Dort oben am Galgen hing sein Vater. Rian starrte blind vor Tränen hinauf. Der Halbwüchsige zitterte am ganzen Leib. Ihm war übel und vor seinem geistigen Auge sah er wieder und wieder, wie der Henker den Hebel umlegte und sich die Falltüre unter den Füßen seines Vaters öffnete. Lange, qualvolle Augenblicke strampelte Yoris Storengard verzweifelt in der Luft. Wären seine Hände nicht auf seinen Rücken gefesselt gewesen, so hätte er sich gewiss an den Hals gegriffen und versucht die Schlinge zu entfernen.
Vielleicht wäre er jedoch auch gar nicht in der Lage dazu gewesen, denn Rian bildete sich ein trotz des Tumults auf dem Burghof hören zu können, wie das Genick seines Vaters knirschend brach. Möglicherweise, so hoffte der Jüngling, hatte ihm dies das Bewusstsein geraubt, bevor er durch den Strick um seinen Hals keine Luft mehr bekommen hatte und an der Schlinge erstickt war. Yoris‘ Augen sprachen jedoch eine andere Sprache.
Rian hatte versucht zu seinem Vater zu gelangen, aber die Söldner, die die übrigen Gefangenen auf dem Burghof der Bergfestung am High Kerrin zusammengetrieben hatten, hatten ihn und die anderen Männer mit Waffengewalt festgehalten. In kleinen Gruppen, nicht mehr als zwei Handvoll Männer pro Gruppe, hatte man sie auf den Hof gebracht, um der Hinrichtung beizuwohnen. Um sie herum standen die Söldner der Ynesgarther, die mit gezückten Waffen Wache hielten und jeden, der einen Schritt zur Seite machte, schlugen oder mit Speeren stachen.
Der Haufen, in dem Rian war, stand am hinteren Ende des Burghofs. Man hatte ihnen die Waffen abgenommen und sie zusammengepfercht. Manche der Männer waren verletzt, versuchten es jedoch zu verbergen. Die Ynesgarther hatten nach der Eroberung der Burg die verletzten Kämpfer umgebracht, die sich ihnen ergeben hatten.
Die meisten Gefangenen kannte der Halbwüchsige. Sie waren Teil der Leibgarde seines Cousins, des Lords von High Kerrin gewesen und sein Vater hatte sie beauftragt nicht nur Bernaro zu beschützen, sondern auch seinen eigenen Sohn. In den letzten Monaten hatten sie Seite an Seite gekämpft und mehr als einmal hatte ihm irgendeiner der Männer das Leben gerettet, denn zu Rians Bedauern war er nur ein durchschnittlich begabter Schwertkämpfer.
Obgleich er auch während seiner Studien in Arrylhorn trainiert hatte, fehlten ihm schlicht die körperlichen Voraussetzungen, um es mit den besseren Schwertkämpfern aufzunehmen. Noch vor einem Jahr wäre ihm dies auch völlig egal gewesen. Es hätte für ihn keine Rolle gespielt, ob er zu klein, zu schmächtig oder schlicht unbegabt war. Sein Lebensziel war ein anderes gewesen. Er war ein Zauberer und auch wenn es genug Situationen gab, in denen ihm seine Kunst nichts nutzte, so war er durch ihre Anwendung oft genug so erschöpft, dass ihm die Kraft fehlte, um ein Schwert zu heben.
Sein Vater, der Heerführer und Verteidiger der Burg, hatte versucht ihn aus den Kämpfen herauszuhalten, jedoch war ihm das nicht immer gelungen. Vor allem in den letzten Tagen war auch Rian auf der Mauer gestanden und hatte sie mit seinem Schwert verteidigt. Er war fast ein Mann; in einem Jahr würde er volljährig werden, sofern er diesen Augenblick noch erleben würde. Er konnte sich nicht wie ein kleiner Junge hinter Frauenröcken verstecken.
Rian war klein für sein Alter. Kurz vor dem vergangenen Mittsommerfest war er sechzehn geworden, aber er sah jünger aus. Er war eher drahtig als muskulös, und wenn die vielen Stunden, die er in seiner Kindheit und Jugend auf dem Trainingsplatz oder im Sattel verbracht hatte, etwas bewirkt hatten, dann jenes, dass er kein Gramm Fett am Körper besaß. Als seine Tante noch gelebt hatte, hatte sie oftmals gesagt, dass er dürr wie eine Vogelscheuche war und ihm eine zusätzliche Portion auf den Teller gegeben. Gebracht hatte es freilich wenig. Die Zauberei erforderte so viel Energie, dass er gar nicht so viel essen konnte, wie er benötigte.
Der Jüngling war nicht so statthaft, blond und stark wie seine Cousins Bernaro und Ewan, deren Familienzugehörigkeit ganz klar und offensichtlich erkennbar gewesen war. Wie alle Storengards waren sie groß mit blondem oder braunem Haar und blauen Augen gewesen, gutaussehende Burschen, denen die Mädchen hinterhergesehen hatten.
Rian kam stattdessen nach seiner Mutter. Idra Meriwen war aus dem Tiefland in die Burg am Hohen Kerrin gekommen. Sein Vater hatte angeblich nur einen Blick auf sie geworfen und sich unsterblich in sie verliebt. Rian wusste nicht, ob das wahr war. Er hatte sie nicht gekannt, denn seine Mutter war bei seiner Geburt gestorben und Yoris Storengard hatte nie ein Wort über sie verloren.
Ewan hatte Rian erzählt, dass seine Mutter dunkles Haar gehabt hatte. Es sollte sehr lang gewesen sein und ein Blick aus ihren grünen Augen habe jeden Mann dazu gebracht sich ihr zu Füßen zu werfen. Insgeheim hatte Rian immer vermutet, dass sein Cousin ihn mit dieser Geschichte verspotten oder beleidigen wollte. Aus Ewans Mund hatte sich die Erzählung fast so angehört, als ob seine Mutter auch mit jedem Mann, der sie angehimmelt hatte, ins Bett gestiegen war. Bernaros Erinnerungen waren freundlicher und ihnen hatte Rian immer gerne gelauscht. Der Erbe Storengards hatte behauptet, dass Idra sehr schön und sie seinem Vater ebenso zugeneigt gewesen war, wie Yoris sie geliebt hatte. Bernaro war der ältere seiner beiden Cousins gewesen. Mehr als zehn Jahre hatten sie voneinander getrennt und der Erbe von High Kerrin war in den Augen des jüngsten Storengards viel klüger und vernünftiger als Bernaros nur wenige Monate jüngerer Bruder Ewan gewesen.
Nun waren aber beide tot und Rian würde sie nie wieder lachen oder Witze reißen hören. Sie würden ihren kleinen Cousin niemals wieder aufziehen können, dass er noch blind würde, wenn er weiterhin so oft die Nase in seine Lehrbücher steckte. Sie würden ihn niemals wieder auf dem Trainingsplatz herumscheuchen oder mit ihm auf die Jagd gehen. Ihre Leben waren ausgelöscht, genauso wie jenes ihres Vaters Everard, dessen Ermordung durch Ynesgarth der Ursprung dieses fürchterlichen, ungerechten Kriegs gewesen war.
Als sich einer der Gardisten neben ihm bewegte, zuckte Rian zusammen und blickte wieder nach vorne. Vrennard Ynesgarth stand mit zufriedenem Gesichtsausdruck neben dem Henker. Er hatte sein Ziel erreicht. Die Burg am High Kerrin war gefallen und das Land gehörte nun ihm. Von der Bevölkerung würde es kein Aufbegehren mehr geben, nachdem Vrennard alle Storengards ermordet hatte. Für wen sollten die Menschen kämpfen? Die meisten Lehnsmänner und Bannerträger waren ebenfalls tot oder besiegt. Sofern sie noch lebten, würden sie ihre eigenen Familien nicht gefährden, indem sie sich gegen die neuen Herren auflehnten. Rian machte ihnen keinen Vorwurf. In diesen Zeiten musste jeder sich selbst der nächste sein. Gegen die Übermacht der Ynesgarther hatten die kleinen Rittertümer nichts entgegenzusetzen.
Rian konnte Vrennard von seiner Position aus gut erkennen. Der Mann war groß und muskulös. Die kostbare Rüstung aus Metallringen und Leder trug er nicht nur zur Zierde. Er war ein brutaler Kämpfer, der Befriedigung dabei empfand seine Opfer leiden zu sehen. Sein Haar war bereits ergraut; er war nicht mehr der Jüngste, aber Rian wusste genau, dass er im Kampf gegen Vrennard nicht die geringste Chance haben würde.
