Geh-…und schau nicht zurück
Liebe Leser... Die folgenden Geschichten sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit Personen, Orten und Begebenheiten sind rein zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt...
Träume einer Sommernacht
Es muss der Sommer des Jahres 1988 gewesen sein, welchem ich meine Geschichte verdanke. Ein absolut herrlicher und idyllischer Bilderbuchsommer mit milden Nächten, sonnendurchfluteten Tagen und dem Hauch von etwas Neuem. Ich weiß nicht so recht, es lag etwas in der Luft. Irgendwas war diesmal anders an diesem Sommer im Gegensatz zu den Vorangegangenen.
Die Ferien standen an und die letzten Wochen Schule hatten wir gut hinter uns gebracht. Der Auftakt zum neuen Schuljahr sollte noch gute acht Wochen auf uns warten. Acht schier unendliche Wochen Ferien und Gott einen guten Mann sein lassen. Die schönste Zeit des Jahres wartete schon voller Zuversicht auf mich und meine Freunde. Und alle hatten wir schon Pläne geschmiedet was wir in den großen Ferien so unternehmen würden. Ausnahmsweise fuhren wir diese Ferien mal nicht zu unseren Bekannten und die Tage bei meiner Tante würde ich sicher auch noch überstehen.
Na ja, meine Tante war eine alte mürrische Frau mit allerlei Zipperlein und die dort verbrachten Wochen schwankten jedesmal zwischen gähnender Langeweile und Familiengewusel. Sich aus dem Weg zu gehen war nur selten möglich und das Freizeitangebot durfte man als dürftig bezeichnen. Aber so war das eben zu unserer Zeit. Und wenn ich an diese ewigen Diskussionen der Tante mit meiner Mutter denke. Man, was konnte diese Frau einen nerven. So nerven, dass wir kurzerhand mal die Koffer packten und wieder abreisten.
Ich war gerade erst fünfzehn geworden und unterlag gerade einem inneren Wandel meiner Interessen und Wünsche. Endlich das Kind sein hinter sich lassen, Zukunftspläne schmieden und den Weg des Erwachsen werdens beschreiten. Irgendwie waren wir uns sicher, dass große Dinge auf uns warten würden. Diese Ferien würden nicht Woche um Woche vorübergehen wie die Ferien davor. Vor allen Dingen deshalb, weil vierzehn Tage Lagerleben auf mich und meinen besten Kumpel warteten und ich jeden dieser Tage aus ganzen Herzen genießen würde. Allerdings wartete auch noch ein ebenso langer Arbeitseinsatz auf uns. Ferien im Dienste der Allgemeinheit. Schlecht bezahlt, sehr schlecht bezahlt und außerdem so völlig sinnfrei wie etwas in jener Zeit nur sein konnte. Aber das Geld konnte ich gut gebrauchen. Immerhin wartete der erste fahrbare Untersatz auf mich und den einen oder anderen Hunderter konnte ich dafür schon noch gebrauchen.
Meine Mutter bot mir seinerzeit zwar an das Geld vorzustrecken, aber das war nicht mein Ding und zurückzahlen hätte ich es so oder so müssen. Von daher sollte dieser Arbeitseinsatz zumindest finanziell von Vorteil sein. Wie also waren nun die Pläne für die kommenden acht Wochen? Zwei Wochen Ferienarbeit auf dem städtischen Bauhof, zwei Wochen Arbeitseinsatz für die Allgemeinheit, zwei Wochen Lagerleben und dann noch einmal die verbleibenden zwei Wochen zur eigenen freien Verfügung. Doch, das klang echt gut und so nach und nach konnte ich ja schon mal nach einem passenden Moped für mich schauen. Die ersten Tage der nun angebrochenen Ferien gammelte ich eigentlich weitestgehend nur herum, war mit meinen Kumpels unterwegs und erholte mich von den letzten Monaten Schule. Nicht dass mich die Schule seinerzeit so abnervte, nein - aber ich war auch nicht gerade der Musterschüler. Viel lieber streunte ich bis spät abends durch die Gegend. Und Schule? Na ja, man sah es halt nicht ganz so eng wie man es vielleicht hätte tun sollen. Die Tage vergingen wie im Fluge und ehe wir uns versahen saßen wir im Bus und wurden in eine Art Sammel-unterkunft gekarrt. Eine Schule im Plattenbau, wie aufregend…
Unsere einzige Arbeit bestand darin Gräben für neue Telefonkabel zu hacken, eine Menge alten Bauschutt freischaufeln und anschließend wieder neue Gräben zu hacken. Irgendwo am Rande der Stadt in irgendwelchen Plattenbausiedlungen. Wie schon gesagt, über alle Maßen aufregend. Auf Platte zu sein hatte wenn dann nur einen Vorteil, die anderen hatten auch Ferien. Und so besuchten uns ab und an die Mädels aus den umliegenden Häusern. Während wir eifrig unsere Spitzhacken in den lehmigen Boden stießen und cool schwitzend wie in einem schlechten Werbeclip oberkörperfrei die matschigen Stiefel auf die Schaufeln stützten, turtelten süße vierzehn- fünfzehnjährige Mädels um uns herum. Wer weiß, vielleicht fanden die uns aber nicht halb so cool wie wir dachten sondern doppelt so dämlich wie wir aussahen. Aber das Ganze hatte auch was Lustiges an sich. Gerade so der Kindheit entsprungen versuchten wir nun von einem Moment auf den anderen echte Männer zu sein. Hampelmänner trifft es wohl am besten. Cool sein war ja schon immer relativ. Von daher…
Und dennoch waren es interessante Erfahrungen die ich dort sammeln durfte. Die hochsommer-lichen Temperaturen waren erdrückend und jeder freute sich auf die milden und lauen Abende. Die Schulhofabende hatten es aber in sich. Draußen vor der Tür trafen wir uns heimlich mit den Einheimischen, während einer der gutbetuchteren Klassenkameraden Sekt, Ananas und ein paar Bierchen organisierte. Woher auch immer? Wie er das anstellte war uns allen schleierhaft und doch vollbrachte er dieses Wunder fast an jedem Abend. Aber auch das war dann nach dem dritten oder vierten Mal nicht mehr so der Bringer. Die Mädels vor dem Tor waren dann doch ein oder zwei Jahre jünger als wir dachten und unser Interesse ging so ziemlich gegen null. So wurden die Abende bald noch langweiliger.
Einen Abend wollte man uns dann doch noch etwas Gutes tun und erlaubte uns die hiesige Club-diskothek zu besuchen. Zu dumm nur, dass sie die Einheimischen ausschlossen und es auf Grund dessen zu Tumulten vor den Türen kam. Und man glaube mir eins, die Tumulte waren natürlich weitaus interessanter als das lahme Treiben in der Diskothek. Wie auch immer, die Verantwortlichen einigten sich bald und der Tumult fand ein Ende. Hätte auch wirklich keiner ausgehalten den Abend schon wieder mit den gleichen Eierköpfen zu verbringen. Der Abend lief dann noch so leidlich vor sich hin, mal abgesehen von ein paar kleineren Raufereien zwischen den Einheimischen und uns. Aus dem erhofften Lichtblick des Tages war eher ein kleines Desaster geworden und die meisten waren einfach nur froh als der Abend endlich zu Ende ging. Und dennoch war ich guter Dinge. Schließlich waren es nur noch ein paar wenige Tage bis zu meiner Abreise, dazu die leicht verdiente Kohle und beste Aussichten ein paar ruhige Tage im Ferienlager zu verbringen. Zugegebenermaßen war ich sehr zufrieden und freute mich der Dinge die noch auf mich warteten.
Im Nachhinein kann ich gar nicht mehr sagen ob es eine Auszeichnung hat sein sollte an diesem Ferienlager teilzunehmen oder ob die Schulleitung einfach keine Dümmeren gefunden hatten. Doch wie auch immer, mein Kumpel Tobi und ich standen auf dieser Liste und ich hatte echt Bock darauf. Angenehmer Nebeneffekt war der, dass wir unseren Arbeitseinsatz bei voller Bezahlung einige Tage eher wie die anderen verlassen durften. Gott sei Dank, denn die Buddelei im Dreck ödete uns langsam an. Und Mädels hatten wir auch keine kennengelernt so wie wir uns das vorgestellt hatten. Fazit? Wir waren jung und brauchten das Geld. Kennt man ja. Oder?
Es tat wirklich gut wieder im Zug nach Hause zu sitzen und sich auf die vor uns liegende Zeit zu freuen. Schon zwei Tage später würden wir wieder aufbrechen und mit frisch gepackten Taschen am Bus stehen. Der freie Tag verging schnell und ein Stück weit Aufregung übermannte mich natürlich auch. Allgemeine Hektik machte sich natürlich auch breit, weniger bei mir als bei meiner Mutter. Klamotten waschen, bügeln, umpacken und sich wieder abfahrtbereit machen. Nebenbei noch schnell ein paar Kumpels abklappern die mit ihren Schulen schon zuvor vom Arbeitseinsatz zurück-gekehrt waren. Ein kurzer Erfahrungsaustausch, eine heimliche Zigarette und die Wege trennten sich wieder. Ich wollte an diesem Abend einfach zeitig zu Hause sein.
Innerlich hoffte ich natürlich, dass das Ferienlager nicht gar so kinderlastig werden würde, denn auf echte Jugendarbeit hatte ich so gar keinen Bock. Was war nun eigentlich unsere Intension? Na was wohl? Natürlich Mädels aufreißen! Und davon sollte es dort reichlich geben, denn die Ferienlager der Schule waren zu einem Großteil von Mädchen besucht. Glück für uns.
Tobi und ich waren schon eine lange Zeit wirklich gute Freunde, auch wenn er einer der Vernünftigeren war und in meine Parallelklasse ging. Doch, ich kann guten Gewissens behaupten, dass er mir über viele Jahre ein wirklich treuer Freund war. Leider brachte das älter werden mit sich, dass sich unsere Wege trennten und wir uns nach der Ausbildung gänzlich aus den Augen verloren. Schade, denn solche Freunde wie Tobi würde man nur wenige im Leben kennenlernen. Aber das wussten wir damals noch nicht und wir dachten in jener Zeit auch nicht daran wie sich unser Leben in naher Zukunft gestalten würde. Für uns war das hier und jetzt wichtig.
Die Tage vergingen wie im Fluge. Machte auch bei weitem mehr Spaß als jene Abende die wir zuvor in der Plattenbauschule verbrachten. Wir lernten viele Leute kennen. Manche die uns noch lange Zeit später in Erinnerung bleiben würden, andere die wir schon vergessen haben sollten noch ehe wir wieder nach Hause zurückgekehrt wären. Unsere Zeit vertrieben wir mit kleinen Fußballturnieren oder der einen oder anderen Partie Tischtennis. Ab und an mal ein Vortrag oder ein Ausflug ins Grüne, aber das war eher nebensächlich. Tobi hatte unbemerkt eine Flasche Pfeffi mit ins Lager geschmuggelt und ich eine Flasche Kirschlikör. Schätze die wir brüderlich zu teilen wussten und da auch andere auf diese Idee gekommen waren, blieben unsere Partys durchaus lustig und feuchtfröhlich. Und wieder sollten die Tage wie im Fluge vergehen und bevor wir uns versahen war eine Woche an uns vorübergezogen. Zu blöd, denn mit den Mädels das klappte noch immer nicht so recht. Verflixt, irgendwie lief das nicht so wie wir uns das vorstellten. Nicht etwa, dass wir so absolut niemanden kennenlernten, aber es war einfach nicht so das was wir uns vorstellten. Aber Spaß hatten wir und darauf kam es ja an. Vielleicht waren wir auch einfach zurückhaltender wie die anderen oder aber noch nicht an die Richtigen geraten. Dieses oder jenes Pärchen hatte sich schon gefunden und der Rest beschäftigte sich eben mit anderen Dingen oder hing etwas gelangweilt herum. Aber ein paar flüchtige Bekanntschaften haben wir auch gemacht, tauschten fleißig Adressen aus und versprachen uns nach den Ferien mal zu schreiben. Eben nette Bekanntschaften, nicht mehr. Eine war darunter die mir schon sehr gefiel. Lange schwarze Haare bis zu den Hüften, tief dunkle Augen und eine Figur der man am liebsten den ganzen Tag hinterher schauen wollte. Oft und gern verbrachte ich Zeit mit ihr in diesen Tagen, wenn auch meist in der Funktion eines Seelentrösters. Sie wollte gar nicht hier sein, doch ihr Vater war Organisator jenes bunten Treibens und sie musste die ganzen Ferien dort verbringen. Denise hieß sie und hatte ebenso wie wir mit ihrer Schulklasse zwei Wochen Arbeitseinsatz hinter sich gebracht. Und dabei natürlich einen süßen Typen kennengelernt in den sie sich Hals über Kopf verschossen hatte. Fazit? Mir blieb nur die Rolle des Seelentrösters. So mimte ich den guten Kumpel und war doch eigentlich selbst ein wenig in sie verknallt. Aber sie war eh aus dem hohen Norden und selbst wenn wir zusammengekommen wären, hätte eine Beziehung zwischen uns nicht den Hauch einer Chance gehabt. Entfernungen dieser Art machten eine Beziehung zu meiner Zeit so gut wie unmöglich. Heute würde man das sicher anders sehen, doch damals war das eben anders. Na ja, auf jeden Fall haben wir uns sehr oft nett und ausführlich unterhalten. Zudem blieben wir locker befreundet und vertrieben uns die Langeweile mit Karten spielen, Tischtennis und quatschen. Ein paar Wochen später, sie war meinen Sinnen bereits entschwunden, erhielt ich plötzlich einen Brief von ihr in welchem sie sich für die schöne Zeit mit mir bedankte. Schade dass auch dieser Kontakt abbrach, denn auf meinen Brief erhielt ich nie eine Antwort. Aber noch Jahre später fiel mir ihr Brief ab und an in die Hände und ich erinnerte mich gern an sie. Im Laufe der Zeit ging der Brief verloren und auch die Erinnerungen verblassen mit jedem Jahr ein Stück weit mehr. Aber zurück…
Die Ferienlagerzeit neigte sich dem Ende entgegen und Tobi bändelte kurz vor Schluss noch mit einer netten Brünetten aus dem Nachbarort an. Wie Denise hatte sie lange dunkle Haare und rehbraune Augen. Eine Schönheit für eine aus der achten Klasse. Aber Tobi war nicht mehr zu gebrauchen. Jedes Wort drehte sich nur noch um sie und mit jedem Satz geriet er ins Schwärmen. Ich gönnte ihm sein Glück und fand die kleine Brünette auch echt nett. Aber es nervte mich ein wenig, dass er nicht mehr zu gebrauchen war. Denise war meine Retterin, denn mit ihr konnte ich auch an diesem Abend wieder unendlich lange quatschen. Ein wenig kam ich auch ins Grübeln, vielleicht weil ich noch als Single durch die Gänge schlürfte, während Tobi sich schon einen Schatz an Land gezogen hatte. Ein wenig Konkurrenz belebt ja bekanntlich das Geschäft und natürlich gibt es eine solche auch unter Freunden. Ich war durchaus vielen netten Menschen begegnet, hatte neue Freundschaften geschlossen und war eigentlich mit mir und der Welt im Reinen. Wie hätte ich auch erahnen können, dass sich das Blatt noch einmal wenden würde und ein einziger Abend viele Jahre meines Lebens bestimmen sollte. Wüsste ich es nicht besser, so liefe ich Gefahr die folgenden Ereignisse einem dieser Groschenromane zuzuschreiben, die ich selbst so gar nicht leiden kann.
Eigentlich war ja schon alles gelaufen. Zwei Wochen waren vorüber und der alte gelbe Gelenkbus würde uns am folgenden Morgen wieder nach Hause bringen. Zu Ende war der Spaß, vorbei die Chance doch noch jemanden kennenzulernen. Aber gut, ich hatte ja noch Ferien und mal sehen was der Club bei uns um die Ecke noch für mich bereithalten würde. Denise war am Nachmittag schon von ihren Eltern mit dem Auto abgeholt worden und Tobi würde den Abend mit seiner neuen Flamme verbringen. Die Übriggebliebenen von uns würden den Abend sicher wieder mit Kartenspielen verbringen und irgendjemand hatte aus der Kantine einen Kasten Bier besorgt. Oder geborgt? Egal, ein paar meiner neuen Kumpels hatten mich für den Abend auf ihre Bude eingeladen um den Abschied gebührend zu feiern. Die letzten Rester an Schnaps und Likör wurden noch hervorgekramt und ließen darauf schließen, dass auch dieser Abend noch einmal feuchtfröhlich werden würde. Eigentlich hatte ich an diesem Abend gar keine Lust mehr auf solch ein Gelage. Zwei Wochen waren genug und ich freute mich auf ein paar ruhige Stunden daheim in meinem Zimmer. Mal wieder für sich sein und ein Stück Ruhe genießen zu können erschien mir in diesem Augenblick durchaus lebenswert. Ich packte also schon mal meine sieben Sachen. Morgen würde ich dann in aller Ruhe frühstücken und bräuchte im Gegensatz zu den anderen keine Eile schieben. Die schienen nämlich gar nicht daran zu denken auch nur einen Handschlag für die bevorstehende Abreise tun zu wollen. Aber egal, denn ich würde dem regen Treiben morgen früh dann in aller Ruhe von der anderen Seite des Platzes aus, von der Terrasse der Kantine aus zuschauen.
Viel mehr passierte auch nicht an diesem letzten Nachmittag. Eine Veranstaltung auf die eh keiner Lust hatte wurde schon im Vorfeld abgesagt und so blieb uns zum Teil mehr Zeit als uns im geheimen lieb war. Kurze Regenschauer überfielen das Lager und machten Aktivitäten auf den Außenanlagen erstmal unmöglich. Auch wenn sich die sommerliche Nachmittagssonne gleich wieder ihren Weg durch die dicken Wolken bahnte, verbrachten die meisten noch eine ganze Weile mit Nichtstun in ihren Zimmern. Die Stunden ödeten so vor sich hin. Denise fehlte mir und Tobi auch. Blöd wie der letzte Abend so vor sich hin eiern würde, aber es lag nicht an mir diesen Zustand zu ändern. Doch dann sollte etwas geschehen, was mich noch Monate später im Geiste entzweien würde. Eine unscheinbar kurze Begegnung nur und doch würde sie mich noch lange Zeit begleiten. Wenn auch auf eine Art die nicht immer in meinem Sinne sein sollte. Viele waren gerade eifrig damit beschäftigt untereinander Adressen und Telefonnummern zu tauschen, als ein Schatten auf den vor mir liegenden Notizblock fiel, in welchen auch ich gerade ein paar Adressen und Telefonnummern meiner neuen Kumpels kritzelte.
