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Dieser Gedanke: Ich kann alleine leben und ich kann alleine sterben. Ich habe die Kraft dazu.

Kurz bevor ich nach Frankreich fuhr, war ich auf einem Konzert. Und auf diesem Konzert, als die traurigen, aber kraftvollen Lieder sich durch meine Gehörgänge wanden und ich vom Alkohol schon leicht beduselt war, glaubte ich plötzlich, einen Moment der absoluten Wahrheit erlangt zu haben. Inmitten des von künstlichen Nebelschwaden verhangenen Konzertsaals dämmerte es mir. Erst langsam, ganz langsam, dann aber umso nachhaltiger. Dieser Gedanke, der sich aus weiter Ferne zu mir aufmachte, in mein Bewusstsein, und dort schließlich, einer dampfenden, einer schnaufenden Lok gleich, zum Stehen kam.

Es war nicht ersichtlich, welche der älteren Herrschaften ihre Eltern waren. Zuerst fiel mir die Zigarette zwischen ihren jungen Fingern auf. Und natürlich, dass es niemanden zu kümmern schien. Ein sechzehnjähriges, rauchendes Mädchen. Die im angrenzenden Raum der gemütlichen Bar versammelten Damen und Herren machten den Eindruck, als kämen sie aus verschiedenen Berufszweigen. Eines aber schienen sie alle gemeinsam zu haben: Das Bewusstsein, zur Elite zu gehören. Wie sie alle dort standen: Die einen lässig an die Theke gelehnt, die anderen bedächtig tanzend, wiederum andere genüsslich rauchend, alle individuell und schick gekleidet. Mir wurde klar: Versammelt waren Künstler, Ärzte, Rechtsanwälte, Lehrer und Unternehmer. Alle versprühten sie einen Hauch von Egozentrik, von Klasse und Stil, ostentativ zur Schau getragen. Ich jedoch hatte sehr bald nur Augen für das Mädchen. Für das junge Pariser Mädchen.

Das Leben gleicht manchmal einer Filmvorschau. Denn: Wie oft schon habe ich im Kino die einminütige Vorschau eines Films gesehen und war entzückt. Die musikalische Untermalung, die atemberaubend schönen Bilder, die spannende Verdichtung der erzählten Geschichte. Doch sobald ich den Film zwei Monate später im Kino gesehen hatte, kam nicht selten die Enttäuschung. Der Film konnte die in der Vorschau gemachten Versprechungen nicht halten, zu viele quälend langweilige Szenen und ausufernde Ideen des Regisseurs hatten den Streifen seiner Kurzweil und Spannung beraubt.
Aber, um auf den Punkt zu kommen, was ich eigentlich sagen will, ist dies: Ist unser Leben nicht ebenso? Läuft in unserem Kopf nicht auch ständig die Vorschau auf ein tolles, geniales Leben ab? Rücken wir die kommenden Ereignisse unseres Lebens nicht so ins Licht, dass sie spannend und unterhaltsam und kurzweilig sind? Und sind wir nicht immer enttäuscht angesichts unseres wahren Lebens, das die vorab gemachten Vorstellungen unserer Phantasie nicht erfüllt?

Was ich wollte, was ich in ihr suchte, war klar. Natürlich, eine Romanze. Eine Affäre, und warum nicht mit diesem hübschen, jungen Mädchen, welches wohlerzogen und klug schien und die großen, warmen, braunen Augen eines Rehkitzes hatte?
Ich war gerade zweiundzwanzig, der Altersunterschied war nicht gravierend. Ich sprach ein hervorragendes Französisch, ich sah also nicht ein, warum ich nicht versuchen sollte, sie mit dem zu beeindrucken, der ich war: Mit den sechs Jahren mehr Lebenserfahrung, mit meiner Intelligenz, meinem Charme, meinen Kenntnissen der Grande Nation Frankreich. Wie oft hatte ich schon Geschichten gelesen, die diesen Wunschtraum aller Männer hemmungslos auslebten. Die Verführung eines jungen Mädchens. Gibt es etwas Schöneres, als die Schönheit zu erobern, anstatt sie nur zu betrachten?
Nun besaß ich nicht wirklich Routine, aber zumindest eine gewisse Erfahrung, wenn es darum ging, mir unbekannte Mädchen anzusprechen. Die Frage nach Feuer bot sich hier an, schließlich rauchte sie, aber dennoch glaubte ich, dass eine solche Taktik von diesem Mädchen als plump erachtet werden würde. Mein Ziel war es, unser Zusammentreffen, unseren ersten Wortwechsel zufällig und dennoch bedeutsam wirken zu lassen. Es musste sich irgendwie eine Situation ergeben, in der wir in dieser Bar zusammentreffen könnten. Ich hätte warten können, bis sie zur Toilette ging, um dann den richtigen Moment abzupassen, in dem ich ihr auf dem Gang zur Toilette begegnen könnte. Ich hätte mich hinter sie an die Theke stellen können, um ein Bier zu bestellen, und dann mit einem ‚Excusez’ ein Gespräch beginnen können. Aber alle diese Ideen fand ich selbst fad und langweilig. Ich fragte mich, warum ich nicht die direkte Methode anwandte: „Salut, ma belle, je t’ai epié de loin et franchement, je te kiffe, mais grave, quoi!“ Das wäre originell und sie stünde hundertprozentig erst einmal verblüfft da.