Die Männer am Galgen zuckten noch immer. Rian blickte wieder zu seinem Vater und sah ihm bei seinem Todeskampf zu, bis Yoris sich endlich nicht mehr bewegte. Sein Anblick war kaum zu ertragen und dennoch konnte der Jüngling seine Augen nicht abwenden. Seine Qual brannte sich in Rians Gedächtnis ein. Der Halbwüchsige fühlte, wie sich der Wind drehte und rang um seine Selbstbeherrschung. Er spürte die Energien, die in den dunklen Wolken lauerten und ihn in Versuchung führen wollten. Sie wollten von ihm berührt und losgelassen werden. Sie tanzten am Rande seiner Wahrnehmung vor seinem geistigen Auge und lockten ihn, wollten ihm gefügig sein und sich wie ein Tuch aus weicher Seide um ihn ranken. Sie wollten ihn in ihrer Macht einhüllen, wollten ihm Sicherheit vorspielen und die Fähigkeit, die Vergangenheit ändern zu können, vorgaukeln. Magie war tückisch und man konnte ihr nicht trauen. Sie hatte, wenn man es so bezeichnen wollte, ein eigenes Bewusstsein und suchte sich stets den Weg in die sichtbare Welt. Sie wollte ihn dafür benutzen, dass er die magischen Kräfte entfesselte und seine Rache an Vrennard für all die Greueltaten nahm, die der Mann begangen hatte.
Die Meister in Arrylhorn betonten stets, dass Magie weder gut noch böse war. Erst die Zauberei der Menschen vollbrachte gute oder schlechte Taten. Rian, der mit der Fähigkeit der Wetterhexerei geboren worden war, sah das etwas anders. Es war mühsam die Kontrolle über seine Gabe zu erlangen und oft genug war er daran gescheitert, auch wenn seine Beweggründe ehrenhaft gewesen waren. Sie war ihm in der Vergangenheit mehr als einmal entglitten und hatte zu viel Schaden angerichtet. Die Unwetter, die er über die Truppen der Ynesgarther heraufbeschworen hatte, hatten den Storengarder fast ebenso viele Schwierigkeiten bereitet. Auch sie hatten Menschenleben verloren.
Rian wollte Vergeltung für den Mord an seiner Familie. Er wollte sie wirklich. Er wusste aber auch, dass er seine Kräfte nicht kontrollieren konnte. Das erste, das man als Lehrling in Arrylhorn lernte, war, dass die Selbstbeherrschung essentiell für das eigene Überleben war. Niemand war in der Lage jemals vollständig die Kontrolle über die Magie zu erlangen. Sie konnten ihre Energien anzapfen und bis zu einem gewissen Grad lenken. In einer Situation wie dieser hier auf dem High Kerrin? Rian würde die Burg in seiner Trauer und Wut in Schutt und Asche legen und sich und alle Menschen umbringen. Sein eigenes Schicksal war dem jungen Storengarder dabei fast egal, denn er hatte nichts und niemanden mehr, für den es sich zu kämpfen lohnte. Sein Haus war vernichtet, die Storengards von High Kerrin gab es nicht mehr. Das einzige, was ihn davon abhielt die Magie auf die Ynesgarther loszulassen, waren die anderen Menschen auf der Burg, für die er noch immer eine gewisse Verantwortung trug. Verhielt er sich ruhig, dann blieb den Männern, Frauen und Kindern das Schicksal ihres Herrn erspart. Er wollte gerne von sich glauben, dass er kein gewissenloser Mörder war, und deshalb kämpfte er um seine Selbstbeherrschung und verdrängte die Magie aus seinen Gedanken.
Der Gehängte neben Yoris war schneller gewesen. Rians grüne Augen wanderten so langsam zu ihm, als ob er nur unter Zwang zu ihm sah. Dort hing der Lord von High Kerrin. Bernaros Leid war gewiss nicht weniger schrecklich gewesen als das seines Onkels, aber seinem Cousin war zumindest die Gnade zuteilgeworden, dass es nicht so lange gedauert hatte. Er war sofort tot gewesen, als der Strick sich um seinen Hals verengt hatte.
Im Tod sahen sich Onkel und Neffe noch ähnlicher als im Leben. Ihr blondes Haar war dunkel von Schmutz und Blut, die Gesichter blau angeschwollen und die hellen Augen quollen rot unterlaufen hervor. Leblos, wie übergroße Puppen hingen sie dort oben am Galgen, so als ob sich ihre Glieder niemals geregt hatten. Sie waren ein Anblick, den Rian nie wieder vergessen würde.
Rian schluchzte auf. Er war nicht der einzige in der Menge, der heulte. Die Armee seines Cousins war vernichtet. Der Anblick ihres Herrn, wie er da am Galgen wie ein gewöhnlicher Verbrecher hingerichtet wurde, raubte den Menschen die letzte Hoffnung. Ohnmächtige Stille hatte sich auf dem Burghof breitgemacht. Gelegentlich hörte man jemanden schluchzen, ein Baby weinen oder einen Verletzten stöhnen, aber die Hinrichtung der Storengards hatte die Menschen zutiefst entsetzt und verzweifeln lassen. Selbst die Söldner, die zuvor noch gejohlt und gefeixt hatten, als Vrennard zu ihnen gesprochen hatten, waren stumm und beobachteten den Todeskampf der Gehängten gespannt.
Schon der Tod von Ewan, als er vor wenigen Wochen in die Hände der Ynesgarther gefallen war, hatte sich äußerst negativ auf die Moral der belagerten Burgbewohner ausgewirkt. Rians tapferer Cousin Ewan, der immer so stark und mutig gewesen war, hatte einen Ausfall gewagt und war in die Hände des Feindes geraten. Rian hatte hilflos mitansehen müssen, wie die Söldner über ihn und seine Soldaten herfielen und die Storengarder förmlich in Stücke rissen. Man hatte ihnen später Ewans Kopf mit einem Katapult über die Burgmauern geschossen. Das Entsetzen hatte Rian ebenso gepackt wie alle anderen Menschen und seitdem nicht wieder losgelassen.
Sein Vater hatte versucht ihm Mut zuzusprechen, aber Rian hatte die Zweifel und die Trauer in Yoris‘ ernsten blauen Augen bemerkt. Selbst sein Vater, der Heerführer Storengards, hatte nicht mehr an einen Sieg geglaubt. Rian hatte es in seinen Augen gesehen und in seinen Gedanken gelesen.
Yoris hatte Pläne gehabt sein einziges Kind von der Burg zu schaffen, aber Ynesgarth hatte diese mit seinem Sturm auf die Burg durchkreuzt. Eine seiner letzten Handlungen war es gewesen Rian in die Uniform eines einfachen Soldaten zu stecken und ihm zu befehlen sich gegen eine Gefangennahme nicht zu wehren. Yoris hatte gewusst, dass man ihn nicht am Leben lassen würde, doch für seinen Sohn hatte er Besseres gehofft. Ein Leben in Gefangenschaft war immer noch besser als gar kein Leben mehr. Da bekannt war, dass Yoris Storengards Sohn einige Jahre im Turm von Arrylhorn verbracht hatte, würde Ynesgarth vielleicht seinen Wert erkennen und Rians Leben verschonen. Einen Zauberer konnte man doch immer gebrauchen, selbst wenn man sich auf die eine oder andere Weise seine Dienste erzwingen musste. Yoris hatte an Rians Vernunft appelliert.
Doch der Heerführer hatte auch Vorkehrungen getroffen, um Rian die Flucht zu ermöglichen. Er hatte befohlen, dass man einem dunkelhaarigen Toten Rians prachtvolle Kleidung und Rüstung anzog und ihn zu den anderen Toten legte. Es war eher unwahrscheinlich, dass einer der Ynesgarther Rian jemals persönlich begegnet war. Wenn überhaupt, dann wussten sie, dass er Yoris nicht ähnlichsah, sondern das rabenschwarze Haar und die Augen seiner Mutter geerbt hatte. Mit dem dunklen Haar stach der Junge nicht aus der Masse der übrigen Burgbewohner hervor. Viele Bewohner des Hochlands waren dunkelhaarig und nur wenige so blond wie die Storengards.