Als ich kurz aufsah stand da vor mir ein blondes und schüchtern dreinschauendes Mädchen und bat mich um Feuer. Im ersten Moment war ich etwas irritiert und wusste nicht so recht wie ich darauf reagieren konnte. Ihre Freundinnen standen etwas abseits und kicherten, während sich das Mädchen zu mir auf die Stufen des Hauses setzte und mir einen Zettel mit ihrer Adresse und Telefonnummer zuschob. Ihr Name war Maria und sie kam aus einem kleinen verschlafenen Örtchen unweit meines Heimatstädtchens.
Nachdem sich ihre Freundinnen, zu denen auch Tobis neue Angebetete gehörte, endlich verzogen hatten kamen wir ins plaudern und merkten gar nicht wie schnell die Zeit verging. So richtig Anschluss hatte sie wohl auch nicht gefunden in den zwei Wochen. Auch sie war wie ich eine der Übriggebliebenen. Diese Gemeinsamkeit verband uns irgendwie, auch wenn niemand von uns wusste was er damit anfangen sollte. Ich mochte Maria von Anfang an sehr. Sie hatte etwas erfrischend Ehrliches an sich. Zierlich und schüchtern war sie zudem auch noch, was in mir auch ein Stück weit den Beschützer weckte. Ihre Art zu reden, wie sie sich gab, einfach alles an ihr war in einer nicht zu beschreibenden Art und Weise nett. Wir sahen uns schon zuvor des Öfteren in der Kantine beim Essen, abends auf der Treppe oder auch bei verschiedenen Veranstaltungen im Lager. Doch mehr als ein kurzes Lächeln, ein fast unbedeutender Blickkontakt oder die eine oder andere Zigarettenpause vor der Kantine war nie drin. Nicht dass sie mir nicht aufgefallen wäre, vielmehr waren wir wohl beide zu schüchtern gewesen um aufeinander zuzugehen. Aber so ist das eben im Leben. Manche Chancen versäumt man allein durch untätiges Zuschauen…
Ausgerechnet am letzten Tag unserer Reise musste ich diesem Mädchen begegnen. Natürlich war ich fürs Erste hin und weg, auch wenn ich im Nachhinein zugeben muss, dass in dem Fall vielmehr der Wunsch Vater des Gedanken war. Und dennoch konnte ich mir ein Lachen nicht verkneifen als mir dieses bezaubernde Geschöpf die Kippe aus der Hand nahm und einen tiefen Zug von dieser nahm. Sie hatte wohl nicht damit gerechnet, dass ich das billigste Kraut rauchte, welches es in jener Zeit zu kaufen gab. Eine üble Mischung die bei Maria einen nicht mehr zu überspielenden Anfall von Reizhusten und blauem Anlaufen auslöste. Nur langsam bekam sie wieder Luft und während wir zwei unweigerlich zu lachen anfingen, liefen ihr Tränen die Wange hinunter. Ich muss zugeben, ich war schon ein wenig angetan von der Kleinen. Sie hatte etwas an sich was mich faszinierte. War es ihre offene und lebhafte Art? Ihr doch zierlich anmutendes Äußeres? Wir haben dann noch lange Zeit miteinander gequatscht und der Nachmittag verging wie im Fluge. Am Ende saßen wir tatsächlich Händchenhaltend auf der Bank unter der großen Eiche. Und doch hatte ich das Gefühl, dass all dies Händchenhalten, aneinander lehnen und tief in die Augen blicken nicht so ganz meine inneren Gefühle wiederspiegelte. Langsam brach der Abend herein und nachdem die Lichter der Außenanlagen verloschen waren und nur noch ein leises Flüstern draußen auf den Fluren zu vernehmen war, warteten alle gespannt auf die Ereignisse dieser einen letzten Nacht. Überall waren Abschlusspartys angesagt, heimliche Treffen verabredet und ganze Skatpartien in Vorbereitung. Ein paar der Streber hatte man bereits aus den Zimmern verbannt und für eine Nacht in anderen Zimmern untergebracht, denn keiner wollte sich diesen letzten einen Abend noch von einer solchen Schlafmütze versauen lauen. Maria hatte es sich bereits auf meinem Bett gemütlich gemacht, war aber auf Grund des vorangegangenen Trubels eingeschlafen. Wie ein kleiner blonder Engel lag sie da und ich brachte es einfach nicht übers Herz sie zu wecken. Also lies ich sie schlafen.
Draußen auf den Gängen lag unterdrückter Jubel, eine Feierstimmung die Ihresgleichen suchte. Unsere Aufpasser verkrümelten sich an diesem Abend sehr zeitig in die Kantine. Dort trafen sie sich regelmäßig zu einem kühlen Bierchen und schmaderten Stunden. Und während die einen schon fleißig beim Kartenspielen waren, lieferten sich andere wahre Handtuchschlachten in den Gängen. Abgesehen von denen die den Abend qualmend in Rauchschwaden hiesiger Toiletten verbringen zu gedachten, waren andere schon angetrunken und torkelten in ihre Betten. Na wenn das mal gutgeht, dachten wir uns und Gott sei Dank ließen sich keine der Aufseher blicken.
Doch Maria lag noch immer in meinem Bett und schlief, Tobi war mit seiner neuen Flamme beschäftigt und die anderen waren irgendwo im Haus unterwegs. Ich selbst war kurzweilig etwas angenervt von dem Trubel, vielleicht auch weil ich eigentlich keine Lust auf eine Partie Kartenspielen hatte während mein bester Kumpel sich mit seiner neuen Flamme vergnügte. Und ja, die Beiden waren gut dabei wie ich meinen würde. So zog ich es vor mich auf die kleine Bank hinter dem Haus zurückzuziehen. Von dort aus konnte ich bis tief in den sich vor mir ausbreitenden Wald schauen, über mir der Sternenhimmel und auch der Vollmond, der seine Reise bereits begonnen hatte. Ich sehnte mich ein wenig nach Ruhe und dachte mir diesen Abend einfach ruhig ausklingen zu lassen.
Ab und an kam mir der Gedanke an Maria, aber mehr wie freundschaftliche Gefühle vermochte ich nicht für sie aufbringen, auch wenn sich dies anfangs ein wenig anders gestaltete. Von daher war ich ganz froh, dass sie schlief. Morgen früh würden wir nach Hause fahren und keiner hätte wirklich die Zeit noch auf den anderen zuzugehen. Adresse und Telefonnummer von Maria hatte ich ja und einem späteren Treffen würde sicher nichts entgegenstehen. Doch in Verbindung mit dem ruhigen Schlaf von Maria offenbarte sich mir ein neues Problem. Ich hatte für diese Nacht kein Bett mehr. Maria wollte ich aber auch nicht wecken und woanders würde ich so spät sicher auch nicht mehr unterkommen. Aber Tobi hatte mir am Abend zuvor gesteckt, dass im Falle eines Falles noch ein paar Zimmer im vorderen Flur frei wären, doch irgendwie erinnerte ich mich in diesem Moment nicht recht daran, so dass ich schon befürchtete die Nacht ebenfalls qualmend auf dem Klo verbringen zu müssen. Eine kleine Chance war noch das Zimmer von Denise oben im ersten Stock. Sie bewohnte bis zu ihrer Abreise eines der wenigen Zweibettzimmer im Obergeschoss und soweit ich mich erinnerte war auch ihre Zimmerkollegin bereits nach Hause gefahren. Sie hätte sicher nichts dagegen, wenn ich mir das Zimmer für eine Nacht ausborgen würde.
Doch scheinbar waren auch andere bereits auf diese Idee gekommen, denn die Geräusche welche aus dem Zimmer an mein Ohr drangen waren alles andere als missverständlich. Geschweige denn jugendfrei. Und als ich im gleichbleibenden Rhythmus des Bettquietschens den Namen Heiko vernahm, verspürte ich einen Anfall von Brechreiz. Heiko war einer dieser Aufpasser aus der elften Klasse. Keiner konnte ihn leiden, er war so dieser typische Streber der sich nach oben anbiederte und nach unten trat. Zum kotzen dieser Kerl und ich verstand nicht wirklich wer so dumm war für diesen Turnbeutelvergesser die Beine breit zu machen. Schon der Gedanke war einfach nur eklig. Der Typ war nicht nur hässlich wie die Nacht sondern auch dumm wie Brot, zumindest was das zwischenmenschliche anging. Sein liebstes Hobby war Kippen schnorren und wer nicht nach seiner Nase tanzte oder keine Kippen rausrückte, landete vor der Lagerleitung noch viel schneller als er dachte. Ihn zu mögen hieße sich an Brechreiz zu gewöhnen und einigen hatte er in den zwei Wochen schon ganz schön übel mitgespielt. Ich hatte Glück und war nie wirklich mit ihm aneinander geraten. Ein paar Kippen büßte ich zwar ein, doch wer das Kraut rauchte war schließlich selbst dran schuld. Für andere hingegen lief es oft nicht so glimpflich ab, was man daran erkennen konnte, wer am folgenden Morgen den Appellplatz fegte. Aber so war das eben in diesen Tagen.
Ich schlich dann noch eine Weile gelangweilt durch die Gänge und beobachtete das Treiben der anderen. Vielleicht sollte ich diese Nacht ja tatsächlich noch auf den Stufen vor dem Haus verbringen. Die Nacht war recht lau und der Vollmond erhellte den Vorplatz. Eine Decke würde ich schon irgendwo auftreiben können. Quatsch, einen Schlafplatz würde ich schon finden. Und sei es in der Besenkammer um die Ecke. Aber wie ein Penner draußen auf der Bank würde ich ganz sicher nicht nächtigen. Also musste ich mir ganz schnell eine andere Option suchen.
Allmählich verhallten die Rufe auf den Gängen und selbst die Aufseher schienen es an jenem letzten Abend nicht so genau sehen zu wollen. Trotz des kaum überhörbaren Tumults hatte sich nämlich bis dato noch keiner von den Spießern blicken lassen. Ich nehme mal ganz stark an, dass sie selbst einen feuchtfröhlichen Abschied feierten und gar nicht mitbekamen was sich so tat. Aber es wurde ruhiger und mit der Zeit wurden auch die Härtesten der Harten müde und verschwanden in ihren Zimmern. Nur das Gegröle der Aufseher hallte von der Kantine rüber in die dunkle Nacht. Eine gute Feier schien dort zu laufen und für unsereins war der Abend gelaufen.
So saß ich also noch eine ganze Weile auf den Stufen des Hauses, rauchte die eine oder andere Zigarette und beobachtete den Vollmond wie auch die vorüberziehenden Wolken. Ein Waldkauz entsandte mir seinen lieblichen Gruß aus dem nahe gelegenen Wäldchen und ich selbst war auch schon ganz schön müde geworden. Wirre Gedanken schossen mir durch den Kopf und obwohl der über mir stehende Vollmond die Nacht erleuchtete, schien es mir kaum möglich die eigene Hand vor Augen zu sehen. So erhob ich mich von den kalten Stufen und schritt alsbald leise und nachdenklich durch die weiten Flure des großen Anwesens, hörte dem Geflüster eines Liebespaares zu dessen Zimmertür nur angelehnt war und machte mir Gedanken über so vielerlei Dinge. Und dennoch, immer wieder hörte ich deutlich das leise Rufen des Waldkauzes draußen aus dem Wald.
Alles schien in diesem Moment so unwirklich zu sein, künstlich geradezu. Fast so als würde man in einem Traum gefangen sein. Alle schliefen und doch vernahm ich unzähliges Geflüster aus den Zimmern. Schatten huschten über die Flure und wo mich zuvor noch die Dunkelheit umhüllte, blendete mich nun gleißend helles Licht. Gedanken, nur Gedanken und wirre Träume…
Ein Ruck durchfuhr mich und ich erwachte, noch immer auf den Stufen des Hauses sitzend. Ich war wohl eingenickt. Daher auch die wirren Gedanken und noch verrückteren Träume. Die heiße Glut meiner Zigarette, welche sich übel riechend in meine Haut brannte, hatte mich auf recht schmerzhafte Weise geweckt. Was war Realität? Was war Traum und Wirklichkeit? Ein wenig schlaftrunken taumelte ich zur Tür und stand plötzlich auf dem langen Flur von dem ich gerade noch träumte. Eine Gänsehaut überkam mich, zu real waren die verworrenen Bilder aus meinem Traum. Nun war es an der Zeit ein Bett zu finden, denn mir vielen bereits die Augen zu. Trotz Gänsehaut und flauem Gefühl in der Magengegend. Selbst die Lichter drüben in der Kantine waren schon verloschen. Gott sei Dank hatte mich kein Aufseher bemerkt draußen auf den Stufen, sonst hätte es so richtig Ärger gegeben.
Auf Zehenspitzen schlich ich von Tür zu Tür den Flur entlang. Eine Tür nach der anderen ließ ich hinter mir und tatsächlich war aus manchen der Zimmer noch Gekicher und Getuschel zu hören. Ich hatte absolut keine Ahnung wie spät es inzwischen geworden war, aber ich musste mir endlich ein Bett suchen oder mir meines mit Maria teilen. Irgendwie musste ich die letzte Nacht ja auch hinter mich bringen. Ich war auch viel zu müde als dass ich jetzt noch Lust gehabt hätte nach einem freien Zimmer zu suchen. Ich wollte nur noch in mein warmes kuscheliges Bett, nichts weiter.
Doch plötzlich glaubte ich aus einem der Zimmer ein leises Schluchzen zu hören. Erst wollte ich einfach nur vorbei schleichen und mich nicht weiter darum kümmern. Warum auch? An jenem Abend gab es so einige Abschiedstränen im Lager. Ich weiß nicht einmal mehr genau warum, doch obwohl ich schon mit einem Fuß in meinem Zimmer stand, kehrte ich noch einmal um und ging zurück zu dieser Tür. Dieses leise Schluchzen, ich weiß nicht, es berührte mich. Fast zerriss es mir das Herz. Langsam und behutsam drückte ich die Türklinke etwas herunter, worauf sich mit einem leisen Knarren die Tür einen Spalt breit öffnete. Doch viel erkennen konnte ich nicht als ich meinen Kopf vorsichtig durch den schmalen Spalt der Tür steckte. Nur ein wenig Mondlicht erhellte den Raum und auf die Frage ob ich hereinkommen dürfe, kam ein zaghaftes und kaum hörbares „Ja“.
Ich weiß nicht was ich dachte als ich den dunklen und vom Mond wenig erleuchteten Raum betrat, doch die Umrisse eines auf dem Bett sitzenden Mädchens ließen mein Herz sofort höher schlagen. So hoch, dass ich meinte es würde mir geradewegs aus dem Hals springen. Nur langsam näherte ich mich ihr, behutsam und vorsichtig. Das Fenster war leicht geöffnet und ein kurzer Windstoß fuhr in das Zimmer, wirbelte durch ihre langen Haare und schlug mit einem lauten Knall die noch leicht geöffnete Tür hinter mir zu. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit und als würde ich mit einem Schlag all meine Schüchternheit vergessen haben, strich ich ihr mit meiner Hand sanft die Haare aus dem Gesicht, während ich versuchte tröstende Worte zu finden. Sie schluchzte noch immer, mit einer Traurigkeit welche zu beschreiben unmöglich ist. Den einen oder anderen Moment wenn der Himmel frei von Wolken war und sich das Licht des Vollmonds durch das Fenster drängelte, konnte ich ihr liebliches Gesicht erkennen. Sie faszinierte mich.
Tränen, die im fahlen Mondlicht glänzten wie kleine Diamanten, rannen über ihr zart anmutendes Gesicht und mit meinem Taschentuch versuchte ich ihre Traurigkeit zu verwischen. Zugegeben etwas unbeholfen, da auch mir eine solch intime Situation doch eher neu war. Doch ließ sie mich gewähren, ließ mich ihre Tränen aus dem Gesicht wischen und somit vielleicht auch ein Stück ihrer Traurigkeit. Ich hatte mich bereits neben sie auf den Rand des Bettes gesetzt und als ich sie so vor mir sah, strich ich ihr noch einmal zaghaft die Haare aus dem Gesicht, berührte ihre Wangen und streichelte sanft an ihrem Ohr entlang. So vergingen wortlos die Minuten und ich wusste nicht, wie sie auf meine noch etwas unbeholfenen Berührungen reagieren würde. Die anfängliche Unbeholfenheit meinerseits blieb ihr wohl nicht verborgen und doch schlang sie in der nächsten Sekunde ihre Arme um mich und begann bitterlich zu weinen. Unwillkürlich musste ich sie näher an mich heranziehen, sie noch fester in den Arm nehmen und ganz behutsam an mich drücken. Sie lehnte ihren Kopf auf meine Schulter und es war gerade so als würde all ihr Schmerz, ihre Wut, all ihre Verzweiflung und Traurigkeit auf mich übergehen. Und so wie ich von dieser Situation überwältigt war, war ich auch überfordert. Zumindest für den Augenblick. Doch mit jeder Minute derer ich dieses mir noch unbekannte Mädchen in den Armen hielt, vergingen ihre Tränen ein Stück weit mehr. Ich weiß nicht was ich in jenem Moment fühlte, konnte kaum erahnen was sie dachte und wusste nicht ob mir heiß oder kalt wurde. Beides wohl zur gleichen Zeit und Beides in einem Moment in dem ich dies sicher nicht erwartet hätte.
Und ich fühlte. Ich wusste nicht einmal was ich fühlte oder dachte aber es war ein Erleben, welches mich in Bruchteilen nur eines Augenblickes um den Verstand brachte. Gab es wirklich so etwas wie Liebe auf den ersten Blick? Denn wenn, dann musste es mich unweigerlich erwischt haben. Hier und jetzt, in diesem einen Augenblick. Der eklatant blumige Duft ihrer Haare und ein feiner Hauch von Parfüm auf ihrem Nachthemd brachten mich fast um den Verstand. Konnte man sich überhaupt so schnell in eine Fremde verlieben? Oder spielten mir meine Sinne nur einen Streich? Immerhin kannte ich sie gerade einmal eine knappe Stunde, was mir das Schlagen der nahen Turmuhr verriet. Wie ich selbst, schien auch sie ein Stück weit durcheinander zu sein und ich hoffte die Situation nicht missverstanden zu haben. Immerhin war sie tief traurig, verzweifelt und auch wütend. Wie ich erfuhr, war sie am Nachmittag im Streit mit ihrem Freund auseinandergegangen. Blöde Situation, auch für mich. Und ausnutzen wollte ich die schwierige Situation auch nicht, auch wenn man es vielleicht vermuten könnte.
Und dennoch durchströmte mich in dieser Nacht das allererste Mal dieses eine Gefühl für welches ich noch heute über alle Maßen dankbar bin. Seinerzeit war mir das vielleicht nicht bewusst, doch heute würde ich es unverblümt Liebe nennen. Innige Zuneigung auf einen ersten Blick den ich so in den Jahren danach nie wieder wahrzunehmen vermochte.
