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Vorwort


T e s s, (Theresa) ist begeisterte Modedesignerin, heiratet einen bekannten Schönheitschirurgen. Besessen von der Glorie seiner wunderbaren Frau pusht er sie erbarmungslos zu Ruhm und Herrlichkeit als Model. Trotz ihres Erfolges leidet sie unsagbar unter seiner Bevormundung. Durch den plötzlichen Tod ihres selbstlos ehrgeizigen Partners, realisiert sie endlich ihre eigenen Wünsche, als Designerin zu arbeiten.
E d u a r d, ein hoffnungsvoller junger Mann durchläuft alle Positionen des Schneiderhandwerks und schafft es, unterstützt von seiner liebenswerten Gattin Krista, einen eigenen Betrieb zu gründen. Die leichtsinnigen Machenschaften seines Partners treiben ihn fast in den Ruin. Eduard Behring braucht dringen eine zugkräftige Kollektion. Ohne es zu ahnen, trifft er auf Tess.
Doch bald trennen sich ihre Wege wieder. Tess kann die verständliche Eifersucht der Gattin nicht ertragen. Tiefe Verzweiflung der beiden sich innig liebenden Menschen.

Tess arbeitet erfolgreich in Paris, will aber in Italien Fuß fassen. Hier trifft sie auf Sergio, einen Piloten. Heißblütig, blendend aussehend. Ausgehungert nach sexueller Leidenschaft stürzt sie sich in eine verhängnisvolle Beziehung, heiratet unüberlegt ein zweites Mal. Sie ist diesem Mann hörig und erduldet unsägliche Demütigungen, die er mit sadistischem Eifer genießt. Sein bester Freund Massimo, stiller Bewunderer dieser herrlichen und tüchtigen Frau, kann die ewigen Schmähungen nicht länger ertragen, und tötet Sergio schließlich bei einem Segeltörn. Offiziell ein Unfall, der stillgeschwiegen werden muss.

Theresa hat aus ihrer ersten Ehe zwei Söhne. Eduard hat mittlerweile drei Kinder. Seine älteste Tochter arbeitet bei Theresa als Designerin in Italien, und verliebt sich in deren jüngeren Sohn Thomas.

Krista (Gattin Eduards) wird Krebskrank und stirbt nach langem Leiden. Nun endlich ist der Weg, der den beiden von Anbeginn vorgezeichnet war, frei für eine glückliche, ehrliche Liebe. Beide gehen nach Litauen, wo sie gemeinsam einen neuen Betrieb aufbauen. Die Bedingungen hart und mitleidlos, Korruption und Intrigen fast nicht zu meistern. Die innige, ausgeglichene, schicksalhafte Beziehung überwindet jedoch alle Hürden. Liebe bezwingt Berge.

