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1: PoV Maleko




Die blassen Sonnenstrahlen schienen auf mich herunter, als ich aufwachte. Das sie überhaupt da waren, war wunderlich. Es war Anfang November und der erste Schnee lag bereits. Oft genug fielen einzelne Schneeflocken durch die Löcher hoch über mir. Sie verschwanden aber genauso schnell, wie sie aufgetaucht waren.
Ich pflückte einige genmanipulierte Gänseblümchen, die neben mir wuchsen und knabberte an deren Blüten. Dass sie genmanipuliert waren, verriet mir nicht nur der seltsame Beigeschmack, sondern eher die Tatsache, dass sie unter der Erde wuchsen.
Meine Finger berührten die glatte, dreckige Erdwand. Wankend stand ich auf und trat näher ins trübe Novemberlicht. Ein Blick auf meine Armbanduhr verriet mir, dass es bereits mittags war. Wenn ich richtig mitgezählt hatte, saß ich bereits seit drei Wochen hier drin fest.
Mein Magen knurrte und erinnerte mich daran, dass ich hier unten wohl verhungern werde, wenn ich nicht bald etwas zu Essen fand. Meine Kehle fühlte sich noch schlimmer an. Wie ausgetrocknet. Und mittlerweile wurde ich nachts nicht nur vor Hunger und Durst wach, sondern auch wegen des eiskalten Windes, der durch die Löcher wehte. Anfangs war es gar nicht so schlimm; die Erde schien die Wärme ein wenig zu speichern. Doch in den letzten Wochen wurde es dort oben immer kälter und hier unten umso unerträglicher.
Ich beschloss weiter zu gehen. Etwas anderes gab es nicht zu tun. Alles schien nur aus unendlich miteinander verbundenen unterirdischen Tunneln zu bestehen. Nur in den Lichtkegel, die in regelmäßigen Abständen auf dem Boden fielen, sah ich etwas Sinnvolles. Nicht nur, dass sie mir die Orientierung und Sauerstoff erlaubten; dank ihnen hoffte ich immer wieder jemand könnte mich vielleicht finden. Darauf wartete ich die meiste Zeit, während ich ziellos durch dieses Tunnelsystem wanderte. Sobald ich ein Geräusch vernahm, schrie ich so laut ich konnte um Hilfe.
Bisher hatte ich allerdings nur einmal ein Geräusch, bis auf den Wind, vernommen. Es war eine kleine Feldmaus die von weiß der Henker wo her zu kommen schien. Den Schreckensmoment nutzte ich aus, um sie mit meinem Messer zu erledigen. Sie war das einzige Stückchen Fleisch, welches ich mir in dieser Zeit zu mir genommen hatte. Es widerte mich selber an, rohes Fleisch herunterzuschlingen. Aber es stellte eine befriedigende Abwechslung zu den genmanipulierten Pflanzen dar.
Meinen Durst stillte ich die erste Zeit mir zwei Litern Wasser, die ich noch dabei hatte. Damals hatte es den ersten und letzten Regenschauer bisher gegeben. Er hinterließ viele unreine Pfützen auf dem dreckigen Boden. Nun bereute ich es zutiefst, meine Flaschen nicht mit ihnen gefüllt zu haben.
In den letzten Tagen habe ich immer verzweifelt versucht Feuer zu machen. Es war mir nie gelungen. Ich hoffte immer wieder auf Fleisch, auch wenn es nur Mäuse waren. Eigentlich müssten sie hier ja irgendwo ein Versteck haben. Ein perfektes Unterirdisches Versteck ...
Als es dunkel wurde, legte ich mich wieder schlafen. Es hatte keinen Sinn nachts blind durch die Gegend zu laufen. Überhaupt macht das ganze Leben keinen Sinn mehr, wenn man gefangen in einem Labyrinth auf seinem Tod wartet.