Nicht, dass ich danach nie wieder geliebt hätte, aber es ist wohl etwas ganz besonderes wenn es einem beim ersten Mal gleich so erwischt. Geborgenheit geben zu können, in diesem Ausmaß, war für mich ein Gefühl das ich so zuvor nicht kannte. Ein unbeschreibliches Sein in tiefster gegenseitiger Verbundenheit und innerlicher Ruhe. Ich war überwältigt von der liebevollen Art in welcher dieses unbekannte Mädchen mit mir sprach, ihre Verzweiflung mit mir teilte und sich doch auch im gleichen Atemzug einen Hauch an Hoffnung erflehte. Und mit jeder vergossenen Träne, jedem Wort und jeder Umarmung wich auch ein Stück Traurigkeit von ihrer Seele. Bis wir merkten, in welcher Art und Weise auch immer einander verbunden zu sein. Und sei es nur für diesen Augenblick, einen kleinen Moment in uns selbst. Und hätte sich ein solcher Moment auch nie wieder in meinem Leben wiederholt, wäre mir jener eine für immer unvergessen geblieben.
Es war schon weit nach Mitternacht als es uns zurück auf mein Zimmer verschlug. Vielleicht auch nur, weil ständig wieder andere Pärchen hereingeschneit kamen und störten. Mal kichernd oder auch einfach nur lauthals lachend. Auf jeden Fall immer wieder erschrocken und sich insgeheim zurückziehend. Nein, irgendwie war das blöd und doch verriet ein kurzer Blick in mein altes Zimmer wie der Rest der Nacht verlaufen würde. Tobi war mit seiner neuen Flamme Arm in Arm eingeschla-fen. Kalle und Malle, unsere beiden Mitbewohner von der Küste, schienen bereit anderweitig Unterschlupf gefunden zu haben. Zumindest aber ließen sie sich bis zum Morgen nicht mehr blicken. Auch Maria war verschwunden, ein Umstand der mich für kurze Zeit in die Realität zurückholte. Nahm sie mir vielleicht übel, dass ich in dieser Nacht nicht bei ihr blieb? Immerhin waren ihre Intensionen doch andere als nur Freundschaft. Ein blödes Gefühl und doch war mir das in eben diesem Moment nicht so wahnsinnig wichtig.
Die schier grauen Schleier meiner trüben Gedanken verwischten schnell, als mich dieses unbekannte und bezaubernde Wesen mit den langen rotbraunen Haaren und den Augen glänzend wie Bergkristalle, liebevoll umschlungen auf das Bett zog. Ihr rosafarbenes mit Rüschen besetztes Nachthemd wurde dabei vom Licht des Vollmondes durchleuchtet und gab kurz den Blick auf das bezaubernde Darunter frei. Wenn auch nur für einen kurzen Moment, doch lang genug als dass mir der Anblick ihrer Silhouette förmlich die Luft nahm. Wir küssten und umarmten uns liebevoll, lagen lange Zeit nur ineinander verschlungen so da und hin und wieder, wenn die Wolken vorbeizogen und das Mondlicht den Raum für kurze Zeit erhellte, konnte ich die lieblichen Züge ihres Gesichts erkennen. Dann strich ich ihr sanft mit meiner Hand über die Wange, die Augenbrauen und Lippen. Solang bis es diese wieder zu den meinen zog und wir uns wieder und wieder küssten, umarmten und streichelten. Und mit jeder Minute die in dieser Nacht verging legten wir noch ein Stück mehr Gefühl hinein. In diesem Moment wünschte ich, dass diese eine Nacht nie zu Ende gehen würde.
Doch so sehr wir uns auch dagegen verwehrten, der Morgen kam unaufhaltsam näher, der Mond war vorübergezogen und tauschte sein Licht mit dem der aufgehenden Sonne. Unsere Abreise stand bevor und das Lager erwachte zu neuem Leben. Auf den Fluren waren die ersten lauen Neckereien zu hören und ein paar ganz Muntere lieferten sich schon am frühesten Morgen Handtuchschlachten. Gerade hatte man wohl jemanden auf dem Klo gefunden, der dort mit herabgelassener Hose eine Zigarette rauchend eingeschlafen war. Das Gegröle war natürlich nicht zu überhören und verjagte auch das letzte Stück Zweisamkeit. Einige konnten es scheinbar gar nicht mehr erwarten wieder nach Hause zu fahren. Selbst unsere beiden Nordlichter Malle und Kalle kamen völlig unerwartet und stark übermüdet mit einem Brummschädel angeschlichen um sich in ihr Bett fallen zu lassen. Nur kamen sich dabei Beide so nahe, dass sie mit den Köpfen zusammenstießen. Nun war auch der Letzte wach, denn die Zwei fluchten was das Zeug hält. Und fluchen, ja das schienen sie sehr gut zu können. Aber nun war es natürlich endgültig vorbei mit der Ruhe auf dem Zimmer, da jeder nur noch lauthals über die Beiden lachte, während die sich die angeschlagenen Köpfe rieben und sich Worte an den Kopf warfen die ich hier nicht wirklich wiederholen möchte. Tobis neue Flamme verließ mit der schönen Unbekannten das Zimmer um sich in ihren eigenen ein paar Türen weiter für das bevorstehende Frühstück herzurichten. Eine Abschiedsansprache der Lagerleitung sollte zu allem Übel auch noch stattfinden. Und auf die hatte wahrlich keiner Lust. Nur drücken konnte sich niemand davor, dafür würden unsere persönlichen Aushilfsaufseher schon sorgen, obwohl die heute auch etwas angeschlagen aussahen. Heiko der Heini würde uns dennoch nicht davonkommen lassen. Selbst für ein paar Kippen nicht. Und von meinen schon gleich drei mal nicht. Nach den letzten zwei Zigaretten von mir reierte sich diese Type die Seele aus dem Leib, was auch daran liegen konnte, dass ich ein paar Pferdehaare eingearbeitet hatte. Das war also nun mein persönliches Abschiedsgeschenk für diesen Schleimer. Auch wenn ich selbst in den zwei Wochen nicht wirklich mit ihm aneinander geraten war, diesen Schnösel vermochte ich einfach nicht ausstehen. Aber egal, nach dem heutigen Morgen würde er nie wieder meinen Weg kreuzen.
Doch an Frühstück war gerade gar nicht zu denken. Nicht nach solch einer aufregenden Nacht. Aufgekratzt war ich, nervös und auch ein Stück weit durcheinander. Andererseits fühlte ich mich aber auch wie ein neuer Mensch, anders als gestern, fast wie neu geboren. Tobi ging es auch nicht viel anders, obwohl er einen Großteil dieser Nacht mit seiner neuen Flamme schlicht und einfach verschlafen hatte.
Gott sei Dank hatte ich meine sieben Sachen ja schon am Nachmittag zuvor gepackt. So brauchte ich an diesem Morgen nur noch duschen gehen, mich in die letzten frischen Klamotten quetschen und den Weg in die Kantine anzutreten. Ein oder zwei Kaffee konnten mir nach dieser Nacht ganz sicher nicht schaden und wenn ich mich beeilen würde, so könnte ich auch eine Kanne echten Bohnenkaffee abstauben, der eigentlich für die Aufseher und die Lagerleitung vorgesehen war. Auch wenn ich auf Frühstück eigentlich keinen Bock hatte, den Kaffee konnte ich mir nicht entgehen lassen. Tobi selbst hatte am Tag zuvor auch schon gepackt, was ich gar nicht mitbekommen hatte. Natürlich blieb es nicht aus, dass wir uns über die Ereignisse der vergangenen Nacht austauschten, auch wenn dies nicht in der Form geschah wie heute in diesem Buch hier. Nein, ein wenig Coolness wollte wohl jeder heraushängen lassen, aber das tat der Sache selbst keinen Abbruch. Aber Tobi konnte auch recht beharrlich sein wenn es um die Befriedigung seiner Neugier ging. Er selbst war im Übrigen sehr gut drauf, was sicher nicht nur an dem frischen Kaffee lag. Ob er seine Nachtbekanntschaft später je wiedergesehen hat? Ich kann mich nicht daran erinnern die Beiden jemals wieder zusammen gesehen zu haben. Für die Zwei war es wohl lediglich ein kurzes Abenteuer ohne tiefere Bedeutung, nachdem scheinbar jeder wieder seinen eigenen Weg ging. Zurückblickend muss ich mir jedoch eingestehen, dass er doch ziemlich zerknittert aussah als wir unseren Kaffee genossen und hofften, dass dieser kleine Schwindel mit dem Kaffee nicht aufflog. Da ich in dieser Nacht nicht eine Minute geschlafen hatte, sah ich wohl ebenfalls so ziemlich grenzwertig aus. Im Übrigen fielen mir immer wieder die Augen zu, während Tobi mit quasseln anfing und nicht mehr aufhörte. Aber es sollte mir recht sein, denn ich nickte eh immer wieder ein.
Draußen auf dem Appellplatz versammelten sich bald die verschiedenen Grüppchen. Kaum einer von ihnen war beim Frühstück erschienen. Wie erwartet hatten sie schwer damit zu tun zu packen, Betten abzuziehen und die Zimmer übergabefertig aufzuräumen. Tobi und ich hatten ja schon gut vorgesorgt und konnten jetzt unsere Zeit genießen. Den spärlichen Rest ließen wir Malle und Kalle machen, bei denen wir auf Grund einer Wette noch was gut hatten. Sollte uns nur recht sein, konnten wir doch aus ruhiger Entfernung der sonnenüberfluteten Terrasse das wilde Treiben drüben in den Unterkünften beobachten.
Doch wo waren eigentlich die beiden Mädels abgeblieben? Laut eigenen Aussagen hatten auch sie bereits am Tag zuvor ihre Sachen gepackt. Doch weder eine Spur von ihnen beim Frühstück, noch auf dem Platz. Nirgends konnten wir die Zwei entdecken, und das obwohl die Lagerleitung bereits zum Appell pfiff. So suchte einer den anderen in der gar unüberschaubaren Menge an grölenden und tobenden Jugendlichen und die kleinen Grüppchen verschmolzen zu einem kleinen Teppich aus dem niemand hervorragen konnte. Mich überkam ein ungutes Gefühl. Ich weiß gar nicht so recht warum. Scheinbar keimte doch immer wieder kurz die Angst auf, dass alles nur ein schöner Traum gewesen sein könnte. Ich weiß nicht so recht. Aber bald machten sich ein paar bekannte Gesichter in der Menge bemerkbar, so dass auch wir zwei Abseiler unseren Platz fanden. Alle waren sie aus den hinteren Zimmern, die Zimmer in denen auch unsere beiden Mädels waren und die wir jetzt mit wachem Auge suchten. Und da stand sie nun, in mitten der klatschenden Menge, sich stetig nach allen Seiten umschauend. Und ich meine lügen zu müssen würde ich behaupten nicht gehofft zu haben, dass sie sich nach mir umschaute. Und das tat sie dann wohl auch, denn als sie mich und Tobi sah, lächelte sie und winkte zu uns hinüber. Zurückwinkend grinste ich wahrscheinlich über das ganze Gesicht und hoffe noch heute, dass das nicht so bescheuert aussah wie ich denke. Aber in diesem Moment brachte es mir erstmal eine Strafe ein, denn meine Störungsversuche des Appells ließ den Aufseher dazu veranlassen mich in die Kantine zwangszuverweisen. Aber was sollte es. An diesem Tag, so kurz vor der Abreise würde ich mich auch nicht mehr so herumkommandieren lassen und abspülen schon gleich dreimal nicht. Also saß ich alsbald wieder rauchend auf der rückwärtigen Fensterbank und machte es mir gemütlich, während die Lagerleitung einen Monolog nach dem anderen führte. Gar nicht mal so schlecht diese Strafe. Zuweilen sich auch Tobi und die beiden Mädels abseilten und sich mit mir am Kantinenfenster zum Rauchen trafen.
Nach und nach gesellten sich auch ein paar andere zu uns. Vor allen Dingen die, die sich absichtlich des Platzes verweisen ließen um dem Gesülze zu entkommen. Nun, immerhin hatte ich noch die Gewalt über drei Kannen Kaffee, ein paar frische Brötchen, Nutella und Marmelade. Ist doch noch ein lustiges Frühstück geworden, auch wenn unsere Zahl mittlerweile auf zehn bis zwölf Leute angestiegen war. Zwei Stunden später machten die Busfahrer auf sich aufmerksam. Ich denke mal, auch die hatten keine Lust mehr länger zu warten. Zuweilen die sommerliche Vormittagssonne auf die Busse knallte und diese wie Backöfen aufheizte. Um aber mal wieder auf das Wesentliche zurückzukommen…
Da stand sie nun vor mir in ihren ausgefranzten Jeans, mit T-Shirt und offenen Haaren. Und mal ganz ehrlich? Ich war wieder hin und weg. Von ihrer Ausstrahlung, ihrem Anmut, dem Lächeln und von was auch immer. Ich glaube fast, es gab in diesem Moment so absolut gar nichts was mich nicht an ihr faszinierte. Ihre schlanke Figur, ihre gepflegte Erscheinung, das offene Haar. Einfach alles an ihr war… Mhmm… Wie es der Zufall wollte, sollten wir auf der Heimreise auch noch im gleichen Bus sitzen. Endlich fragte ich sie nach ihrem Namen, und woher sie überhaupt kommen würde. So erfuhr ich, dass meine bis dahin unbekannte Schönheit Ina hieß und aus einem kleinen Örtchen keine fünf Kilometer von meiner Heimatstadt entfernt kam. Einfach perfekt. Mir fiel ein Stein in Größe eines mittelgroßen Felsens vom Herzen, denn das hieß, dass unsere Chancen auf ein Wiedersehen nicht schlecht standen. Die Infrastruktur bei uns war ja geradezu perfekt und zu den stündlichen Bussen fuhren auch Züge in die benachbarten Orte. So traten wir sichtlich und um einiges beruhigter die Heimreise an, natürlich Arm in Arm aneinander gekuschelt. Allerdings waren wir auch so müde, dass wir die Fahrt gar nicht mehr genießen konnten. Keine zehn Minuten dauerte es bis wir tief ineinander versunken einschliefen. Ich erinnere mich noch an das grimmige Gesicht ihres Ex, der nur wenige Sitzgruppen hinter uns saß. Eigentlich verdankte ich ihm ja dieses tolle Mädchen am Abend zuvor getroffen zu haben und nun in meinen Armen halten zu dürfen. Dass ich wenige Tage später noch gewaltig mit ihm aneinander geraten sollte, wusste ich in diesem Moment noch nicht. Doch wir klärten was zu klären war.
Ein paar Plätze vor uns saß Maria, die weder den Anschein von Traurigkeit machte, noch sich irgendein Gefühl der Beteiligung anmerken lies. Vielleicht war es ihr einfach nur egal oder aber sie war stink sauer auf mich und wollte es sich nicht anmerken lassen. Beides war möglich und für beides hatte ich Verständnis. War ja auch zu blöd gelaufen den Tag zuvor. Ich mochte sie wirklich sehr und ehrlich gesagt tat sie mir auch ein wenig leid. Vielleicht hatte sie sich ja doch Hoffnungen gemacht. In meinem tiefsten Innersten hoffte ich, dass sie mir nicht all zu böse sein würde. Vielleicht konnten wir ja irgendwie befreundet bleiben. Auch wenn es in diesem Moment nicht unbedingt danach aussah.
Bald darauf waren Ina und ich eingeschlafen, wie auch ein Großteil der anderen. Wir waren eben doch nicht die einzigen, die die vergangene Nacht zum Tag gemacht hatten uns jetzt fertig in den Sitzen hingen. Doch unser Schlaf währte nicht lang. Gut zwei Stunden nach unserer Abreise wurden wir ziemlich unsanft aus unseren Träumen gerissen. Und zwar als der Bus mit voller Kraft die Bordsteinkante am Busbahnhof meiner Heimatstadt nahm. Ich hätte ihn würgen können, denn durch die Wucht des Aufpralls wäre ich fast vom Sitz geknallt und hätte mich voll zum Leo gemacht. Ina und ich waren noch so ineinander versunken, dass wir etwas Mühe hatten uns aus dieser Lage zu befreien. Vor allen Dingen tat uns alles weh, wir waren erschöpft und noch immer völlig übermüdet. Doch hier war auf jeden Fall erstmal Endstation für uns. Nachdem wir uns aus dem Bus gequält und unsere Taschen in Empfang genommen hatten, standen wir planlos auf dem Bussteig. Tobi verabschiedete sich kurz und wir machten was aus für die kommenden Tage. Doch nun hatte er sich erstmal eilig auf den Weg nach Hause gemacht. Irgendwie war da wohl was mit seiner kleinen Schwester die einen Tag später in ein anderes Ferienlager fahren würde. Ich kann es heute nicht mehr mit Sicherheit sagen. Keine Ahnung, vielleicht wollte er auch einfach nur nach Hause in sein Bett.
Da standen wir nun etwas unentschlossen und der Zeitpunkt der Trennung sollte auch für uns gekommen sein. Noch wenige Minuten, dann würde Inas Bus fahren und sie nach Hause bringen. Doch könnte man diesen nicht vielleicht verpassen? Immerhin war es Linie und unsere Busse waren erst kurz zuvor in den heimatlichen Hafen eingelaufen. Es bedurfte keiner großen Fantasie zu behaupten den Anschlussbus verpasst zu haben. Und das taten wir dann auch. Unsere Ankunftszeit war zuvor nicht bekannt gegeben worden, also erwartete uns auch niemand. Inas Eltern würden noch immer arbeiten und meine Mutter sicher auch. Bis zum nächstmöglichen Bus verblieben uns mehr als zwei Stunden und bis zu mir nach Hause war es lediglich ein Katzensprung. Keine zehn Minuten.
Unser Gepäck unter dem Arm schlenderten wir die paar Straßenzüge zu mir nach Hause und wie erwartet war niemand da der auf mich wartete. Meine Mutter arbeitete mit Sicherheit noch, mein Bruder war auch auswärts und das hieß sturmfreie Bude… Wir machten es uns in meinem Zimmer ein wenig gemütlich, ließen das Radio laufen und kuschelten uns aneinander. Was wir nicht für möglich hielten, innerhalb nur weniger Minuten waren wir eingeschlafen und bemerkten nicht, dass meine Mutter nach Hause kam. Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen als sie uns weckte. Sie hatte mich erst viel später erwartet und wenn dann ganz sicher nicht mit einem Mädchen auf dem Zimmer, Arm in Arm schlafend und ineinander verschlungen. Aber meine Mutter war schon immer das was man heute cool nennen würde. Offen und aufge-schlossen und so rief sie uns kurze Zeit später zu Kaffee und Kuchen, den sie noch schnell besorgt hatte. Auch sie mochte Ina auf Anhieb, ohne Frage. Und auch Ina meisterte die erste Begegnung mit meiner Mutter mit Bravour. Etwas schüchtern vielleicht, doch die offenherzige Art meiner Mutter ließ auch Ina nicht gänzlich unberührt. Ich für meinen Teil war ganz froh wie das gelaufen war, auch wenn das hieß, dass mich meine Mutter den ganzen Abend lang auszufragen versuchen würde.