Jänner 1 9 5 7


„Innsbruck, Hauptbahnhof. Der Eilzug Wien – Basel fährt auf Gleis 4 ein!“
Eine knatternde Stimme versucht über Lautsprecher die Reisenden zu erreichen. Informationen dröhnen aus dem Boxen, werden durch den brausenden Luftstoß des einfahrenden Zuges verschluckt. Worte, die möglicherweise verständlich gewesen wären, überschnattert eine ausgelassene Schulklasse. Die Mädchen kreischen wild durcheinander. Prallgefüllte Rucksäcke, wirr herumliegende Schier versperren den Durchgang. Missbilligende Schreie, hysterisches Rufen. Ein mit Armen und Beinen wedelnder Fahrdienstleiter perfektioniert das bedrohliche Chaos.
In der Menge steht ein junger Mann, gut aussehend, elegant gekleidet. Unternehmungslust blitzt in seinen Augen, lausbubenhaft, jugendlich. Hut und Mantel stechen treffend unpassend aus dem Gewirr von Schimützen und Anoraks heraus. Unschlüssig betrachtet er zwei gewaltige Koffer, eine sichtlich schwere Reisetasche und die Ausweglosigkeit, durch dieses wirre Knäuel von Menschen und Gepäcksstücken die Treppe zum gewünschten Gleis zu erreichen.
Der suchende Blick bleibt abrupt am Fenster eines eben anhaltenden Zuges hängen. Verwundert reißt er die Augen auf. Sein Herzschlag setzt einen Moment lang aus. Ein zartes Gesicht. Vorerst nur ein Oval mit zwei riesengroßen, mandelförmigen Augen. Bernsteinfarben funkeln sie ihm entgegen. Lockung. Verwirrung. Faszination.
Koffer und Tasche sind vergessen. Kraftvoll schiebt er die herumstehenden Passagiere zur Seite, bahnt sich drängend den Weg hin zu diesem Traumbild. Beleidigte Stimmen. Er reißt Taschen aus Händen, tritt auf Zehen, überhört das Geschrei der Angerempelten. Von einem unsichtbaren Band gezogen, stürmt er vorwärts. Nur noch wenige Meter.
Jetzt erkennt er einen wohlgeformten Mund, wilde schulterlange Locken, ein bezauberndes Lächeln, das nur ihm gelten konnte.
In diesem Moment der Entzückung setzt sich der Zug in Bewegung.
Er hastet weiter, winkt, ruft Worte, die im Rauschen des Fahrtwindes untergehen. Verzweifelt streckt er die Arme nach der wunderschönen, jungen Frau aus. Gehetzt folgt er den rollenden Rädern, hastet mit Riesenschritten dem Unglücksgefährt nach, das ihm das holde Geschöpf mit jeder Umdrehung der Räder mehr entreißt. Unvermittelt sind der Peron und damit die Verfolgung der immer schneller werdenden Wagen zu Ende. Aufgehäufte Schneeberge. Ein letzter Blick. Sie strahlt, winkt spontan und heftig. Mit wehenden Armen erwidert er den Abschiedsgruß. Pustend stammelt er:
„Wer bist du? Wie heißt du, wo kann ich dich wieder finden?“ Drei lustige Pfiffe der Lokomotive. Die höhnische Antwort auf seine Herzenspein.
Enttäuscht kehrt er zurück zu den verlassenen Gepäcksstücken, die einsam auf dem mittlerweile leergefegten Bahnsteig stehen.
Erst jetzt besinnt er sich darauf, eilig den richtigen Bahnsteig, den Zug zu finden, der ihn nach Reutte, seinem Wunschziel befördern sollte. Mit angespannter Stimme wendet er sich in makellosem Norddeutsch, dem stampfenden Fahrdienstleiter zu.
„Ist dies hier der Zug nach Reutte, bitte!“
Wildes Gestikulieren und Nicken bestätigt seine Vermutung.
Kaum ist das Gepäck zur Tür hinein geschoben, dampft der Zug ab. Eilig erklimmt er das Trittbrett. Der eben Befragte, mit roter Mütze und Signaltafel, wirft die fliegende Tür hinter ihm zu.
„Na duml di scho du damischer Flachlandtiroler, damischer!“ hört er die keuchenden Worte des Beamten.
Erschöpft lässt er sich auf einen Platz des kaum besetzten Waggons fallen. In seinem Schädel rotieren verworrene Gedanken an das eben Erlebte. Verdammt müde und erschöpft ist er plötzlich.


In der vergangenen Nacht hat er die Nabelschnur zu seinem alten Leben mit einem scharfen Schnitt durchtrennt. Jetzt ist er auf der Flucht vor der Einberufung zur Bundeswehr.
Im Ernstfall würde er sein Herzblut für das Vaterland lassen, denn er liebt seine Heimat. Diesen Humbug, das großkotzige Training zur Verteidigung, will er einfach nicht mitmachen. Krieg führen ja, Krieg spielen bestimmt nicht.
Ein Entschluss, den er lange überdacht, alle Fürs und Wider erwogen hatte. Letztlich steht seine Entscheidung fest.
Ein Deserteur der deutschen Fahne, doch reinen Herzens.

Drei Jahre später: Frühling 1 9 6 0 in Wien


Theresa wickelt eine Locke ihrer Prachtmähne verträumt um den Finger. Melancholie liegt in ihrem Blick, leise Sehnsucht und viel Zuversicht. Sie freut sich über ihren Erfolg und ist dennoch nachdenklich. „Den Mut könnte man schon verlieren bei soviel Jugendwahn in der Modeszene“, sinniert sie vor sich hin. „Sechzehnjährige drängten unermüdlich vorwärts. Da sehe ich mit meinen fast zweiundzwanzig Lenzen bisweilen ganz schön alt aus. Aber ich bin glücklich und das ist doch die Hauptsache.“
Die junge Frau strahlt von Innen. Liebe! Begeisterung für ihren Beruf. Ein Sehnen, mehr zu geben, als ihr gerade in letzter Zeit möglich gewesen war. Sich selbst zu verwirklichen, und einen stets wiederkehrenden Traum in die Realität umzusetzen. Wohlgefällig kritisch betrachtet sie ihr Spiegelbild. „Die Lockenpracht? Pure Berechnung? Bestimmt nicht“, klingt ihre Stimme überzeugt. Tess weiß wohl, dass Männer lange Haare lieben. Bewundernde Blicke und Gesten bestätigen es häufig. „Ich liebe meine langen Haare. Schon als Mädchen war ich stolz auf seine üppige Fülle“.
Mühevoll hatte einst die allzu strenge Frau Mama diese zu Zöpfen zusammengewürgt. Mutter hielt es für unschicklich und absolut unangebracht, mit wallender Mähne zur Schule oder zum Klavierunterricht zu gehen.
Unglücklich ließ Tess dieses Martyrium damals über sich ergehen, löste jedoch bei jeder sich bietenden Gelegenheit das quälende Geflecht auf. Die krausen Locken fielen dann schon bei der geringsten Bewegung übermütig über Stirn und Nacken.