Versteck dich, Maleko!, rief mir meine Pflegemutter zu. Ich vernahm Stimmen von draußen. Die Wächter. Mörder, wie ich sie nannte. Schon immer war mir klar, dass sie irgendwann kommen würden. Und heute war es so weit. Zeitgleich mit dem sechszehnten Geburtstag von Noeli. Noeli war, bis auf meiner Pflegefamilie, die einzigste die von mir wusste. Sie war die Nichte meines Pflegevaters. Meine Pflegemutter konnte keine eigenen Kinder bekommen, daher war Noeli immer willkommen. In den letzten zwei Jahren war das Glück auf meiner Seite gewesen; ich konnte mich hier in diesem Haus problemlos verstecken. Und Noeli und ich wurden beste Freunde; sie behielt Stillschweigen über mich. Jeder wusste, dass es verboten war Außenstehende aufzunehmen .. bis auf sechszehnjährige Mädchen. Wäre ich ein Mädchen, hätte ich vor zwei Jahren, als ich sechszehn war, problemlos aufgenommen werden können. Als Junge standen die Chancen aber gleich null. Wie gesagt, ich hatte großes Glück, dass jemand die Regeln brach, und mich aufnahm.
Mit diesem Glück war es aber nun ein für alle Mal vorbei.
Das erste, und auch einzige, Versteck, welches ich ausmachen konnte, war der Kleiderschrank. Mein Herz raste, als ich die schweren Stiefel der Wächter durchs Haus gehen hörte. Als sie auf mein Zimmer zusteuerten schien mein Herz zerspringen zu wollen. Jemand öffnete die Tür.
»Wozu dient dieser Raum?«, fragte eine raue, tiefe Stimme.
Mit zittriger Stimme antwortete meine Pflegemutter: »Lagerraum.«
Die Lüge machte sich gut, da ich hier wirklich nur auf Getreidesäcken schlief. Ansonsten standen hier noch unbenutzte, oder auch veraltete Sachen rum. Der Wächter schien aber nicht überzeugt. Er wühlte zwischen dem ganzen Müll rum. Seine Schritte kamen immer näher. Ich spürte wie sie vor dem Schrank stehen blieben.
»Dort sind nur alte Kleidungsstücke aufbewahrt.« Der Wächter ignorierte sie. Ich hielt die Luft an und schloss die Augen. Dann riss er die Türen auf, und ich wurde am Kragen gepackt. Meine Pflegemutter schluchzte. Der Wächter sprach so etwas wie einen Code in ein Kommunikationsgerät. Sofort stürmten weitere Wächter ins Zimmer und ich werde hinausgeschliffen, weigerte mich jedoch in die Gesichter meiner Pflegefamilie zu sehen. Ich wusste, dass sie traurig waren. Die letzten zwei Jahre war ich ihnen ans Herz gewachsen. Aber dank mir werden sie bestraft werden. Vor den Augen jedes Bürgers dieses Dorfes. Vor jedem Monterra'.
Mir wurden elektronische Fesseln angelegt, dann schubsten sie mich weiter bis zum Empfangstor. Alle Monterras hatten sich hier versammelt und starrten mich nun an. Sie hatten mich nie zu Gesicht bekommen.
Auch wenn jedes Dorf in Covarem eine Familie darstellte, waren sie nicht immer einer Meinung. Das war auch der Grund, warum kaum einer von mir wusste. Sofort hätten sie mich verstoßen. Oder sogar gehängt.
Deshalb war das einzige, das ich nun empfand Freiheit.
Die Wächter schubsen mich zu Noeli. Alle beobachten uns. Mich mit angewiderten Blicken, Noeli mit mitleidigen.
Auch ich empfand Mitleid für Noeli. Sie hatte das Pech die erste dieses Monats zu sein, die sechszehn wurde. Aber nicht nur für sie empfand ich Mitleid, sondern für jedes Mädchen im Covarem, die als erste im Monat sechszehn wurde. Es war eine Art Sitte, vielleicht auch eher Gesetz, diese Mädchen zu verstoßen. Jedes erstgeborene Mädchen eines jeden Monats wird mit sechszehn aus ihrem Familiendörfern verbannt, um sich zu verloben. Sie müssen einen Jungen finden, der sie in ihr Dorf aufnimmt und sie heiratet. Dann gehören sie für immer dem Dorf des Mannes an. Sich mit jemanden aus dem eigenen Dorf zu verloben, war natürlich strengstens verboten.