Doch bald mussten wir uns sputen sonst würde Ina auch noch den nächsten Bus verpassen. Zu unserem Glück wusste niemand wann wir ankommen würden und so konnte es keinen Ärger geben. Nur übertreiben wollten wir es nicht und nachdem wir schon drei Busse haben ziehen lassen einigten wir uns auf den nächsten. Die Zeit verging wie im Fluge, Ina verabschiedete sich noch von meiner Mutter und ich brachte sie zum Bus. Aber mit jedem Schritt den wir hinter uns ließen ver-suchten wir auch ein wenig Zeit zu schinden. Aber klar, auch uns war bewusst, dass nun der Zeitpunkt des Abschieds gekommen sein würde. Musste ja nicht für lange sein. In den kommenden Tagen würden wir mal miteinander telefonieren und was ausmachen. Leider hatten wir zu lange getrödelt und waren letztlich so knapp in der Zeit, dass diese nur noch für einen einzigen innigen Kuss auf den Stufen des Busses ausreichte. Ich erinnere mich noch als wäre es gestern gewesen, dass sie an einem Fensterplatz des Busses saß und ihr eine Träne über ihre Wange lief. Ich winkte ihr noch einmal zu als der Bus die Kreuzung zwischen Post und Bahnhof passierte und sie in jenem Moment aus meinem Blickfeld verschwand.
Die folgenden Tage vergingen nur quälend langsam, denn Ina war mit Ihrer Familie noch für einige Tage zu Verwandten gefahren. Und mit jedem Tag der verging wuchs auch ein wenig die Sorge in mir, dass alles nur ein wunderschöner Traum gewesen sein könnte. Ein Traum der nun sein Ende finden würde, erwacht und wieder in die Realität zurückkehrend. Vielleicht würde sie ja doch wieder ihrem Ex begegnen, welcher sie in jener Nacht weinend auf dem Zimmer zurückließ. Ein Gefühl von Unbehagen durchfuhr mich und es schien nicht besser zu werden. Nein, es wurde vielmehr noch schlimmer mit jedem Tag der verging. Nach Tagen dann der lang ersehnte Anruf, anfangs noch ein wenig zögerlich und doch voller freudiger Erwartung auf ein baldiges Wiedersehen. Nach dem Wochenende würden sie wieder heimfahren und dann könnten wir uns endlich treffen. Wir verabredeten uns für den folgenden Montag und ich war überglücklich. Genau um 14.05 Uhr sollte ich sie vom Bus abholen, da sie sich an den Weg zu mir nicht mehr so genau erinnern konnte. Die Tage vergingen wieder so langsam wie zuvor und doch wurde es nach ewigem Warten endlich Sonntag. Die Stunden bis zum Abend vergingen in Zeitlupe und ich musste unwillkürlich jede Minute auf die Uhr schauen. Und wahrlich jede dieser Minuten kam mir vor als würde sie Stunden dauern. Ich lenkte mich ab, hörte Musik und versuchte mehr oder weniger erfolgreich noch ein wenig Zeit zu schinden. Nur ein wenig.
Irgendwann versuchte ich auch zu schlafen, doch hatte ich mich fälschlicherweise der Hoffnung hingegeben, dass dies funktionieren könnte. Pustekuchen, gar nichts ging. Stattdessen lag ich wach bis vier Uhr früh und schaute die Decke an. Und als ob das nicht schon schlimm genug gewesen wäre, wachte ich trotz dessen auch noch viel zu zeitig wieder auf.
Schon früh am Morgen machte ich mich vor dem Fernseher breit und versuchte die Zeit totzuschlagen. Doch was sollte früh am Morgen schon Interessantes laufen? Die Zeit bis zum Mittagessen war eine Qual und letztlich stand ich bereits eine Stunde früher an der Bushaltestelle als verabredet. Aber egal, mein Auf- und Abgehen beflügelte die Zeit und ließ sie weit schneller vergehen als untätiges Herumsitzen zu Haus. Und mit jeder Minute schwand mein Vorrat an Zigaretten. Ich war nervös. Und wie. Ich könnte es heute gar nicht mehr treffend beschreiben.
Schließlich kam nach endlosem Warten ihr Bus und ein beklemmendes Gefühl überkam mich als ich sie nicht gleich in der Menge ausmachen konnte. Doch plötzlich sprang sie mir förmlich aus der Bustür in die Arme. In der aussteigenden Menschentraube hatte ich sie wohl einfach nur übersehen. Ihre innige Umarmung erwärmte mein Herz und nahm mir fast den Verstand. Ich war überglücklich und überwältigt zugleich. Einen Moment wie diesen würde man sein Leben lang nicht vergessen. Dazu war er einfach zu…, sagen wir mal leidenschaftlich.
Von diesem Tag an trafen wir uns regelmäßig. So gut es eben ging. Die Ferien waren ja auch schnell zu Ende und der Ernst der Schule verfolgte unser junges Glück wie die Fliegen den frischen Obstkuchen. Wann immer es möglich war kam sie mit dem Bus zu mir und wir unternahmen für ein paar Stunden etwas. Oder aber ich fuhr mit dem Zug zu ihr und wir hingen einige Zeit bei Freunden rum. So verbrachten wir viele gemeinsame Nachmittage und einer dieser Nachmittage war schöner als der andere. Am Anfang war es nur ein oder zweimal die Woche, aber die Anzahl unserer Begegnungen steigerte sich proportional unserem Empfinden füreinander. Bald trafen wir uns jeden zweiten Tag und wenn es nur für ein paar Stunden war. Wenn ich genau darüber nachdenke, ab und an nahmen wir die Strecke auch nur für ein paar Minuten Zusammensein auf uns. Verrückt würde man heute meinen, doch seinerzeit… Wir nutzten jede Minute die uns gegeben wurde innig und ausgiebig.
So viele Dinge um mich herum veränderten sich in jenen Tagen. Meine Ansichten über Gott und die Welt, meine Einstellung zum Leben oder zu meinen Mitmenschen. Alles geriet in eine Art Schleife aus neuem Weltgefühl und positiver Veränderung. Vielleicht war ich es selbst der sich zum Positiven veränderte und ich kann kaum beschreiben was damals in mir vorging. Wenn einerseits die Leichtigkeit der beflügelten Jugend, andererseits die Verantwortung für die Gefühle eines anderen Menschen Hand in Hand des eigenen Tuns miteinander verschmolzen.
Und ich fühlte mich wahrlich großartig. Fühlte mich so gut, dass alles um mich herum eine Wertstellung in meinem Leben erhielt von der zuvor nie die Rede hätte sein können. Die Wochen vergingen denen Monate folgten und irgendwann wurden unsere Treffen länger und auch ein Stück weit inniger. Oft kam sie am frühen Samstagnachmittag und blieb bis weit in die Nacht. Anfangs nicht gar so lange aber die Qualität unserer Ausreden wurde mit der Zeit besser und besser. So gaben wir vor zur Disco gehen oder Freunde besuchen zu wollen und schindeten so unheimlich viel Zeit. Ab und an waren ihre Eltern so gut drauf, dass es weit nach 1 Uhr wurde. Abende dieser Art verbrachten wir aber nicht immer wie vorgegeben in der Diskothek oder bei Freunden. Oft blieben wir auch einfach nur bei mir zu Hause, kuschelten uns aneinander und hörten Musik. Zu dumm, dass wir noch eine ganze Weile auf Bus und Bahn angewiesen waren. Dieser Umstand brachte mir so manch kilometerlangen Fußmarsch ein, denn wenn es an der Zeit war brachte ich sie natürlich nach Hause. Ob bei Regen oder Schnee, ob mit triefender Nase oder Blasen an den Füßen, den Weg gingen wir so oft, dass sich die Kilometer nur so in mein Gedächtnis meißelten. Wie so viele Erinnerungen aus dieser Zeit meines Lebens.
Wochen später war es dann endlich soweit. Meine erste 50’er stand vor der Tür. Nicht mehr die Neueste, aber doch absolut gut in Schuss für gutes Geld. Und endlich erlangten wir auch mehr Freiheit oder besser gesagt ein gutes Stück Unabhängigkeit. Nun endlich waren wir nicht mehr auf Bus und Bahn angewiesen und konnten uns dadurch viel öfter sehen und die Zeit viel besser nutzen. Ein herrliches Gefühl, einfach unbeschreiblich. Wenn ich heute so zurückdenke, ja ich war glücklich. Viel glücklicher und unbeschwerter als ich es später je wieder sein würde. Natürlich war von Vorteil, dass meine Mutter Ina von Anfang an in ihr Herz schloss. Wir hatten sozusagen Narrenfreiheit und Ina war stets bei uns willkommen. Klar, meine Mutter sah natürlich auch die positiven Veränderungen in meinem Leben. Viele gute Veränderungen wie man meinte.
Nun ja, mein älterer Bruder hatte leider nicht solches Glück. Die Freundin die er seinerzeit mit nach Hause brachte war arrogant, hochnäsig und unfreundlich. Von Höflichkeit natürlich auch keine Spur. Soweit ich mich erinnere war meine Mutter damals sehr oft froh diese Person gehen zu sehen. Bei Ina sah das alles ein wenig anders aus. Ihre mit im Haus lebende Oma war wie ein Pitbull und von Anfang an nicht gerade gut auf mich zu sprechen. Doch unsere Antipathie beruhte wohl auf Gegenseitigkeit, denn bis zum bitteren Ende bin ich nie warm geworden mit dieser Frau. Ihre Mutter konnte ich hingegen sehr gut leiden, obgleich sie manches Mal sehr konservative Ansichten vertrat. Ihr Dad, eher der Witzbold im Bunde, hatte dagegen nur all zu oft einen lustigen Spruch auf den Lippen. Selbst ihre Schwester, eine kleine Nervensäge wie aus dem Bilderbuch, war eigentlich eine kleine Liebe. Wie kleine Schwestern eben so sind. Mal nervig, mal zickig. Wie das eben so ist.
Vielleicht mögen sich unsere Erinnerungen ja heute nach so vielen Jahren in so manchem Punkt unterscheiden, vielleicht ist auch der Blick auf die Vergangenheit in meinen Augen ein anderer als in ihren, doch ich weiß, dass wir damals ein Herz und eine Seele waren, unzertrennlich und unangreifbar für jeden der sich auch immer gegen uns stellte.
So entwickelte sich über Monate aus anfänglicher Zuneigung Liebe, Vertrauen und natürlich die Basis für eine gemeinsame Zukunft. Auch wenn keiner von uns in jener Zeit daran dachte oder sich vorstellte wie eine gemeinsame Zukunft aussehen würde, wir lebten im Heute, im Gedanken an das Vergangene aber nie so realistisch im Morgen, als dass wir uns dahingehend ernsthaft Gedanken gemacht hätten. Natürlich hatten wir Träume, Wünsche und eine Vorstellung dessen, wie wir unser Leben gestalten wollten. Dass viele Dinge letzten Endes nie eintreffen würden, damit rechneten wir natürlich nicht. Warum sollten wir auch? Wir waren einfach jung, naiv und noch lange nicht bereit auch die negativen Seiten des Lebens ins Auge zu fassen. Und so wurde Ina die erste große Liebe meines Lebens. Sicher, eine Jugendliebe, doch eine in derer es an Zuversicht, Ehrlichkeit und Vertrauen über lange Zeit nicht im Ansatz mangeln sollte. Eher noch an Einsicht dafür, dass dies nicht für immer anhalten würde. Aber dies ist nun mal das Vorrecht der unerfahrenen Jugend, von dessen wir ausgiebig Gebrauch machten. Ich weiß noch, dass mir die Welt in diesen Tagen fehlerlos vorkam, voller Schönheit und Anmut. Blind vor Liebe nennt man diesen Zustand wohl. Und dieser Zustand sollte auch noch sehr lange Zeit anhalten.
Aus Tobi und seiner Sommerschnitte war auf lange Sicht nichts geworden, doch hatte er diesen Umstand recht gelassen hingenommen. Ich weiß nicht einmal wie es zwischen den Beiden endete oder ob da nach der Nacht im Ferienlager überhaupt noch mal was lief. Er machte sich in der Folgezeit aber auch ziemlich rar und ich wurde das Gefühl nicht los, dass ihn familiäre Probleme plagten. Doch er redete nicht, vertraute sich mir nicht an und entschwand ein Stück weit aus meinem Leben. Ja gut, mit Ina hatte ich nun meine Prioritäten neu geordnet, doch waren mir meine engsten Freunde auch weiterhin stets wichtig. Aber auch diese Dinge begannen sich im Laufe der Zeit zu verändern. Manche Freundschaft schien an Wert verloren zu haben, andere hingegen vertieften sich. Vorbei waren die Zeiten in denen man tagtäglich gemeinsam die Gegend unsicher machte, vorbei die Zeit wo man zusammen durch die Gegend streifte. Zum Erwachsen werden bedurfte es auch der Erfahrung, dass jenes mit Verlusten einher ging. Nein, die Zeit war gekommen eigene Wege zu gehen, unabhängig und in der leidvollen Konsequenz einer Weiterentwicklung im Ganzen. Neue Freunde, neue Kreise aus dem Umfeld des Partners oder der Partnerin. So vergingen die Wochen, Ferien kamen und gingen, Jahreszeiten wechselten das Antlitz der Erde und Alltag begann wieder ein Stück weit unser Leben zu bestimmen. Ich verbrachte weit weniger Abende vor dem Fernseher als zuvor, saß stundenlang über meinen Büchern oder dachte über mich und mein Leben nach. Einen Ort der Ruhe fand ich als ich ganz zufällig mit meinem Moped an einer versteckten Bucht unserer Talsperre strandete.
So manchen Abend verbrachte ich an diesem ruhigen Ort. Wenn ich Ina schon längst nach Hause gebracht hatte, alle ausgeflogen waren und sich die Abenddämmerung langsam hinter den bewaldeten Hügeln zu dunkler Nacht wandelte. Es waren seinerzeit eben nicht nur Tage des Liebens und Zusammenseins, sondern auch Tage des Denkens und Fühlens. Mit Ina lief alles bestens, in der Schule war alles klar und mein Leben ging einen Weg den ich mir positiver nicht hätte ausmalen können.
Doch konnte dieser Zustand anhalten? Eines Tages würden wir über den Tellerrand hinaus schauen und bemerken, dass dort weit mehr ist hinter den Hügeln unseres Seins. Noch aber waren wir ein Herz und eine Seele, unzertrennlich und verliebt über beide Ohren. Nicht einmal ansatzweise fähig, einer solchen Realität auch nur in Grundzügen ins Auge zu schauen. Noch kümmerten wir uns nicht darum, was wann wie und wo irgendwann mit uns passieren könnte.
Wenn ich heute so darüber nachdenke fällt mir auf, dass wir uns in den Jahren unseres Zusammenseins nie wirklich gestritten hatten. Ja gut, kleine bedeutungslose Meinungsverschiedenheiten wie sie eben jedes Pärchen einmal hat, aber nie Streitigkeiten, die sich nicht mit einem innigen Kuss und einer liebevollen Umarmung wieder aus der Welt schaffen ließen.
Immer öfter ergänzte das Wort des einen den Satz des anderen, oft sprach der eine aus was der andere dachte. Uns beiden mag das damals nicht so aufgefallen sein, weil es für uns einfach normal war, doch unsere Mitmenschen waren nicht nur einmal über unsere klare gemeinsame Linie verwundert. Damals hieß es ja, wir wären das Traumpaar schlechthin und uns schmeichelte dies natürlich. Ein derart intensives und gegenseitiges Verstehen habe ich ehrlich zugegeben seit jener Zeit nicht wieder erlebt. Natürlich folgten dieser Beziehung weitere, mal mehr und mal weniger intensiv. Doch ich glaube eine solch innere Verbundenheit seit dieser Zeit und in dieser Art und Weise nie wieder gespürt haben zu können. Ein Verstehen jenseits der Worte wie es uns damals in unserer jugendlichen Naivität möglich war. Natürlich überdenkt man solche Dinge heute mit ganz anderen Augen. Natürlich lagen die Dinge seinerzeit anders als wir sie heute sehen. Heute sehen wir mit den Augen eines Erwachsenen, während unser Gemüt in der Vergangenheit noch gänzlich unbeschwert von heutigen Einflüssen war.
Und bald schon sollte ein neues Kapitel in unserem Leben anbrechen, ein uns bis dato völlig unbekanntes und doch gleichsam berauschendes Kapitel Leben. Beide waren wir zu diesem Zeitpunkt noch völlig unberührt, jungfräulich. Im Gegensatz zu anderen Pärchen unseres Alters legte wir es auch nicht zwangsweise darauf an, sondern freuten uns vielmehr darauf zu wissen, dass es irgendwann von ganz allein geschehen würde. Ohne Zwang und ohne ein Gefühl von Reue. Nie wieder würde man sein Gegenüber in solch einer Art und Weise entdecken dürfen, nicht noch einmal empfinden was man in diesen Augenblicken empfand. Es war ein erhebendes Gefühl, unbeschreiblich und klar. Ohne Reue oder gar Bedauern gaben wir uns ein-ander hin und entdeckten den anderen in seiner von Gott geschaffenen Art. Nicht jeder wird sein erstes Mal auf diese ganz besondere Weise erleben dürfen, doch sollte man dankbar sein, wenn es einem vergönnt ist. Ich für meinen Teil bin es…
Sind es nicht gerade berührende Punkte dieser Art im Leben eines jeden einzelnen, welche von sich aus die Art der Erinnerung aneinander bestimmen? Die in uns ganz deutlich festlegen, ob wir uns in späteren Zeiten einmal positiv oder negativ an den anderen erinnern würden? Sich ohne Worte verstehen bekam in jener Zeit für mich eine ganz eigene Bedeutung. Gesten nur waren es die uns zeigten wie der andere fühlte und empfand. Ein lautloses Verstehen durch Blicke und Gesten. Manchmal dachte ich wir hätten auch taub und stumm sein können und hätten uns dennoch verstehen können. An jene Zeit zurückgedacht muss ich zugeben, dass wir viele Dinge für unsere Liebe in Kauf nahmen die andere nur belächelten. Und war es auch nur um den anderen für einen kurzen Moment in den Armen halten zu dürfen. Wie oft schwänzte ich den Unterricht, nur um sie auf dem Pausenhof ihrer eigenen Schule zu sehen und sie in den Arm nehmen zu können. An viele solche Situationen kann ich mich nur noch bruchstückhaft erinnern. Doch solche Augenblicke waren es die mir die Zuversicht gaben, die uns die Zuversicht gaben uns auf dem richtigen Weg zueinander zu befinden. Ohne Reue und ohne zurückzuschauen.
Leider kam es wie es kommen musste. Die eine oder andere Note verschlechterte sich bei ihr und zu schnell stand der Vorwurf ihrer Mutter im Raum, dass dies an unserem Zusammensein liegen würde. Natürlich lag es auch ein Stück weit an unserem Zusammensein, denn das erste Mal im Leben gab es mehr Dinge, wichtigere Dinge als nur Schule und dergleichen. Nur führte dies dazu, dass ihre Mutter versuchte den Umgang zwischen uns einzuschränken. So durften wir uns fortan nur noch an zwei Nachmittagen in der Woche und an den Samstagen sehen.
