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und es war zu spät.....

"Ausstieg - links" Die blecherne Frauenstimme holte sie zurück in die Wirklichkeit. Erschrocken sah sie sich um. So gut wie jeder Platz in der Bahn war besetzt und als sich die Türen an der Haltestelle öffneten strömte eine Masse an Leuten in das enge Abteil. Wo zum Teufel war sie gerade? Mit einem Seufzer klappte sie ihr Buch zu und verstaute es in ihrer großen braunen Tasche. Ihr Blick fiel auf ihre Armbanduhr und erstaunt musste sie feststellen, dass bereits 7Uhr durch war. "Das darf doch nicht wahr sein" Genervt richtete sie sich auf und bahnte sich ihren Weg zur Waggontür. An der nächsten Haltestelle würde sie aussteigen und sich einen Imbiss oder ein Lokal suchen. Eigentlich hätte sie um 6Uhr auf der Geburtstagsfeier einer Klassenkameradin, die meinte mit ihr befreundet zu sein, auftauchen müssen. Viel zu viele waren der Meinung mit ihr befreundet zu sein. Ihre Popularität ging ihr manchmal wirklich auf die Nerven.  Die monotone Stimme verkündete den Namen der nächsten Haltestelle und nur wenige Sekunden später fand sich Kiyoko auf dem leeren Bahnhof wieder. Außer ihr war nur ein junges Pärchen mit knall bunten Haaren und eine ältere Frau im aschgrauen Mantel ausgestiegen. Es dämmerte bereits, als sie den Bahnhof verließ und auf die Straße kam. Die Laternen warfen schon ihr gelbes Licht auf den Bürgersteig und die ersten Geschäfte fuhren ihre Rollläden herunter. Vor dem dunklen Schaufenster eines Blumenladen blieb sie stehen. Sie musterte ihr dunkles Spiegelbild und entschied sich die langen blonden Locken zu einem Pferdeschwanz zu binden. Viele hielten sie für eitel oder oberflächlich, wenn sie in den Pausen ihren Spiegel zückte und sich puderte, wenn sie im Unterricht ihr rosafarbenes Lipgloss auftrug, oder wenn sie sich auf der Mädchentoilette die Haare bürstete und sich, große Kulleraugen machend, im Spiegel betrachtete. Aber sollten sie doch denken was sie wollten. Kiyoko hatte nie um Aufmerksamkeit gebeten, sie hatte sich nie großartige Geschichten ausgedacht um im Mittelpunkt der Welt zu stehen und sie machte sich auch wirklich nichts aus Beliebtheit. Es kam einfach mit der Zeit. Gut, eigentlich kam es gleich von Anfang an.  Sie ging weiter, der Luft war kühler geworden und der Wind blies ihr die nasse Herbstluft ins Gesicht. "So ein Dreck" murmelte sie und kickte eine leere Cola Dose mit der Spitze ihres Stiefels vor sich her. Das scheppernde Geräusch, wenn die Dose über den Steinboden sprang, war das einzige, was die Straße erfüllte. Kein Auto fuhr, keine Menschenseele war mehr unterwegs.  Nur vereinzelte Fenster der Plattenbauten zu ihrer Rechten und Linken waren beleuchtet. In manchen konnte sie das Flackern des Fernsehers erkennen. Ansonsten schien es ihr, als wäre die Straße vollkommen unbewohnt. Endlich sah sie eine Bushaltestelle vor sich aufragen. Sie seufzte erleichtert und flüchtete sich vor dem einsetzenden Nieselregen in das kleine überdachte Häuschen. Sie fuhr mit dem Finger über das beschlagene Glas, hinter dem der Busfahrplan hing und warf einen Blick auf die Digitaluhr ihres Handys. 20:23Uhr. Der nächste Bus kam um 20:36Uhr. Ihr Samstagabend war dahin. Ihr Samstagabend-Film hatte vor 7 Minuten begonnen und ehe sie zu Hause war, war es sicher schon 22 Uhr. Sie seufzte, ließ sich auf einen der Plastiksitze im Häuschen fallen und schielte erneut auf ihr Handy. 20:25Uhr.  Sie lehnte sich an die kühle Scheibe des Wartehäuschens und schloss die Augen. Der Nieselregen war inzwischen zu einem regelrechten Guss geworden. Sie hörte das Gurgeln in den Gullischächten und das rascheln des Windes in den goldgelben und braunen Blättern der großen Bäumen, die die Straße säumten. 20:28Uhr, noch 8 Minuten. Sie fror in ihrer dünnen Leggins und dem Trägerlosen Kleid. Sie hatte sich nur eine dünne Jacke über die Schultern gelegt und war bei ihr zu Hause noch der Ansicht gewesen, das wäre ganz dem Wetter entsprechend. Jetzt hätte sie am liebsten den alten rostroten Ski Anzug ihres Vaters getragen, über den sie sich im Winter immer so lustig machte. 20:31Uhr, die letzten 5 Minuten liefen. Sie stand auf und ging hin und her in dem winzigen Wartehäuschen, in dem sie nach 2 Schritten bereits am anderen Ende angelangt war. Noch 4 Minuten. Sie stemmte die Arme in die Hüfte und spähte vorsichtig in die Richtung, aus der der Bus kommen sollte. 3 Minuten. "Noch einmal Zähne putzen", dachte sie, "dann ist der Bus da". Sie tappte von einem Fuß auf den Anderen, dann hörte sie Stimmen.Es war kein wirkliches Gerede, jedenfalls konnte sie keine genauen Worte erkennen. Es war mehr ein lallender Singsang der langsam, aber sicher näher kam. "Bitte nicht" flüsterte sie und hauchte sich in die eiskalten Hände. Der Gesang war nun kaum noch 20m von ihrem Haltestellenhäuschen entfernt und es blieben ihr noch weitere 2 Minuten bis der Bus kam. Die torkelnden Schritte stoppten, sie rechnete mit zwei bis drei jungen Männern, die nachts unterwegs waren, und hoffte nun, da der Singsang verstummt war und auch ansonsten nichts mehr zu hören war, das die Männer einen anderen Weg eingeschlagen hatten.  Es ging schnell. "Hallöchen" grinste ein Mann mittleren Alters und mit drei-Tage-Bart. Kiyoko zuckte zusammen und sie konnte den kurzen Schrei, der ihr entwich, nicht verhindern. Ein zweiter Mann tauchte auf und sie roch den Gestank von Alkohol. Noch 1min. Eine einzige, verflucht und beschissene Minute!  Der Bus fuhr ein. Ein junger Mann stieg aus und flüchtete ins Häuschen ehe er seinen Regenschirm aufspannte. Das Mädchen blickte ihn an, aus warmen braunen Augen schaute sie zu ihm auf. Wie sie dort unten lag, das Kleid hochgeschoben bis zu Hüfte, die dünne Leggins in den Kniekehlen. Schnell kniete er sich zu ihr und klatschte ihr vorsichtig aber beherrscht auf die rosigen Wangen. Er schüttelte sie, da bemerkte er das Blut - viel zu spät.

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Tag der Veröffentlichung: 16.07.2013

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