Als Jugendlicher hatte ich mich in ein Mädchen aus meiner Klasse verliebt. Nicht selten hatte ich mir in meinen wildesten Träumen ausgemalt, wie unsere Liebe zu einem spannenden Film würde. Eine meiner blühendsten Phantasien ging so: Eines Morgens wurde unsere Schule von einer Gruppe Terroristen überfallen. Vier von ihnen stürmten unsere Klasse und nahmen uns und den Lehrer als Geiseln. Mit einer geschickten List schaffte ich es, aus dem Klassenraum zu fliehen (durch einen waghalsigen Sprung aus dem Fenster des dritten Stocks) und die Polizei zu alarmieren. Als die Polizei mit einem schwer bewaffneten Einsatzkommando anrückte, übernahm ich, ein dreizehnjähriger Schüler, wie selbstverständlich die Führung dieses Kommandos. Man gab mir Waffen und Munition, und anhand einer Blaupause erklärte ich ‚den Männern’ die Aufteilung der Klassenräume. Unter meinem Kommando stürmten ‚die Männer’ das Schulgebäude und meine Klasse. Der Einsatz verlief reibungslos, bis auf die Tatsache, dass der Anführer der Terroristen meiner geliebten Klassenkameradin eine Pistole an den Kopf hielt und drohte, sie zu erschießen, falls wir die Waffen nicht niederlegten und freien Abzug gewährten. Ich befahl ‚meinen Männern’ die Waffen zu strecken und tat so, als käme auch ich den Forderungen des Terroristen nach. Als ich mich anschickte, meine Walther PPK niederzulegen, griff ich blitzschnell nach der kleinen Waffe unter dem Hosenbein, entsicherte sie in Windeseile und brachte den Terroristen mit einem gezielten Kopfschuss zur Strecke. Meine geliebte Klassenkameradin löste sich vom sterbenden und ächzenden Terroristen und fiel mir weinend in die Arme. „Mein Retter“, flüsterte sie mir ins Ohr, als ich sie auf Händen zu den bereitstehenden Sanitätern trug. Jubel brandete auf, als ich über den Schulhof schritt. ‚Meine Männer’ klopften mir anerkennend auf die Schulter. Bundestverdienstkreuz, Ruhm und Ehre folgten natürlich.

Die warme Luft in der Bar, der Duft von Zigaretten und die Schwere des Alkohols machten mich ganz benommen. Ich erkannte den cinematographischen Charakter dieses Ereignisses und fühlte mich wie der Hauptdarsteller eines französischen Liebesfilms der Nouvelle Vague. Die Synopsis: Ein junger deutscher Student verliebt sich bei seinem Auslandsaufenthalt in ein Pariser Mädchen. Gemeinsam verbringen sie einen französischen Herbst in der Stadt der Liebe. Als im Frühling der Abschied naht, kommt der junge Student einem grausigen Geheimnis auf die Spur. Das junge Mädchen hat ihm etwas verschwiegen.
Noch aber feilte ich an der ersten Szene. Ich zerbrach mir den Kopf darüber, wie ich eine Brücke zwischen den zwei verschiedenen Welten, in denen wir lebten, bauen könnte. Und gleichzeitig wurde mir bewusst, dass ich eigentlich schon verloren hatte. Denn allein die Tatsache, dass ich die Absicht hatte, sie anzusprechen, ließ die ganze Situation krampfhaft erscheinen. Wahre Liebe traf einen schließlich nur dann, wenn man nicht mit ihr rechnete. Das Glück kam unverhofft und war nicht planbar. Ich aber glaubte, hier eine Liebesbeziehung zu einem jungen Mädchen planen und vorhersehen zu können. Meine Vorstellungen eilten schon meilenweit voraus, während die Realität noch nicht einmal begonnen hatte.
Elle me jeta un regard auquel je répondis tout de suite. Immer wieder schweifte ihr Blick zu mir herüber, lullte mich ein in der Gewissheit, dass sie sich für mich interessierte. Ich unterhielt mich weiter mit meinen Kommilitonen, aber lenkte auch meinen Blick von Zeit zu Zeit in ihre Richtung. Hitzewallungen durchströmten meinen Körper, wenn unsere Blicke sich trafen. Ging es ihr genauso?

