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Über den Autor

Heinz Brast, geb. 1940 in Deutschland, wanderte 1977 mit Familie nach Kanada aus. Hier war er über 20 Jahre im deutsch-kanadischen Investitionsgeschäft tätig. 1983 schrieb er sein erstes Buch "Kanada, Ihre neue Heimat", welches vom ZDF als dreiteilige Serie "Kanadische Träume" unter der Redaktion von Dr. Claus Beling erfolgreich verfilmt wurde.

Danach folgte das Drehbuch "Die Rückkehr" mit Gerhard Lippert u. Christine Neubauer als Hauptdarsteller, ebenfalls erfolgreich ausgestrahlt vom ZDF.

In den darauffolgenden Jahren betätigte sich Heinz Brast als freiberuflicher Journalist und schrieb über 120 Artikel über Land und Leute in Kanada, vorzugsweise aber über Indianer und Mennoniten, veröffentlicht in den Zeitschriften und Magazinen "Deutsche Presse", "Kanada Journal", "Kanada Kurier" und anderen einschlägigen Publikationen.

An der renommierten "New York Institute of Photography" erwarb der Leica-Fotograf im Jahre 2008 das begehrte Zertifikat als "Professsional Photographer".

 

 

Vorwort

Nachdem ich mit den Recherchen zum Manuskript „Lodernde Flammen“ begonnen hatte, traten für mich unerwartet einige Ereignisse ein, die nicht nur die Gestaltung des Buches sondern auch mein weiteres Leben vollkommen verändern sollten. Seit meinem über fünfunddreißigjährigen Kanada-Aufenthalt, hatte ich mehr als genug Gelegenheiten mit den in der Waterloo-Region ansässigen Mennoniten Verbindungen anzuknüpfen. So bildeten sich im Laufe der Jahre, ja Jahrzehnte, einige Freundschaften, die ich sehr hoch einschätze.

Als ich dann von einem deutschen Freund gebeten wurde, über diese in Kanada als auch in den U.S.A. ehrbaren Menschen ein Buch zu schreiben, stimmte ich natürlich ohne langes Überlegen zu. Doch in diesem, zwar fiktiven Buch, möchte ich mit vielen der sich zugetragenen Ereignisse so nahe wie möglich an der Grenze zur Wahrheit bleiben.

Während eines Blitzbesuches zu einem befreundeten Arzt in der Schweiz, der in „Lodernde Flammen“ eine der Hauptfiguren verkörpert und auch einige Jahre in Kanada als Chirurg verbracht hat, hatte ich mir anscheinend gesundheitlich zu viel zugemutet. Während es mir gerade so gelang, einigermaßen heil nach Kanada zurückzukehren, wurde ich kurze Zeit nach meiner Ankunft mit Herzinsuffizienz („Systolic Heart Failure“) in das „St. Mary’s“ Hospital in Kitchener eingeliefert.

Man kann es als Ironie des Schicksals betrachten, denn gerade in diesem Krankenhaus spielt sich ein Großteil der Geschichte meines Buches ab. Mir wurde damit die Gelegenheit geboten, zwar ungewollt dafür aber hautnah, mitzuerleben, wie sich die einzelnen Episoden, wie ich sie darzustellen versuchte, in der Wirklichkeit präsentierten.

Die Volks- und Religionsgruppe der Mennoniten, die nach der Reformation der katholischen Kirche von dem holländischen katholischen Priester Menno Simon gegründet wurde, verstärkte bzw. gestaltete die christliche Glaubenslehre viel strenger als diese bisher ausgeübt wurde. So wurden die Anhänger Menno Simons, also die Mennoniten, wegen ihres Glaubens in vielen Staaten Europas, besonders in der Schweiz, verfolgt und die meisten wanderten nach manchen Umwegen, die sie sogar bis tief nach Russland führten, im 17. Jahrhundert nach Amerika aus. Hier ließen sie sich hauptsachlich im Staate Pennsylvanien nieder.

Von dort kamen die ersten Mennoniten zwischen 1798 und 1802 in die heutige Region Waterloo, um für sich und ihre Kinder neuen Lebensraum zu finden, bzw. zu schaffen. Zu ihrer Religion gehört die Philosophie der Ablehnung von jeder Gewalttätigkeit. Zusätzlich stehen sie allen modernen Zeiterscheinungen wie elektrischem Licht, fließendem Wasser, Telefon, Fernsehen etc. sehr skeptisch gegenüber. Sie kleiden sich hauptsächlich dunkel, bestellen ihre Felder wie vor hunderten von Jahren und passen sich nur schwerlich oder teilweise gar nicht den Errungenschaften der heutigen modernen Zeit an. Die Mennoniten ernähren sich hauptsächlich von der eigenen Farmwirtschaft und genießen wegen ihrer Ehrlichkeit, ihres Fleißes und ihrer Hilfsbereitschaft in Kanada und den U.S.A. ein hohes Ansehen.

Untereinander verständigen sie sich in ihrem eigenen Dialekt, einer Mischung aus englischen und plattdeutschen Worten, dem sogenannten ‚Pennsylvania-Dutch‘.

In der Kitchener-Waterloo Gegend leben heute rund dreißigtausend getaufte Mennoniten. Sie bestellen einige hundert Farmen in der durchschnittlichen Größenordnung zwischen hundert und dreihundert Äckern (ca. 40 – 120 ha) Land.