In Wien, mehrere Monate später


Albert stürmte die Treppe zu Fuß hoch. Der eingebaute Lift in dem fünfstöckigen Wohnhaus, in dem er und Eduard seit mehr als einem halben Jahr eine gemeinsame Garconière bewohnten, diente in der Regel nur zur Dekoration, schlug sich allerdings in der Höhe des Mietpreises dramatisch nieder. Ein nicht übersehbares Schild mit der Aufschrift AUSSER BETRIEB, prangte mit frappierender Regelmäßigkeit an der Einstiegtüre im Erdgeschoss.
Atemlos trat er die Tür mit lautem Getöse ins Schloss und schwenkte triumphierend zwei Eintrittskarten in der rechten Hand.
EINLADUNG
las Eduard überrascht auf der ersten Seite, mit Goldlettern auf blassgelbem Büttenpapier. Auf der Rückseite, in etwas kleiner Schrift stand
Frühling und Sommer in Wien
Präsentation der neuesten Kreationen führender Modehäuser
Samstag, 13. Januar 19.30 Uhr
Palais Auersperg
Staunend drehte Eduard das vornehm auf Büttenpapier gedruckte Schriftstück mal vor, dann wieder zurück, und las immer wieder den gleichen Text laut vor.
„Wie hast Du denn diese Karten ergattert, Du Gauner?“
Ein lässiges Lachen als Antwort: „ Tja, mein Freund, man hat halt so seine Beziehungen!“ Dann etwas schroffer: „Also was ist, kommst Du mit, oder soll ich eine meiner Flammen dazu einladen?“
„Wo denkst Du hin“, ereiferte sich nun Ed seinerseits, „klar gehen wir gemeinsam dort hin, glaubst Du etwa, ich lasse mir eine solche Gelegenheit entgehen.“

Monsieur Adelmüller eröffnete das glamouröse Fest mit charmanten Worten. Sie sollten die Herren der Schöpfung daran erinnern etwas tiefer in die Tasche zu greifen, und eines, oder auch mehre, der wunderbaren Modelle zu ordern. Ein reger Wettstreit der Geschlechter. Kein Mann würde sich lumpen lassen, keine Frau würde einer Rivalin gerade dieses, oder auch ein anderes prächtiges Stück gönnen.
Models von ausgesuchter Schönheit, blond und brünett, mit kurz geschnittenem und langem Haar, makellosen Körperformen, tänzelten in wunderbaren Roben aus Chiffon und Seide, Kostümen aus Kaschmir und Bouclé, in streng geschnittenem Nadelstreif, über den roten Teppich, genossen sichtlich die verzückten Zurufe der Zuschauer.
Nach etwa zehn Minuten. Der freudigste Schock in Eds Leben. Weiche Knie. Das Herz schlug bis zum Hals. In seinem Kopf plötzlich nichts als Watte.
Die unbekannte Traumfrau, die ihm am Bahnhof in Innsbruck vor drei Jahren, beinahe um den Verstand gebracht hatte, nächtelang in seinen Träumen gegenwärtig war, erschien auf der Bildfläche. Hinreißend, und noch hundert Mal schöner, als er sie in Erinnerung hatte. Gebannt starrte er auf das wunderbare Wesen, verfolgte jede ihrer Wendungen und Schritte mit Verzückung, konnte sein unwahrscheinliches Glück einfach nicht fassen.
Theresa Hofer gab sich verwegen und sehr verführerisch. Ein Ausdruck, der durch langes Training perfekt saß. Ihr Bedürfnis nach Überraschungsmomenten, seien sie nun glückshoch oder auch leidenstief, verwunderten nie. Ihre satten, mikroskopisch präzise gesetzten Pointen, ihre warmen, leuchtenden Bewegungen, dieses bestechende Gefühl für Tempo und Gelassenheit ihrer Schritte, ließen die Täuschung wirksam werden, dahinter stünde keinerlei Mühe und Anstrengung. Die Wonne der Bewunderung, die sie auslöste, steigerte sich bei ihren graziösen und dennoch exakten Drehungen und Schwüngen, bis zu gebanntem Stillstand und angespannter Atemlosigkeit. Sie faszinierte das Publikum, machte es zu einem kongenialen, leidenschaftlichen Partner, der Verehrung und Beifall zollte.
Eduard war wie versteinert. Geschockt. Er schaffte es einfach nicht, die Hände zum Applaus zu heben. Unverwandt starrte er das himmlische Geschöpf an, und sah sie noch vor sich, als sie bereits wieder in den Kulissen verschwunden war. Er fieberte ihrem nächsten Auftritt entgegen.
Schenk mir nur einen einzigen Blick. Erkennst du mich wieder, holder Engel! Seine Phantasie schlug Kapriolen. Er musste sie wenigsten für einen Moment lang sprechen, sie womöglich zu einem Treffen überreden.