Aber gut, wir waren zwar jung aber nicht dumm, weshalb wir uns auch an den verbotenen Tagen dann und wann trafen. Ein zufälliges Treffen beim Einkaufen, beim Spazierengehen oder eben nach der Schule auf dem nach Hause Weg. Immer wieder boten sich unscheinbare Augenblicke an denen wir uns zumindest kurz in die Arme schließen konnten. Und da ich bald danach meinen Motorradführerschein machte und mein Moped gegen eine viel schönere und schnellere 150’er eintauschen konnte, vereinfachte dies die Sache natürlich ungemein. Ich glaube aber es erweiterte auch ein Stück unseren Horizont. Max und Udo, damalig meine besten Freunde, waren schon viel früher auf die bei weitem schnelleren Maschinen umgesattelt und fuhren uns schon längst davon. Man was waren das für geile Zeiten, als wir in der Clique die Gegend unsicher machten. Sechs, acht oder manchmal gar zehn Leute die auf ihren Motorrädern ein Stück von Freiheit genossen, welches man heute nur noch aus Filmen wie Easy Rider und dergleichen kennt. Sicher unsere 150’er waren nicht vergleichbar mit einer guten alten Harley Davidson, aber die konnten im Gegensatz zu uns auch nicht quer über die Felder hoppeln, die Straßen und Wege unsicher machen und im Wald Motocross fahren. Es war einfach nur eine geile Zeit die man heute in der Form gar nicht mehr genießen könnte.
Doch auch so vereinfachte die Tatsache ein Motorrad zu besitzen die Sache ungemein. Wie ich schon sagte, ein kurzes Treffen in der Pause vor ihrer Schule, ein kurzes unbeobachtetes Treffen nachmittags am Bahnhof oder auch bei Freundinnen mit denen sie vorgab sich zu verabreden. Aber gerade diese kleinen Dinge waren es die uns noch fester zusammenschweißten.
Irgendwann gaben ihre Eltern wohl auf oder aber Inas Noten wurden tatsächlich wieder etwas besser. Auf jeden Fall ließen sie die Zügel wieder lockerer und ließen uns gewähren. Es spielte sich eben so ein. Der Alltag, die Schule, Freunde und Hobbys. Aber auch das war schön, Normalität zu haben, Einfachheit wahrnehmen zu können. Auch ich musste mich schulisch etwas mehr einbringen, immerhin standen die Abschlussprüfungen bald vor der Tür. Es war gut auch ab und an mal Freiräume zu haben. Freunde und Hobbys waren lange Zeit etwas vernachlässigt worden. Und so spielte ich nach langer Zeit auch mal wieder die eine oder andere Runde Fußball, beschäftigte mich mit Musik oder bastelte auch einfach mal wieder ungezwungen an meiner Maschine.
Doch so wie die Zeit verrann, so änderten sich auch so manche Dinge und ich hatte irgendwann das Gefühl, dass das so nicht für immer bleiben würde. Ich ahnte es in meinem Inneren, trug dieses Gefühl jedoch nie nach außen. Irgendwann durfte sie dann auch ganz offiziell und mit elterlicher Genehmigung bei mir übernachten. Jedes zweite Wochenende wenn wir zur Disco waren oder vorgaben es zu sein. So verging die Zeit und alles fügte sich wunderbar zusammen. Jedes unserer Treffen genossen wir aufs Neue. Ob nun das heimliche Bad mit Ina im abgelegenen, tief im Wald versteckt gelegenen Weiher oder die Motorradtouren mit unserer Clique. Freunde hatte ich auch später immer wieder. Mal gute und mal weniger gute. Doch ein solches Zusammengehörigkeitsgefühl erlebte ich seither nie wieder. Wir waren eine Generation im Aufbruch, mit Zielen und Träumen die uns niemand nehmen konnte. Keinem von uns. Freunde wie diese hab ich in meinem späteren Leben nie wieder kennen gelernt.
Ich erinnere mich noch gut an die Abende an denen wir uns zum Motocross fahren im Steinbruch trafen, an die Abende auf dem Sportplatz, wenn wir mit unseren Maschinen das eine oder andere Kunststückchen vorführten. Oder aber auch an die Abende in der hiesigen Dorfdisco, wenn einer der unseren Ärger hatte und plötzlich sechs oder acht Mann hinter ihm standen. Das ist was ich unter Freundschaft verstehen, das ist was einen für ein Leben verbindet. Auch wenn dann alle irgendwann ihre eigenen Wege gehen.
Aber wir genossen gern auch mal die Zweisamkeit und verbrachten manchen Samstag lieber allein am See als mit den Kumpels auf dem Motorrad. Doch wir wurden älter und somit ein Stück weit erwachsener. Wir begannen über den Tellerrand unseres bisherigen Seins hinaus zu schauen und auch zu hinterfragen was wir bis dahin nicht zu hinterfragen wagten. Vielleicht auch unsere Liebe selbst. Keiner von uns trug wirklich eine Schuld an dem was sich später ereignen sollte, doch ich denke, dass der Grundstein dafür schon in dieser Zeit gelegt wurde. Vielleicht waren wir uns unserer Sache auch einfach nur viel zu sicher und achteten zu wenig auf das was uns umgab. Auf die Unumgänglichkeit der Normalität, den stetigen Lauf des Lebens und der Weiterentwicklung des eigenen Seins. Jene Dinge die unser Schicksal lenken, aber letztlich auch zu unserem Scheitern führen sollten.
Gänzlich unverhofft trat Maria wieder in mein Leben. An einem dieser Nachmittage an denen Ina zu Hause bleiben musste und ich ziellos mit meinem Motorrad durch die Gegend streifte. Nun ja, zumindest bis mir an der Bushaltestelle die kleine zierliche Blondine auffiel. War das nicht…?
Und tatsächlich, sie war es. Die kleine nette Blondine aus dem Wetteratal. Im ersten Moment war ich hin und her gerissen. Sollte ich anhalten oder weiterfahren? Aber da winkte sie mir schon zu. Ich frage mich heute noch wie sie mich unter dem Helm mit Sonnenbrille erkennen konnte? Ich wendete also meine Maschine, machte eine standesgemäße Vollbremsung vor ihren Füßen und war sowas von cool. Aber auch wirklich sowas von sowas…
Zu einem Kontakt war es nach dem Ferienlager nicht mehr gekommen. Ich war zu sehr mit meinem Leben beschäftigt und Maria mit dem ihren. So redeten wir und redeten und ehe wir uns versahen fuhr uns ihr Bus vor der Nase weg. Der nächste Bus würde erst in gut zwei Stunden fahren und es wurde jetzt schon dunkel und kalt. Ich freute mich, sie nach so langer Zeit mal wiederzusehen und sie freute sich ebenfalls. Und wie wir so über alle möglichen Dinge redeten fragte ich sie, ob ich sie nicht nach Hause bringen könnte. Ich wusste ja, dass sie nur eine Ortschaft weiter wohnte. Glaube, wir verquatschten noch gut ein oder zwei Stunden vor ihrem Haus, bis ich mich dann doch dazu zwang endlich nach Hause zu fahren. Ich verabschiedete mich von Maria und bekam von ihr prompt einen Schmatz auf die Wange gedrückt.
Bumm… das schlug erstmal ein. Im ersten Moment wusste ich gar nicht wie ich tun sollte, wollte mich aber auch nicht blamieren. Ich verabschiedete mich eiligst und fuhr meiner Wege. Ich war durcheinander und dennoch verabredeten wir uns für ein weiteres Treffen. Ich weiß noch, dass ich jenes Treffen ein- oder sogar zweimal absagte, aber irgendwann kam ich nicht mehr aus. Doch was tat ich da…?
Vielleicht hatte ich den kleinen Kuss auf die Wange auch einfach nur überbewertet. War ja so üblich, Bussi rechts und Bussi links. Tatsächlich redete ich mir die Sache lange Zeit schön und fuhr Maria hin und wieder besuchen. Nicht, dass ich mir dabei groß etwas dachte, wir fuhren Eis essen, gingen spazieren oder quatschten einfach nur stundenlang bei ihr auf dem Zimmer. Es hätte eine wunderbare Freundschaft werden können. Doch ich vermochte nicht zu erkennen, dass sie sich mehr von unseren Treffen erhoffte als ich zu geben bereit war. Vielleicht wollte ich es auch nicht sehen, nicht bemerken.
Doch eines Tages schlang sie ihre Arme um meinen Körper, drückte mich ganz fest an sich und gab mir einen langen zärtlichen Kuss. Und ja, ich gebe zu mich diesem seinerzeit nicht erwehrt haben zu können. Und im gleichen Moment wurde mir schlagartig bewusst in welche Situation ich mich begeben hatte. Ich schämte mich dafür diesen Kuss genossen zu haben und gleichwohl zu wissen, dass meine Liebste daheim saß. Ich schämte mich wirklich und ließ mich daraufhin auch lange Zeit nicht mehr bei Maria blicken. Ina gegenüber hatte ich ein schlechtes Gewissen, welches mich bei jedem Wiedersehen plagte. Zu recht. Irgendwann fasste ich mir ein Herz, Ina war gerade mit ihren Eltern zu Verwandten gefahren, da fuhr ich kurzerhand zu Maria und versuchte mit ihr über die Dinge zu sprechen.
Doch wie sollte ich gegen ihre Krokodilstränen und rührenden Blicke ankommen? Natürlich nahm ich sie in den Arm, tröstete sie und versuchte irgendwie auch gleichzeitig Distanz zu wahren. Schon der erste innige Kuss Wochen zuvor hätte mich sofort in die Realität zurückholen müssen, hätte mir aufzeigen müssen, dass eine Freundschaft unter diesen Umständen wohl nicht möglich sein würde. Mir lag viel an der Freundschaft zu Maria, doch nicht annähernd soviel wie an meiner Liebe zu Ina. Und ein Stück weit war ich auch sauer auf mich selbst. Auf meine jugendliche Naivität und schier grenzenlose Dummheit.
Noch Wochen oder Monate später versuchte ich mir die Sache schön zu reden. Es war ja auch weiter nichts passiert, abgesehen von diesem einen innigen Kuss. Und dennoch hatte mich diese Situation eines gelehrt, und zwar dass eine kleine Unachtsamkeit, ein kurzes unüberlegtes Handeln den Ausschlag geben kann um Großes zu zerstören. Der Kontakt zu Maria war unter dem Druck des Geschehenen abgebrochen. Und es war gut so. Leider war es gut so…
Doch auch Ina hatte sich im Zuge der Zeit verändert. Dem Verstehen folgten immer öfter Missverständnisse, fehlendes Vertrauen und anhaltende Gereiztheit. Zeitweise überschatteten ihre Probleme zu Hause unsere Liebe mehr als dass unsere Gemeinsamkeiten sie verbanden. Es war eine schwierige Zeit obgleich wir uns noch immer zutiefst liebten. Meine Schulzeit ging dem Ende entgegen, neue Dinge sollten auf mich warten, neue Erfahrungen mein Leben bereichern. Ina und ich genossen die Wochen unserer letzten gemeinsamen Sommerferien, waren so oft es nur ging zusammen und versuchten nicht daran zu denken was folgen würde. Wir fuhren sehr oft an den alten Weiher im Wald oder machten ausgedehnte Spritztouren mit der Maschine. Doch schon als sich der Sommer langsam dem Ende neigte und ich die ersten schwierigen Wochen meiner Lehrzeit hinter mich gebracht hatte, zeigten sich erste Probleme in und außerhalb unserer Beziehung.
Ich hatte einfach nicht mehr so viel Zeit für sie wie früher, musste bis Nachmittag die Schulbank drücken oder arbeiten. Mit etwas Glück sahen wir uns ein oder zwei Nachmittage in der Woche. Doch es gestaltete sich schwierig Wohnheimleben, Ausbildung und Beziehung unter einen Hut zu bringen. Irgendwie hatte mit Beginn meiner Ausbildung auch die uns bis dahin umschließende Unbekümmertheit ein Ende gefunden.
Es war nicht so, dass wir uns auf einmal nicht mehr verstanden hätten. Nein, unsere Gefühle zueinander waren noch immer da. Unser Umfeld änderte sich und auch unsere Sichtweise auf die Dinge selbst. Freunde hatten plötzlich keine Zeit mehr, weil sie selbst eine Lehre begonnen hatten, waren verzogen oder gingen anderen Interessen nach. Unsere Clique löste sich nach und nach auf und nichts blieb mehr von dem unbekümmerten Sein eines Jugendlichen. Einige verschwanden so gänzlich aus unserem Leben und ich hatte nur zu oft das Gefühl, dass alles um uns herum ausein-anderbrechen würde.
Zu erklären was mich letztlich in die tiefbayerische Provinz führte würde die Grenzen dieses Buches ein wenig sprengen. Sagen wir ein Todesfall in der Familie führte mich zu meinen alten Herren und ich hatte bei Gott keine rechtliche Handhabe dagegen. Mein bis dahin geführtes Leben in geordneten Bahnen zu halten war schlichtweg unmöglich geworden und aus meiner Liebe zu Ina wurde eine Fernbeziehung. Hunderte von Kilometern trennten uns und ein aneinander festhalten war unmöglich. Zwar kehrte ich nach Monaten ewiger Streiterei meinem alten Herren und dessen versoffener Frau den Rücken, doch hatten sich daheim schon zu viele Dinge verändert. Und nicht zum Besten wie ich meinte. Menschen um mich herum waren mir fremd geworden und selbst meine Familie stellte sich gegen mich. Es war eben einfacher sein eigenes jämmerliches Leben ohne Rücksicht auf andere fortzuführen als einmal Stellung für jemanden zu beziehen. Aber egal. Was mich in dieser schweren Zeit am Leben hielt war meine Liebe zu Ina und der Glaube daran, dass sich alles wieder zum Guten wenden würde.
Doch Hoffnung ist ein schlechter Ratgeber. Vor allen Dingen wenn sich die Umstände schneller ändern als man darauf reagieren kann. Vielleicht lag es wirklich an den Monaten die ich in der tiefbayerischen Provinz verbrachte, die Einsicht dass es ein Leben auch ohne den anderen gab. Auch wenn wir uns noch so dagegen wehrten, wir lebten uns unbemerkt auseinander.
Mein größter Fehler war wohl das Beschreiten neuer beruflicher Wege die mich wieder zurück nach Bayern führten. So hatte ich zwar zwischenzeitlich eine eigene Wohnung und war jedes Wochenende daheim, aber die alten Zeiten wollten sich einfach nicht mehr einstellen. Führerschein, Auto, neue Freunde. Dinge die unser Leben in den Grundfesten veränderten. Grenzenlose Freiheit und gleichsam verderbend. Denn war es nicht eben jene Freiheit und Selbstständigkeit die uns früher oder später auseinanderbringen würde? Die gemeinsamen Wochenenden vergingen leider viel zu schnell, die Wochen dagegen verrannen nur langsam. Wir telefonierten in diesen Tagen häufig miteinander, fast jeden Abend mal mehr und mal weniger lang. Doch nach den Sommerferien begann auch sie eine Ausbildung und verbrachte die Woche in einem Lehrlingswohnheim.
Alte Freunde gingen ihrer Wege, neue durchbrachen unseren inneren Kreis. Ina brachte Kollegen in unser Umfeld und die wiederum ihre Schwestern, Freunde und Bekannte. Das was einst ein eingeschworener Kreis von Freundschaft und Zusammenstehen war, wurde zu einem unübersichtlichen Haufen Unbekannter, denen Freundschaft nicht annähernd das bedeutete wie mir. Unser ganzes Selbst begann mit jedem Wochenende ein wenig mehr auseinander zu brechen. Es machte mich traurig mit ansehen zu müssen wie unser einst gemeinsamer Freundeskreis mich immer mehr abstieß. Nicht dass ich mich nicht mit ihnen verstanden hätte. Nein, vielmehr brachten sie Veränderungen in unser Leben, welche wir so nicht haben wollten. Veränderungen die ich nicht haben wollte.
Plötzlich gab es keine Zweisamkeit mehr oder ruhige gemeinsame Stunden am See. Alles drehte sich nur noch um Party, Gruppenunternehmungen und Inas neue Freunde. Schon da merkte ich, dass sie mir von Woche zu Woche mehr entglitt. Ihr neuer Umgang, ihr neues Leben, es sollte für unsere Liebe der Anfang vom Ende sein. Im Wohnheim passierte es dann wohl auch. Ausgerechnet der Eine war es, der den ich bat ein schützendes Auge auf Ina zu werfen, während ich mich im Bayerischen aufhielt. Er warf ein Auge auf sie, nur nicht in der Art und Weise wie ich mir dies vorgestellt hatte. Anfangs ahnte ich nicht was geschehen war, doch als ich die folgenden Wochenenden nach Hause kam und meine Liebste in die Arme schließen wollte, hatte sie sich sehr verändert. Innerhalb nur weniger Tage war sie abweisend und unnahbar geworden. Etwas musste passiert sein in diesen Tagen und doch kam ich nicht darauf was es war. Der Sturm legte sich wieder, denn zu groß war mein Vertrauen in sie. Sie würde mich nicht verletzen. Nicht sie.
Ich erkannte die Zeichen seinerzeit nicht, die doch so deutlich vor mir lagen. Und umgeben von Lügen und Betrug versuchte ich mir meine kleine heile Welt zu bewahren. Ich war blind vor Liebe, taub vor Vertrauen und vermochte nicht zu erkennen welch Unheil sich um mich herum zusammenbraute.
Meinen Job im Bayerischen musste ich aufgeben und begann als Türsteher in einer heimischen Diskothek. Es hätte ein neuer Anfang für mich und Ina sein können, doch ich ahnte nicht, dass sie mich schon längst aufgegeben hatte. Ahnte nicht, dass sie unsere Liebe schon aufgegeben hatte.
Es war während der Eröffnungsfeier der Diskothek, als sich mein Kumpel zufällig im Suff verquatschte und mir von seiner heißen Nacht mit Ina berichtete. Franco hieß der Typ und ich glaube es war das einzige Mal in meinem Leben, dass ich einem Menschen den Tod an den Hals gewünscht habe. In diesem Moment wusste ich nicht einmal auf wen ich wütender war. Auf ihn? Auf Ina? Auf mich selbst und meine grenzenlose Naivität und Dummheit? Ich kochte vor Wut, holte mir an der Bar eine Flasche Braunen und nahm ein paar gute Schluck zur Beruhigung draußen vor der Tür. Vor Wut schleuderte ich die noch halbvolle Flasche quer über den Parkplatz und hörte das Zerbersten einer Autoscheibe. Es war als würde mir jemand ein Messer in die Brust rammen und mir dabei in die Augen schauen. Blankes Entsetzen…
Doch wie nun weiter? Ich wusste es nicht. Mein Hass auf Ina, auf Franco und das ganze Lügengebilde drum herum war so groß, dass ich nur noch davonlaufen wollte. Dinge die uns zuvor fest und innig verbanden, erschienen mir jetzt mit einem mal nur noch lächerlich und dumm. Jegliche Chance doch wieder zueinander zu finden war erstmal unwiderruflich dahin. Wortlos nahm ich Ina an die Hand, verfrachtete sie auf mein Motorrad und anschließend nach Hause. Sie konnte mir nicht mehr in die Augen schauen und ich war so verletzt, dass ich ihr mit ebenso verletzenden Ausdrücken entgegnete. Die darauf folgenden Tage verbrachte ich wie in Trance und fand Trost bei der Exfreundin von Franco. Wie sich herausstellte war sie in der gleichen misslichen Lage, denn Franco machte auch ihr über Wochen etwas vor. Und auf einmal waren wir nicht nur Verbündete sondern auch für eine Weile ein Paar. Wenn auch aus den falschen Motiven heraus.