Yoris hatte gehofft, dass man die Leiche mit Rian verwechseln würde und ihn ebenfalls für tot erklären würde. Es musste für seinen Vater eine Erleichterung gewesen sein, dass zumindest diese List, wenn schon nicht die Flucht seines Sohnes von der Burg, gelungen war. Vrennard Ynesgarth war noch vor Yoris‘ Hinrichtung vor die Menge getreten und hatte ihnen den angeblichen Leichnam des jungen Zauberers präsentiert, der ihnen mit seinen Unwettern den Feldzug so schwergemacht hatte. Es war ihm ein besonderes Vergnügen gewesen Yoris die Leiche seines toten Kinds unter die Nase zu halten.
Niemand hatte den Mund aufgemacht. Das rechnete Rian den Menschen hoch an, wusste er doch, dass sie keine Liebe für ihn empfanden. Einige wussten zweifelsohne, dass Rian noch am Leben war, aber kein Mensch hatte ihn verraten. Rian hatte die Gedanken der Menge aufgeschnappt. Er war nur ein schlechter Telepath, aber dafür hatte es gereicht. Viele glaubten wirklich, dass er tot war und jene, die es besser wussten, hielten ihm die Treue. Manche hatten Angst vor ihm gehabt und waren vielleicht ganz froh, dass der junge Zauberer nun auch tot war, auch wenn er seine Gabe eingesetzt hatte, um Ynesgarth zu bekämpfen. In ihren Augen war seine Zauberei jedoch widernatürlich oder zumindest so ungewöhnlich, dass sie davor zurückschreckten und Angst empfanden.
Dabei war Rian nicht einmal ein vollständig ausgebildeter Zauberer und niemand hier auf High Kerrin hatte jemals das volle Ausmaß seiner Macht miterlebt. Nicht einmal er selbst wusste, wozu er genau fähig war. Als er zwölf gewesen war, war seine Gabe erwacht. Eines Tages hatte er hohes Fieber bekommen und sein ganzer Körper hatte geschmerzt, als ob er in Flammen stand. Dünne Linien aus purer Energie hatten seinen Leib von oben bis unten überzogen, hatten seltsame Muster auf seine Haut gezeichnet und sich tief bis auf seine Knochen eingebrannt. Rasende Kopfschmerzen hatten das Erwachen ebenso begleitet wie der Sturm, der um die Burg getobt hatte. Blitze waren über den verdunkelten Himmel gezuckt und Schnee und Eis mitten im Hochsommer hatten die Ernte fast vernichtet.
Der Lord von High Kerrin hatte nach einem Heiler und Gelehrten aus Arrylhorn geschickt, der seine Vermutung bestätigt hatte. Seit mehreren Generationen hatte es keinen Zauberer mehr im Stammbaum der Storengards gegeben, deren Name sich von ihrer Macht in grauen Vorzeiten ableitete, als die Magie noch jung und so natürlich wie die Luft zum Atmen gewesen war: Storengard, die Wächter der Stürme. In jenen alten Tagen, so erzählten es die Legenden, waren die Berge und Flüsse und Täler erst im Entstehen begriffen und die allerersten Menschen hatten von den Göttern die Aufgabe erhalten über ihre Schöpfung zu wachen.
Rian war mit den Legenden und Sagen über seine Familie aufgewachsen und hatte sie vor seinem eigenen Erwachen immer für Märchen gehalten. Sie waren ohne Frage unterhaltsam für den Knaben gewesen, aber nicht mehr als spannende Geschichten, die man den Kindern an kalten Winterabenden am Feuer erzählte.
Natürlich gab es immer noch Magie und Zauberer. Das hatte Rian schon als Kind gewusst, auch wenn sich ins Hochland nur sehr selten ein Zauberer verirrte. Die Gelehrten in Arrylhorn und in den anderen Türmen leisteten wichtige Arbeit, um die Menschen durch die harten Winter zu bringen. Sie erhielten die Handelsstraßen und förderten Erze aus den Untiefen der Berge. Die Lords, die sich ihre Dienste leisten konnten, hielten sie sich an ihren Höfen, um in den Genuss ihrer Heilkunst zu gelangen oder um Botschaften in Windeseile von einem Ort zum anderen tragen zu lassen. Kriegsherren bedienten sich der Zauberer, um ihren Armeen einen Vorteil zu verschaffen. Rian wusste, dass es im Tiefland auch noch andere Türme außer Arrylhorn gab, doch gesehen hatte er sie nie. Nicht jeder dieser Türme war ein Quell der Zauberei, denn nicht alles, was der Bauer als Magie bestaunte, war übernatürlich.
Vieles, was die einfachen Menschen als Zauberei bezeichneten, war schlicht und ergreifend das Wissen über Handwerk und Technik, das die Gelehrten aus ihren Büchern lernten und zu ihrem Vorteil einsetzten. Wahre Magie kam aus dem Inneren des Zauberers und vermochte die Energien des Himmels und der Erde zu kanalisieren. Sie war gewaltig wie die Natur und es kostete den Zauberer alle Selbstbeherrschung, um sie zu bändigen. Es gab jene Menschen, die die Zauberei wie ein jegliches Handwerk bis zu einem gewissen Grad erlernen konnten und jene wie die edlen Geschlechter aus den allerersten Tagen, durch deren Adern die Macht der Götter floss. Nur ihnen gelang es einen Blick auf die magische Ebene zu erhaschen, die die Welt der Menschen von der Welt der Götter trennte. Ihnen war das Geschenk gemacht worden das magische Gewebe, den Aithyr, der alles miteinander verband, zu sehen und es für ihre Zwecke zu manipulieren.
Auf der Burg am High Kerrin hatte man schon seit Ewigkeiten keine wahre Magie mehr gesehen. Sie schien mit der Ermordung der letzten großen Zauberin Cathya Storengard vor mehr als hundert Jahren in ihrer Familie ausgelöscht zu sein. Bis Idra Meriwen, selbst aus einem altehrwürdigen Adelshaus stammend, die Blutlinie erneuert hatte.
Idra hatte teuer für die Begabung ihres Sohnes bezahlt. Bei seiner Geburt hatte ein bösartiger Sturm den High Kerrin heimgesucht und Bäume entwurzelt, Dächer abgedeckt und Häuser zerstört. Die Wetterhexerei war ein zerstörerisches Handwerk und Idras Körper war nicht stark genug gewesen, um der Zauberei eines durch seine Geburt verängstigten Neugeborenen standzuhalten.
All dies hatte Rian in den ersten Jahren seines Lebens nicht gewusst. Er war wie jeder andere Junge in diesen Friedenszeiten aufgewachsen, unbekümmert und geliebt von seinem Vater und seiner Familie. Er war ein Edler von Storengard gewesen, hatte reiten, kämpfen und lesen gelernt und war in den Sitten und Gebräuchen seiner Kaste geschult worden. Seit seiner Geburt hatte seine Gabe tief in ihm geschlummert und die Menschen hatten den Sturm und den Tod seiner Mutter als bedauerlich und tragisch, aber nicht unnatürlich angesehen. Die Bewohner der Burg hatten ihn gemocht und ihn auch ein bisschen verwöhnt, musste das arme Kind doch ohne Mutter aufwachsen. Ihre Zuneigung hatten sie ihm erst dann entzogen, als seine Gabe in ihm erwacht war. Obwohl sie stolz auf ihren Zauberer waren, war er ihnen unheimlich und die meisten froh gewesen, dass der Halbwüchsige seit dem Ausbruch seiner Gabe viele Monate fort von zu Hause im Turm von Arrylhorn verbrachte.
Rian musste sich glücklich schätzen, dass er nur einer von vielen auf dem Hof war und er aus der Masse der Menschen nicht herausstach. Um ihn herum in der Menge waren überwiegend Soldaten. Die Ynesgarther hatten die Frauen und Kinder auf die andere Seite des Burghofs gebracht. Nachdem ein paar der Storengarder Soldaten sich zur Wehr gesetzt hatten, hatten die Söldner wahllos einige Frauen und Kinder ausder Menge herausgeführt und umgebracht. Danach hatten sich die Gefangenen ruhig verhalten. Niemand wollte die eigenen Kinder und Ehefrauen oder die seiner Kameraden gefährden.