Und dann stand sie vor ihm, in einen blassblauen Seidenmantel gehüllt, die Haare aufgesteckt, mit einem silbernen Kamm zusammengehalten - und lächelte. Ein blitzartiges, erstaunlich schnelles Geschehen, in dem sich innerhalb von Sekunden eine Beziehungsstruktur bildete, die ihr Schicksal bestimmte.
„Wir kennen uns, sagen sie rasch woher? Ich muss gleich wieder in die Garderobe.“
Ein erster bewusster Blick, ein kurzes Lächeln, ein bedeutungsvoller Augenaufschlag. Sekunden später stammelte Eduard, immer noch geblendet von dem meteoritenhaften Aufstieg, den sie in seinen Augen gemacht hatte, verwirrt, atemlose Fragen, gekeuchte Sätze, hilflose Floskeln, als hätte er eben einen Dreitausender erklommen.
„Innsbruck, vor drei Jahren. Sie sind mir damals davongefahren. Wie oft habe ich nach Ihnen gesucht. Ich konnte Sie einfach nicht vergessen. Und Heute dieser Glücksfall.“ Ein Leuchten in ihren Augen bestätigte ihm, dass sie sich genau an die Situation erinnerte.
Wenn zwischen zwei Menschen der Funke der Liebe überspringt, ist jede Unterhaltung zweitrangig – dient nur noch der Verlängerung dieses magischen Augenblicks.
Tess hatte sich schneller gefasst und strahlte ihm entgegen: „Wenn Sie Lust haben, kommen Sie anschließend mit uns in den Rathauskeller. Wir feiern dort noch ein wenig nach“.
„Kann ich nicht wenigsten zehn Minuten mit Ihnen alleine sprechen. Ich möchte Ihren Namen wissen, wie Sie leben, einfach alles. Aber das geht weder hier zwischen Tür und Angel, noch im Trubel so vieler Menschen. Bitte, lassen Sie mich Ihnen heute nicht wieder vergeblich nachschauen. Ein zweites Mal würde ich es nicht überleben“, schmachtete Eduard.
„Gekonnt Burgtheaterreife Leistung, junger Mann“, grinste Theresa geschmeichelt. In eine längst vergangene Zeit zurückversetzt, fühlte sie sich jung und glücklich wie einst, vor ewig langer Zeit.
Ihr war es damals kaum besser ergangen als ihm, und der Besuch bei Großmama in der Schweiz war von sehnsüchtigen Gedanken durchwoben. Jetzt war da ein seltsames Prickeln am ganzen Körper. Ein einziger Wunsch, ihm ganz nahe zu sein. Liebe auf den ersten Blick! Ihr privates Weltereignis. Einmalig. Wundervoll.
„Erwarten Sie mich am hinteren Ausgang. Eine schmale grün gestrichene Türe, nicht zu verfehlen. Ich kann ja später zu meinen Freunden stoßen, und wir haben etwas Zeit unser Wiedersehen zu genießen.“
Träume ich, oder hat sie sich tatsächlich mit mir verabredet, jubelte Eduards Herz. Den Rest der Modeschau erlebte er in melancholischer Trance.

Schon nach den ersten Sätzen konfrontierte sie ihn mit einer Hiobsbotschaft, die ihm den Boden unter den Füssen wegzog.
„Ich werde mich in zwei Wochen verheiraten. Mein künftiger Mann Wolfram ist ein angesehner Chirurg, den ich bereits seit über einem Jahr kenne.“ Die Berichterstattung eines Reporters, dem der Sprachschatz abhanden gekommen war. Ohne Schnörkel, scheinbar ohne Gemütsbewegung. Eine Schutzvorrichtung, die den Traummann von vornherein daran hindern sollte, ihr seine Gefühle leidenschaftlich darzulegen, sie in eine seelenschwere Abhängigkeit hineinzumanövrieren. Sie hasste sich für die Sätze, die sie ihm nüchtern an den Kopf warf, hasste die verfahrene Situation, in die sie hineingeschlittert war, aus der auszubrechen es nun ganz einfach zu spät war.
Wie um der Hoffnungslosigkeit die Krone aufzusetzen stammelte Eduard, er hätte vor wenigen Tagen erfahren, dass er Vater würde und das Mädchen mit Sicherheit heiraten werde. Aus moralischen Gründen. Eine festgelegte Tatsache.
Ungläubig starrten sie einander an. Ihre Hände verkrampften sich in einander, als wollten sie sich für immer festhalten, und dennoch fühlten beide, dass sich zwischen ihnen eine unüberbrückbare Kluft auftat, in die sie in unbewusster Verzweiflung stürzten.
Zwei Zeitebenen, die in einander verschmolzen, zwei Paare, ein Sehnen, dem nun auf unterschiedliche Weise nachgegeben werden musste. Die Natur des Verlangens, die überwältigende Intensität der Begierde – und dennoch schreckten beide davor zurück.
Romantische Schönheit, ein Ventil für rückhaltslose Emotionen, denen sich beide in ihrer abgeklärten Modernität nicht ausliefern wollten. Denn selbst wenn Körperlichkeit und Sexualität längst aller Schamhaftigkeit beraubt sind, das Herz bleibt scheu. So fanden sich zwei Seelen, wussten, dass sie für einander bestimmt waren, und ließen zu, sich wieder zu verlieren. Ein Kuss der mehr sagte, als tausend Worte. Empfindungen, die verwirrten, warnten, forderten gelebt zu werden, versanken im Morast der Konventionen. Verzweifelte Moral siegte über zwei Herzen. Ein Feuer war entfacht, ein Waldbrand loderte, drohte zwei Menschen zu verbrennen.
„Man kann nicht im Feuer stehen, ohne von ihm verzehrt zu werden.“ Eine drohende Warnung für zwei vor Liebe verglühende Menschen.