Heinz Brast

 

 

 

Kapitel 1: Im Land der Mennoniten

Mit langsamen, fast müde wirkenden Bewegungen, erhebt sich Benjamin Martin aus dem selbstgebastelten, gepolsterten Sitz, den er in der Mitte hinter der Egge an diese angeschraubt hat. Mit nur einem perfekten Sprung gelingt es ihm, auf dem Boden des gerade teilweise fertig gepflügten und geackerten Feldes mit beiden Füßen gleichzeitig, aber dennoch weich aufzusetzen.

Bevor er sich zum Ausspannen der fünf Ackergäule nach vorne bewegt, dreht er sich nochmals um, damit er sich beim Stand der untergehenden Sonne davon überzeugen kann, dass auch wirklich die wohl verdiente Feierabendzeit angebrochen ist.

Die letzten Sonnenstrahlen und der sich in ein leuchtendes Orange - Rot verfärbende Ball der Sonne tauchen die Landschaft um ihn herum in ein warmes und fast unwirklich erscheinendes Licht.

Obwohl er von der anstrengenden Arbeit redlich müde ist, drückt das pausbäckige Gesicht des Mennoniten einen Hauch von Zufriedenheit aus. Als er vor wenigen Minuten die Zügel zum letzten Mal für heute mit einem leicht abrupten „Hüh“ anzog, um sie dann schlagartig fallen zu lassen, blieben die schweren Ackergäule auf Kommando auch sofort stehen.

Jetzt, nachdem er einen nach dem anderen von ihren hölzernen mit Leder überzogenen Jochen befreit hat und dabei einen leichten Klapps versetzt, marschieren sie zielstrebig ihrem etwa dreihundert Meter entfernt liegenden Stall zu.

Der Farmer wirft zum letzten Mal einen prüfenden Blick über das teilweise gepflügte Feld und mit einem fachmännischen Ausdruck in seinen Augen schätzt er auf einen weiteren achtstündigen Arbeitstag, der nötig sein wird, um das Ackern dieses Feldes für die diesjährige Saison endgültig abschließen zu können.

Den Pferden folgend, betritt auch er jetzt den Stall, wo inzwischen jeder der fünf Gäule in seine ihm zugeordnete Box getrabt ist. Obgleich sich die letzte Stunde der Feldarbeit nicht mehr in der brütenden Tageshitze abgespielt hat, beginnt Benjamin mit einer Wolldecke die Tiere gründlich abzureiben. Erst als er nach dieser Arbeit seinen Job begutachtet und damit zufrieden ist, versorgt er die Pferde mit Futter und Wasser.

Mit langen aber ziemlich müden Schritten steuert er, die Stalltüre zieht er mit einem quietschendem Geräusch hinter sich zu, auf das hellgrün gestrichene Farm Haus (Bauernhaus) zu. Ein schneeweiß angestrichener Holzzaun, umgrenzt mit einem etwa sechs Meter breiten Blumenbeet, ziert die Vorderseite des zweigeschossigen Gebäudes.

Ein zufriedenes Lächeln strahlt über sein Gesicht, als er die buntschillernde Blumenpracht überschaut, um danach mit einigen mächtigen Schritten durch die geöffnete Haustüre in die direkt dahinterliegende, nur durch die einen kurzen Flur getrennte, äußerst geräumige Küche einzutreten.

Leah, seine Lebensgefährtin und Mutter ihrer gemeinsamen je fünf Buben und fünf Mädchen zählenden Kinderschar, sitzt bereits mit dem Nachwuchs um den blankgescheuerten, überdimensionalen und aus solidem Eichenholz gefertigten Küchentisch.

Das Abendessen ist inzwischen aufgetragen und nach alter Mennoniten-Tradition wartet man nur noch auf das Familienoberhaupt, bevor man mit dem Mahl beginnen kann. Mit einer lässigen Bewegung nimmt Benjamin seinen Strohhut vom Kopf und wirft ihn mit einem gezielten Schwung auf einen der an der Eingangswand im Flur angebrachten Haken. Nachdem er am Kopfende des Tisches seinen gewohnten Platz einnimmt, ist das „Geschnatter“ der Kinder schlagartig verstummt, ja es ist mucks Mäuschen still geworden. Der Mennoniten-Farmer neigt sein Haupt und mit ihm auch Leah, seine Frau sowie der Rest der Familie. Nach der Glaubenslehre der Mennoniten wird nun im Tischgebet in aller Stille der liebe Gott um seinen Segen gebeten. Erst als der Farmer seinen Kopf wieder aufrichtet, beginnt die Familie mit dem Abendessen. Aus großen Töpfen und Schüsseln nimmt sich jeder der Herumsitzenden, die älteren Kinder helfen hierbei ihren jüngeren Geschwistern, so viel wie er möchte um seinen Hunger zu stillen. Obwohl Kartoffeln, Gemüse und auch Fleisch reichlich vorhanden sind, ist das Essen einfach aber doch vor allen Dingen sättigend.

Nach dem Abendessen bleibt den Kindern nur noch eine kurze Weile bevor für sie die Schlafenszeit anbricht. Während zwei der älteren Mädchen, Sarah und Anni, ihrer Mutter beim Geschirrabwaschen behilflich sind, liest ihre älteste Schwester Edna den restlichen Kindern, nämlich Emma, Rebecca, Nelson und Jacob einige Geschichten aus der Bibel vor, um sie danach in ihre Schlafgemächer zu begleiten.

Aber auch die älteren Buben Amos, Norman und Benjamin Junior werden für Hausarbeiten in Beschlag genommen. Während das Tageslicht mehr und mehr von der Dunkelheit der hereinbrechenden Nacht abgelöst wird, streuen die inzwischen in der Küche angezündeten Propangaslaternen gespenstige Schatten an Wänden und Fluren im Haus.