Nicht selten kommen viele Mädchen dabei um. Verhungern. Verdursten. Wer würde schon eine Außenstehende aufnehmen? Ausnahmen gab es jedoch immer. Vorallem in den kleineren Familiendörfern, werden bereitwillig Mädchen aufgenommen, um den Bestand der Familie zu sichern.
Diese Sitte war der Grund, weshalb ich eigentlich froh war ein Junge zu sein. Normalerweise, wäre ich jetzt sicher in meinem Familiendorf ...
Noeli hatte Tränen in den Augen, und spürte meine Blicke. Aber sie sah mich nicht an.
»Diesen Monat mal wieder zwei Verbannte, was?«, spottete ein dickbäuchiger Wächter.
»Das letzte Mal waren es Zwillinge, von denen niemand wusste, wer die Erstgeborene war.«
Ich ignorierte sie. Auch die Blicke ignorierte ich. Jetzt laufe ich dem Tod entgegen, schoss es durch meinem Kopf.
Ein Signal ertönte und gleichzeitig fielen meine elektronischen Fesseln von mir ab. Die Barriere verschwand; Noeli und ich rannten aus dem Monterra-Dorf. Fort von der Sicherheit, dem Tod entgegen. Solange, bis die Nacht reinbrach. Sie konnte Feuer machen, etwas was mir nie gelingen würde. Das wenige Holz, das wir auftreiben konnten, schützte uns aber nicht lange vor der Kälte. Als schließlich die letzte Flamme erlosch, legte ich meinen Arm um sie und zog sie näher zu mich. Sie zuckte nicht mal zusammen. Trotzdem froren wir und kamen nicht mehr zum schlafen. Der erste Schnee fiel dieses Jahr viel zu früh, es war erst Anfang Oktober. Auch wenn er noch nicht liegen blieb.
Nach wenigen Tagen bekamen wir kaum etwas zu Essen. Einige Male huschten Kaninchen vorbei, welche wir über dem Feuer brieten. Doch mit der Zeit schien die Kälte jedes Leben zu verscheuchen. Auch Noeli wurde immer dünner und schwächer. Am nächsten Tag, entschied sie alleine weiterzuziehen. Natürlich wollte ich bei ihr bleiben, doch ich verstand, dass ihre Chancen mit mir sinken würden. Bevor sie ging, zog ich sie noch ein letztes Mal zu mir und drückte meine Lippen auf ihre. Sie schien nicht verwundert, sondern erwiderte den Kuss. Für uns beiden bedeutete er nicht viel, aber wir waren beste Freunde. Wir werden uns nie wieder sehen können ...
Den letzten Tag meiner Freiheit ging ich ziellos durch die leere Landschaft. Erschöpft brach ich dann mitten in einem Wald zusammen.
Als ich meine Augen öffnete, war es Nacht. Das erste, das ich wahrnahm, war der muffige Geruch von Erde. Um mich herum nichts als Erde. Bis auf das Loch hoch über mir, wo ein Stern durchschien. Gefangen.

