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Alles ist still. Ich höre nur meinen Atem. Ich brauche nur diesen einen Schritt zu gehen. Darauf warte ich doch schon so lange! Wieso tue ich es nicht? Wieso zweifle ich? Was hält mich davon zurück, diese lang getroffene Entscheidung nicht sofort in die Tat umzusetzen? Es ist fast Mitternacht, der gleißende Vollmond spendet das einzige Licht. Der Augenblick ist ideal! Worauf warte ich?
Ich habe das schon lange geplant. Warum ich es genau heute umsetzen werde? Heute war er da, dieser Tropfen, der das Fass sprichwörtlich zum Überlaufen brachte.
Ich ging zur Schule. Alleine. Wie jeden Tag. Still versuchte ich, möglichst unbemerkt an allen vorbeizuschlüpfen, rasch huschte ich durch die Gänge und verkroch mich in der Abstellkammer. Wie jeden Tag.
Ich vermied es tunlichst, unsere Klasse vor Ankunft des Lehrers zu betreten. Ich kannte die Folgen. Und wusste, wie ich sie verhindern konnte.
Bis zum Läuten blieb ich also hier. Endlich war es soweit. Die Gänge leerten sich und ich machte mich auf den Weg in die Schlangengrube.
Ich wartete hinter dem Spint, mit Blick auf unsere Tür. Wenn ich den Lehrer kommen sah, würde ich lossprinten und ganz knapp vor ihm die Klasse betreten. Soweit mein Plan.
Ich hatte da nur leider etwas übersehen. Hätte ich mich ein Mal in der Pause in unserer Klasse aufgehalten, hätte ich gewusst, dass die erste Stunde heute nicht stattfand. Ich hätte gewusst, dass kein Lehrer kommen würde. Und ich hätte geahnt, was als Nächstes passieren würde.
Als also nach 10 Minuten immer noch niemand kam, war ich mir sicher: Ich hatte ihn verpasst. Er würde schon lange im Klassenraum sein, und würde ich noch länger warten, bekäme ich eine Fehlstunde.
Also nahm ich all meinen Mut zusammen, huschte zur Klassentür, öffnete sie vorsichtig und wollte hinein gehen – doch dazu kam ich nicht.
Stand doch direkt hinter der Tür die Hälfte meiner Klassenkameraden und grinste mich an. Das sah ich allerdings nur kurz. Im nächsten Moment hatte ich einen Eimer über dem Kopf. Dieser Paul hatte mich mit einem ganzen Eimer Wasser begossen – Falls es überhaupt Wasser war, ich war mir da nicht so sicher, es roch seltsam – und mir den Eimer über den Kopf gestülpt.
Bevor ich die Gelegenheit hatte, ihn wieder abzunehmen, packte jemand meine beiden Hände und zog mich vorwärts. Ich stolperte, fiel vornüber und schlug mir heftig den Kopf. Ich muss wohl ohnmächtig geworden sein, denn an mehr kann ich mich nicht erinnern.
Als ich wieder aufwachte, tat mir alles weh. Und alles was ich sah, waren wenige Lichtschimmer. Was war passiert? Ich musste so etwas wie einen Kartoffelsack über den Kopf gezogen bekommen haben. Doch als ich versuchte ihn zu entfernen, merkte ich erst, dass meine Hände gefesselt waren. Auf meinem Rücken. Wie fies.
Dann blieb mir wohl nur noch abzuwarten. Da es mir viel zu peinlich gewesen wäre, zu rufen, machte ich mich daran, meine Hände zu bewegen, bis sie frei waren. Zum Glück hatten meine Peiniger die Knoten nicht allzu fest gemacht.
Ich zog mir endlich auch den Sack vom Kopf und sah mich um. Ich lag im Gebüsch unter unserem Klassenfenster. Sie mussten mich wohl einfach hinausgeworfen haben.
Beschämt machte ich mich auf den Heimweg. Es dämmerte bereits. Ich schien ziemlich lange ohne Bewusstsein gewesen zu sein. Hatte es keiner für nötig gehalten, mal nach mir zu sehen? Sie werden sich nicht getraut haben. Paul und seine Kumpels haben in unserer Klasse das sagen, wer sich gegen ihre Aktionen ausspricht, dem geht es bald wie mir.
Ich verstehe es also.
Als ich unsere Wohnungstür aufsperrte, wusste ich bereits, dass ich niemandem abgegangen war.
Ich lebte allein mit meiner Mutter, und wenn diese gerade nicht arbeitete, vergnügte sie sich mit Freundinnen in ihre Stammkneipe. Ein idealer Zeitpunkt also, um dreckverschmiert, mit Schwielen an den Händen, nach Hause zu kommen.
Nun war es beschlossen. Ich stellte mich unter die Dusche und drehte das Wasser kochend heiß auf. Ich wollte all diese Scham nur noch von mir waschen. Es gelang natürlich nicht.
Ich begann, in meinem Kopf den Brief zu schreiben. Ich verwarf ihn wieder.
Nach einer knappen Stunde gab ich es auf und stieg aus der Dusche. Ich lief durch die Wohnung, auf und ab, riss sämtliche Kleider aus meinem Schrank, durchwühlte meine Schubladen.
Als ich angezogen war, war es bereits 10. Ich musste mich schon beinahe beeilen.
Ich zog die Tür hinter mir zu und ging los. Ich wusste genau wohin. Auf halbem Wege rief ich meine Mutter an. Sprachbox. Gut. Ich hinterließ ihr nur fünf Worte: Ich bin dann mal weg.
Danach warf ich mein Handy in den Bach neben der Straße. Ein gutes Gefühl.
Weiter und weiter marschierte ich, bis ich angelangt war, wohin ich wollte. Es war kurz vor Mitternacht. Ideal.
Hier stehe ich also immer noch. Entfernt höre ich die Glocken der Turmuhr. 1…2…3… Ich würde es tun. Wenn die Turmuhr 12 schlägt, werde ich es hinter mich bringen. Ich werde diesen einen Schritt nach vorne steigen. Und fallen. Wie ich es mir bereits seit Ewigkeiten wünsche.
8…9…10… Gleich ist es soweit. Ich bin bereit. Oder doch nicht? Worauf warte ich? Ich möchte doch so lange schon… 11…12…
Stille. Und ich stehe immer noch hier. Wie lange noch?

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Texte: H. I. Münzker
Tag der Veröffentlichung: 06.03.2013

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