H e r b s t 1975


Wie vergänglich ist die Zeit, wie beschämend einfache Worte, wie zerstörerisch eine unüberlegte Bemerkung, ein unbedachtes Wort aus dem Mund eines unzulänglichen Menschen, der egoistisch nur eigene Ziele verfolgt, und das Maß ruinöser Aktionen ohne Bedacht überschreitet.
Beharrlichkeit und Hingebung missachtend, Glanz und Ruhm neidisch vernichtend, kleckste ein Reporter fette, schwarze Lettern als Schlagzeile über einen Artikel, der kaum wert war gelesen zu werden. Von Raubtierhaften Sensationslüstlingen verschlungen und lauthals kommentiert. Wer durfte sich schon wähnen den Menschen Theresa Hofer in ihrer unergründlichen Wirklichkeit zu kennen.
Alle kennen und sehen in mir nur die erfolgreiche Frau, die die Medien und geldgierige Modetycoons aus mir gemacht haben, überlegte sie reichlich deprimiert. Meine Seele, meine Zerbrechlichkeit, meine Sehnsüchte, verschwinden in einem milchigen Nebelfleck, wegretuschiert von seelenlosen Stümpern. Dennoch lächelte sie. Eine Maske.
Ihr Blick glitt über die Köpfe der Gäste hinweg, die Girlanden entlang ins Leere, und von dort wieder zurück in die blitzenden Lichter der Photographen. Sie war nicht aufgetreten. Sie erschien wie stets. Dieses Erscheinen hatte sie schon vor Jahren zu dem gemacht, was sie heute war.
Eine seltsame Entrückung, eine Unberührtheit strahlte den Besuchern entgegen, die gebannt jeder ihrer Bewegungen mit stockendem Atem folgten. Vergeblich suchten sie einen Blick aus ihren bernsteinfarbenen Augen zu erhaschen, ein Lächeln für sich persönlich zu buchen.
Sphinxenhaft setzte sie einen Fuß vor den anderen, hob und senkte die Arme wie Flügel, die sie fast schwerelos über den roten Läufer trugen. Jede Geste war einstudiert, unzählige Male vor dem Spiegel geprobt, und schließlich für perfekt empfunden. Ihre verblüffende Grazie faszinierte, begeisterte und brachte die vorgeführten Modelle hundertprozentig zur Geltung. Die scheinbare Unantastbarkeit begründete den Erfolg, garantierte die Verkaufsquote, verzauberte das Publikum.
All das, kalkuliert von ihren Auftraggebern und unendlich gehasst von einer Frau, die wahre Empfindungen und Gefühle begehrte, brauchte. Einer Frau die lieben wollte.