So manches Mal habe ich in all den Jahren überlegt, ob und wie ich Ina noch zurückgewinnen hätte können. Vielleicht hätte ich mich nicht gar so schnell auf Karina einlassen sollen, aber Franco und Ina als Paar zu sehen schmerzte mich so sehr, dass ich Trost suchte und jenen bei Karina fand. Dennoch konnte ich mich nie gänzlich von dem Gedanken an Ina losreißen. Immer wieder fuhr ich die Plätze ab an denen wir uns so oft trafen, verweilte stundenlang an den Orten an denen wir gemeinsam unsere Zeit verbrachten.
Nach und nach wurde mir bewusst, dass dies nicht nur eine Zeit des Umbruchs sein sollte, sondern auch eine Zeit des Verlierens und Aufgebens. Stundenlang stand ich im strömenden Regen an unserem geheimen Badeweiher und las Deine Briefe. Ich weiß nicht mehr wie oft ich Deine Nummer wählte ohne es wirklich klingeln zu lassen und wie oft ich unsere Wege abfuhr nur um Dir vielleicht zufällig zu begegnen.
Wochen und Monate zogen ins Land und ein grauer Schleier des Vergessens legte sich nun sanft über mein Leben. Und das war gut so, denn den Schmerz hätte ich auf Dauer nicht ertragen können. Doch immer wieder schob sich Inas Bild in meine Gedanken oder ich nahm den süßlichen Geruch ihres Parfüms wahr. Immer wieder ertappte ich mich bei dem Gedanken an sie, den Gedanken an ihre langen lockigen Haare, das zierlich anmutende Wesen und die liebevolle Art mit der sie ihre Umwelt umgab. Immer wieder streiften mich Gedanken an die, die einst mein Herz so tief und innig berührte. So innig wie es seit dem keine andere vermochte. Und vielleicht waren auch dies Gründe dafür, dass Karina und ich eines Tages aus unserem Traum erwachten und feststellten, dass unsere Beziehung seine Grundlage verloren hatte. Irgendwie hatte für mich alles ein Stück weit seinen Sinn verloren und ich versuchte einen Großteil meiner Erinnerungen aus dem Gedächtnis zu löschen. Doch was ich mir stets in meinem Herzen bewahrte, waren die Erinnerungen an meine erste große Liebe. Aufgehoben zwischen den Zeilen dieses kleinen unbedeutenden Buches, werden sie zumindest einige Jahre länger überdauern als ich selbst und ich danke Gott dafür, dass ich einer der wenigen Menschen sein durfte, die solch Erinnerungen ihr Eigen nennen dürfen.
Noch heute denke ich hin und wieder an diese Zeit meiner Jugend zurück. An Ina, das Sommerlager im Wetteratal, an Maria und all die Dinge die seinerzeit so wichtig für mich waren, die mich prägten und mich zu dem machten was ich heute bin. Und doch lebe ich im Heute und weiß, dass Erinnerungen an die Vergangenheit uns nie zurückgeben können was wir in unserem Leben so sehr vermissen oder vielleicht auch vermisst zu haben glauben. Das Hier und Jetzt sind die Dinge die unsere Zukunft bestimmen und einst werden auch sie nur Erinnerungen sein.
Wäre dies nun eine wahre Geschichte, so würde ich abschließend ein paar Worte an die Eine richten wollen, die mich in ihrer liebenswerten und unvergesslichen Art ein Stück weit meines Lebens begleitete. Ich würde ihr aus der tiefsten Ehrlichkeit meines Herzens alles Gute und Schöne dieser Welt wünschen und hoffen, dass sie heute den Traum lebt, welches wir einst in unserer Jugend für uns erträumten. Und doch sage ich „Schau nicht zurück und lebe Dein Leben im Heute“. Denn nur dort wirst Du das Glück finden.
* E N D E *
Arthur und Christin
Wenn ich mich heute versuche an diese Zeit zurück zu erinnern, erinnere ich mich nur an eine stürmisch regnerische Herbstnacht, erinnere mich an eine anfänglich unscheinbare Begegnung, die im Laufe einer Nacht mein ganzes Leben verändern sollte.
Eine Billardkneipe am Rande der Altstadt sollte Ort dieser Begegnung werden und ein junger Mann der Hauptakteur in dieser Geschichte. Nicht zu vergessen Marie, meine Freundin und Mattheus die gute Seele des Ladens. Mattheus war ein netter alter Mann, der fast jeden Abend hier verbrachte und sich mit Billardspielen die Zeit vertrieb. Wie Maria war auch er eine der guten Seelen der Straße.
Mein Name ist übrigens Christin, eine gut erhaltene Anfangsdreißigerin, Pächterin eines kleinen Secondhand Ladens um die Ecke und Mama einer kleinen Tochter. Eher zufällig verbrachte ich diesen Abend in der Kneipe, denn wie so oft wurde ich an jenem Abend einmal mehr von meinem damaligen Freund Maik versetzt, der angeblich mal wieder Überstunden schob. Das Märchen mit den Überstunden glaubte ich ihm schon lange nicht mehr, denn meist handelte es sich um Skatabende mit seinen stets saufenden Kumpels. Man was hasste ich diese Typen. Und wie sehr hasste ich die Lügen und Ausreden von Maik. Wir standen nicht nur kurz vor einer Kriese, wir waren bereits mittendrin. Und ich hatte langsam aber sicher die Nase voll von ihm und seinen saufenden Kumpanen.
Also stürzte ich mich heute allein in das Nachtleben der Stadt. Zugegeben, bunt waren hier allenfalls die Vorhänge. Doch es war gemütlich in Maries Kneipe. Der Blick hinaus auf die hell erleuchtete Straße, die mit Mosaikglas verzierten Fenster und eine Einrichtung aus der Jahrhundertwende gaben dem ganzen einen fast schon mittelalterlichen Touch. Ich verbrachte meine kinderfreien Abende gerne dort. Immer dann wenn meine Kleine das Wochenende bei ihrem leiblichen Papa in München verbrachte.
Den Gästen gefiel das mittelalterliche Ambiente und obwohl sich selten Auswärtige hier hinein verirrten, war das Lokal doch immer gut besucht. Die Stammgäste waren es, die jenes Kleinod einer sich stets wandelnden Stadt am Leben erhielten. Mattheus und seine Kumpel, die drei amerikanischen Soldaten die fast jeden Abend hier verbrachten, die zahnlose Heidi wie auch ich. Und manchmal eben auch Maik. Neue Gäste waren selten, und zogen sofort auch die Aufmerksamkeit auf sich. So wie der junge Mann, der mir sofort auffiel als ich den Laden betrat. Wann bekommt man in der heutigen Zeit auch noch von einem Fremden die Tür aufgehalten. Ich war entzückt und hatte für Marie zwei Kartons des guten französischen Weines mitgebracht, die ich gerade versuchte durch die immer wieder zufallende Tür zu buxieren. Und während die anderen ungläubig schauten und sich über meine vom plötzlich einsetzenden Regen durchnässten Sachen lustig zu machen schienen, waren Mattheus und der junge Mann sofort zur Stelle um mir zu helfen. Mattheus hielt die Tür auf, während mir der Fremde die zwei schweren Kartons abnahm und rüber zur Theke brachte. Ich zögerte kurz und hielt inne als mir der Unbekannte sein Stofftaschentuch reichte.
Nur einen Moment später ergriff er die Initiative, mein kurzes Zögern wohl bemerkend und wischte mir selbst die Regentropfen aus dem verdutzten Gesicht. Er lächelte und drückte mir das Taschentuch in die Hand. Im ersten Moment war ich versteinert und wusste nicht wie ich tun sollte.
„Dass Sie nicht vollends durchweichen, junge Frau!“, sagte er freundlich mit tiefer und angenehm klingender Stimme. Als ich einen Moment später das Taschentuch zurückgeben wollte, umschloss er meine Hand und verneinte. Ich bedankte mich schüchtern und wusste noch immer nicht, wie ich mich verhalten sollte. Der Fremde zog mich mit seiner Art regelrecht in seinen Bann und immer wieder suchte ich möglichst unauffällig den Blickkontakt zu ihm. Leuchtend grüne Augen die sich einem Lächeln hingaben sobald sich unsere Blicke auch nur zufällig streiften. Ich versuchte mich höflich zurück zu halten, quatschte unauffällig mit Marie und setzte mich wie immer an den kleinen Ecktisch unter dem Tiffanyleuchter.
Den hatte ich Marie zur Einweihung ihrer Kneipe geschenkt, obwohl ich ihn erst kurz zuvor auf einem Trödelmarkt für mich selbst erstanden hatte. Doch als Marie zu Besuch bei mir war, gefiel er ihr so gut, dass ich ihn ihr kurzerhand überließ. Ihre Freude war nicht zu übersehen als sie den Leuchter auspackte und zum Dank hängte sie ihn über meinem kleinen Ecktisch auf. Maria und ich waren fast wie Schwestern und sie reservierte stets den kleinen Ecktisch für mich. Man konnte tagsüber so schön auf die Straße schauen und die eilig vorübergehenden Passanten beobachten. Und am Abend saß man nicht ganz so im Kneipentrubel, sondern konnte sich ein wenig zurückziehen und die anderen Leute beobachten. Ich glaube gar es war der gemütlichste Platz in diesem Gasthaus.
Draußen vor der Tür stürmte es inzwischen und der kleine Regenguss von vorhin sollte nur der Anfang zu etwas ganz Großen gewesen sein. Der Fremde hatte sich indes wieder der Partie Billard zugewandt, welche die Anwesenden in ihren Bann zog. Wie auch unseren guten alten Mattheus, der nun eine Kugel nach der anderen versenkte. Man sah den anderen an, dass sie nur noch an sich zweifelten. Abgesehen von dem Fremden, der spielerisch ganz gut mit Mattheus mithalten konnte. Nachdem ich meinen ersten Aufwärmkaffee bei Marie bestellt hatte, beobachtete ich die vier Spieler am gegenüberliegenden Tisch noch eine Zeit lang. Der Fremde spielte nicht schlecht und letztlich schien es Mattheus zu sein, der nun zu tun hatte mit ihm mithalten zu können. Der unscheinbare junge Mann gefiel mir. Immer öfter trafen sich unsere Blicke und ich erwischte mich, wie ich ihn von oben bis unten zu mustern begann. Kurze Haare, Jeans, ungebügeltes Hemd und einen dieser langen braunen Wollmäntel über der Stuhllehne hängend. Freundlich und nett schien er zu sein, wenn auch etwas in sich gekehrt und mit einem etwas traurigen Ausdruck in seinen Augen.
„Was schaut der denn so grimmig?“, fragte ich Marie, während ich unauffällig auf den Fremden zeigte. Marie lächelte kurz zu mir rüber als sie wie ein Wirbelwind lächelnd mit einigen Maß Bier an mir vorüberzog.
„Gleich Christin, ich mach in paar Minuten Pause!“, sagte sie, während sie wieder eilig an meinem Tisch vorbeihuschte. „Dann können wir in aller Ruhe ein wenig quatschen!“, fügte sie noch hinzu. Nun ja, ich beobachtete die Spieler am Tisch noch eine ganze Weile, während Marie noch eben schnell ein paar Gäste abkassierte und sich eine Kleinigkeit zu Essen machte ehe sie sich zu mir gesellte.
„Eß Du nur erstmal in aller Ruhe“, sagte ich zu ihr, während ich meine Zigaretten hervorkramte und mir unhöflicherweise erstmal eine ansteckte. Doch Marie war den beißenden Qualm gewöhnt, rauchte selbst und nahm mir mein schändliches Verhalten nicht krumm.
„Maik ist angeblich mit seinen Kumpels unterwegs. Also hab ich wieder einmal mehr Zeit als mir lieb ist, zuweilen die Kleine bei meinem Ex ist.“, sagte ich und fügte hinzu, dass ich bei dem Wetter eh nicht so schnell nach Hause wollen würde. Da wäre ich ja klatschnass noch ehe ich am Auto bin.
Marie nickte mir zu und kaute genüsslich an Ihrer Brotzeit. Draußen stürmte es mehr und mehr und so manches Mal hatte ich ein wenig Angst, dass gleich die Fensterläden davonfliegen würden.
„Was ist nun mit dem Kerl dort vorn? Hab ich hier noch nie gesehen.“, fragte ich und Marie antwortete, dass er in den vergangenen Wochen regelmäßig hier im Pub rumhing, ein paar Runden Billard spielte, sich ein Kaffee bei Marie bestellte und wieder verschwand.
Mattheus hatte sich nun auch zu ihnen an den Tisch gesellt. Sein Spiel war diesmal leider vorbei noch ehe es begonnen hatte, nachdem er versehentlich die Acht versenkte.
„So ein Mist! Fast hätte ich ihn noch gehabt!“, raunte Mattheus etwas missgestimmt, während sein Blick auf dem faszinierenden Spiel des Fremden weilte. Und der war wirklich gut. Versenkte tatsächlich eine Kugel nach der anderen ohne groß überlegen zu müssen. Die zwei anderen taten immer mordsmäßig wichtig, versuchten zu Posen um ja gut beim Spiel auszusehen. Der Fremde hatte das nicht nötig. Der sah auch so gut aus in seinen engen Jeans. Ich bemerkte gar nicht, dass ich ihn in diesem Moment regelrecht anstarrte.
„Fast hätte ich ihn doch gehabt!“, raunte Mattheus noch einmal, während er sich gemütlich ein Pfeifchen stopfte und ein Bier bei Marie bestellte.
„Na ja, gegen den Fremden musst Du wohl noch etwas üben“, scherzte ich verstohlen. Doch Mattheus brummelte nur etwas Unverständliches in seinen Bart. Er mochte es so gar nicht zu verlieren, doch gegen den Fremden hatte auch er kaum den Hauch einer Chance.
„Nun erzähl schon. Wer ist das?“, löcherte ich den alten Mann, welcher darauf ebenso scherzend wie ich zuvor erwiderte:
„Ach da schau her? Christin hat Gefallen an unserem jungen Arthur gefunden? Na dann wundert mich natürlich gar nichts mehr!“, sagte er. Zumindest erfuhr ich so den Namen des Fremden und dass dieser Abend hier vorerst sein Letzter sein würde? Na so was blödes. Da lernt man mal einen interessanten Typen kennen und der macht dann auch gleich wieder die Biege. Seine Partie Billard schien er erfolgreich beendet zu haben, denn die anderen Beiden hatten sich etwas betreten an ihren Tisch zurückgezogen. Gerade bestellte er sich bei Marie ein Pils vom Fass und wollte sich an der Theke niederlassen, als ihn Mattheus zu uns rief.
„Komm zu uns, Arthur! Nimm Dein Bier und setz Dich mit zu uns an den Tisch. Wer zusammen spielen kann, sollte auch zusammen trinken können!“, sagte er und Arthur nahm das Angebot des alten Mannes gerne an. Ich glaube der Fremde hatte mir zugezwinkert als er sich zu uns an den kleinen Tisch setzte. Mattheus aber bekam von mir einen kleinen unscheinbaren Tritt gegen das Schienbein. Sein schelmisches Grinsen verriet mir, dass er nur zu genau wusste warum.
Vor Schreck wusste ich gar nicht wie ich tun sollte. Den Kaffeefleck auf meiner Bluse versuchte ich schnell noch unter meiner Jacke zu verstecken und fingerte etwas nervös an meinem Glas Wein herum. Mattheus und der Fremde hatten zuvor schon des Öfteren eine Partie Billard gespielt und kannten sich wenigstens ein wenig. Ich hingegen saß in meiner schüchternen Art da und brachte kaum ein Wort hervor. Mattheus flüsterte ihm fast unbemerkt etwas ins Ohr, stand auf und sagte, dass er für ein paar Minuten zum Fitsche rüber müsste um den Laden dicht zu machen. Der alte Fitsche hatte seinen Obstladen für einige Tage zugemacht und war mit seiner Frau nach Gran Canaria geflogen. Mattheus hatte versprochen sich in dieser Zeit etwas um den Laden zu kümmern, ein paar kleine Reparaturen zu machen und abends die Rollläden zu schließen. Nun ja, auf jeden Fall saßen Arthur und ich jetzt allein am Tisch und keiner wusste so richtig wie er tun oder was er sagen sollte. Marie huschte hin und wieder mit ein paar Gläsern vorbei, hatte aber auch gerade keine Zeit sich zu uns zu gesellen.
Also nahm ich all meinen Mut zusammen und sprach den Fremden an. Was er so machte, wo er wohnte und warum dies ausgerechnet sein letzter Abend hier sein sollte? Doch so schlimm wie ich dachte war es auch nicht. Arthur wollte nur für zwei Wochen nach Dublin in den Urlaub fliegen. Nicht mehr und nicht weniger. Bei Mattheus Getue musste man schon denken, dass Arthur auswandern wollte oder so. Etwas scherzend meinte Arthur sich erstmal ein wenig von seiner Ex erholen zu müssen. Nach dem war er erzählte musste es sich um eine garstige Kuh handelte die ihm lange Zeit das Leben schwergemacht hatte.
Da wollte ich gerade meine Meinung zu kundtun, als ein gewaltiger Windstoß die Tür zur Gaststube aufriss und den schweren Vorhang hin und her wehte. Einige Gläser gingen zu Bruch und ein kalter Wind durchströmte die kleine Gaststube. Aber Gott sei Dank griff Arthur geistesgegenwärtig nach dem Vorhang noch ehe dieser die seltenen Sammelkrüge vom Regal streichen konnte. Marie erschrak so sehr, dass ihr das Tablett aus den Händen glitt. Schnell holte sie die Schlüssel aus dem kleinen Kasten an der Theke und schickte sich an die Vordertür abzuschließen.
„Arthur! Könntest Du nach Mattheus schauen? Ich muss zuschließen und möchte ihn nicht aussperren!“, rief Maria uns zu. Arthur nickte, zog sich seinen Mantel an und verschwand im stürmenden Dunkel der Nacht. Einige Minuten vergingen, während dessen Marie und ich die Scherben auffegten. Durch den Sturm war der schwere Vorhang über mehrere Tische im Eingangsbe-reich hinweggefegt und hatte alles abgeräumt.