Bernaros Ehefrau war nicht unter den gefangenen Frauen. Sie hatte sich geschworen, dass sie nicht in die Hände der Söldner fallen würde und ihr Versprechen wahrgemacht. Sie hatte sich selbst den Dolch in die Brust gestoßen und war so der Schändung durch die Söldner entgangen. Vielen anderen Frauen war dieses Schicksal nicht erspart geblieben. Rian hatte ihre Schreie gehört, als die Feinde durch die geborstenen Mauern in die Stadt geströmt waren. Der Halbwüchsige hatte seinen Vater angebettelt ihn helfen zu lassen, aber Yoris hatte sich geweigert. Er war zu unerfahren gewesen, zu jung, zu unkontrolliert. Bei den letzten Kämpfen hatte Rian seine Gabe gegen die Söldner gerichtet, aber er hatte in den eigenen Reihen ebenfalls Schaden angerichtet. Vier Jahre des Studiums der Zauberei reichten nicht aus, um seine Magie zu beherrschen.
Geschwächt und benommen von dem Energieverbrauch, den die Zauberei ihn kostete, hatte Rian den Plänen seines Vaters nicht widersprochen. Er hatte die einfache Kleidung angezogen und sich in die Hände der treuesten Männer des Heerführers begeben. Sie hatten ihn durch einen Tunnel unterhalb der Burg in Sicherheit bringen sollen. Nur waren sie nie so weit gekommen. Auf dem Weg waren sie von Ynesgarther überrascht worden. Getreu des Befehls ihres Herrn hatten sie keinen Widerstand geleistet und sich gefangen nehmen lassen. Sie schützten Rians Leben, auch wenn es gegen ihre Ehre ging nicht zu kämpfen.
Nun standen sie hier auf dem Burghof und mussten mitansehen, wie der Lord und sein Onkel von Vrennard Ynesgarth ermordet wurden. Vrennard hatte bereits Bernaros Vater Everard ermordet. Er hatte ganz offen zugegeben, dass die Attentäter, die Everard getötet hatten, aus Kardrein stammten. Er hatte sich die Dreistigkeit leisten können, denn der Clan der Ynesgarths war mit den Kardreins von Caer Rekkard verwandt und gemeinsam hatten sie einen Pakt geschlossen den High Kerrin zu erobern. Kardrein brauchte Land. Der Winter war in den letzten Jahren hart und lang gewesen, die Ernten im Sommer zu karg und die Familienmitglieder zu zahlreich, um friedlich zu Hause am eigenen Herdfeuer zu sitzen. High Kerrin besaß einige fruchtbare Landstriche und dazu noch die Mine in den Bergen, die das kleine Land begehrlich gemacht hatten.
Niemand hatte damit gerechnet, dass Ynesgarth High Kerrin besiegen würde. Bernaro hatte das einzig Ehrhafte getan und Ynesgarth den Krieg erklärt. Woher hatte er auch wissen sollen, dass Vrennard und sein Vetter in Caer Rekkard diesen Krieg schon von langer Hand geplant hatten?
Vrennard Ynesgarth blickte zufrieden auf das armselige Gesindel hinunter. Ein Lächeln umspielte seine schmalen Lippen, das die Grausamkeit seiner Gesichtszüge noch unterstrich und die linke Gesichtshälfte, in der er eine Narbe vom Kinn bis zum Ohr besaß, seltsam verzerrte. Der Kriegsherr war bereits jenseits der Mitte seines Lebens, doch er hielt sich noch immer aufrecht und in Form. Er war hochgewachsen und schlank, die Muskeln an seinem Körper wohlproportioniert. Sie zeugten von vielen Stunden harten Trainings, in denen der Soldat sich nicht geschont hatte. Das Haar des Mannes war grau, aber noch voll, und der leichte Wind auf dem Burghof zupfte immer wieder an seinem dunklen Bart und den buschigen Augenbrauen. Auch die Augen waren grau und Vrennards Lächeln erreichte sie erst gar nicht. Seine Untergebenen wussten, wenn er auf diese Weise lächelte, dann war er auf Blut aus und sie gingen ihm lieber aus dem Weg.
Die Kleidung des Kriegsherrn zeugte von seinem hohen Stand. Er führte zwar eine Söldnerarmee, aber er selbst war von adligem Blut. Schon vor einigen Jahren hatte er sich die Dienste der Männer erkauft und sie nach seinem Willen geformt. Immer wieder hatte er Einheiten entlassen oder andere angeworben, die ihm in ihrer Gesinnung besser passten. Sie alle hatte er mit den versprochenen Schätzen gelockt, die tief im Berg Kerrin vergraben waren. Sein Plan war aufgegangen. Die Storengards waren allesamt so dumm und ehrenhaft gewesen, wie er es seinem Vetter Alfrad in Caer Rekkard versprochen hatte. Selbstverständlich hatten sie ihnen den Krieg erklärt, als Vrennard Everard ermorden ließ, ganz so, wie er es erwartet hatte. Die Storengarder waren ein leichtgläubiges Pack gewesen und oh, so überrascht. Als Bernaro begonnen hatte seine Bannerträger zu sich zu rufen, war die Ynesgarther Armee schon zwei Zehntage im Landesinnern gewesen. Vrennards Neffe Feynrik hatte erfolgreich mit einer kleinen Einheit in aller Stille die Feuerstationen zerstört, die zur Verteidigungsanlage von High Kerrin zählten. Wo keine Feuer brannten, drohte auch keine Gefahr. Nicht wahr?
Der junge Wetterhexer hatte ihnen ein paar Schwierigkeiten bereitet, als er Stürme in einer Intensität heraufbeschworen hatte, die sie überrascht hatte. Er hatte sie kurzzeitig aufgehalten. Durch die Wetterkapriolen waren sie bis zur Hüfte im Schlamm versunken und hatten Tage gebraucht, um sich aus dem Morast zu befreien. Das war sehr unangenehm gewesen und hatte die Laune des Kriegsherrn zum Leidwesen seiner Untergebenen auf einen neuen Tiefpunkt katapultiert. Vrennard hatte ein Drittel seines Nachschubs verloren sowie ein halbes Banner. Der Werinor war nachts über seine Ufer getreten und hatte Zelte, Menschen und Tiere mit sich gerissen. Vrennards Sohn Drann war unter den Opfern gewesen. Vrennard hatte sich für ihn einen besseren Tod gewünscht. Es war würdelos im Schlamm zu ertrinken. Drann hätte im Kampf sterben sollen, wie es sich für einen Krieger gehörte.
Hätte Bernaro seinem Zauberer erlaubt seine Magie weiter einzusetzen, dann hätte Ynesgarth tatsächlich ein Problem gehabt. Yoris‘ Welpe hätte sie effektiv aufhalten können, aber natürlich hatte der gute, rechtschaffene, unerfahrene Lord seinem Cousin verboten zu zaubern. Dieses Verbot würde für Vrennard vermutlich immer ein Mysterium bleiben. Was hatte sich Bernaro dabei gedacht? Hatte er irrsinnigerweise angenommen, er müsse die Schlacht ohne Magie führen, nur, weil Vrennards eigener Zauberer schon zu Beginn des Kriegs von einem Pfeil getroffen vom Pferd gestürzt war? Vrennard hatte Bernaro nach dessen Gefangennahme über die Gründe für dieses Verbot fragen wollen, aber in all der Hektik nach der Eroberung der Burg hatte er es vergessen. Nun waren die Storengarder allesamt tot und würden dieses Geheimnis mit in ihr Grab nehmen. Oder wohin auch immer, denn Vrennard würde seinen Feinden diese letzte Ruhestätte nicht gönnen. Er würde ihre Leichen weithin sichtbar ausstellen, um den letzten Widerstand in der Bevölkerung zu brechen. Es gab niemanden mehr, für den es sich zu kämpfen lohnte, das sollten alle begreifen.
Als der Kriegsherr die abgerissenen Gestalten auf dem Burghof musterte, bezweifelte er, dass sich dort neuer Widerstand formen würde. Die Soldaten waren ohne Anführer, ihre Herren entweder tot, in Gefangenschaft oder übergelaufen. Außerdem waren ihre Frauen und Kinder in der Gewalt der Ynesgarther Söldner.