In Wolfram Palls Gehör krepierten die schrillen Schreie, die enthusiastischen Beifallsbekundungen. Ein stechender Schmerz, der sich tief in seinem Kopf zu einem einzigen, anhaltenden, schrillen Ton wandelte. Mit geschlossenen Augen gab er sich diesem masochistischen Gefühl von beängstigend befriedigender Erfüllung hin.
„Ich habe es gewusst. Theresa sticht alle Anderen aus, übertrumpft sie. Wie immer stellt sie die Konkurrenz gnadenlos in den Schatten. Überflügelt sie. Meine Göttin.“ Seine von ihm gepushte Schönheit. Seine Theresa.
„Tag für Tag, Jahr für Jahr habe ich meinen ganzen Ehrgeiz darauf verwendet, dir Geliebte diesen Triumph aufzubauen“, stammelte er verklärt.
Seine Bemühungen hatten sich gelohnt. Gesprächfetzen kamen ihm in Erinnerung. Ihre temperamentvolle Rebellion, die er liebte und belächelte.
„Warum tust Du das alles, Wolfram? Ich kann meinen Weg auch alleine finden. Kümmere Du Dich um Deine Patienten, Deinen Beruf.“
„Mein Engel, ich verzichte doch freiwillig auf eigene Erfolge. Du alleine bist Sinn meines Lebens. Dich zu fördern, in den Glanz der Öffentlichkeit zu stellen, ist für mich beglückend, befriedigend. Ich habe dir das Tor zum Himmel geöffnet.“
„Ist dir eigentlich klar Wolfram, dass du ein grenzenloser Egoist bist. Treibst mich voran, um deinen Ehrgeiz, Deine Machtgelüste zu befriedigen.“ Völlig überrascht hatte ihn ihre Kritik getroffen. Sie war erregt, beleidigt, gekränkt.
„Deine krankhafte Besessenheit hat dich ungerecht und unersättlich gemacht. Und das alles auf meine Kosten.“
„Du hast vom ersten Augenblick an mein Leben in andere Bahnen gelenkt. Ich habe erst durch dich begonnen den eigentlichen Sinn meines Seins zu erkennen. All mein Geld, meine bescheidene Berühmtheit, meinen Einfluss, alles wollte ich dir schenken. Dir allein, mein geliebtes Mädchen.“
„Ich werde dich nie verstehen lernen, obwohl ich mir die größte Mühe gebe.“

Scheinwerfer, glitten aneinander vorüber, kreuzten sich. Lichter, unzählige Lichter, in variierenden, wohl abgestimmten Farbtönen, die nach Tess griffen, jede Facette ihrer Bewegungen unterstrichen und begünstigten, verfingen sich im Faltenwurf ihrer Robe, spiegelten schwebende Muster, glitten am Catwalk entlang, ließen diese einmalige Frau in einem magischen Glanz von sanft glühendem Blau und Gold dahinschweben. Überirdisch. Verschlungene Lichtbänder pulsierten, glitzernde Sterne in einer Spätsommernacht.
„Dein verführerisches, kaum angedeutetes Lächeln“, lispelte er, „die majestätische Haltung, der leicht ironische Blick unter sanft hochgezogenen Brauen. – Wie ich dich liebe meine einzige, anbetungswürdige Frau.“ Eine Erscheinung, weit ab von allem Irdischen, Bodenständigen. Ein Hauch von Sphärenklängen umhüllte sie gleich einer undurchdringlichen, unantastbaren Aura.
Taumelnd versuchte Wolfram sich aufrecht zu halten, suchte durch die dichte Nebelwand Details zu erhaschen, die davon glitten in ein schwereloses Nichts. Die Säulen schwankten, die Stuckdecke drohte auf ihn nieder zu fallen, die riesigen Lüster pendelten furchterregend. Sein Schädel dröhnte. Geräusche hallten wie durch Wattebauschen an sein Ohr. Dennoch erfüllte ihn unbändiger Stolz. Diese Traumfrau, der all dieser orgiastische Jubel entgegengebracht wird, gehört mir. Nach all diesem Glanz, den Ovationen und Komplimenten werde i c h es sein, der sie in den Armen halten, dem sie sich in all ihrer Schönheit und Vollkommenheit hingeben wird. Nur ich alleine darf sie lieben. Ich bin ihr Mann.
Unbeschreibliche Genugtuung erfüllte ihn. Der Hauch, Gott ähnlich zu sein, etwas Vollkommenes erschaffen zu haben. Sein erster und einziger Mensch war diese gottgewollte Eva. Ich bin dein Schöpfer.
Der Boden unter seinen Füßen schien sich aufzulösen. Im nächsten Augenblick sank er lautlos zusammen. Ein letzter Gedanke durchzuckte Wolframs Hirn. Mach um Gottes Willen keinen Menschen auf dich aufmerksam. Bleibe ganz ruhig. Störe nicht Theresas Ruhm und Glorie.
Reglos glitt er auf das funkelnde Parkett. Ein triumphierendes Lächeln umspielte seine Lippen.