2: PoV Yuna


»Tschüß, meine Süße« hauchte mir meine Mutter ins Ohr und stieß dabei eine kühle Wolke aus, welche aber sofort wieder verschwand als sie auf meine warme Haut traf. »Pass auf dich auf, Yuna!« fügte sie hinzu und drückte mir einen feuchten Kuss auf die Stirn. »Mach dir keine Sorgen, Mom« ein kurzes Schmunzeln fuhr über meine Lippen, als ich den Schmerz in den geröteten Augen meiner Mutter erkannte. Eine Masse klarer Tränen funkelte mich in ihren sonst so strahlenden Augen an. »Du wirst ein Dorf finden in dem dich die Leute aufnehmen, immerhin bist du eine wunderschöne Frau geworden« hörte ich meinen Vater sagen, welcher auf mich herab schaute und ein letztes mal an seiner Zigarre zog, bevor er diese im Schnee austrat. Ich nickte ihm und dem Rest des Dorfes ein letztes mal zu, worauf mich jeder einzelne von ihnen noch einmal mit erhobenen Augenbrauen musterte. Ich verbrauchte all meine Kraft dafür, meine Gefühle einigermaßen unter Kontrolle halten zu können. Ein leichtes Zucken durchfuhr meinen Körper, stärkere folgten. Ich konnte kaum still halten, war kurz davor auszubrechen, meine ganze Freude, mein ganzes Glück zu offenbaren welches ich im Augenblick verspürte. Ich musste mir eingestehen, dass ich es kaum erwarten konnte in die Freiheit entlassen zu werden. Aus dem Augenwinkel erspähte ich meine Mutter, die ihre verbrauchten Taschentücher zurück in ihre Tasche stopfte und meinem Vater etwas ins Ohr flüsterte, jedoch konnte ich nicht genau deuten was es war. Ich konzentrierte mich so stark ich nur konnte auf ihre Worte, jedoch vernahm ich nur ein undeutliches Murmeln. Von Nervosität überfallen unterdrückte ich das Bedürfnis laut aufzulachen indem ich mir mit aller Kraft meine Handfläche auf die Lippen presste. Warum verweigerte ich meinen Gefühlsausbruch so strikt? Es würde vollkommen wertlos sein was ich jetzt noch tat, ich würde ihnen nie mehr unter die Augen treten müssen. Vielleicht wollte ich meine Mutter einfach nicht wissen lassen, dass das Dorf mir nichts bedeutete. Dass ich die ganze Familie vermissen, anstatt verachten würde - genau das war es, was sie denken sollte. Plötzlich verzog mein Vater das Gesicht, sein Mund verzog sich beinahe zu einem schmalen Strich. »Wir werden dich vermissen« sagte er kurz darauf grimmig, doch ich wusste, dass er es nicht ernst meinte. Wahrscheinlich hatte meine Mutter ihn dazu aufgefordert mich anzulügen, damit ich mich nicht all zu schlecht fühlte. Damit ich ihn als netten, liebevollen Familienvater in Erinnerung behalten würde. Wenn sie doch nur wüssten, dass es nur noch einen Bruchteil einer Sekunde bedarf um mich vor Freude explodieren zu lassen. Es war mein sechzehnter Geburtstag und somit der Tag, an dem ich aus dem Dorf verbannt wurde. Endlich. Es war mir relativ egal was aus mir werden würde und die Tatsache, dass ich nun meine ganze Familie hinter mir lassen musste um einen Mann zu finden, mit dem ich mich verloben und ihn später heiraten konnte erstrecht, denn ich habe meine Familie noch nie gemocht. Nicht einen einzigen, außer vielleicht meine Mutter. Ich spürte mein ganzes Leben lang, dass sie mich nicht bei sich haben wollten. Desto mehr ich darüber nachdachte, um so stärker wurde die Wut und der Hass in mir. Die meisten ließen mich allein durch ihre Blicke ihre bloße Verachtung spüren, mein Vater war einer von ihnen. Wahrscheinlich sogar der schlimmste. Sie hatten mich schon als sich herausstellte, dass ich direkt am ersten Novembertag geboren werden würde abgeschrieben, sie wussten was dies hieß. Jedoch wusste keiner von ihnen, zu was es diente. Selbst ich war mir alles andere als im klaren darüber, warum genau diese Sitte jeden