Innerhalb der nächsten Stunde wird es im Haus immer ruhiger, denn auch Benjamin und seine Frau Leah begeben sich in ihr Schlafzimmer, um wenige Minuten später nach ihrem gemeinsamen Nachtgebet in einen erquickenden und wohlverdienten Schlaf zu fallen.

Morgen Früh beginnt ein neuer Tag, geschenkt vom lieben Gott, der ihnen zwar sicherlich die gleichen Sorgen, Freuden und Beschwerden wie der alte beschert, aber gleichzeitig die Kraft und Ausdauer für einen neuen kleinen Teil ihres Lebens schenkt.

Gerade als die aufgehende Sonne beginnt, ihr gleißendes Licht über Felder und Äcker zu streuen, und auch in die gardinenlosen Schlafräume in der Martin-Farm eindringt, öffnet Benjamin Martin oder wie seine Frau und seine Freunde ihn kennen, nämlich als Ben, seine noch etwas verschlafen dreinblickenden Augen. Seinen Kopf nach links drehend, blickt er mit gewisser Genugtuung in seinem Ausdruck in die fast faltenlosen Gesichtszüge seiner ruhig und gleichmäßig atmenden Frau.

Nur einen kurzen Moment denkt er an jenen Tag zurück, als er sie vor rund fünfundzwanzig Jahren während eines ‚Barnraisings‘ (Scheunenaufbau) auf einer nicht weit von hier entfernt liegenden Farm zum ersten Mal sah. Wie von einer unbeschreiblichen, geheimnisvollen Anziehungskraft angezogen, hatte er sich praktisch innerhalb weniger Stunden in das reizende Mädchen mit den Grübchen in ihren rosa schimmernden Wangen unsterblich verliebt. Beide hatten sich mit dem Einverständnis ihrer Eltern in relativ kurzer Zeit das ‚Ja Wort‘ gegeben. Trotz der oft mühseligen Farmarbeit war es die tiefgreifende Liebe, die die Beiden mit unbändiger Kraft hinweg über alle Lasten und Sorgen miteinander verschweißte. Zehn gesunde Kinder, inzwischen im Alter von vier bis einundzwanzig Jahren, hat ihnen der liebe Gott geschenkt, fünf Buben und fünf Mädels. Während sich die im schulpflichtigen Alter befindlichen Buben, eigentlich sind einige bereits junge Männer, gerne nach der Schule mit diversen Ballspielen beschäftigen, helfen sie dennoch kräftig bei der anfallenden Farmarbeit mit, wohingegen die sich im Teenageralter oft herumtollenden Mädchen ihrer Mutter ohne jegliches Murren mit kräftiger Hilfe bei der Hausarbeit zur Seite stehen.

Behutsam und ohne unnötige Geräusche zu verursachen, erhebt sich der stämmige, mittelgroße Farmer aus seinem Bett, um fast geräuschlos das Schlafzimmer zu verlassen. Nach einer kurzen Dusche im Wasser des vorbeifließenden Baches, schlüpft er in seine traditionelle Arbeitskleidung, einer schwarzen Hose, einem dunkelblauen Hemd, und begibt sich zur Viehfütterung in die nahegelegenen Stallungen.

Einem ungeschriebenen Gesetz folgend, tauchen nur wenige Minuten später die beiden ältesten Söhne Amos und Norman auf, um ihrem Vater kräftig nicht nur bei der Fütterung, sondern auch der nun einmal notwendigen täglichen Stallreinigung zur Hand zu gehen.

Innerhalb der nächsten halben Stunde werden alle Pferdeboxen gereinigt und mit frischem, kurzgehackten Stroh ausgelegt. Der Bestand an Pferden auf der Martin-Farm kann sich sehen lassen. Immerhin stehen in den zehn Boxen sechs Ackergäule, drei Kutschpferde und ein Pony. Aber es müssen mit diesem Bestand ja auch rund hundertfünfzig Äcker Land bearbeitet werden, da Benjamin in der glücklichen Lage ist, mit seiner ererbten Farm in der Größenordnung der hiesigen Farmen an der Spitze zu stehen. Außerdem stehen noch etwa achtzig Kühe und Kälber auf der das Farmgelände umschließenden Weide. Die meisten der Farmen um ihn herum müssen sich mit weit weniger Land begnügen. Ein Problem ist es nun einmal, dass die Farmen, um in Familienhänden zu bleiben, immer weiter vererbt werden und dadurch naturgemäß, besonders wenn mehrere Kinder vorhanden sind, durch die Erbaufteilung kleiner und kleiner werden. Für Benjamin bedeutet daher die Größe der Farm eine gewisse Erleichterung, denn so kann er seinem ältesten Sohn Amos und zwei weiteren Söhnen gerade noch genug Land zum Überleben vererben.

Während er sich noch mit den beiden jungen Männern über den anstehenden Tagesverlauf unterhält, taucht seine Frau Leah plötzlich im Rahmen der offenstehenden Stalltüre auf:

„Hey ihr drei, habt ihr vergessen, dass es inzwischen bereits nach sieben Uhr ist und wenn ihr noch einen heißen Kaffee trinken möchtet, dann beeilt euch bitte. Und Norman, heute bist du dran, die Kinder zum Schulhaus zu bringen. Also bitte macht schon!“

Ben lässt die Mistgabel, die er zur Strohverteilung benutzt hat, auf den weichen mit Stroh und Heu bedeckten Boden fallen und gemeinsam bewegen sich alle drei in Richtung Küche.