Die zutiefst erschrockenen Gäste erhielten ein paar Freigetränke und waren ganz schnell wieder guter Laune. Nach Hause gehen konnte bei dem Sturm aber eh keiner. Das Radio in der Gaststube lief schon den ganzen Abend, doch von einem nahenden Sturm hatte niemand etwas gehört. Von ein paar unbedeutenden Windböen die Rede, aber nicht von solch einem Sturm. Doch warum sich darüber aufregen, ändern konnte man am Wetter ja doch nichts. Endlich kamen auch Mattheus und Arthur wieder hereingeschneit, bis auf die Knochen durchnässt und laut fluchend.
„Was für ein Sauwetter!“, rief Arthur, während Blitze das Dunkel und Donner die Stille der Nacht durchbrachen. Regen peitschte gegen die großen Fenster und Marie hoffte, dass die Mosaikfenster keinen Schaden nehmen würden. Die Fensterläden waren nur Attrappe, und schlossen nur zum Teil. Ihr Mann war nicht zu erreichen und so entschied Marie, dass die Gaststube zumindest für die Dauer des Sturms als Unterschlupf geöffnet bleiben sollte. Bei diesem Wetter konnte man auch keinen Gast vor die Tür jagen.
Die Zeit verging schleppend und trotz des Sturmes kehrte wieder Ruhe in der Gaststube ein. Ein paar der Männer spielten Billard, Marie hatte wie immer hinter der Theke zu tun und Mattheus war im Haus unterwegs um zu schauen, was der Sturm noch so alles angerichtet hatte. Bald saß ich wieder mit Arthur allein am Tisch und so ganz fremd war er mir ja nun auch nicht mehr. Er verdiente seinen Lebensunterhalt als Taxifahrer und wie es der Zufall so wollte, war genau dies der Grund, dass er mir irgendwie bekannt vorkam. Ab und an ließ ich meine Tochter mit dem Taxi zu ihrer Oma fahren. Hauptsächlich dann wenn ich den Laden offen hatte und Maik mal wieder keine Lust hatte.
Mittlerweilen war es 1 Uhr morgens geworden und im Normalfall würde Marie den Laden jetzt langsam dicht machen. Doch der Sturm peitschte noch immer gnadenlos um die Häuser und Sturzfluten stießen vom Himmel herab. Irgendwann wurden unsere Gesprächsthemen persönlicher und intimer. So erzählte ich ihm auch von mir und meinem Freund Maik, der mich stets wegen angeblicher Überstunden versetzte, der mich als Frau gar nicht mehr wahrzunehmen schien und viele Dinge mehr die so plötzlich aus mir raus platzten. Ich bestellte mir bei Marie noch ein Glas Wein und gab Arthur für seine grenzenlose Geduld mit mir noch ein Pils aus. Doch ich interessierte mich natürlich auch für seine Geschichte. Dass er eine gescheiterte Beziehung hinter sich hatte, dass es beruflich gerade nicht so toll lief. Auch er schien froh zu sein sich mal aussprechen zu können und ich mochte die Art wie er sprach, wie er mich ansah und wie er argumentierte.
Noch immer peitschte der Regen unbarmherzig gegen die alten Mosaikfenster und der Wind drückte schlimmer gegen die Fensterläden als zuvor. Einen riss der Sturm schon aus der Verankerung und nur mit Mühe gelang es Arthur die anderen mit Draht zu sichern. Der Sturm wollte sich einfach nicht verziehen und schien förmlich über unserer Stadt festzuhängen. Ein wenig war ich sogar froh darüber, denn umso mehr Zeit blieb mir mit Arthur.
Das mit Maik war wirklich schon lange nichts mehr. Irgendwie gingen unsere Leben mehr und mehr aneinander vorbei und keiner hatte den Mut von sich aus etwas daran zu ändern. So spielte das Leben eben. Man meinte jemanden gefunden zu haben und doch stellte es sich als einziger Fehler heraus. Stellte sich der andere als riesengroßer Fehler heraus. Es war vorbei und ich wusste es. Mattheus spielte mit den jüngeren Gästen Billard und schien sogar eine kleine Glückssträhne zu haben. Auf jeden Fall sah man ab und an ein paar Scheinchen die Besitzer wechseln.
Arthur und ich waren im Laufe des langen Abends sehr vertraut miteinander geworden. Der Regen ließ langsam nach und der Sturm verzog sich. Nach und nach verabschiedeten sich die Gäste und gingen ihrer Wege. Marie und Mattheus setzten sich zu uns an den Tisch und wir beschlossen noch einen guten heißen Kaffee zu uns zu nehmen ehe auch wir unserer Wege gehen würden. Wir waren doch alle ziemlich am Ende. Immerhin war es schon Viertel vor Fünf und Müdigkeit legte sich auch über uns. Der Wind blies zwar noch ein wenig um die Häuserecken, doch hatte es zumindest aufgehört zu regnen. Irgendwann war dann auch der letzte Gast gegangen und Arthur und ich leisteten Marie noch ein wenig Gesellschaft beim Aufräumen. Ein paar Stadttaxis waren gleich wieder unterwegs und nutzten die Gunst der Stunde.
Unbemerkt schob ich Arthur einen Zettel mit meiner Telefonnummer zu und er selbst tat das Gleiche. Auch wenn wir in diesem Augenblick kein Wort miteinander wechselten, verstanden wir uns doch ohne Worte. Wir würden uns wieder sehen, dessen war ich mir sicher. Das von Marie gerufene Taxi stand bereits vor der Tür und wartete auf mich. Langsam war es auch an der Zeit sich von Arthur zu verabschieden. Wir würden uns ja bald wiedersehen. Wir warfen uns noch einen kurzen Blick zu und ich musste ihm unweigerlich einen kleinen Kuss auf die Wange drücken. In meinem Inneren wusste ich ja bereits, dass die Beziehung zu Maik keine Chance mehr hatte. Und als sich das Taxi langsam in Bewegung setzte drehte ich mich noch einmal kurz zu ihm um. Es war kein Traum, noch immer stand Arthur am Straßenrand und winkte mir nach. Und ich wusste, dass es an der Zeit war loszulassen. Abzuschließen mit dem Davor, nicht zurückzuschauen auf jenes was nun endlich hinter uns lag. Mein Blick richtete sich nach vorn und während die Lichter des Taxis in voller Fahrt die alten Fassaden der Stadt erhellten, freute ich mich auf einen Neubeginn, eine Zukunft mit Arthur…
* E N D E *
Eine Reise ins Nichts
Es war im Frühling 1982 und mein Job als Buch-prüfer sollte mich auch dieses Jahr wieder einmal nach Weblau führen. Ich, das hieß in dem Fall Michael. Und Weblau? Weblau war ein kleines von Gott verlassenes dreihundert Seelen Dorf im Herzen vom Nirgendwo. Ein kleines Kaff in mitten der hessischer Pampa, auf den Straßenkarten allenfalls als kleiner dunkler Fleck zu entdecken. Doch mein Chef hatte vor einigen Jahren dort die Firma seines Urgroßvaters übernommen und der Betrieb warf kleinere Gewinne ab. Abschreibung hieß das Zauberwort, denn die fingierten Verluste des einen Unternehmens ließen sich dort gut unterjubeln. Ich sollte wie jedes Jahr dort hin fahren, die Bücher kontrollieren und nach dem rechten schauen. Der Chef war viel zu geizig um die Dinge einen ortsansässigen Wirtschaftsprüfer machen zu lassen. Und mich musste er ja eh bezahlen. Was also bot sich da besser an als mich in die Pampa zu schicken? Ich hatte nie einen Führerschein gemacht und war gezwungen sechs ewig dauernde Stunden in vollgekotzten Zügen und alten Bussen zu verbringen. In Weblau würde ich dann die zwei langweiligsten Tage des Jahres verleben und dann wieder retour nach Hause fahren. Jedes Jahr das gleiche Spiel, immer und immer wieder. Nun, wenigstens blieb mir so ein paar Tage der übelschmeckende Kaffee von Karina erspart. Und doch freute ich mich immer wieder darauf in mein heimatliches Münster zurückzukehren. Aber dass mir Bruno, mein Chef, nicht einmal eine Bahnfahrt erster Klasse spendierte ärgerte mich schon maßlos. Von einem Taxi ganz zu schweigen. Nein, ich musste die 3 Kilometer vom Bahnhof zur Firma zu Fuß zurücklegen und war in einer alten Kaschemme im Dorf untergebracht. Deutsche Bahn zweiter Klasse, mehr war beim besten Willen nicht drin. Hundert Jahre vorher hätte er mich im Gepäckwagen reisen lassen. Seit sechs Jahren ging das nun schon so und immer wieder waren es dieselben Dinge die mich an Weblau erinnerten. Und jedes Mal wieder war es der gleiche Stress. Das eilige Frühstück, die Hatz zum Bahnhof…
Der Tag begann wie immer mit einem sonnigen Morgen. Guter Dinge war ich, auch wenn mir wie immer vor dieser Reise grauste. Doch es nützte nichts. Unser Konto war nicht so prall gefüllt, als dass ich mich hätte meinem Chef widersetzen und meinen Job aufs Spiel setzen können. Nach Weblau zu fahren hieß ein Stück weit Zivilisation hinter sich zu lassen. Gerade so dass es gepflasterte Wege und geteerte Straßen gab, fließend Wasser und Strom. Ja gut, Scherz beiseite. Es war einfach nur ein ödes verschlafenes Nest jenseits einer auch nur annähernd größeren Stadt. Meine Frau Mandy bedauerte mich jedes Jahr aufs Neue und doch konnten wir nichts dagegen tun. Es war mein Job, es blieb mein Job. Ich saß bereits im Zug als ich merkte, wie mich jemand von oben bis unten musterte. Fast schon unheimlich. Doch konnte ich nicht erkennen woher die mir unheimlichen Blicke kamen. Wie ein dunkler Schatten waren sie da und ebenso schnell auch wieder verschwunden. Eine Frau war es die mich beobachtete, das konnte ich aus den Augenwinkeln noch erkennen. Und im gleichen Moment war sie auch schon wieder verschwunden. Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Wer weiß? Ich dachte mir nichts dabei und las weiter meine Zeitung. Hin und wieder schaute ich auf, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Vielleicht war ich auch nur gestresst und überarbeitet. Die Räder des Zuges ratterten unaufhörlich und doch bewegten wir uns wie im Schneckentempo an Feldern und Wäldern vorbei. Und meine Gedanken kreisten noch immer um Weblau. Irgendwie war die Zeit an diesem kleinen Örtchen unbemerkt vorbeigezogen. Die Jahre waren vorübergezogen und keiner hatte es bemerkt. Es gab allenfalls eine Imbissbude am Bahnhof und einen noch viel kleineren Tante Emma Laden am Rande der Stadt, einen Gasthof im Zentrum und ein Hotel am See. Hotel war allerdings ein wenig hoch ge-griffen in diesem Zusammenhang. Eine alte Pension die schon halb zusammenfiel. Kein Frühstück, kein Mittagstisch und als Abendbrot waren Dosensuppen das höchste der Gefühle. Klar, dass man sich in die Wirtschaft zurückzog um dort wenigsten einen Happen zu sich nehmen zu können. Wen wundert es, dass die Besitzer des Hotels am See auch die Betreiber des Gasthofes waren. Nun, und dann gab es noch Brunos olle Firma. Ein paar heruntergekommene Baracken mit Maschinen aus der Vorkriegszeit. Doch immerhin, sie produzierten. Mit Gewinn wohlgemerkt. Na ja, dann waren da noch ein paar Wohnhäuser die man in den Zwanzigern mal dahin gepflastert und an denen man seither nie wieder etwas renoviert hatte.
Mit einem garstigen Rütteln und Schütteln lösten sich die Bremsen des Zuges und langsam rollte er aus dem Bahnhof heraus. Wie mir meine Sinne doch einen Streich spielten. Ich meinte bereits auf dem besten Wege nach Weblau zu sein und hatte stattdessen noch immer im Bahnhof gestanden. Meine Güte, war ich fertig. Aber nun ging es ja Gott sei Dank los. Münster ist um diese Zeit immer recht hübsch anzuschauen. Die Bäume im Park stehen in ihrer Blüte, der Münster Dom ist herausgeputzt und wurde wie jedes Frühjahr vom winterlichen Schmutz befreit. In wenigen Augenblicken würde ich nochmal einen Blick auf mein Haus werfen können. Aus der Ferne konnte ich sehen wie sich die roten Dachziegel meines Hauses in der Sonne spiegelten, wie mein kleines Töchterchen Alicia im Garten spielte und Mandy in der Einfahrt das Auto wusch. Als sie den Zug vorüberfahren sahen wussten sie, dass ich zu ihnen hinaus schauen würde und winkten. Ein kleiner Moment Abschied eben. Denn als ich das Haus verließ waren Mandy und Alicia noch nicht daheim. Sicher musste die Kleine im Kindergarten noch mal auf die Toilette und wie immer waren es genau diese paar Minuten um die wir uns verpassten. Na ja, waren ja nur ein paar Tage und danach würde ich wie immer eine Woche frei nehmen und mit meinen Lieben verbringen. Langsam fuhr der Zug an Feldern und Wiesen vorbei, durch kleine Wäldchen und Dörfer derer man kaum auf einer Landkarte zu finden hoffen sollte. In Pirtshof musste ich umsteigen. Einmal hatte ich es verschlafen und wurde erst wach als ich mitten auf einem Abstellgleis auf freiem Feld stand. Kein Bahnhof, kein Haus, kein Nichts. Nur Felder und Wiesen soweit das Auge blickte. Wenn mich heute jemand fragen würde wie ich von dort nach Weblau kam, ich könnte es nicht mehr sagen. Ich weiß noch, dass ich seinerzeit einen kleinen Unfall hatte aber was dann kam… Ich weiß es nicht mehr. Diesmal hatte ich mir ein richtig dickes Buch gekauft und wollte gerade in diesem blättern, als ich wieder diese geheimnisvolle Frau draußen auf dem Gang sah. Und obwohl ich geschwind aufsprang und die Abteiltür aufriss war niemand mehr da. Bildete ich mir das nun wirklich nur ein? War ich schon so überarbeitet? Die Unbekannte erinnerte mich an jemanden, doch so sehr ich auch nachgrübelte, ich wusste nicht an wen. Müdigkeit überkam mich und ich hatte kaum das Buch auf die Seite gelegt da war ich auch schon wieder eingeschlafen. Und wie ich schlief…
Als ich schließlich die Augen öffnete und endlich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte merkte ich, dass der Zug stillstand. Und der Blick aus dem Wagonfenster verhieß nichts Gutes. Weites Feld auf weiter Flur. Das konnte doch nicht wahr sein. Wieder stand ich mitten in der Pampa, wieder saß ich irgendwo im Nirgendwo fest. Ich fluchte und war sauer. Dass mir genau dies schon einmal passierte ärgerte mich umso mehr. Ich musste mal wieder meinen Umsteigebahnhof verpasst haben. Bis in den nächsten Ort waren es viele Kilometer und wie erwartet funktionierte auch diesmal mein Handy nicht. Kein Netz, wie immer… Und auch wenn mir das Ganze schon einmal passiert war, so richtig konnte ich mich an den Weg nicht erinnern. Die Nase hatte ich gestrichen voll und ich schwor mir, dass dies das letzte Mal gewesen sein sollte. Noch einmal würde ich mich von Bruno nicht nach Weblau schicken lassen. Im nächsten Ort würde ich mir auf Rechnung des Chefs ein Taxi nehmen und es dabei bewenden lassen. Doch für den Moment suchte ich erstmal nach einer unverschlossenen Tür. Ich hatte nicht die Absicht wieder aus einem der Fenster zu kraxeln. Im allerletzten Wagon fand ich dann wider Erwarten doch noch eine unverschlossene Tür, durch welche ich schließlich ins Freie gelangte. Gott sei Dank blieb mir das Klettern erspart.
So stand ich nun auf weiter Flur, meine alte braune Tasche in meiner Hand und absolut keine Ahnung in welche Richtung ich mich wenden sollte. Warum nur wollte mir nicht einfallen welchen Weg ich letztes Mal genommen hatte? Ich wusste welche Schuhe ich bei meinem Kennenlernen mit Mandy trug, welche Farben ihr Kleid hatte, erinnerte mich an den lieblichen Duft ihres Parfums. Doch ich vermochte mich beim besten Willen nicht mehr daran zu erinnern, welchen Weg ich vor Jahren bei meinem unfreiwilligen Aufenthalt nahm. Und wieder war mir als würde ein Schatten hinter mir vorbeihuschen. Blitzschnell drehte ich mich rum, doch da war nichts. Etwas mulmig wurde mir dann schon. Ich war sicher kein Angsthase, aber hier inmitten der Pampa im Nirgendwo zu stehen. Nein, da war ich wirklich nicht scharf drauf.
Doch es war egal, für eine Richtung musste ich mich schließlich entscheiden und früher oder später würde ich an einem Ort vorbeikommen in dem ich mir ein Taxi nehmen konnte. Und wieder sah ich den Schatten an mir vorbeihuschen und sah ihn im gleichen Moment hinten am anderen Ende des Zuges. Irgendetwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu. Ich ließ meine Tasche fallen und rannte so schnell ich konnte zum anderen Ende der Wagons. Und doch wieder… Nichts! Doch wie konnte das nur sein? Wieder war der Schatten aus meinem Blickfeld verschwunden. Aber sie war es, da war ich mir sicher. Die Frau die ich schon im Zug gesehen hatte. Nun wurde mir doch etwas flau im Magen und ich machte mich auf meine Tasche zu holen. Doch wo war sie hin? Als ich an der Stelle ankam wo ich die Tasche kurz zuvor fallen ließ war sie spurlos verschwunden. Trieb da etwa jemand seinen Schabernack mit mir? War es diese unbekannte Frau? Aber was wollte sie von mir? Für solche Spielereien hatte ich im Moment wirklich keine Zeit und vor allen Dingen auch keine Lust in Anbetracht der Tatsache, dass ich hier gerade ziemlich dämlich in der Gegend herumstand. Und überhaupt, warum war sie nicht an der Haltestelle ausgestiegen? Oder war sie genauso dumm wie ich und hatte einfach verspennt? Und trotzdem, ich wollte nicht hier rumstehen und auf jemanden warten der mit mir Verstecken spielte.