Monat ausgeführt wurde. Jedoch war ich noch nie der Typ Frau der sich über alles und jeden den Kopf zerbrach. Mag sein, dass ich auf manche Menschen ziemlich nachdenklich wirkte, jedoch waren meine Gedankengänge meist alles andere als logisch. Plötzlich packte einer der Wachen meinen rechten Arm, der gegenüber stehende meinen linken. Ruckartig zogen sie mich ein Stück mit sich, wurden ungeduldig. Jedoch war es zu ihrer Überraschung gar nicht nötig mich mit Gewalt aus dem Dorf zu entfernen, ich ging freiwillig mit ihnen. Als ich meiner Familie den Rücken zukehrte vernahm ich das laute Schluchzen meiner Mutter, doch der Rest schwieg. Ein nahe zu furchterregendes Grinsen machte sich in meinem Gesicht breit, einerseits wollte ich mein ganzes Glück, welches ich versuchte zu überspielen rauslassen, doch ich entschied mich dafür noch ein wenig mit den Wachen zu spielen. Ich würde eine Weile durch Covarem wandern und irgendwo einem netten Mann begegnen - reich und gut aussehend, welcher mich mit in sein Dorf nehmen würde. Da war ich mir todsicher, die Hilferufe eines so charmanten Mädchens, wie ich es war würde kein Mann der Welt abschlagen können. Von dem Ritual wurde mir an meinem fünften Geburtstag erzählt, der Tag dem ich voller Vorfreude hingegen fieberte. Schon Wochen zuvor legte ich mich am Abend ins Bett, betrachtete die Decke und träumte von der Torte und den wundervollen, bunten Geschenken die mich an meinem Geburtstag erwarten würden. Drei Tage vor dem großen Tag war es sogar schon so weit gekommen, dass ich kaum ein Auge schließen konnte, ich war viel zu aufgeregt gewesen. So ist das eben mit kleinen Mädchen, die sich viel im Leben erhoffen. Doch mein Lächeln verschwand, als alles anders kam als ich es mir gewünscht hatte. Anstatt eine riesige Torte mit bunten Kerzen und Schokoglasur erwarteten mich meine Eltern im Wohnzimmer, die mich dazu aufforderten mich zu setzen. Wer zur Hölle könnte bloß so grausam sein und einem kleinen Mädchen den Geburtstag verderben? Wie auch immer, meine Eltern taten es. Am Anfang war es schlimm für mich, ich fragte mich Tag ein, Tag aus warum ich nicht ein paar Stunden später hätte geboren werden können. Mein sechster Geburtstag war ganz anders als die Geburtstage zuvor, anstatt vor Aufregung nicht schlafen zu können saß ich schon Tage zuvor im Bad und fuhr mit der Klinge über meinen Unterarm. Bohrte sie in meine weiche, blasse Haut. Und das in einem so jungen Alter. Ich war wie ausgewechselt, mit der Nachricht, dass mich meine eigene Familie bald ohne erdenklichen Grund verstoßen würde hatten sie einen anderen Menschen aus mir gemacht. Tag für Tag riss ich die Narben meines Armes erneut auf, bis ich zwölf wurde. Denn da wurde mir klar, dass ich nicht mir die Schuld geben sollte, sondern ihnen. Ich fing an nicht mehr wegzuschauen, sondern sie so sehr zu verachten, wie sie mich verachteten. Nein, sogar doppelt und dreifach so stark. Ich bin etwas besseres, als dieses Gesindel. Diesen Gedanken hielt ich mir immer wieder vor Augen, verinnerlichte ihn so gut ich konnte. Und es brachte mir sehr viel. Möglich, dass in anderen Dörfer anders gehandelt wurde, dass die Mädchen dessen Schicksal besiegelt war in Mitleid getränkt wurden, jedoch war es in meiner Familie eben nicht so einfach. Denn hier hieß es schon immer »fressen oder gefressen werden«. Logisch, dass mich diese Umstellung zu einem schlechteren Menschen machte. Es ist eben so klar, dass aus mir ein eingebildetes, Arrogantes, psysisch verstörtes Wrack geworden ist, welches zu erst an sich denkt und erst dann an die anderen. Doch so musste ich werden, um in diesem Dorf klar zu kommen. Um mit »mir« klar zu kommen.