Der große Küchentisch ist bereits mit den eigenen auf der Farm erzeugten Produkten gedeckt, wie die von den Mennoniten vor vielen Jahren erstmals hergestellte „Summersausage“, eine besonders lang haltbare, geräucherte Salami, sowie einiger Käse- und Marmeladensorten. Selbstverständlich darf auch nicht die selber geschlagene Butter und das wohlriechende natürlich selbstgebackene Bauernbrot fehlen, dessen Geruch den Eintretenden schon im Hausflur entgegenduftet.

In der Kürze der noch verbleibenden Zeit beginnen die drei Männer mit ihrem wohlverdienten Frühstück, als ein plötzlicher Schrei sie auf Kommando gleichzeitig aufspringen lässt. Edna, das älteste der Mädchen, steht auf der rechten Seite des Küchentisches und hält vor Aufregung zitternd ihre linke Hand vor den weitgeöffneten Mund.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches, da wo die vierjährige Rebecca auf dem von ihrem Vater gebastelten Kinderstuhl ihren gewohnten Platz eingenommen hat, scheint sich nämlich gerade ein größeres Unheil anzubahnen. In einem unbeobachteten Moment hat sich das kleine Mädchen aus einer auf dem Tisch stehenden Schüssel ein Maiskorn in jedes Nasenloch gesteckt. Als es diese mit seinen kleinen Fingern wieder herauszuholen versucht, drückte es die Körner nur noch höher und fester in die Nase. Das Endresultat wird gerade sichtbar als das Kind heftig atmet, dabei offensichtlich nach Luft schnappt und ihr Gesicht bereits eine sichtbare Blaufärbung annimmt. Dabei hatte seine Mutter Leah die Küche nur für einige Minuten verlassen. Sie war gerade damit beschäftigt, im Nebenzimmer die Schultaschen für die zum Verlassen des Hauses bereits wartenden Kinder noch einmal zu überprüfen. Durch die Schreie ihrer ältesten Tochter aufmerksam geworden, rennt sie unverzüglich in die Küche. In Sekundenschnelle hat sie die gefährliche Situation erkannt, um darauf genauso schnell zu reagieren. Mit flinken Händen zieht sie die kleine Rebecca vom Stuhl, versucht durch das Zusammendrücken der Nasenflügel des Kleinkindes die gefährliche Situation zu entschärfen, doch erfolglos. Die Körner stecken zu tief und zu fest. Obwohl der Verzweiflung nahe, ist es jedoch sie, die jetzt schnell und präzise Anordnungen erteilt:

„Norman, schnell, wie weit bist du mit dem Anspannen der Kutsche? Wir müssen Rebecca auf schnellstem Weg zu Dr. Ritter in Elmira bringen. Ben, helfe bitte Norman die Kutsche zum Gartentor zu bringen. Edna, kümmere dich um die Kinder während wir unterwegs sind.“

In Windeseile sind inzwischen Benjamin und sein Sohn zu dem auf der anderen Seite des Farmhauses liegenden Kutschenunterstand gerannt. Amos, der Älteste, kommt bereits mit einem Kutschpferd aus dem direkt neben dem Unterstand befindlichen Stall und spannt mit wenigen gekonnten Handgriffen das Pferd vor das viersitzige Gefährt.

Das leblose Kind in ihren Armen, stürmt die Bäuerin aus der Haustüre. Mit wenigen Schritten rennt sie hastig zum Buggy (Kutsche), klettert hinein, um sich auf dem Vordersitz neben Norman niederzulassen, während auf dem Rücksitz Benjamin bereits seinen Platz eingenommen hat.

Jetzt beginnt eine Kutschfahrt, wie man sie sicherlich nie vorher und vielleicht auch nachher wieder in diesem Teil des Mennoniten-Landes erleben wird. Dem Pferd immer wieder anspornende Worte zurufend und dabei mit den Zügeln die Richtung und Geschwindigkeit dirigierend, jagt Norman mit seiner wertvollen Fracht über den staubigen, nicht geteerten Feldweg in die Richtung des Ortes Elmira. Dort, wo sich die einzige Arztpraxis im näheren Umkreis befindet.

Kaum hat die Kutsche die Einfahrt zur Farm hinter sich gelassen, beugt sich Benjamin nach vorne, um seinem Sohn mit lauter Stimme zuzurufen:

„Fahre nun querfeldein geradewegs über die vor uns liegenden Felder. Dann sparen wir uns einige Kilometer. Glücklicherweise hast du die Kutsche mit der Gummibereifung genommen und die wird die Holprigkeiten der Felder leicht bewältigen.“

Gesagt, getan und nach rund einer halben Stunde endet die ‚Höllenfahrt‘ vor der Praxis Dr. Ritters in dem Kleinstädtchen Elmira.

Benjamin nimmt in Sekundenschnelle das inzwischen bereits bewusstlose Kleinkind aus den Armen seiner Mutter. So schnell ihn seine Füße tragen können, rennt er damit in das Arztgebäude. In kürzester Zeit, aber dennoch im buchstäblich allerletzten Moment, kann Dr. Ritter die Maiskörner mit einer speziellen Pinzette aus Rebeccas Nasenlöchern entfernen. Nach einigen Wiederbelebungsversuchen setzt auch die normale Atmung wieder ein. Zwei Stunden später, diesen Zeitraum hat sich Dr. Ritter zur Beobachtung des Kindes ausbedungen, entlässt der Arzt seine Patienten. Zwar innerlich immer noch total aufgewühlt, aber dennoch zufrieden, dass alles noch mal glimpflich verlaufen ist, dürfen sie getrost nach Hause fahren.

