wir froh sein konnten, dass er noch bei uns war. Ich war mir nicht sicher, ob ich froh darüber war. Süß war er ja schon, der Kleine, und jetzt schrie er auch nicht mehr so viel. Aber ich bekam ihn eigentlich selten zu Gesicht, meistens trug meine Mutter ihn herum und mein Vater folgte ihr wie ein Schatten. Er konnte aber auch gar nicht anders. Sobald er versuchte, sich um mich anzunehmen, rief meine Mutter ihn zurück.
30. November 2004
So cool! Papa hat versprochen, mit mir ins Kino zu gehen! „Der Polarexpress“ ist grade angelaufen, meine ganze Klasse hat ihn schon gesehen, und ich will auch unbedingt! Papa hat versprochen, wir gehen nächste Woche – ich freu mich schon so! Und das Beste: Wir gehen ohne Mama und Tobias!
Tja, als nun der Tag gekommen war, an dem wir ins Kino gehen wollten, wollte meine Mutter meinen Vater natürlich nicht fortlassen. Plötzlich fielen ihr tausend Dinge ein, die erledigt werden müssten oder was alles passieren könnte, wenn er fort war. Ich war traurig. Ich sah bereits keine Chance mehr. Doch mein Papa zwinkerte mir zu und meinte nur zu Mama: „Ich glaube, du solltest dich bei einer Fußmassage entspannen!“ Und dann massierte er ihr die Füße, bis sie eingeschlafen war. Wir packten Tobias in seine Trage und verließen auf Zehenspitzen das Haus.
Dies war wieder einer dieser Abende, den ich als Schatz in meinem Herzen einschloss, um in schwierigen Zeiten davon zu zehren. Es war einfach wundervoll, ein wenig Zeit zu haben, um mit Papa zu reden, zu lachen und zu kuscheln. Bis heute ist dies die schönste Erinnerung, die ich mit meinem Dad habe.
Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, wie sauer meine Mutter war, als wir nachhause kamen. Aber das war es wert.
Der Winter verging, und auch im Frühling änderte sich nicht viel an unserem Leben. Meine Mutter hielt meinen Vater unter ihrer Fuchtel wie einen Sklaven, mein kleiner Bruder raubte jegliche Aufmerksamkeit, und keiner bemerkte, dass ich, sobald der Schnee sich verzogen hatte, kaum einen Tag zuhause war. Ich hatte mittlerweile, unglaublich, aber wahr, eine neue Freundin gefunden. Verena besuchte meine Parallelklasse, und ihr schien all das, was andere an mir auszusetzten hatten, nichts auszumachen. Gemeinsam erkundeten wir nach der Schule unsere Stadt, streiften durch Parks, Bibliotheken und Museen – taten alles, um nur möglichst wenig Zeit zuhause verbringen zu müssen. Meiner Mutter fiel das nur sehr selten auf, mein Dad schenkte mir ein bedauerndes Lächeln, wenn er mich zur Tür hereinschleichen sah. Weiterhin ernährte ich mich vom Geld aus den geheimen Vorräten, denn da ich zum Essen nie zuhause war, schien meine Mutter vergessen zu haben, dass sie noch ein zweites Kind zu ernähren hatte. Sie kochte nur noch für zweieinhalb Personen, und der Kühlschrank war auch selten richtig voll. Doch seit langem war ich wieder einmal glücklich. Verena hörte mir zu und verstand mich, sie nahm sich Zeit für mich. Und so war der Gang zur Schule nicht mehr ganz so unerträglich wie früher.
Die Monate vergingen, und bald war es Mai, Juni. Das Ende der Schule nahte, und ich freute mich schon so darauf, im Sommer den ganzen Tag mit Verena in dem Wald zu verbringen, den ich gerade unweit unseres Hauses entdeckt hatte. Doch dann kam der Tag, mit dem niemand gerechnet hatte. Der Tag, der mein Leben von Grund auf veränderte, noch mehr zerstörte. Der Tag, als das letzte bisschen Familiengefühl zerbrach.
30. Juni 2005
Ein wunderbarer Tag – dachte ich, als ich heute das Schulgebäude verließ. Den ganzen Nachmittag hüpfte ich mit Vertsch durch die Stadt, tanzte durch Springbrunnen, fühlte mich pudelwohl und vogelfrei. In Gedanken schwebten wir schon ganz im Sommer, den wir Tag für Tag gemeinsam planen wollten. Doch als ich nachhause kam, war ich schon verwirrt. Ein Polizeiauto stand vor unserer Tür. Das war nicht ganz ungewöhnlich, schließlich arbeitet mein Dad bei der Polizei und kam meistens mit dem Dienstwagen nach Hause. Doch diesmal war es anders. Das Auto parkte nicht einfach in der Auffahrt. Es stand mitten auf der Straße, mit Blaulicht. Schnell huschte ich zur Tür hinein. Ich konnte es mir zwar kaum vorstellen, aber vielleicht hatten meine Eltern mich heute als vermisst gemeldet? Doch als ich ins Wohnzimmer kam, spürte ich, dass das nicht das Problem war. Tobias lag in seinem Laufstall und weinte, doch das schien meine Mutter nicht zu stören. Sie selbst saß auf der Couch und starrte stumm geradeaus. Auf ihren Wangen waren die Spuren von Tränen zu sehen. Ich ging zum Laufstall und hob meinen Bruder heraus, bevor ich meine Mutter fragend ansah.