Bei den Göttern, Vrennard war froh gewesen, dass der kleine Storengard-Hexer ausgebremst worden war. Das hatte ihnen den Sieg einfacher gemacht. Der Kriegsherr fand sich durch diese katastrophale Entscheidung von Lord Bernaro in seiner Meinung über diesen Clan bestätigt. Die Storengarder waren schwach geworden. Einst eine angesehene, mächtige Familie, waren sie zu irrsinnigen Hinterwäldlern verkommen. Es war ihnen ganz recht geschehen, dass sie vernichtet worden waren. Im Grunde, so dachte Vrennard es sich, als er sich die beiden gehängten Männer ansah, die noch immer in der Luft baumelten, waren sie an ihrem Schicksal selbst schuld gewesen. Es war ihm eine besondere Genugtuung gewesen die Leiche des Wetterhexers zu präsentieren. Er hatte die Tränen in den Augen der Storengards gesehen, als sie Yoris‘ Welpen erkannt hatten. Das hatte sie endgültig gebrochen.
Vrennard wischte sich ein paar Regentropfen von seinem Wams. Es wurde Zeit dieses Schauspiel zu beenden und es sich in seinen neuen Gemächern in der Burg bequem zu machen. Sein persönlicher Diener hatte gewiss schon ein heißes Bad für ihn vorbereitet und wartete darauf, ihm aus seiner Rüstung zu helfen. Er würde sich ein hübsches Mädchen aussuchen und Estoril den Rest der Arbeit überlassen. Er konnte dahingehend seinem Sohn vertrauen, dass er tat, was er ihm auftrug. Sein Ältester war immer schon folgsam gewesen.
Der Ynesgarther Kriegsherr hatte sich seit der Eroberung der Burg keine Ruhe gegönnt. Er hatte sich auch keine Zeit genommen sich umzuziehen, so begierig war er darauf gewesen seinen Sieg kundzutun. Noch immer klebte an seinem Umhang aus weißem Pelz Blut und an seinen hohen Stiefeln Dreck. Das mit Brokat verzierte Wams, das er über seinem Kettenpanzer trug, war dunkel vor Schweiß und Schmutz. Das Wappen Kardreins war darauf in Silberfäden eingestickt und er trug es voller Stolz. Er hatte seinem Clan den Sieg über die verhassten Storengards gebracht, die auf ihren Schätzen wie fette, nutzlose Tauben gehockt waren. Nun gehörte das Land ihm und er konnte es unter seinen Söhnen und Neffen aufteilen, wie es ihm beliebte. Vrennards Vetter in Caer Rekkard würde seinen Anteil verlangen, aber der Ynesgarther hatte nicht vor ihm die besten Stücke abzutreten. Seinetwegen konnte Alfrad die fruchtbaren Äcker haben. Dafür hatte er selbst nur wenig Verwendung. Er wollte die Eisenmine.
„Schneidet sie runter“, befahl Vrennard seinen Männern. „Schlagt ihnen die Köpfe ab und hängt sie an das Burgtor, damit sie jeder sehen kann.“ Er wandte sich an seinen ältesten Sohn, der in diesem Krieg tapfer gekämpft hatte und sich seinen Anteil an der Beute wahrlich verdient hatte. Estoril würde eines Tages sein würdiger Nachfolger werden. Vrennard hatte jedoch auch ein Auge darauf, dass sein Sohn nicht zu früh auf die Idee kam, dass er ihn beerben könnte. Leider hatte Bernaros Gemahlin es vorgezogen sich selbst zu töten. Er hätte sie seinem Sohn als Braut geschenkt, um ihren Anspruch auf den High Kerrin zu untermauern. Die Frau hatte mehr Mut durch ihre Tat bewiesen als ihr Ehemann. Bernaro hatte sich ergeben, weil Vrennard ihm versprochen hatte die Menschen zu verschonen. Wie leichtgläubig konnte man eigentlich sein? Er besaß bereits eine Festung im Herzen von Kardrein. Diese Burg am High Kerrin würde er vielleicht seinem Sohn oder einem Neffen schenken, aber im Grunde war sie unwichtig. Die Ynesgarther brauchten Arbeiter auf den Feldern und in der Mine, keine faulen Burgbewohner, die den ganzen Tag nichts anderes taten als ihm die Stiefel zu lecken. Ihre Leben waren wertlos für ihn.
„Teil die Frauen unter unseren Männern auf. Wenn sie sich weigern, töte ihre Kinder.“ Er ignorierte das angsterfüllte Wehklagen der Weiber, die seine Worte gehört hatten, und musterte stattdessen mit kritischem Blick die gefangenen Männer. Ein paar von ihnen sahen aus, als ob sie sich doch noch zur Wehr setzen wollten. „Die alten und schwachen Männer werden ausgesondert. Die Starken oder Unverletzten, die mir keine Treue schwören wollen, werden zusammengekettet und nach Erfrisal geschafft.“
„Nein!“ Ein verzweifelter Schrei gellte über den Burghof. Aller Aufmerksamkeit richtete sich auf die Gefangenen im hinteren Teil des Hofes. Es wäre für Vrennard schwierig gewesen den Mann in der Menge auszumachen, der seinen Widerstand hinausgebrüllt hatte, wären ihm die anderen Gefangenen nicht unbewusst zur Hilfe gekommen. Wie ein schwer gepanzerter Reiter mit seinem Schwert die gegnerischen Fußsoldaten niederritt und eine Schneise der Verwüstung hinterließ, so sprengte dieser Aufschrei eine Handvoll Soldaten entzwei, die von seinen Söldnern bewacht wurden. Kollektiv traten die Männer ein, zwei Schritte von dem Jungen fort, der gerufen hatte.
Der Kriegsherr musterte den Halbwüchsigen. Er sah alles andere als gefährlich aus. Ein kaltes Lächeln umspielte Vrennards Lippen. Er würde an dem Jungen ein Exempel statuieren. Wenn er mit ihm fertig war, dann würde keiner mehr wagen sich gegen ihn aufzulehnen. Der Ynesgarther gab seinen Männern ein Zeichen, dass sie den jungen Soldaten zu ihm bringen sollten.
Zwei Männer packten Rian und rissen ihn vorwärts. Der junge Storengarder setzte sich zur Wehr. In seinem Inneren spürte er, dass er einen Fehler gemacht hatte, und seine Eingeweide zogen sich vor Furcht zusammen. Er hatte die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, genau das, was sein Vater nicht gewollt hatte. Hätte er den Mund gehalten, dann hätte er eine Chance zum Überleben gehabt. Die Ynesgarther hatten ihn bisher nicht erkannt, doch nun war es mehr als nur wahrscheinlich, dass sie ihn erkannten. Doch das „Nein!“ war aus ihm herausgeplatzt, er hatte seine Empörung und seine Wut nicht länger für sich gehalten können. Er konnte nicht stumm und tatenlos danebenstehen und zusehen, wie die Menschen, die er kannte, versklavt, getötet oder vergewaltigt wurden. Irgendwer musste ihnen doch helfen!
Als Rian sich gegen den harten Griff der Söldner wehrte, hieb ihm ein Dritter mit dem Holzstab seines Speeres in die Kniekehlen, woraufhin Rian stürzte und den Händen der Männer fast entglitt. Sie brüllten ihn missvergnügt an und schlugen ihm auf den Kopf, um ihn gefügiger zu machen, und zerrten ihn nach vorne.
Keiner der anderen Gefangenen kam ihm zu Hilfe. Eingeschüchtert, vor Angst um ihre Familien und vor Erschöpfung erstarrt, beobachteten sie fast teilnahmslos, wie Rian zu Vrennard geschleift wurde. Die Menschen am High Kerrin waren gebrochen. In den letzten Monaten hatten sie viele Verluste zu erleiden gehabt. Sie hatten während der Belagerung gehungert und ihre Liebsten im Kampf verloren. Die Frauen waren vergewaltigt worden und ihr Lord vor ihren Augen ermordet worden. Einige erkannten Rian, aber in ihrer Hoffnungslosigkeit schritten sie nicht ein; zu groß war die Furcht vor dem Feind, der ihnen gerade eben ein fast schlimmeres Schicksal als den Tod verkündet hatte: wer weder arbeiten noch gefällig sein konnte, wurde in die Sklaverei verkauft. Rians Vater und sein Vetter hatten sich für diese Menschen völlig umsonst geopfert. Ynesgarth würde sie alle nicht verschonen, ganz gleich, welche Bedingungen Bernaro ausgehandelt hatte.
Vor der Tribüne aus Holz, auf der in aller Eile der Galgen aufgebaut worden war, blieben sie stehen. Einer der Söldner stieß Rian wieder in die Knie, so dass er in den Schlamm fiel. Er griff in sein schulterlanges Haar, an dem er den Kopf des Halbwüchsigen zurückriss, damit er zu Vrennard hoch sah. Kurz huschte Rians Blick zu der Leiche seines Vaters, doch dann hefteten sich seine Augen auf den Kriegsherrn und dessen Sohn, die den toten Stornegardern den Rücken zugekehrt hatten.