Es ist inzwischen früher Nachmittag geworden als sie zurück auf der Farm eintreffen. Edna, die älteste Tochter der Farmleute, hat wie ihr aufgetragen, alle angefallenen Arbeiten im Hause zufriedenstellend erledigt. So beschließt der Rest der Familie, sich nach den Aufregungen des vergangenen Morgens erst einmal eine Kaffeepause zu gönnen, wobei man natürlich nochmals die Geschehnisse der letzten Stunden ausgiebig diskutiert.

Doch die vorgesehene Feldarbeit verlegt Ben nun auf den morgigen Tag, denn jetzt muss er sich erst einmal um seine am nahen Waldrand aufgestellten Bienenstöcke kümmern. Schließlich hat er ja bereits einen kleinen Verkaufsstand auf dem riesigen Farmersmarkt in St. Jacobs vor nicht allzu langer Zeit zwecks Verkaufs seines delikaten, unpasteurisierten Bienenhonigs, sowie anderer Farmprodukte angemietet.

Dort wird dann jeden Donnerstag und Samstag die bald sechszehnjährige Anni oder einer ihrer Geschwister den auf der Martin-Farm produzierten Honig sowie die aus den Früchten ihres Gartens hergestellte Marmeladesorten hauptsächlich den aus Touristen bestehenden Marktbesuchern zum Kauf anbieten.

Mehr oder weniger verläuft der Rest des Tages wie jeder andere. Als Benjamin und Leah sich am Abend rechtschaffen müde zur Ruhe betten, hegen beide den gleichen Gedanken: ‚Was wird uns der morgige Tag bescheren?‘

Eigentlich beginnt dann der neue Tag wie jeder andere, also ohne besondere Vorkommnisse. Jedenfalls sieht es so aus. Heute ist bereits Samstag und Benjamin begibt sich gleich nach dem Frühstück an die Feldarbeit.

Das Umackern des letzten Feldes möchte er schnellstmöglich abschließen. Denn sein Interesse ist auf seinen neuen Verkaufsstand im „St. Jacobs“ Farmers-Market ausgerichtet.

Außerdem möchte er heute noch, soweit es seine Zeit erlaubt, einen schlachtreifen Ochsen zu einem in der Nähe liegenden Schlachthaus transportieren.

Aus Erfahrung weiß er, dass dies keine leichte Arbeit werden wird. Als er um die Mittagszeit das Umackern des Feldes für den heutigen Tag einstellt und die Ackergäule zurück in ihre Stallungen gebracht hat, warten schon Amos und Norman vor dem Eingangstor zu den Stallungen auf ihn. Gemeinsam zerren sie jetzt mit all ihren Kräften den vor Kraft strotzenden schlachtreifen Ochsen zu einem kleinen Corral rechts neben der Scheune.

„Dad, du kannst mir sagen was du willst, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass wir dieses monströse Vieh nicht ohne Schwierigkeiten in „Brubachers Schlachthaus“ bringen werden. Die blutunterlaufenen Augen des Tieres machen mir Sorgen. Das Viech ist so unruhig, als ob es vorausahnen könnte, was ihm bevorsteht.“ Dabei wirft Amos seinem Vater einen sorgenvollen Blick zu.

Von einer bisher auch für ihn nur sehr selten auftretenden, ja eigentlich unbekannten Unruhe erfasst, begibt sich auch Ben jetzt zu der Umzäunung. Hinter dem stabilen Zedernholzzaun hat er mit seinen Söhnen den Ochsen nach Meinung aller Beteiligten sicher für den Abtransport untergebracht.

Das äußerst erregte Tier stampft abwechselnd mit Vorder-und Hinterbeinen auf dem weichen Erdboden und schleudert handgroße Dreckballen um sich herum. Doch dann dreht es seinen Kopf in Richtung des Mennoniten-Farmers und als ob es darin seinen Feind erkennen würde, stürzt es ohne jegliche Vorwarnung auf ihn zu. Mit einem Riesensprung zur Seite, der jedem durchtrainierten Sportler alle Ehre gemacht hätte, rettet sich Benjamin aus der Gefahrenzone. Aber die Tragödie ist damit nicht zu Ende, sondern beginnt gerade in eine neue gefährliche Phase zu treten, als das wütende Tier mit aller Kraft den Holzzaun, der den Corral rundherum umgibt, mit einem lauten Krachen durchbricht und in Richtung der vor ihm liegenden Felder davon rennt.

„Amos, Norman holt so schnell ihr könnt, die an der linken Stallwandseite hängenden Stricke. Wir müssen versuchen, das Tier damit einzufangen, bevor es die Brücke über den „Conestogo River“ erreicht.

Wenn es nämlich die Brücke überquert, ist es nur noch einen Steinwurf vom Dorf entfernt und das Drama, was es dann entfachen wird, wage ich mir nicht einmal vorzustellen.“

Mit dicken Stricken bewaffnet jagen die beiden stämmigen Burschen dem in Raserei geratenen Tier nach. Zumindest versuchen sie es einzukreisen, bis ihr Vater sie erreicht hat. Er hat sich anscheinend bei seinem Sprung in Sicherheit verletzt, wenn auch glücklicherweise nur leicht. Jedenfalls humpelt er mehr als er laufen kann, seinen Söhnen hinterher. Doch das Glück scheint ihnen trotz Missgeschick zur Seite zu stehen. Als hätte es das Vorhaben der Burschen verstanden, bleibt das Tier urplötzlich mit aufgeblähten Nüstern und laut schnaufend stehen. Eine nicht wiederkehrende Gelegenheit, die sich Amos, Norman und der inzwischen herbeigeeilte Benjamin Jr. nicht nehmen lassen.