»Und ab mit dir« sagte der schmächtigere der beiden Wachen schadenfroh & drängte mich aus dem offen stehenden Tor hinaus, welches sich weit über mich erhob. Ich fiel in den kalten Schnee, mit meinen Knien und Händen fing ich mich jedoch auf. Ein kurzer Schmerz zog sich durch meine nackten Hände, denn die Minusgrade waren bereits angebrochen und der Schnee legte sich wie eine Decke über ganz Covarem, er war weiß, unschuldig und unberührt. Ganz anders als meine Wenigkeit. »Von nun an bist du ganz auf dich allein gestellt, aus Azakeri wird keiner mehr hinter dir stehen und dich durchfüttern« grummelte der andere und nahm eine der Ketten in beide Hände, mit denen man das Tor hoch und hinunter fuhr. Eine lange, hohe Mauer zog sich durch ganz Azakeri, sie sollte Fremde daran hindern einzudringen und sie erfüllte ihren Zweck besser als anfangs erwartet. Der einzige Weg der ein und aus führte war der durch dieses Tor, welches wiederrum selbst bei Nacht von verschiedenen Wachen im Auge behalten wurde. Die Wachen kamen näher, bohrten ihre Füße in meinen Körper und traten fest auf mich ein, so lange bis ich anfing zu bluten. Sie gaben erst Ruhe, als sie befriedigt auf meinen vom Blut durchnässten Parker blickten. Nachdem sie mich noch einmal am Kragen gepackt und mitten ins Gesicht geschlagen hatten kam ich langsam wieder auf die Beine, jedoch verspürte ich keinerlei Interresse daran ihnen meiner Rache auszusetzen. Unachtsam stolperte ich im selben Moment wieder über einen Stein der sich unter dem Schnee versteckte. Die Wächter lachten daraufhin hysterisch auf, sie lachten mich aus und wirkten schon fast ein wenig verstört, wobei ich in dieser Situation eigentlich die jenige sein sollte die anfängt durchzudrehen. Erneunt brachte ich meinen müden Körper auf die Beine, meine komplette Kleidung war inzwischen durchnässt. Sowohl von meinem Blut, als auch vom Schnee, dessen eiserne Kälte langsam aber sicher meinen kompletten Körper übernahm und selbst die letzten Emotionen aus mir herausprügelte. »Viel Glück noch, Süße« rief mir der schmächtigere der Wachen zu, während das Tor langsam vor mir hochfuhr. »Oder auch nicht! Diese Schlampe wird sowieso keinen abkriegen und einsam verroten«hörte ich den Rotschopf murmeln, als das Tor schon fast seine Grenze erreichte. Lautes, hysterisches Lachen. Die Wunden die die Wachen meinem Körper verpasten schmerzten nicht sonderlich, die Kälte hatte mich betäubt und schmerzte wesentlich mehr. Die Zeit vor der ich mich bis zu meinem zwölften Lebensjahr fürchtete hatte begonnen. Erleichtert stämmte ich meinen zierlichen Körper gegen das Tor, bespuckte es voller Abscheu, doch meine Augen fixierten es noch einige Zeit. Ich prägte mir die Farbe und jede einzelne Maserung des Holzes genaustens ein, bis mich die Kälte wie von selbst vom Dorf Azakeri wegtrug. Jedoch war mir die Freude mehr oder weniger vergangen, auch sie wurde von dieser unerträglichen Kälte wortwörtlich ausradiert. Letztendlich machten sich meine Beine selbstständig, spüren konnte ich sie inzwischen nicht mehr. Aber das Gefühl war schon vor Stunden aus meinem gesammten Körper entschwunden, die Kälte hatte es in mir ausgelöscht. Die kleinen Schneeflocken tänzelten wild vor meiner Nase herum, bis ich meine Hand nicht mehr erkennen konnte, selbst dann nicht, wenn ich sie noch so dicht vor meine ausdruckslosen Augen hielt. Ich konnte nur noch die Umrisse der vielen Bäume erkennen, wahrscheinlich lief ich geradewegs durch einen Wald, ohne es wirklich zu registrieren. Ein Schneesturm war angebrochen. Jedoch stampfte ich selbst nachdem ich mir eingestehen musste, mich verlaufen zu haben durch den dichten Schnee und verewigte die gemusterten Abdrücke meiner Schuhsohlen mit jedem weiterem Schritt in ihm. Ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung worauf ich gerade ansteuerte, hoffte einem Mann oder wenigstens den Mauern eines Dorfes zu begegnen. Erst jetzt bemerkte ich, wie brutal der kalte Wind mir ins Gesicht peitschte. Jeder neue Windzug schien scharf wie eine Messerklinge, welche sich unverschämter Weise in meine Haut bohrte. Alles was ich trug war eine Jogginghose, ein Top und einen Parker den ich mir in aller eile umhängte. Ich hatte keine Zeit dazu, mich mit weiterem Stoff zu belasten welcher mich angeblicher Weise wärmen sollte. Die Hand Gottes schien mich zu packen und zu führen, an einen mir unbekannten Ort. Eine eiserne Murmel die von einem Magneten angezogen wird hat auch keine Zeit, sich zu polieren. Sie hat keine Zeit mehr, die Fingerabdrücke und den Staub von sich zu wischen, bevor sie blitzschnell zu dem Pluspohl dessen gezogen wird. Jede Schneeflocke die sich auf meinem Gesicht breit machte schien wie ein Messerstich. Die Turnschuhe an meinen Füßen waren inzwischen durchnässt, durchnässt vom gefrohenem Wasser welcher sich auf dem Waldweg breit machte. Der Schmerz, er war kaum noch zu ertragen. Aber ich musste weiter, ich konnte nun nicht mehr stoppen, die Kälte würde mich erfrieren lassen, wenn ich mich nicht in Bewegung hielt. Stunden vergingen indem ich mich durch die Kälte zwung, doch plötzlich packte mich der Hunger. Ein unerträgliches Stechen in meiner Margengegend. Ich musste schon den ganzen Tag am hungern sein und es gar nicht wirklich bemerkt haben. Ich hatte andere Sorgen, als Ernährung. Jedoch entschloß ich mich schließlich dazu eines meiner Brote zu mir zu nehmen, die ich mir vorher als Proviant eingepackt hatte. Der Rucksack den ich auf meinem Rücken mit mir trug war gefüllt von Sandwiches und anderen Leckerreien, sowie gefüllten Wasserflaschen. Der größte Teil war geklaut, denn es war mir nicht erlaubt mehr als zwei Flaschen Wasser mit mir herum zu tragen. Kaum zu glauben, dass es überhaupt Erstgeborene meines Dorfes schafften zu überleben, immerhin wurde uns nicht einmal erlaubt etwas essbares mit uns zu nehmen. Es viel mir schwer das Brot aus seiner Verpackung zu befreien. Ich konnte meine Finger kaum bewegen, denn die Kälte hatte sie förmlich eingefrohren. Schließlich gelang es mir jedoch es aus der Alufolie zu wickeln, welche ich rücksichtslos in den kalten Schnee fallen ließ und gierig nach dem Brot langte. Es war hart und kalt geworden, jedoch schmeckte es trotzdem. Wenn man kurz vor dem Hungertod stand, schmeckte einem eigentlich alles. Auch wenn das Wort Hungertod in meinem Fall wohl ein wenig zu weit hergeholt war, jedoch badete ich mich schon immer gerne in Selbstmitleid. Es tat gut endlich wieder einen gefüllten Margen zu haben, doch als ich einige Meter weiter durch den Schnee geschlichen war, nahm ich einen Windzug unter meinen Füßen wahr. Eigentlich dachte ich mir nicht viel dabei, jedoch packte mich die Neugier und so hockte ich mich in den weichen Schnee, welchen ich mit den Händen zur Seite wischte. Etwas glänzendes stach mir ins Auge, es fühlte sich glatt an. Ich konnte das ziehen in meinen Fingern nicht mehr ertragen, also stand ich auf, wärmte meine Hände in den Taschen meines dunkelbraunen Parkers und fegte den restlichen Schnee mit meinem Fuß zur Seite. Ich traute meinen Augen nicht, als ich eine silberne Platte erkannte die mitten auf dem Erdboden sitzte. Sie schien aus Metall zu sein, am Rand war sie inzwischen schon gerostet. Wahrscheinlich würde es auch nicht mehr all zu lange dauern, bis sie komplett rosten und in ihre Einzelteile zerfallen würde. Keine Ahnung was ich mir dabei erhoffte, doch ich schob die Platte ohne zu zögern bei Seite. Sie war nicht sonderlich schwer, ich war es immerhin gewohnt Lasten zu tragen und dabei war schon deutlich schwereres gewesen. Es schien ein Eingang zu einem Schacht zu sein, welchen ich gerade entdeckt hatte. Der Schacht war stockfinster, die Dunkelheit die sich unter der Erde breit machte jagte mir Angst ein. Und mir machte inzwischen kaum etwas noch wirklich Angst. Insgeheim interressierte es mich wirklich sehr, was sich dort unter der Erde befand, jedoch wäre es unvorsichtig einfach in ein tiefes Erdloch dem Tod entgegen zu springen. Darauf bedacht nach einem Stein zu greifen, um ihn hinein zu werfen und zu testen, ob der Grund wirklich so weit unten war wie ich es mir einredete rutschte ich aus und viel plötzlich hochkant hinein. Noch bevor ich überhaupt realisiert hatte, dass mich sicherlich nichts gutes in der vollkommenden Dunkelheit erwarten würde verlor ich mein Bewusstsein.