Estorils Lächeln war fast so grausam wie das seines Vaters. Der Mann war etwa dreißig, mit dunklem, kurzen Haar und grauen Augen. Er war bis auf den weißen Pelzumhang ähnlich gekleidet wie Vrennard. Im Kampf hätte ihn ein Umhang nur behindert, daher zog er es vor ohne selbigen in die Schlacht zu gehen. Im frischen Wind auf dem Burghof fröstelte er etwas, aber er würde keine Schwäche zeigen und sich seinen Umhang bringen lassen. Er konnte sich die Verachtung seines Vaters für diese Handlung gut genug vorstellen. „Es sieht so aus, als ob die Storengarder unbelehrbar sind“, meinte er an seinen Vater gewandt. Er zeigte ein zähnefletschendes Grinsen. „Wir haben doch schon ein paar ihrer Frauen hingerichtet, weil sie sich gewehrt haben.“
Der Kriegsherr ignorierte die Worte seines Sohns und musterte den gegnerischen Soldaten. Er war kaum mehr als ein Kind, was ihn jedoch nicht wunderte. Er hatte viele Halbwüchsige und auch einige Greise unter den toten Storengardern gesehen, die ihre Uniform mehr schlecht als recht ausgefüllt hatten. Zum Ende der Belagerung waren nicht mehr genug Soldaten übriggeblieben, um die Burgmauern zu bemannen, so hoch waren die Verluste der Verteidiger gewesen. Bernaro hatte daher jeden, der ein Schwert aufheben konnte, auf die Zinnen geschickt.
„Ihr habt es versprochen“, brach es aus Rian hervor. „Ihr habt Bernaro Euer Wort gegeben. Wenn er sich Euch ergibt, wird niemandem mehr etwas geschehen!“ Er wusste, er redete sich um Kopf und Kragen, aber ein Zurück gab es jetzt nicht mehr. Voller Angst hämmerte sein Herz in seiner Brust, doch trotzig starrte er zu Vrennard hinauf. Er würde sterben, aber er wollte verdammt sein, wenn er sich der Willkür des Feindes ergab!
Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie sich der Wind wieder drehte. Das Banner Kardreins, das die Ynesgarther im Burghof gehisst hatten, riss es im jähen Windstoß herum und flatterte nun in die andere Richtung. Es war aus schwerem, roten Samt gefertigt und führte einen silbernen, stehenden Berglöwen als Wappentier. Die Kriegsstandarte war aus robustem Material gewebt, aber dennoch reich mit silbernen und roten Quasten verziert.
Als Kind hatte Rian gelernt die Wappen der Edlen in den Bergen und im Tiefland auseinanderzuhalten. Er wusste, welchen Anspruch die Kardreins mit diesem Banner erhoben. Der Berglöwe war das stärkste und gefährlichste Tier im Hochland. Im Winter, wenn sein Fell weiß wie Schnee glänzte, war das Raubtier kaum zwischen den schneebedeckten Hängen auszumachen. Deutlich größer als ein Wolf, riss ein Berglöwe auch Menschen, wenn sie ihm in die Quere kamen. Es gab kein tödlicheres oder schlaueres Tier im Hochland.
Es hieß, Vrennard Ynesgarth habe in jungen Jahren mit bloßen Händen einen Berglöwen getötet und sich aus seinem Pelz einen Umhang gemacht. Nachdem er den Mann im Kampf gesehen hatte, war Rian inzwischen geneigt dieses Gerücht zu glauben.
Rian zwang sich nicht den Kopf zu drehen und zum Banner zu blicken. Er konnte die Magie sowieso fühlen ohne hinzusehen. Zudem, hätte er sich von Vrennard abgewandt, dann hätte er sich sehr verdächtig verhalten. Dennoch, und obgleich er ganz gewiss in Lebensgefahr schwebte, war es schwer sich auf den Ynesgarther Kriegsherrn zu konzentrieren. Die Magie tanzte am Rande seines Gesichtsfelds herum wie Schneeflocken in einem wilden Wintersturm. Sie piesackte ihn, zog und zerrte seinen Geist in alle Richtungen und versprach ihm wortlos die Lösung all seiner Probleme und Vergeltung für den Mord an seinem Vater, wenn er sie nur frei ließ.
Estoril trat vor und schlug Rian mit dem Handrücken quer über das Gesicht. „Eine Kriegslist“, höhnte der Ynesgarther. „Mehr nicht! Wir hätten euren schwächlichen Widerstand auch so gebrochen.“
Rians Kopf flog zur Seite. Der Schmerz durchzuckte den Jüngling und er konnte Blut schmecken. „Ihr habt keine Ehre!“, hielt ihm der Storengarder mit Tränen in den Augen entgegen. Er stürzte in den Schlamm, als ihn Estoril wieder schlug, einmal, zweimal. Grobe Hände griffen nach ihm und hielten ihn fest, während der Ynesgarther ihn verprügelte.
„Das reicht.“ Vrennards kühle Stimme stoppte den nächsten Hieb. Schwer atmend hing Rian zwischen den beiden Söldnern. Er hörte, dass sich Vater und Sohn unterhielten, aber er verstand ihre Worte nicht. Er kämpfte darum bei Bewusstsein zu bleiben. Er spürte, dass ihm ein Auge zuschwoll und aus seiner Nase tropfte Blut, während sich seine Eingeweide anfühlten, als hätten sie Feuer gefangen. In seinen Ohren klingelte es und er hörte ein Rauschen, von dem er glaubte, dass es sein eigenes Blut in seinen Adern sein musste.
Es dauerte einen Moment, bis Rian registrierte, dass das Rauschen nicht aus seinem Innern kam. Der Lärm kam vom Wind.
Rians Blickwinkel verschob sich, als er den Kopf wieder hob. Die Farben verblassten und die Menschen wurden zu grauen Gestalten, deren Bewegungen seltsam verschwommen und verlangsamt waren. Keiner der Anwesenden besaß einen Funken Magie im Leib, sonst hätte er das in diesem Moment bemerkt. Wie ein Leuchtfeuer hätte die Begabung inmitten all dieser blassen Kreaturen herausgestochen.
Es gab Möglichkeiten, sich und seine eigenen magischen Fähigkeiten zu verschleiern. Der junge Zauberer hatte ein Buch darüber gelesen, aber diese Technik wurde in Arrylhorn nicht gelehrt. Wieso sollte sich ein Zauberer auch vor anderen Zauberern verstecken wollen, wenn er nichts Böses im Schilde führte? Rians Turm bildete keine Kriegszauberer aus. Arrylhorns Augenmerk lag auf den praktischen Dingen. Als nördlichster Turm versorgten die Magister die alltäglichen Bedürfnisse der Edlen und freien Städte im Hochland, bauten und erhielten Straßen und Brücken oder schickten Nachrichten in Windeseile ins ferne Küstenland. Der Turm hatte einen hervorragenden Ruf als Ausbildungsstätte für Heiler, Mechaniker, Alchimisten oder andere Gelehrte. Mit seiner Wettermagie war Rian selbst ein Exot unter den Zauberern gewesen. Auf der ganzen Welt gab es nur eine Handvoll Menschen, die diese Gabe besaßen. Wie jeder Turm hütete Arrylhorn jedoch eifersüchtig seine Schätze und hatte den jungen Storengarder nicht zu fremden Zauberern geschickt, selbst wenn diese geeigneter gewesen wären ihn zu unterrichten.
Da Rians telepathische Fähigkeiten kaum der Rede wert waren, konnte er seinen Geist nur unter Schwierigkeiten mit den Gedanken anderer Zauberer verbinden. Deshalb war ihm ein gemeinsames Arbeiten in einer Forschergruppe im Turm versperrt. Mehr als einmal hatte Magister Merrik diesen Umstand bedauert, denn Rians Wetterhexerei kam einher mit der Befähigung den Aithyr in all seiner Herrlichkeit zu erblicken. Die Blitzenergie, die der junge Storengarder erzeugen konnte, entnahm er direkt der magischen Ebene und kanalisierte sie durch sich hindurch. Die meisten Zauberer konnten den Aithyr zwar für ihre Zwecke anzapfen und die Energien lenken, doch nur etwa die Hälfte von ihnen vermochte es in diese Ebene zu blicken. Vor Rians innerem Auge war der Aithyr nur einen Wimpernschlag entfernt.