Wie Indianer auf dem Kriegspfad versuchen alle drei sich so vorsichtig wie nur möglich an das aufgebrachte Rindvieh heranzuschleichen.

In Windeseile hat Amos inzwischen den Strick in seinen Händen in große Schlaufen um Schulter und linkes Armgelenk geschlungen. Jetzt hängt alles nur noch von seiner Geschicklichkeit ab, das Seil mit einem gekonnten Wurf um den Hals des Ochsen zu bugsieren. Der gezielte Wurf sitzt. Die Schlinge legt sich um den Hals des Tieres. Bevor es sein Einfangen erfassen kann, ziehen Amos und Norman das Seil so straff an, dass der Ochse mit den Vorderbeinen in die Höhe steigt. Benjamin Jr. nutzt blitzschnell die sich ihm gebotene Chance, um mit einem Präzisionswurf eine weitere Schlaufe zu legen, diesmal um die Vorderbeine des sich nun mächtig sträubenden Tieres.

Inzwischen ist neben dem humpelnden Farmer auch die Farmersfrau mit dem Rest der Kinder im Schlepptau, herbeigeeilt. Mit vereinten Kräften ziehen alle an beiden Stricken, bis man das nicht gerade leichtgewichtige Rindvieh langsam aber sicher wieder in einer der Stallungen untergebracht hat. Ein anderer hektischer Tag auf einer der typischen Mennoniten Farmen in der Waterloo Region neigt sich langsam dem Ende entgegen. Am morgigen Sonntag, dem Tag des Herrn, wird zwar die Arbeit nicht ruhen, aber sich nur auf das Notwendigste beschränken. Benjamin und seine Familie werden im nahegelegenen Dörfchen Floradale im dortigen ‚Meetinghause‘ (Gotteshaus) wie an jedem Sonntag dem Gottesdienst beiwohnen. Kirchliche Würdenträger und Diakone werden dort aus der Bibel einzelne Evangelien vorlesen und ihre gut vorbereiteten Predigten halten. Lieder in deutscher Sprache werden den im Prinzip äußerst spartanisch gehaltenen Gottesdienst bereichern.

Wie so üblich wird die Martin-Familie nach dem Gottesdienst eine der in der Nähe liegenden Farmen aufsuchen, um dort das Sonntagsmahl einzunehmen. Diesmal ist es Benjamins Vater, dessen Farm immer noch von ihm selbst bewirtschaftet wird und praktisch nur einen Steinwurf von der Original-Martin Farm entfernt ist. Letztes Jahr hat er im engsten Familienkreis seinen achtzigsten Geburtstag in guter geistiger und körperlicher Verfassung gefeiert. Doch jetzt hat man ihm Betsy, die Tochter seines Nachbarn Johan Baumann, als Haushaltshilfe zur Seite gestellt. Von ihr werden nicht nur die täglich anfallenden üblichen Hausarbeiten, sondern auch alle Küchendienste erledigt, wobei sie ihre Kochkünste voll entfalten kann und zwar ganz zur Zufriedenheit des Patriarchen Abram der Martin-Familie.

Nach alter Mennoniten Sitte ist eine vorherige Anmeldung oder gar Einladung zum Besuch untereinander nicht notwendig. Man kommt einfach, egal mit wie vielen Familienmitgliedern und wird gerne beköstigt. Die Gastgeberin, also die Farmersfrau, wird in kürzester Zeit immer genug köstliche Speisen auftragen, bis alle Anwesenden gesättigt sind. So geschah es vor hundert Jahren und so geschieht es auch noch heute.

Nach dem Mittagstisch sitzt man mehr oder weniger noch einige Stunden gemütlich im Haus oder wenn das Wetter es zulässt, auch draußen zusammen, um Geschichten zu erzählen oder bereits bekannte auszutauschen. Danach lässt man mit Kaffee und dem natürlich selbstgebackenem Kuchen den Sonntagnachmittag gemütlich ausklingen. In der Regel sitzen während ihrer angeregten Unterhaltung Männer und Frauen voneinander getrennt, während sich das Jungvolk mit Spielen und Vorlesungen aus der Bibel oder anderen, meist in deutscher Sprache geschriebenen Büchern, die Zeit vertreibt.

Wenn die Zeit des Aufbruchs gekommen ist, verabschieden sich Gäste und Gastgeber herzlich voneinander und diese Verabschiedung wird meistens durch einen Bruderkuss besiegelt.

Die alte Woche ist zu Ende gegangen. Was die neue bringen wird, weiß noch keiner der Beteiligten, das wird halt der ‚da oben‘ entscheiden.

 

Kapitel 2: Dr. Christian Bernhard Moser

„Doktor Chris Moser wird unverzüglich zum OP Nummer 6 gebeten“. Fast blechern, in jedem Fall aber nicht gerade einladend, hört sich die Lautsprecheransage für den an, dessen Ohren sie gerade erreicht.