I t a l i e n 1980


Tess mischte sich unter die gehetzte Menge wartender Passagiere des Flughafens Charles De Gaulle in Paris. Angespannte, missgelaunte Menschen. Auf den Anzeigetafeln rote Lämpchen bei fast allen Flügen.
Die Maschine nach Mailand hatte ebenfalls Verspätung. Ihre Erregung steigerte sich mit jeder Minute, hatte sie doch den Zeitpunkt des Treffens mit einigen maßgeblichen Personen in der Modemetropole, von der pünktlichen Ankunft des Fliegers abhängig gemacht. Die Zeiger der mächtigen Uhr in der großen Halle rasten, ihr Puls ebenfalls.
Plötzlich schnellte ihr Dopamin- Spiegel ruckartig in die Höhe. Durch den Nebeneingang betrat eine Besatzungscrew das Gelände. Zwei schwarzhaarige Stewardessen plauderten angeregt mit ihren Piloten. Beide Männer wirkten locker und überlegen. Sportlich, faszinierend adrett. Bewundernde Blicke. Der Zauber der Montur, flutschte es durch Tess Kopf. Ein erregtes Kribbeln, von den Zehenspitzen bis unter die Kopfhaut. Der etwas kleinere, ein drahtiger Typ. Ihre Augenpaare trafen sich für Sekunden. Dieses Leuchten. Ein Strahlen. Stärke. Das wuschelige Haar drängte unter der Schirmmütze hervor. Das Grübchen in seinem Kinn vertiefte sich. Katzenartige Bewegungen, verführerischer, leicht wiegender Gang, Männlichkeit pur. Ein zweiter Blick. Das Elixier der Liebe hatte seine Wirkung erfüllt. Vergessen war der weise Spruch Ovids, den Vater oft warnend zitiert hatte. „Rede dir ein, du liebst, wo du flüchtig begehrst. Glaube es dann selbst.“
In den letzten Jahren hatte sie ihre Sehnsüchte, ihr Verlangen nach Zärtlichkeit, hartnäckig unterdrückt. In einem moralischen Zwang versetzt, dämmte sie all ihre Empfindungen auf ein Minimum ein, doch der körperliche Wunsch ließ sich nicht verdrängen.
Dieser smarte Pilot, der überschäumende Charme, die glühenden Augen, ließen alle Vernunft zusammensacken. Im Augenblick sehnte sie sich nach einer Berührung dieser kraftvollen Hände, einer zärtlichen Umarmung. Sie brauchte Erfüllung für all das Entbehrte, Unterdrückte, das spontan und stürmisch an die Oberfläche drängte.
„Rede dir ein, du liebst!“
Ihre Knie wurden weich. Weiß blinkende Zähne. Ein berauschendes Lächeln. Verwirrt schaute sie sich um, ob er etwa einer Person hinter ihr zustrebte. Im nächsten Moment hörte sie eine einschmeichelnde Stimme. Verführerisch.
„Signora, bellissima Signora, che piacere!“
„Meinen sie mich“, stotterte Tess erregt auf Deutsch, und wich einen Schritt zurück. Dabei stolperte sie über ihre Reisetasche. Sein kräftiger Arm fing sie auf.
„Sie sind Deutsche! Ich bin sehr erfreut Ihre Bekanntschaft zu machen. Wenn Sie mit mir nach Milano fliegen, wäre mein Glück vollkommen. Sie gestatten, Sergio Marussi. Chefpilot der Alitalia.“
Träumte sie am helllichten Tag? Hatte sie Halluzinationen? Geschah das alles tatsächlich, hier und jetzt?
„Ich komme aus Österreich, aus Wien, und fliege nach Mailand, vorausgesetzt ihr Flugzeug hebt heute noch ab.“ Sie hatte sich wieder gefangen. Ein koketter Blick.
„Keine Sorge, Signora, in zwanzig Minuten ist die Maschine startbereit. Ihrem Flug ins Glück steht nichts mehr im Wege.“ Siegessicher fügte er rasch hinzu. „Sehen Sie eine Chance für mich, Sie in Milano wieder zu treffen? Ich würde mich glücklich schätzen, Ihnen meine Stadt zeigen zu dürfen.“ Das heftige Drängen der drei Gefährten unterbrach abrupt das lockere Geplänkel.
„Man sieht sich! Ich freue mich wahnsinnig. Chè Bella!“ Mit großen Schritten eilte er der Crew nach, verschwand in Richtung Rollfeld.
Ein Abenteuer, mit einem Abenteuermann, der sie gedankenlos alle Schranken fallen, alle spießigen Vorurteile mit einer lässigen Handbewegung über Bord fegen ließ. Ein Mann, der für den Augenblick der höchsten Lust, sein Leben verschenken würde, ohne wenn und aber. Lieben, leben, genießen. Während sie mechanisch solch dramatische Gedanken herunterspulte, fegte sie ihm in ihrem geistigen Auge bereits das Hemd vom Leib, daß die Perlmutknöpfe durch den Raum spritzten. In ihre dröhnte der Alarm: Alles fertig machen zum hinreißend sein! Diese Melancholie in seinen Augen. Das Dröhnen der Ansageboxen verwirrten sie vollends. Dieser makellose Körper, der sichtlich keine Ahnung hatte wie alt er tatsächlich war. In seinem Lachen konnte man ein Vollbad nehmen. Theresa empfand diese lockere Lebenseinstellung plötzlich wohltuend und zufrieden stellend.
„Weg mit den bornierten Anschauungen, den kleinbürgerlichen Moralbegriffen“, stammelte sie leise vor sich hin. Eine Ertrinkende im Strudel der Leidenschaft, die gierig nach dem unerwartet gereichten Rettungsanker fasst. „Nur mit dem Gefühl reagieren. Dinge tun, die gestern noch als Tabu galten. Sich leicht fühlen, neu färben, neu definieren. Sich fallen lassen in einem Rausch, aus dem man nie mehr erwachen möchte. Kaotisch, alles umwälzend. Eine Leidenschaft mit Ablaufdatum? Liebe?“
Sex sprengt alle Grenzen, das letzte Abenteuer der Menschheit. Intimität entblößt, körperlich und seelisch. Der Kopf ist leer, im Körper pure Energie, der Geist lässt los. Gedankenlos. Grenzenlos. Auf der Suche nach Vervollkommnung. Der Wille, die Lust, das Begehren, die Seele. Sich verlieren. Eine Begegnung mit den Schatten der Sehnsüchte.
„Ich bin wahnsinnig! Wahnsinnig verliebt!“ Ihr Herz hämmerte, ihre Pupillen vergrößerten sich, die Eingeweide verkrampften sich. Ihr Körper bebte. Traumwandlerisch fand sie ihren Platz im Flugzeug. Sie taumelte in eine Empfindung wirrer Raserei. Herrlich hirn- und grenzenlos.