Der Aithyr war ein feines Netz aus Magie, ähnlich einem hauchdünnen Gewebe aus Milliarden Fäden. Er durchdrang alles und verband die Lebewesen mit ihrer Umwelt. Es hieß, dass die Götter den Aithyr geschaffen hatten, um ihre Welt von der der Sterblichen zu trennen. Je nachdem, welcher Priesterschaft man zuhörte, war der Aithyr ein Segen oder ein Fluch für die Menschheit. Ein Segen, weil er den Menschen von den Göttern geschenkt worden war, um ihr schweres und kurzes Leben zu erleichtern. Manche Priester, vor allem jene des Solwyrs, behaupteten, dass der Aithyr die Menschen vor bösen Geistern oder gar Dämonen aus Anaeuns Totenwelt schützte. Die Priesterschaft Anaeuns wiederum behauptete, es gäbe gar keine Dämonen und alles Übel auf der Welt entstehe durch den freien Willen, den die Götter allzu leichtfertig der Menschheit geschenkt hatten.
Rian waren die Theorien der Priester geläufig. Als Lehrling Arrylhorns hatte er sie lernen müssen, doch sie hatten ihn nicht besonders beeindruckt. Er war nicht religiös und er hatte auch niemals irgendwelche Wesen gesehen, die den Aithyr heimsuchten. Soweit ihm bekannt war, hatte auch kein anderer Zauberer jemals einen Dämon oder bösen Geist gesehen. Das waren, so wurden die Magister Arrylhorns nicht müde zu erklären, alles nur Gerüchte oder Verleumdungen, mit denen adlige Herrschaften die Gelehrten unter Druck setzen wollten. Seine Ururgroßmutter Cathya war ein Opfer jener politischen Ränkespiele gewesen, als sich im letzten großen Bauernaufstand – Solwyrs Priester nannten ihn Dämonenkreuzzug – das gemeine Volk gegen die Zauberer gewandt und sie bei lebendigem Leib verbrannt hatte.
Die Fähigkeit den Aithyr zu erblicken, hatte jedoch auch ihren Preis. Rians weltliche Sinne traten in den Hintergrund, wenn er die Augen in die magische Ebene erhob. Er sah und hörte nicht, wie zum Beispiel ein Heiler, das schlagende Herz eines Menschen, wenn seine Magie wirkte. Heiler verblieben in der Regel mit all ihren Sinnen in der menschlichen Welt und konnten den Aithyr nur auf begrenzte Weise erfassen.
Rian dagegen hörte keinen Laut, kein Geräusch drang an seine Ohren. Er wusste, er befand sich noch immer auf dem Burghof und um ihn herum waren andere Menschen. Ihre körperlichen Hüllen waren vor seinem Auge verschwommen. Rian konnte sie nur voneinander unterscheiden, weil ein jeder von ihnen vom magischen Gewebe durchdrungen wurde. Tausende Fäden, feiner noch als ein Haar, umgab sie und verband sie miteinander.
Er spürte die feinen Veränderungen in der Strömung der Luft, noch bevor Estoril mit dem Zeigefinger auf ihn deutete. Er fühlte, wie sich die Fäden des magischen Gewebes, das den Ynesgarther umgab, rasch veränderten, als der Mann plötzlich einige Schritte vor ihm zurückwich.
Rian hatte versucht seine desaströse Magie zu unterdrücken, aber er verlor den Kampf. Sein Wille war nicht stark genug den Verlockungen der Magie länger zu widerstehen. Er wollte es auch gar nicht mehr.
Sein Bewusstsein erweiterte sich, wechselte in den Aithyr, wo die Magie beheimatet war und aus der die Energie in ihn fließen konnte. Er war aufgewühlt, empfand Schmerz, Trauer und so unbändigen Hass, wie er noch nie zuvor gefühlt hatte. Die Selbstbeherrschung, die er so mühsam versucht hatte aufrechtzuhalten, entglitt ihm. Magie auszuüben bedeutete immer sich selbst kontrollieren zu müssen. In diesem furchterregenden Augenblick gelang es dem Halbwüchsigen nicht.
Im ersten Lehrjahr in Arrylhorn hatte er gelernt sich zu beherrschen. Er hatte ein ganzes Jahr gebraucht, bis er es halbwegs verstanden hatte nicht bei jeder Gelegenheit, wenn er emotional erregt gewesen war, nach der Magie zu greifen.
Seine Tante hatte sich besorgt gezeigt, als er zu Mittwinter nach Hause gekommen war. Aus dem fröhlichen Kind, das vor seinem Erwachen im Spiel durch die Burg getobt war, war ein ernster Junge geworden, der ihrer Meinung nach viel zu still und zurückhaltend gewesen war. Ewan hatte ihn aufgezogen, dass er im Turm das Lachen verlernt hatte, doch seine neue Reserviertheit war schlicht und ergreifend eine Konsequenz seines Unterrichts gewesen. Er hatte auf durchaus schmerzhafte Weise gelernt, was es bedeutete die Kontrolle zu verlieren und wusste, wie gefährlich ungezügelte Magie war.
In den letzten vier Jahren hatte ihn jedoch kein Ereignis und keine Lehrstunde im Turm darauf vorbereitet, was er in den vergangenen Tagen erlebt hatte. Das Chaos in seinem Innern war viel zu groß, die körperlichen Schmerzen zu gewaltig und die Gefühle zu übermächtig, als dass er sich noch länger beherrschen konnte. Seine Wut brach aus ihm heraus wie ein aufgestauter See, der durch seinen Damm brach. Alle, die er geliebt hatte, waren umgebracht worden, seine Heimat erobert und die Burg halb zerstört. Er hasste die Ynesgarder mit einer Inbrunst, die ihn selbst erschreckt hätte, hätte er innegehalten, um nachzudenken. Doch die Zeit des Denkens war vorbei. Es war zu viel passiert, zu vieles geschehen. Er wollte Vrennard zur Rechenschaft ziehen, wollte seine Vergeltung für den Mord an seiner Familie und es war dem Halbwüchsigen in diesem Moment auch egal, ob er die übrige Welt ebenfalls aus ihren Angeln riss, solange Ynesgarth seine gerechte Strafe erhielt.
Als Vrennard den Mund aufmachte, um etwas zu rufen, hörte Rian seine Worte nicht. Ihr Schall spiegelte sich im magischen Gewebe, das ihn umgab, wider. Die Fäden zogen sich innerhalb kürzester Zeit zusammen und entspannten sich, je nachdem, welchen Laut der Kriegsherr von sich gab. Es gelang Rian zu erahnen, was der Mann sagte.
„Das ist der Wetterhexer!“, brüllte Vrennard seine Söldner an. „Tötet ihn!“
Die Männer, die ihn festhielten, kamen dem Befehl ihres Kriegsherrn aber nicht nach. Sie ließen Rian stattdessen erschrocken los. Ihr schmerzhaftes Aufkeuchen bekundete ihm, dass die Magie durch ihn hindurchfloss und ihre Macht entfaltete. Er wusste, dass sich um ihn, sobald sich die Magie in der körperlichen Ebene manifestiert hatte, ein Schild aus purer Energie formte. Es war nicht leicht einen Zauberer zu töten, während er von Magie umgeben war, denn sie schützte ihr Gefäß und sorgte dafür, dass dieses selbst von den Auswirkungen der magischen Kräfte nicht betroffen war.
Ließ ein Zauberer Feuer auf seine Feinde niederregnen, dann konnten die Flammen dem Mann nichts anhaben. Leitete eine Zauberin Energien durch sich hindurch, um einen Menschen zu heilen, dann tötete sie der Energiefluss nicht, auch wenn die ungewollte Berührung durch einen anderen Menschen diesem Schaden konnte.
Die Magie, die von ihrer körperlosen Ebene stets ihren Weg in die gewöhnliche Welt suchte, verhinderte bis zu einem gewissen Grad auch schädlichen Einfluss von außen und wehrte sich gegen direkte Angriffe. Ein fehlgeleiteter Pfeil jedoch konnte nicht ohne weiteres aufgehalten werden, wenn der Zauberer nicht selbst aktiv Vorkehrungen dagegen traf.