Meine erste Seminararbeit hatte ich über Todessehnsucht geschrieben. Ich hatte Houellebecq zitiert, der von den Deutschen behauptete, dass sie wie kein anderes Volk auf Erden den Wunsch der eigenen Vernichtung in sich trügen.
Ein Satz meiner Arbeit, so fand ich zumindest, war mir besonders gut gelungen. Er ging so: „Die Todessehnsucht der Menschen drückt sich nicht zuletzt auch durch ihren Sprachgebrauch aus. Ein Sprachgebrauch, der das Unterbewusste an die Oberfläche bringt, ein Sprachgebrauch, der uns so geläufig und alltäglich erscheint, dass wir die tief in ihm schlummernde Wahrheit gar nicht mehr erkennen. Aber wie soll man die im Französischen und im Deutschen gebräuchliche Wendung – ‚Sie haben den Tod gefunden/ Ils ont trouvé la mort’ – anders deuten, wenn nicht mit dem immanenten Wunsch der Menschen nach ihrer eigenen Vernichtung. Den Tod kann doch nur derjenige finden, der sich zuvor auf die Suche nach ihm begeben hat.“

Ich spürte nun, wie wir uns mit Blicken gegenseitig anspornten. In ihrer Frequenz nahmen diese Blicke eine bedrohliche Spannung und Energie an, die entweder bald entladen werden oder im Nichts verpuffen sollte.
Ich spürte eine Anspannung, aber gleichzeitig spürte ich auch eine Ernüchterung. Ich stand erneut am Anfang einer Liebesgeschichte. Es war nicht meine erste und sollte sicherlich nicht meine letzte sein. Ich dachte an Büchner: „Mein Gott, wie viel Weiber hat man nötig, um die Skala der Liebe auf und ab zu singen? Kaum, dass eine einen Ton ausfüllt.“ Ich dachte an die bisherigen Mädchen, an Helena, an Doreen, an Silke und an Isabelle. Müdigkeit überkam mich plötzlich. Unsägliche Müdigkeit. Dirty old man, dachte ich. Dirty young man. Waren die bisherigen Liebschaften meines Lebens nicht nur künstlich erzeugte Ereignisse, denen ich den Charakter des Besonderen andichtete, während sie in Wirklichkeit nur das allgemeine, langweilige Auf und Ab eines gewöhnlichen Lebens darstellten?

Ich hatte vielleicht nur einmal wirklich geliebt. In jungen Jahren, als die Berührung, die Nähe eines Mädchens mich noch verzaubern konnte, als der ganze Inhalt meines Liebens von ihr bestimmt war. Mit jeder darauf folgenden Liebschaft war etwas verloren gegangen. Aus anfänglichen, weltentrückten Romanzen waren nach und nach kleine Handelsabkommen geworden. Liebe als Kosten/Nutzen Rechnung.

Sie machte den ersten Schritt. Statt auf mein Handeln zu warten, ergriff sie selbst die Initiative. Sie kam zu uns an den Tisch, und schaute mir direkt in die Augen. Sie war mutig, das musste ich ihr lassen. Aber ich empfand plötzlich Langeweile. Langeweile, die mich schockierte, denn ich verstand: Dies war vielleicht die Abkehr von Frauen, die Abkehr von irdischen Liebeleien, die mir von nun an bedeutungslos schienen.
„Je m’appelle Elodie“, sagte das Pariser Mädchen.
Meine Kommilitonen grinsten. Ich jedoch verspürte jetzt nur Müdigkeit. Entsetzliche, lähmende Müdigkeit.

„Je ne comprends pas“, sagte ich schließlich.


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Tag der Veröffentlichung: 24.12.2010

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