Als ich wieder zu mir kam spürte ich den kalten, harten und dreckigen Boden der sich unter meinem Körper erstreckte. Es vergangen ein paar Sekunden, bevor ich mich wieder daran erinnerte was vor unbestimmter Zeit passierte »Mist« fluchte ich und setzte mich vorsichtig auf. Ich sah mich unbeholfen um, aber ich erkannte kaum etwas anderes als das tiefe Schwarz der Dunkelheit welches mich umgab und das wenige Licht, welches in Form eines Kegels auf mich hinab fiel. Die Sonnenstrahlen mussten durch das Loch, welches mich erst hier herein gebracht hatte eingedrungen sein. Es befand sich genau über mir, groß genug um geradewegs hinein zufallen. Sowas konnte aber auch wirklich nur mir passieren. Unbewusst fuhr ich mir durch mein langes, schwarzes Haar um die Strähnen die mir ins Gesicht fielen zurück zustreifen. »Verdammte Scheiße nochmal!« fluchte ich diesmal etwas lauter und begang etwas in Panik zu geraten, da mir klar wurde, dass ich nun ganz auf mich allein gestellt war und es vermutlich keinen Fahrstuhl hier unten geben würde der mich wieder hinauf befördern würde. Immerhin wusste ich nun, wie weit unter der Erdoberfläche der Grund lag - tief genug, um nie mehr herauszukommen, aber bei einem Sturz bricht man sich im ungünstigsten Fall vielleicht ein paar Knochen. Mir war glücklicher Weise nichts passiert, was mich etwas verwunderte. Ich brachte mich nun auf die Beine, welche mich vor Müdigkeit aber kaum noch hielten. Langsam ertastete ich mit meinen Füßen den vor mir liegenden Erdboden, bis ich an einer geraden Wand ankam, die ebenfalls komplett aus Erde bestand. Ich schien wirklich in einen unterirdischen Hohlraum gefallen zu sein, das würde mir keiner aus meinem Dorf glauben, dachte ich und seufzte, als sich der Gedanke in meinen Kopf drang, dass ich nun ja gar kein Dorf mehr hatte. Behutsam tastete ich mit meinen Händen die Erdwand ab. Sie war matschig, dreckig. Jedoch auch steil und glatt, an ihr hinauf zuklettern konnte ich also schonmal vergessen. Nach einiger Zeit gab ich die Suche nach einem Vorsprung über den ich vielleicht etwas weiter nach oben gelangen könnte auf und wischte mir meine dreckigen Hände an meiner inzwischen getrockneten Kleidung ab und bemerkte erst jetzt, wie stark meine Wunden überhaupt waren. Mit einem mal waren meine Hände voller Blut, welches ich in der Dunkelheit zwar nicht erkannte, aber riechen konnte. Eisen. Ich ließ mich am Rücken an der Wand hinab gleiten, bis ich am Boden ankam. Ich hatte Angst meine Augen zu schließen, Angst davor etwas könnte geschehen während ich schlief, aber am meisten Angst hatte ich vor dieser unbekannten Situation und davor hier unten mein Ende zu finden. Doch nach Stunden in denen ich vergeblich versucht hatte meine Augen aufzuhalten, einnickte und immer mal wieder aufschreckte und mich panisch umsah fiel ich in einen traumlosen Schlaf.

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Tag der Veröffentlichung: 22.11.2011

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