Im vierten Lehrjahr hatte Rian gelernt mit äußeren Einflüssen umzugehen, die während seines Wirkens auftreten konnten. Im Spiel und in einem streng kontrollierten Umfeld hatten die jungen Lehrlinge im Turm versucht sich gegenseitig an der Ausübung ihrer Magie zu hindern. Es kam bei solchen Übungen immer wieder zu Unfällen, je nachdem, wie gut die Schilde waren, die der Zauberer aufbauen konnte. Rian, dessen natürliche Begabung es war die magischen Fäden zu manipulieren, um ihre Energie gewaltsam in Blitzen und Stürmen zu entladen, war gut darin gewesen sich zu schützen. Mehr als einmal hatten sich seine Mitschüler bei ihren Magistern darüber beschwert, dass er ihnen einen zu heftigen elektrischen Schlag verpasst hatte, wenn sie versucht hatten seine Verteidigungsmaßnahmen zu durchdringen.
Die Schilde bauten sich bei ihm auch dieses Mal sehr schnell auf. In nur wenigen Augenblicken schützten sie den Storengarder. Bei anderen Zauberern dauerte es durchaus länger. Ein Heiler blickte zuerst tief in den Körper seines Patienten hinein, bevor er die Energien fließen ließ. Von Natur aus widerstrebte es dem Heilkundigen andere Menschen zu verletzen, daher war die Schildtechnik etwas, das er mühsam erlernen musste. Der Heiler, der sehr behutsam seine Magie lenkte, um dem Kranken nicht noch mehr zu schaden, wollte gar keine Abwehr errichten.
In der kurzen Zeitspanne, in der die Magie noch nicht vollständig in den Zauberer geflossen war, sowie direkt nach dem Einsatz der magischen Kräfte, war der Zauberer am verwundbarsten. Verletzte man einen Zauberer, bevor seine Schilde aufgebaut waren, wurde die Magie in den Körper des Zauberers gelenkt, der oft genug den gewaltigen Energien nicht standhalten konnte und daran zugrunde ging.
Die Manifestation der Magie war in Rian jedoch zu schnell geschehen, als dass die Ynesgarther reagieren konnten. Er hatte sie überrascht und der junge Mann hatte instinktiv den Moment genutzt, um sich vor ihnen zu schützen.
Rian stand auf; die Magie gab ihm dort Kraft, wo er noch wenige Augenblicke zuvor schwach und schmerzerfüllt am Boden gelegen hatte. Der junge Zauberer wusste, dass die Söldner vor seinem Anblick zurückgewichen waren. Bernaro hatte ihm einmal beschrieben, wie er aussah, wenn die Magie durch ihn wirkte. Seine Augen glühten hell, als ob sich das gleißende Licht der Blitze in ihnen spiegelte und das Haar stand ihm zu Berge. Die Menschen konnten die Schutzschilde sehen, die ihn umgaben, flimmernde winzige Blitze und flackernde Lichter, die über seinen Körper huschten, als ob er in Flammen stand. Gewiss war er für das einfache Volk eine ganz und gar grausige Erscheinung. Daher war es kein Wunder, dass sie ihn fürchteten.
Ein lautes Grollen war zu hören. Es stieg aus Rians Kehle empor und fand seinen Widerhall in den schwarzen Wolken, die den trüben Himmel schlagartig verdunkelt hatten. „Ihr werdet niemanden mehr umbringen“, wütete der Jüngling und ließ seinen Hass auf die Ynesgarther freiem Lauf. „Ihr werdet für den Mord an meiner Familie bezahlen!“
Blitze zuckten über den Himmel. Rian griff mit seinem Geist in den Aithyr hinein und lenkte die Bewegung der Fäden um. Es war ein äußerst schwieriges Unterfangen, denn der Lauf der Blitze war kaum zu kontrollieren, so schnell huschten sie über den Himmel. Einige von ihnen fanden jedoch ihr Ziel. Aufgestachelt durch Rians Hass und Wut, schlugen sie im Feldlager der Ynesgarther ein, das noch immer vor den zerstörten Toren der Burg lag. Einmal, zweimal, dreimal, unzählige Male brach ihre tödliche Energie über die feindliche Armee herein. Der junge Zauberer konnte die Erschütterungen spüren, die die Einschläge verursachten.
Feuer brach im Lager aus und weitete sich rasch auf die Zelte aus. Mensch und Tier hatten der rasenden Wut nichts entgegenzusetzen. Chaos herrschte überall; im Lager und auch auf der Burg, wo die Menschen in alle Richtungen flohen und versuchten Schutz zu finden.
Rian hörte keinen Laut. Vor seinem geistigen Auge sah er die Einschläge, aber er konnte die Schreie der Menschen nicht hören. Nun, da die Magie wusste, was er von ihr wollte, lenkte sie sich selbst und vollbrachte mit nur allzu großer Freude und Begeisterung ihr Werk der Zerstörung. Die Erkenntnis, dass auch seine eigenen Leute von seinem Rachewahn erfasst wurden, sickerte nur langsam in seine Gedanken. Der Hass auf Vrennard war größer gewesen als seine Sorge.
Als sich das Kriegsbanner der Ynesgarther aus seiner Halterung löste und im Sturm herumgeschleudert wurde, lenkte es Rian ab. Er beobachtete, wie der Wind am Banner riss und zerrte, bis es hoch über ihre Köpfe geschleudert wurde und wieder zu Boden sauste. Der Zauberer konnte den Todesschrei des Mannes nicht hören, in dessen Körper sich das Banner bohrte, aber er fühlte im magischen Gewebe seine zuckenden Bewegungen, bevor sie abrupt aufhörten. Der Mann war einer seiner eigenen Leute gewesen. Er war ein Soldat Storengards gewesen. Er hätte nicht sterben dürfen.
Rians Blick richtete sich auf die Schemen im Burghof. Menschen liefen in Panik umher. Vrennard erkannte er nicht, aber dessen Sohn Estoril stand nicht weit entfernt und brüllte seine Söldner an. Die meisten feindlichen Soldaten hatten ihre Posten verlassen und die Storengarder Bevölkerung ihrem eigenen Schicksal überlassen. Sie desertierten im Angesicht der Magie, die sie auszulöschen gedachte, und rannten um ihr eigenes Leben.
Eine Handvoll Männer hatte sich um Estoril geschart. Mit Pfeilen und Armbrüsten, Speeren und Schwertern versuchten sie Rians Schilde zu durchdringen. Er spürte die Einschläge. Seine Schilde waren stark, aber er hatte sie noch nie auf diese Weise erprobt. Würden sie ihn schützen, bis ihm keine Gefahr mehr drohte?
Hass auf diesen Ynesgarther gab Rian wieder Kraft, obwohl er fühlte, wie die Magie ihn innerlich ausbrannte. Irgendwann würde ihn sein Körper in Stich lassen. Er hatte nur wenig gegessen in den letzten Tagen und ihm fehlten die physischen Voraussetzungen längere Zeit diese gewaltigen Energien zu lenken und zu leiten. Doch die Wut überwog. Sie entzog ihm die Kontrolle über sich selbst und ließ ihn Dinge vollbringen, die er selbst nicht für möglich gehalten hatte. Keiner seiner bisherigen Stürme war so brutal, so tödlich gewesen. Es war dem Jugendlichen in diesem Moment egal, ob er sterben würde, wenn er Estoril und Vrennard und alle ihre Gefolgsmänner nur ebenfalls in den Tod schicken würde.
Rian griff wieder in den Aithyr hinein und schrie auf, als ihn ein Blitz durchfuhr. Seine Schilde fielen in sich zusammen und dehnten sich urplötzlich aus. Die Energie, die durch Rian geleitet wurde, riss die Menschen in seinem direkten Umfeld von den Füßen. Der junge Mann konzentrierte sich und richtete seinen Blick auf Estoril. Wie alle anderen lag er am Boden, doch Rian konnte spüren, dass er nicht tot war. Noch nicht.
Wieder berührte der Zauberer die Fäden und verdichtete sie. Er drückte sie zusammen und formte sie zu einem Ball aus reiner Energie. Wut überkam ihn und er riss so viele Fäden aus ihrer natürlichen Beschaffenheit, wie er sie in seinen Händen halten konnte. Als der nächste Blitz ihn traf, schleuderte Rian die Kugel auf Estoril und beobachtete mit tiefster Zufriedenheit, wie der Mann im grellen Licht der Blitze zuckte und als verkohlte Leiche zu Boden fiel.
Tag der Veröffentlichung: 14.12.2017
Alle Rechte vorbehalten