Dr. Christian Bernhard Moser unterhält sich momentan im Flur des dritten Stockes mit einem Patienten über eine weitere wichtige Behandlungsmethode. Entweder hat er die ihn betreffende Nachricht überhört oder er ignoriert sie. Erst als ihn sein Patient, ein kleiner, schmächtiger und glatzköpfiger Mann in den Endfünfziger Jahren, bei der zweiten Durchsage am Ärmel seines Kittels zieht, reagiert er fast unwirsch:

„Ja, ich weiß, dass Dr. Reitzel ohne mich nicht anfangen kann, aber immerhin ist die Operation erst für 11 Uhr angesetzt und jetzt ist es nicht mal ein viertel vor Elf. Allmählich sollte er aber gemerkt haben, dass ich so leicht nicht aus der Ruhe zu bringen bin. Mich jedoch vor einer schwierigen Operation zu drängeln, ist etwas, was ich absolut nicht ausstehen kann.“

Den letzten Satz hat er so leise vor sich hingesprochen, ja mehr genuschelt, dass glücklicherweise der vor ihm stehende Patient kein Wort verstehen kann. Seit rund einem halben Jahr ist er der leitende Stationsarzt des neu in Toronto eingerichteten Krebs-Zentrums, welches sich im dritten Stockwerk des zweihundertsechsundfünfzig Betten zählenden ‚Western General Hospitals‘ befindet und mit den modernsten Behandlungsgeräten ausgestattet ist.

Der Stationsarzt Dr. Moser hat sich in relativ kurzer Zeit nicht nur aufgrund seines außerordentlichen Fachwissens, sondern auch durch seine große Hilfsbereitschaft und seines sprichwörtlichen Fleißes einen kaum zu überbietenden Respekt erworben. Da er nach einer bitterbösen Ehescheidung in Deutschland seine Emigration nach Kanada beantragte und innerhalb kürzester Zeit die Arbeitserlaubnis für eine offenstehende Stelle im ‚Western General Hospital‘ angeboten bekam, gab es für ihn kein Halten mehr. Schließlich hatte der ein Meter sechsundachtzig Zentimeter große, stattliche Mann vor achtzehn Jahren hier in diesem Hospital bereits ein Praktikum mit Erfolg absolviert und danach Toronto zu seiner absoluten Lieblingsstadt erkoren. Inzwischen hat er hier auch seinen fünfundvierzigsten Geburtstag gefeiert, obwohl ihm weder Arztkollegen noch Krankenschwestern sein Alter glaubhaft abnehmen wollen. Seine jugendliche Erscheinung verleiht ihm ein äußerst sportliches Aussehen. Das immerwährend freundliche Gesicht sowie die stahlblauen Augen und der schwarzhaarige, bereits mit einigen grauen Haaren durchzogene, dichte Schopf auf seinem Kopf lassen den Betrachter mehr oder weniger zu dem Entschluss kommen, dass sie es eher mit einem attraktiven ‚Star‘ aus der Filmbranche zu tun haben.

So leicht würde keiner annehmen, dass man vor einem der sicherlich tüchtigsten Ärzte steht, die das ‚Western General‘ Hospital momentan aufweisen kann. Dabei war es eigentlich nicht die Absicht des jungen Chris Moser, den Arztberuf einzuschlagen. Von einer kaum zu überbietenden Abenteuerlust besessen, hatte er schon im Teenageralter mit nur wenigen Habseligkeiten und einer Gitarre auf dem Rücken verschiedene Teile der Welt bereist.

Am Ende des Tages blieb ihm aber keine andere Wahl. Welche große Chancen hatte er einen anderen Beruf zu wählen, war doch sein Vater U-Bootoffizier im zweiten Weltkrieg und seine Mutter eine in ihrem kleinen Städtchen im Hessenland äußerst respektierte Ärztin.

Naturgemäß studierte also der einzige Sohn seiner Eltern Medizin. Aber nicht, weil er hierzu angehalten wurde, denn bereits kurz nach Studienbeginn faszinierte ihn Medizin sowie Heilkunde und alles was damit zusammen hing. Obwohl er sich nun dem Arztstudium mit Leib und Seele verschrieben hatte, bedeutet das für ihn noch lange nicht, dass damit für ihn eine einseitige Interessenfestlegung begonnen hätte.

Das Gegenteil trat ein, denn sobald er sein praktisches Jahr als Assistenzarzt an der Universitätsklinik in Marburg absolviert hatte, bewarb er sich bei der ‚Deutschen Bundesmarine‘ in Kiel. Nach relativ kurzer Zeit kletterte der gewitzte und hochintelligente Marinearzt die ihm dargebotene Beförderungsleiter mit unglaublicher Schnelligkeit nach oben. Dem Rang des Korvettenkapitäns folgte bald der Aufstieg zum Fregattenkapitän und nach einigen weiteren Karrierejahren die Beförderung zum Kapitän zur See.

Alle diese zum Teil hart erarbeiteten Erfolge in der unwahrscheinlich kurzen Zeitspanne von weniger als zehn Jahren stiegen dem jungen Arzt nicht zu Kopfe. Niemals vergaß er auch nur für einen Augenblick, dass sein Hauptberuf Arzt war, auch dass es sein größtes Ziel war, anderen Menschen zu helfen und neue Heilmethoden zu finden. Deshalb wuchs er des Öfteren über die sich selbst gesetzten Grenzen hinaus. Von Beruf war er Arzt, aber in der rauen Wirklichkeit des Lebens war es für ihn längst zu einer Berufung geworden, der er selbst wenn er es gewollt hätte, nicht mehr entkommen konnte.

Bald bekam er eine Professur an einer der angesehensten Universitäten in Deutschland angeboten, die er dankend ablehnte. Feste Bindungen hasste er, deshalb konnte es einfach nicht sein Ziel sein, an einen Lehrstuhl gebunden zu werden. Vielleicht war dieses Verhalten auch der Grund für sein bisheriges Alleinsein. Obwohl ihm die Frauenwelt zu Füßen lag, schien es ihm undenkbar, sich zu diesem Zeitpunkt seines Lebens auch nur kurzfristig mit Frauen in irgendeiner Form zu liieren.