***
Wow. Wie genau ich mich an diesen Augenblick erinnere. Beim Gedanken daran laufen mir die Tränen wie kleine Sturzbäche über die Wangen. Wie viel dieser Moment verändert hatte! Ich weiß noch, wie ich Tobias im Arm hielt und versuchte ihn zu beruhigen. Meine Mutter sah ihn nicht an, sah mich nicht an – sie starrte nur ins Leere und sagte garnichts. Ich spürte, dass etwas ganz und garnicht in Ordnung war, doch ich konnte es nicht zuordnen. Wie hätte ich es mit meinen 12 Jahren auch ahnen sollen?
***
Plötzlich stand ein Polizist in der Tür. Ich kannte einige Kollegen von Papa, aber diesen kannte ich nicht. Er sah mich an, mit einem ganz seltsamen Blick. Dann hockte er sich vor mich hin, damit er mir in die Augen sehen konnte, und sagte: „Es tut mir leid. Es gab einen Unfall. Dein Papa wird heute nicht nachhause kommen.“ Ich verstand nicht. Ich fragte, ob wir ihn nicht im Krankenhaus besuchen wollten. Doch der seltsame Mann schüttelte nur traurig den Kopf.
Ohne viel nachzudenken, machte ich Tobias ein Fläschchen und brachte ihn ins Bett. Erst dann setzte ich mich zu meiner Mutter. Der Polizist war mittlerweile gegangen, doch Mama saß immer noch genauso steif und stumm da wie zuvor. Ich setzte mich zu ihren Füßen und starrte sie an. Ich weiß nicht wie lange, es fühlte sich an wie die halbe Nacht. Nach einer gefühlten Ewigkeit bewegte sie sich. Sie stand auf, küsste mich auf die Stirn, und ging in Bett. Und ich war immer noch so ratlos wie zuvor. Bis ich wirklich begriffen hatte, was dieser Moment bedeutete, dauerte es eine ganze Weile.
Noch heute frage ich mich manchmal, was an diesem Tag geschehen ist. Ich weiß nur eines: Dieser Tag hat alles für immer verändert.
Dieser Moment ließ keinen Stein mehr auf dem anderen. Von diesem Tag an war meine Mutter für noch weniger zu gebrauchen als zuvor. Die erste Woche nach diesem Vorfall verbrachte sie nur im Bett. Zum Glück war es kurz vor den Sommerferien, so konnte ich die letzten 2 Wochen einfach ausfallen lassen. Jeder verstand, dass ich momentan einfach nicht zur Schule gehen konnte.
Was keiner wusste, war, dass die Trauer nicht der Hauptgrund war, warum ich nicht zur Schule gehen konnte. Es war meine Mutter. Sie schaffte es nicht, sich aufzuraffen und sich um ihre Kinder zu kümmern. So war es an mir, Tobias am Leben und bei Laune zu halten. Und das, wo ich doch selber noch absolut gar nichts verarbeitet hatte.
Wenn ich so zurücksehe auf mein 12-Jähriges Ich, frage ich mich, wie ich das geschafft habe. Immerhin war Tobias kein Baby mehr, das man einfach den ganzen Tag rumtragen und schlafen legen konnte, und aber auch noch nicht alt genug, um ihn eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Die meiste Zeit beobachtete ich ihn einfach dabei, wie er da in seinem Laufstall saß und nicht begriff, was in seiner Familie gerade alles schief lief. Aber dann sollte ich natürlich auch noch einkaufen, kochen und die Wäsche und das Haus zumindest annähernd in Ordnung halten – keine leichte Aufgabe für ein junges Mädchen.
Von diesen Tagen fehlen jegliche Einträge in meinem Tagebuch. Doch das macht nichts. Ich kann mich auch so noch ganz gut an diesen furchtbaren Sommer erinnern.
Wenige Tage nach dem Vorfall mit Papa klingelte es das erste Mal an der Tür. Ich ging nicht hin. Wer immer da draußen war, ich wollte niemanden sehen. Am nächsten Tag klingelte es erneut. Und wieder öffnete ich nicht. Ein paar Tage später hatte ich die Tür zu Terrasse geöffnet, weil es drinnen sehr heiß war. Es klingelte wieder, und ich öffnete nicht. Ich blieb wie jeden Tag still vor dem Laufstall sitzen und starrte meinen Bruder an. Leise schlich sie sich über die Terrassentür herein. Verena setzte sich neben mich und sagte einfach nichts. Sie saß einfach nur da und begleitete mich in meinem Leiden. Nach einigen Stunden stand sie auf, küsste mich auf den Kopf und ging wieder.
Von diesem Tag an ließ ich die Terrassentür absichtlich offen. Verena kam fast jeden Tag. Manchmal nur für eine halbe Stunde, manchmal blieb sie den ganzen Nachmittag. Und eines Tages kam sie nicht mehr. Als ich morgens die Terrassentür öffnete, fand ich einen Zettel.