Meine Tasche mit den Klamotten war zwar fort, aber meine Brieftaschen hatte ich ja noch. Ich verschnaufte noch einmal kurz, sah mich um und machte mich auf den Weg. Ein schmaler Feldweg begann neben dem Bahndamm und dieser musste ja schließlich irgendwo hinführen. Der Weg hatte Ähnlichkeit mit einem alten ausgetrockneten Bachbett. Aber er war begehbar und würde mich schon irgendwo hinführen. Ich gebe zu etwas ratlos gewesen zu sein, denn ich hatte weder den Hauch einer Ahnung wo ich war, noch einen blassen Schimmer wo ich langlaufen sollte. Na ja, die ersten zwei oder drei Kilometer brachte ich schnell hinter mich, begann dann aber an meiner Entscheidung zu zweifeln. Ob es wirklich so gut war den schützenden Zug zu verlassen? Vielleicht hätte ich einfach die Gleise entlanggehen sollen. Aber soweit ich wusste befand sich dieses Gleis viele Kilometer weit weg vom nächsten Bahnhof und ich gab mich der Hoffnung hin, dass der Weg in die nächste Ortschaft nicht im Ansatz so weit wäre. Ich täuschte mich. Und wie ich mich täuschte…
Es war seltsam still um mich herum. Keine Vögel die zwitscherten, kein Wind der durch die Baumkronen zog. Gerade so als wäre der kleine Wald wie ausgestorben. Aber vielleicht war es den Tieren auch einfach nur zu heiß. Eine erdrückende Hitze lag in der Luft und ich schwitzte aus jeder Pore meines Körpers. Jeder Meter schmerzte in meinen Beinen und mein athletisch gestählter Körper kam mir eher vor wie ein Häufchen Elend, welches sich durch die Gegend schob. Obwohl ich nun schon vor Jahren mit der Qualmerei aufgehört hatte, pfiff meine Lunge mit jedem einzelnen zurückgelegten Schritt ein eigenes Lied. Zu Hause bei meiner Frau Mandy und meiner kleinen Tochter Alicia würde ich jetzt gemütlich auf der Terrasse im Garten sitzen, im Schatten unseres großen Sonnenschirms meinen Kaffee trinken und den Lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Aber nein, ich watete hier durch ein ausgetrocknetes Bachbett und hoffte auf ein Wunder. Vielleicht war es ja die Hitze die mir so zusetzte. Oder aber Durst und Hunger. Obwohl, ich verspürte weder das eine noch das andere. Ich lief nur wie von Sinnen einen Meter nach dem anderen. Nicht mehr aber auch nicht weniger. Es war seltsam. Mich überkam mehr und mehr das Gefühl dass etwas nicht stimmte. Dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Und während ich Kilometer für Kilometer hinter mich brachte fiel mir auf, dass die Unbekannte vor mir ging. Immer in sicherem Abstand. Mittlerweile war ich der festen Überzeugung, dass die junge Frau einfach nur das gleiche Schicksal wie mich ereilt hatte. Auch sie wird wohl im Zug eingeschlafen sein und auf dem Weg in die nächste Ortschaft sein. Vielleicht kannte sie sich ja aus und ich brauchte ihr nur zu folgen. Meter um Meter ließen wir so also hinter uns. So lange konnte sich das ja nicht hinziehen.
In der Hoffnung die Unbekannte doch noch einzuholen ging ich schneller. Doch der Abstand zwischen uns wurde nicht geringer. Kühl war es geworden und ab und an streifte mich ein kalter Hauch des Unbekannten. Kein Wunder wenn es mir immer und immer wieder eiskalt den Rücken hinunterlief.
Der Feldweg vor mir wollte aber auch wirklich kein Ende nehmen, er gabelte sich nie und führte auch nirgendwo hin. Lediglich von einem Feld zum anderen, an schier unzähligen kleinen Wäldchen vorbei und an vielen kleinen Weihern ebenso. Wie viele Kilometer hatten wir nun hinter uns gebracht? Zehn? Fünfzehn? Ich war schon seit Stunden unterwegs und ärgerte mich mit jedem Schritt mehr nicht die Bahngleise entlanggegangen zu sein. Meine Uhr hatte ich auch verloren. Die, welche ich vor Jahren von meiner Frau zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Mit der Gravur und dem goldenen Ziffernblatt. Heute ging aber auch alles schief.
Doch endlich ein kleiner Lichtblick. Vor mir befand sich endlich ein Haus. Vielleicht hatte ich ja Glück und es war tatsächlich jemand daheim. Obwohl der erste Eindruck eher etwas anderes vermittelte. Und mit jedem Meter verstärkte sich dieser Eindruck zu dem, was man Gewissheit nennen konnte. Es war nur ein altes, schon halb zerfallenes Wohnhaus mit anliegender Scheune. Dort wohnte ganz gewiss niemand mehr. Die Fenster waren schon herausgeschlagen und die Tür hing nur noch lawede in den Angeln.
Dennoch riskierte ich einen Blick. Warum? Ich weiß nicht. Vielleicht nur aus reiner Neugier, vielleicht auch aus jugendlicher Dummheit. Ein großer dunkler Flur empfing mich, mit Spinnenweben, allerhand Unrat und sonstigem Getier. Ekelhaft. Und wieder sah ich ganz nah bei mir diesen Schatten. Ich erschrak, schrie kurz auf und rannte so schnell mich meine Beine trugen aus dem Haus. Mir standen vor Schreck die Haare zu Berge und mein Herz hätte bummern müssen so schnell es nur ging. Doch es war ganz ruhig - mein Herz. Gerade so als sei nichts gewesen. Ebenso mein Puls den ich nicht einmal mehr zu spüren vermochte. Seltsam, der Schatten schien mich nicht in Ruhe lassen zu wollen, er verfolgte mich mit jedem Schritt und in jedem Augenblick. Die ganze Zeit schon hatte ich das seltsame Gefühl beobachtet zu werden und nicht allein zu sein. Hinter jedem Busch, jedem Baum und jedem Strauch meinte ich einen Schatten, diesen Schatten zu sehen. Eine sich ausbreitende Dunkelheit, ein Verschlingen meiner selbst. Ach was, ich begann zu fantasieren. Ich musste schauen, dass ich endlich vorwärts käme, ehe ich hier noch völlig den Verstand verlieren würde. Etwas entfernt hörte ich ein leises Scheppern und Schlürfen. Da musste doch jemand sein. So war es auch. Während ich auf dem Hof des alten Anwesens stand war unbemerkt jemand des Weges gekommen. Nur wenige Meter vor mir, mit einem Bündel auf dem Rücken, ohne Hast oder einem Anflug von Eile.
„Hallo! Hallo Sie!“, rief ich und der Fremde hielt inne und drehte sich langsam zu mir um. Es war ein sehr alter Mann mit eingefallenen Augen und einem schier grausam zerfurchten Gesicht. Und dennoch fiel mir ein Stein vom Herzen. Es musste ein alter einheimischer Bauer sein, der hier mit seiner Sense des Weges ging. Schnell hastete ich die paar Meter zu ihm und sprach ihn noch einmal an:
„Gott sei Dank guter Mann, dass ich Sie hier treffe. Können Sie mir vielleicht sagen, wie ich ins nächste Dorf komme?“, fragte ich ihn, während der alte Mann mich noch von oben bis unten zu mustern schien.
„Nun, mit Gott habe ich wohl eher weniger am Hut, aber wenn Du endlich nach Hause kommen möchtest dann folge weiter diesem Weg“, raunte er mir mürrisch zu, drehte sich um und ging seiner Wege. Nach Hause wollte ich ja gar nicht. Lediglich ins nächste Dorf. Und ich konnte mir auch kaum vorstellen, dass dies der Weg nach Münster sein würde. Ein hämisches Grinsen lag auf meinem Gesicht. Zugegeben, mein Humor ist zuweilen etwas trocken. Aber vielleicht dachte der alte Mann auch, dass ich aus einem der umliegenden Dörfer stamme und mich verlaufen hatte.
„Wo ist denn nun das nächste Dorf?“, rief ich dem alten Mann noch einmal hinterher. Doch der reagierte gar nicht auf mein Rufen sondern ging einfach weiter. Doch dann stoppte der alte Mann noch einmal seinen Gang, ohne sich jedoch nach mir umzudrehen.
„Folge dem Weg und weiche nicht nach links oder rechts ab. Dann wirst Du hinkommen wo immer Du hin musst!“, sagte er und ging weiter seines Weges. So ein alter verrückter Kauz dachte ich mir. Hätte er mir nicht einfach eine Antwort auf meine Frage geben können? Ach was, ich lauf ihm einfach hinterher und frage ihn noch einmal ganz direkt. Mehr als anschnauzen kann er mich auch nicht. Doch wo war er hin? Mhmm…, war er unbemerkt in den Wald abgebogen? Doch auch dort konnte ich ihn nirgends entdecken. Aber der Weg würde früher oder später zu einer Straße führen und die Straße in eine Stadt. Wie konnte ich mich so täuschen?
Wieder und wieder kam ich an kleinen Wäldchen und schönen Wiesen vorbei. Doch war ich irgendwann auch erschöpft, erledigt und meinte keinen Schritt mehr gehen zu können. Also ließ ich mich auf einem großen weißen Stein am Rande eines Weihers nieder und versuchte mich etwas auszuruhen.
Leise Rufe drangen an mein Ohr. Kamen sie aus der Ferne? Fast schien es als würde jemand meinen Namen rufen. Suchte man mich bereits? Mhmm…, doch plötzlich war es wieder still. Nur der kleine Bach der in den Weiher führte plätscherte leise und unwirklich in all der Stille vor sich hin. War ich wirklich noch auf dem richtigen Weg? Seltsamerweise war ich schon seit Stunden unterwegs und bin an noch keiner Straße vorbeigekommen. Ich mochte nicht mehr. Meine Füße taten mir weh, die Beine und der Rücken schmerzte. Die unbekannte Frau hatte ich nun auch eine ganze Weile nicht mehr gesehen. War sie mir schon soweit voraus? Mittlerweile war mir alles so ziemlich egal. Ich wollte nur schnellstens in den nächsten Ort, mir eine warme Gaststube suchen wo ich mich ruhen und mir ein Taxi rufen konnte. Mit etwas Pech würde ich auch noch die kommenden Tage hier sitzen. Nein, ich musste mich wieder aufraffen. Irgendwann würde ich schon auf Auswüchse an Zivilisation stolpern. Und wären sie noch so klein und unbedeutend. Absolut unmöglich, dass ich selbst nach Stunden noch an keinem Ort vorbeigekommen sein sollte. Ich musste vorbeigelaufen sein. Anders war das nicht zu erklären. Und gerade jetzt wo es langsam dunkel wurde kam ich auch noch an ein weit auslaufendes Waldgebiet. Super dachte ich mir, gerade jetzt. Doch ich schaute nach links und ich schaute nach rechts. Ein Ende des Waldes konnte ich nicht erblicken, also blieb mir nur geradezu hindurch zu gehen. Wo mich dieser Feldweg eben hinführen würde. Doch es wurde schneller dunkel als ich dachte und nach kurzer Zeit vermochte ich nicht einmal mehr die Umrisse des Weges erkennen. Konnte es wirklich schon so spät geworden sein?
Doch weiter vorn… Sah ich dort nicht ein Licht in der Ferne? Ein Licht, welches das Dunkel des Waldes erhellte? Und war es nicht Musik die von dort aus an mein Ohr drang? Tatsächlich, inmitten dieser Pampa schien ich auf ein Wirtshaus gestoßen zu sein. Gott sei Dank. Das wurde auch Zeit. Endlich würde ich mir ein Taxi rufen lassen können was mich von hier fortbringen würde. Und je näher ich dem Gasthaus kam, desto lauter wurden auch die Stimmen und die Musik. Ich freute mich schon auf einen gemütlichen Platz an der Heizung, eine warme Mahlzeit und ein gutes Bier. Ich stolperte geradezu voller Übermut in die Gaststube hinein und blieb verdutzt stehen. Scheinbar war ich der einzige Gast hier, denn das Wirtshaus war leer. Aber es war nicht geschlossen, das machte mir Mut. Musik schallte aus einem alten Grammofon. Das waren wohl auch die lauten Stimmen die ich im Wald hörte. Zu blöd, denn ich hoffte auf eine Mitfahrgelegenheit für den Fall, dass es hier im Wald kein Telefon gab. Aber wenigstens würde ich hier etwas zu essen bekommen. Obwohl, so grimmig wie die alte Bedienung hinter dem Tresen schaute…, man vermochte bei diesem Anblick kaum einen Bissen hinunter würgen. Und ihr Mann sah selbst auch nicht viel besser aus. Mir war unheimlich zumute. Wie in einem schlechten Horrorfilm flackerte das Licht und ein kalter hauch durchfuhr den Raum. Es war einfach unheimlich und ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich gleich die Klinge eines Messers an der Kehle spüren würde. Doch würde ich einfach gehen stünde ich wieder in der Dunkelheit des Waldes. Ich musste mich zusammenreißen, machte eine freundliche Mine zum bösen Spiel und wandte mich direkt an die beiden Wirtsleute.
Ich fragte also nochmals ganz höflich nach einem Telefon, doch die alten Wirtsleute verneinten mürrisch, gerade so als würden sie nicht einmal wissen wovon ich überhaupt sprach. Auch auf die Frage nach einem Auto schüttelten sie nur den Kopf. Doch als ich fragte wie ich in den nächsten Ort kommen würde, antworteten sie wie der alte Bauer schon Stunden zuvor. Ich müsste nur dem Weg folgen, dann würde ich bald zu Hause sein. Nur nicht ausrasten jetzt, nur nicht aufregen. Eine Stunde später machte mir der alte Wirt klar, dass er nun schließen müsste. Die Taler für das köstliche Mal sollte ich vorn in die braune Schüssel auf der Theke legen.
Komische Leute, aber ich zog es tatsächlich vor so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. So legte ich zehn Mark Kleingeld in die Schüssel auf der Theke und verlies so schnell und unauffällig wie möglich das Lokal. Und wieder umschloss mich ein kalter unheimlicher Hauch von Nichts. Noch nie hatte ich mich vor der Dunkelheit gefürchtet. Doch nun…
Kniehoher Bodennebel vor mir und Vollmond über mir. Ich fürchtete mich wie ein kleines Kind. Und jedes noch so leise Knistern hinter mir brachte mich an den Rand eines Herzinfarktes. Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr fröstelte es mich und umso schneller lief ich wohl auch. Die Bäume flogen nur so an mir vorbei und oben durch die Baumkronen konnte ich die Sterne sehen, während sich zwischen meinen Füßen der Nebel seinen Weg suchte.
Es war stockduster und ich sah nicht einmal mehr die Hand vor Augen. Um mich waren die seltsamsten Geräusche. Da wo kurz zuvor noch Totenstille herrschte, erwachte nun die kalte Dunkelheit zu neuem Leben. Endlich kam ich an einer kleinen Lichtung vorbei und das Licht des Mondes erhellte sie. Doch weit und breit waren keine Lichter zu sehen. Nicht ein Haus, keine Straßen, einfach gar nichts. Wie konnte man in diesem unserem Land soweit ab von der Zivilisation sein? Und wieder ärgerte ich mich über meine eigene Dummheit. Wäre ich im Zug nicht eingeschlafen, so würde ich jetzt in meinem kleinen Hotel sein und nicht so planlos umher irren. Irgendwie hatte ich ein schlechtes Gefühl bei der Sache. Auch diese Lichtung mündete wieder in einen dieser dunklen Wälder. Die Zeit verging und es kam mir vor als wären es wieder Stunden. Doch die Bäume nahmen kein Ende. Weiter und weiter führte der Weg in das dichte Dunkel des tiefen Waldes hinein. Oben die Sterne und unter mir der weiße Nebel. Und vor mir? Das schier endlos scheinende Nichts der Dunkelheit. In all meiner Verzweiflung begann ich zu laufen. Blind ins unbekannte Dunkel hinein. Ich lief und lief und lief und je weiter und schneller ich lief, desto einfacher und leichter trugen mich meine Füße in das Unbekannte. In weiter Ferne sah ich endlich den Schimmer eines Lichts. Weit weg, aber dennoch da. Meine Schritte wurden schneller und mit jedem Meter den sie hinter sich ließen, näherte sich auch das Licht.
Ich war so aufgeregt, dass ich kaum noch mitbekam wie schnell mich plötzlich meine Füße trugen, wie ich fast schon über den Boden des Waldes zu schweben schien. Eine kleine Pause noch. Ich weiß nicht warum, doch ich wollte mir diesen Augenblick der Ruhe für einen Moment bewahren. Unweit vor mir lagen die Lichter und die Dunkelheit ließ ich hinter mir. Endlich hatte ich es geschafft. Langsam schritt ich auf die vor mir liegenden Lichter zu und der Nebel zu meinen Füßen verschwand und gab den glitzernden Lauf des Baches frei. Und da standen sie. Alle waren sie da und warteten sie auf mich. Die geheimnisvolle junge Frau, der alte Bauer mit der Sense, das Wirtspaar aus dem Wald. Ich erschrak und gleichsam fühlte ich doch eine unbeschreibliche Wärme und Geborgenheit. Fast so als würde man nach einer langen Reise wieder nach Hause kommen. Die unbekannte junge Frau lächelte mich an, reichte mir ihre Hand und führte mich in Richtung des Lichts. Doch sie merkte, dass ich zögerte...
„Michael, erinnerst Du Dich denn nicht? Erinnerst Du Dich nicht daran wie ich Dich mit dem Auto mitnahm als Du verschlafen den abgestellten Zug verlassen hattest? Wir beide waren es die mit dem Auto auf dem Bahngleis liegenblieben als der Zug nahte, die in den überfluteten Wald geschleudert wurden und im kühlen Nass versanken. Erinnerst Du Dich wirklich nicht daran, dass uns das dunkle und kühle Nass wieder freigab und uns der Bach hierher an diesen geheimen und verborgenen Weiher trug? Keiner von uns war bereit zu gehen, denn Du wandtest Dich wie ich vom Licht ab und gingst zurück in die ewige Dunkelheit des Waldes. Seitdem streifst Du durch diese Wälder und lebst in Gedanken ein Leben, welches Du vor Jahren schon verloren hast. Und ich folge Dir seitdem. Folge Dir um Dich heimzuführen ins Licht. Die Knie wurden mir weich und langsam kam auch meine Erinnerung zurück. An meine Fahrt nach Weblau, das Abstellgleis, die junge Frau mit dem Auto oben am Bahndamm. Sie war es die mir anbot mich bis in die nächste Ortschaft mitzunehmen. Und als der Motor ihres Wagens dann auf dem Bahnübergang seinen Dienst verweigerte, sich die Gurte nicht öffnen ließen und sich der Zug mit großer Geschwindigkeit nahte…
Ich weiß, dass wir uns vor dem großen Knall noch einmal in die Augen schauten, uns an den Händen hielten und in jenem Moment jede Verzweiflung von uns wich. Ich spürte das mich kalt umhüllende Nass, die Dunkelheit die mich umgab und meine kargen Erinnerungen endeten mit einem lauten Knall, einem Quietschen eiserner Räder und dem lauten Pfeifen der Lokomotive. Vielleicht wollte ich seinerzeit wirklich nicht gehen. Heute wusste ich, dass es an der Zeit war loszulassen. Loszulassen was mich festhielt, was mich mit dem Hier und jetzt verband. Vielleicht hatte ich ja nun das Ziel meiner Reise erreicht. Gehen zu können ohne Bedauern, ohne mich umzuschauen oder zurück zu blicken. Und ich schaute nicht zurück…
* E N D E *
Texte: (c) 2008 Marko Ackermann
Tag der Veröffentlichung: 28.02.2009
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