Doch wie nun einmal das Leben die Entscheidung jedes einzelnen Menschen beeinflusst, hat Dr. Christian Bernhard Moser seinen Traum verwirklicht, indem er das einfach zu verführerische, äußerst großzügige Angebot des ‚Western General Hospitals‘ in Toronto/Ontario annahm und damit einen neuen Lebensabschnitt in Kanada begann. Hier in diesem Krankenhaus der Superlative im Zentrum von Toronto, welches auf dem neuesten Stand der Technik mit den zur Zeit besten medizinischen Geräten ausgerüstet ist, schloss er ja vor etlichen Jahren einen Teil seines Praktikums ab. Hier hatte er bereits ein Jahr als Assistenzarzt unter der Aufsicht des geachteten Professors Dr. Smithson gearbeitet. Nicht zuletzt weil er noch etliche Freunde aus seiner Studienzeit kennt, fühlt er sich hier pudelwohl.

Alle diese Gedanken eilen geradezu mit Überschallgeschwindigkeit durch sein Gehirn, während er mit mächtigen Schritten die Treppenstufen zum fünften Stockwerk hinauf stürmt, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Den Fahrstuhl, der ihn in Sekunden nach oben befördert hätte, hasst er wegen schlechter Erfahrungen. Außerdem möchte er, falls irgendwie möglich, seine körperliche Sportlichkeit so lange es geht, erhalten.

Obwohl noch genügend Zeit bis zur angesetzten Operation vorhanden ist, kann Dr. Chris, unter diesem Namen kennt ihn hier jeder, ein gewisses Schuldgefühl nur schlecht verbergen, als er in den Operationssaal Nr. 6 eintritt wo man bereits ungeduldig auf ihn wartet. Der Narkosearzt, sowie der ihn assistierende Chirurg und sein persönlicher Freund Dr. Peter Reitzel als auch alle für diese Operation benötigten Kräfte werfen ihm bei seinem Eintritt vorwurfsvolle Blick zu, als er den Raum betritt.

„Ja, ja, ich weiß, dass ihr auf mich gewartet habt, aber bitte behaltet eure Kommentare für euch. Wie ich sehen kann, scheint ihr euch ja schon seit geraumer Zeit zu langweilen.“ Obwohl er bei diesen Worten keine Miene verzieht, strahlen seine Augen so etwas wie…..‘ nehmt es mir bitte nicht übel‘…..aus.

„Na, dann wollen wir mal.“

Nach ein paar präzisen Anweisungen beginnt nur wenige Minuten später Dr. Chris Moser mit der inzwischen zur Standard-Prozedur gewordenen „Kausch-Wipple“ Operation, die, wenn sie im frühen Stadium einer bösartigen Krebserkrankung eines Pankreas-Karzinoms (bösartiger Tumor) durchgeführt wird, die einzige Möglichkeit der Lebensrettung des Patienten sein kann.

Wie bei früheren von Dr. Chris Moser durchgeführten Operationen an einem mit Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankten Patienten gelingt dem Arzt mit den goldenen Händen, wie ihn das Krankenhauspersonal liebevoll bezeichnet, auch die heutige rund zweieinhalb Stunden dauernde Operation ohne größere Komplikationen.

Obwohl Dr. Chris zusätzlich zweiunddreißig Lymphknoten entfernt hat und alle im Operationssaal sich des Erfolges sicher sind, kann er eine gewisse Unruhe nur schwerlich verbergen. Irgendetwas nagt an ihm, er weiß nicht mal was.

Während sein Mitstreiter Dr. Peter Reitzel und er sich im Umkleideraum neben dem OP die Operationskittel buchstäblich vom Leibe reißen und sich in den nebeneinandergelegenen Waschbecken einer gründlichen Waschung ihrer Hände und Arme unterziehen, schaut Dr. Chris mit einer etwas verlegen dreinschauenden Miene zu seinem Freund:

„Peter, obwohl alles wie geplant verlaufen ist, werde ich den Gedanken nicht los, dass wir zwar heute alles zu 100% durchgeführt haben, uns aber trotzdem noch einiger Ärger mit der Patientin bevorsteht. Als ich die Frau das erste Mal gesehen habe, so ganz in Schwarz gekleidet, hat sie mich an etwas erinnert, was ich nicht mal beschreiben kann.

Als ich dich dann gefragt habe, was du über sie weißt, hast du mir nur eine knappe, wie es schien für dich belanglose Antwort gegeben, nämlich dass sie eine Mennonitin aus der Waterloo Region sei. Eigentlich hatte ich mir fest vorgenommen, nach ihrem ersten Besuch hier etwas mehr über diese Menschen und ihre Lebensweise, ihre Religion und auch ihre Lebensphilosophie in Erfahrung zu bringen. Aber wie du ja selber weißt, ist es oft die Zeitknappheit, die uns immer wieder einen Strich durch die Rechnung macht. Seit mir jedoch unsere OP- Schwester Dorothe Coleman so quasi im Vorbeigehen erzählt hat, dass es hier im Krankenhaus bestimmt keinen zweiten gibt, der mehr über die Geschichte der Mennoniten weiß als du, liegt es ja eigentlich auf der Hand, wen ich danach fragen und um Aufklärung bitten kann.“

„Ja mein lieber Christian, das kann ich sehr wohl, denn ob du es glaubst oder nicht, habe ich als Kind mit meinen Eltern mehr als acht Jahre in der Nähe von Elmira, das ist ein kleines Städtchen inmitten der Mennoniten Gegend, gelebt und bin zum Großteil mit deren Kindern aufgewachsen. Aber ich mache dir einen guten Vorschlag. Anstatt hier beim

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Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 28.03.2015
ISBN: 978-3-7368-8617-9

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