„Wir ziehen um. Tut mir leid. Ich wollte es dir sagen, aber… Ich hab dich lieb. Vertsch“
Das war der erste Tag nach dem Tod meines Vaters, an dem ich wieder weinte.
***
Da meine Eltern beide zugezogen waren, gab es keinerlei Verwandtschaft in der näheren Umgebung. Und meine Großeltern, Onkeln und Tanten in Deutschland und Schweden waren es gewöhnt, eine ganze Weile nichts von uns zu hören. So dauerte es den halben Sommer, bis es an der Tür läutete und meine Großeltern aus Schweden draußen standen – gemeinsam mit meiner Cousine Svenja. Sie hatten versucht, uns anzurufen – sehr oft. Doch niemand war ans Telefon gegangen. So hatten sie schließlich in der Arbeit von Papa angerufen – und von dort die furchtbare Nachricht erfahren.
Meine Großmutter zog mich in ihre Arme und hielt mich erst einmal ganz fest. Und ich ließ mich das erste Mal seit langem einfach fallen, und war nur dankbar, dass endlich jemand anderer die Kontrolle in diesem Haus übernehmen würde.
Meine Großeltern kümmerten sich um meine Mutter und Tobias, während sich Svenja um mich kümmerte. Endlich gab es jemandem, mit dem ich reden konnte. Endlich war ich wieder bereit, zu reden.
Unser Gästezimmer wurde also umfunktioniert und Oma und Opa zogen erstmal hier ein. Svenja musste leider bald wieder abreisen, da sie selbst zur Schule musste, doch sie hatte mir geholfen, mich selbst ein Stück weit wiederzufinden.
Es ließ sich nicht vermeiden – Bald war der September gekommen, und damit ein neues Schuljahr. Was soll ich euch darüber schon groß erzählen? Es hat sich nichts verändert. Ich war nur noch weiter zum Außenseiter geworden, weil niemand so recht wusste, wie er mit mir und meiner Geschichte umgehen sollte.
Und so verkroch ich mich weiterhin im hinteren Eck des Klassenraums, versuchte, so gut wie möglich abzuschneiden und so wenig wie möglich aufzufallen.
So ging es dahin, ein Jahr, zwei Jahre. Irgendwann war ich 14 und der Sommer kam, und damit das Ende der Unterstufe. Eigentlich hegte ich tief in mir den Wunsch, die Schule zu wechseln. Hier fühlte ich mich einfach nicht wohl. Doch ich konnte nicht. Ich wollte niemanden mit einer solchen Umstellung belasten, wo wir doch wirklich genug zu tun hatten.
Außerdem waren meine Großeltern mittlerweile wieder abgereist – Opa war krank geworden und die beiden mussten sich erstmal um sich selbst kümmern. Glücklicherweise hatten sie meine Mutter vorher noch dazu überreden können, meinen Bruder in einen Kindergarten zu geben, und sich selbst eine Arbeit zu suchen – denn von der Witwenpension alleine konnte unsere kleine Familie nur mehr schlecht als recht leben. Und so nahm sie eine Teilzeitstelle als Sekretärin an – denn obwohl sie dazu ausgebildet war, mit Kindern zu arbeiten, waren ihr momentan schon ihre eigenen zu viel.
Ein weiterer trostloser Sommer zog ins Land, und ein neuer Herbst brach an. Hier zitiere ich mal wieder aus meinem Tagebuch, dass sich in den letzten Jahren langsam, aber stetig wieder gefüllt hatte.
Heute war der erste Schultag in der Oberstufe. Viele meiner Mitschüler haben auf eine weiterführende Schule gewechselt, daher wurden wir mit unserer Parallelklasse zusammengelegt. Sehr seltsam, mit so vielen „neuen“ Leuten in der Klasse.. Es macht mich ein wenig traurig, daran zu denken, dass Vertsch in dieser Klasse gewesen ist. Wir hätten endlich nebeneinander sitzen können…
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Verena hatte mir in den ersten Monaten nach dem Tod von Papa ab und zu geschrieben. Doch ich habe ihr nie geantwortet. Irgendwann hat sie es wohl aufgegeben… Ich kann sie verstehen.
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Ich kannte sie eigentlich alle, wenn auch nur vom Sehen. Und sie kannten mich. Es wunderte mich nicht, dass sich niemand neben mich setzen wollte. Doch dann, es hatte schon zur Stunde geläutet, stürmte ein Mädchen in die Klasse, das ich noch nie zuvor gesehen hatte. Schnell sah sie sich um, entdeckte den freien Platz neben mir und ließ sich darauf sinken. „Hey, ich bin Mel.“ „Lilly.“ Mal sehen, was das noch wird.
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Tag der Veröffentlichung: 27.05.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle, die mich jemals verspottet haben.
Für alle, die mir gezeigt haben, dass ich nicht egal bin.
Für alle, die kämpfen.
Für alle, die fallen.
Steh auf.
Dein Leben ist lebenswert.