Teresa heiratete ein zweites Mal. Für diese Unüberlegtheit zahlte sie einen sehr hohen Preis. Lügen, Seitensprünge, Gewalt und Rücksichtslosigkeit überschwemmten ihre verzweifelten Träume und Hoffnungen. Ein nicht gut zu machender Fehler, für den sie teuer bezahlte. Der beste Freund ihres Mannes, Massimo, liebte sie wirklich, doch geblendet von Sergios furiosen Talenten erkannte sie es nicht.

Mein ist die Rache, sprach der Herr


Am Nachmittag war es zwischen den beiden Männern zu einem heftigen Streit gekommen. Massimo hatte dem einstigen Freund all seinen Frust entgegengebrüllt.
„Du gemeines weibersüchtiges Schwein. Ich kann deine Haltung einfach nicht verstehen. Warum belügst und betrügst du diese wunderbare Frau, die dich bedingungslos liebt.“
„Was soll das. Du benimmst dich wie ein eifersüchtiger Gockel, Massimo!“ Sergios lästerliche Sprüche machten ihn wahnsinnig. Wahnsinnig vor Wut, wahnsinnig vor gekränktem Stolz. Und Sergio hörte nicht auf, ihn zu provozieren.
„Ich weiß ja schon lange, dass du in Tess verliebt bist. Aber sie gehört nun einmal mir, und du wirst sie bestimmt nie bekommen.“
Wütend hatte sich Massimo auf seinen Gegner gestürzt. Zwei Giganten maßen sich in übermenschlicher Leidenschaft. Liebe gegen Größenwahn.
„Ich liebe sie wirklich, für dich ist sie nur Mittel zum Zweck. Du nützt sie aus, betrügst und hintergehst sie. Du machst sie zu deinem Spielball, den du über das Netz wirfst und auf der anderen Seite im Schlamm vergräbst.“
„Dass ist eben Stil. Ein Stil, den du nie und nimmer beherrschen lernen wirst. Die Weiber brauchen das. Du siehst es ja mit eigenen Augen.“
Eine geballte Faust landete in Sergios Gesicht. Torkelnd hielt er sich auf den Beinen. Massimo trommelte mit den Fäusten auf ihn ein, trat ihn zu Boden, riss seinen Kopf an den Haaren zurück und schlug ihn immer und immer wieder auf den Steinfliesen auf. Rasend vor Wut brüllte er wie von Sinnen all seine Enttäuschung heraus. Sergio riss sich los, stand plötzlich wieder vor ihm, grinsend, mit blutverschmierter Fratze.
„Und was soll das jetzt. Glaubst du wirklich damit Theresa zu imponieren“, lästerte er triumphierend. „Sie braucht den Kick, diese Unsicherheit, ob sie noch immer die Schönste, die Begehrenswerteste, die Unwiderstehlichste ist. Nur der harte Konkurrenzkampf treibt sie zu Höchstleistungen an.“
Massimo griff nach dem Schürhaken und zog ihn mit aller Wucht über Sergios Schädel. Er stürzte auf die Marmorplatten, blieb reglos liegen.
Entsetzen und Ungläubigkeit lagen in seinem Blick.
„Hilf mir hoch, Massimo, wir waren doch einmal Freunde!“, röchelte er.
„Nie mehr in deinem Leben wirst du einen Freund haben, gemeiner Verräter. Du wolltest Theresa töten, das weiß ich mit Sicherheit. Dir wäre jedes Mittel recht gewesen.“
„Du hast gar nicht so unrecht“ stöhnte Sergio. „Wäre ein schöner Patzen Geld gewesen, wenn das mit der Spritze funktioniert hätte.“ Fast tonlos klangen seine Worte, abgehackt, verschwommen. Aus dem Rechten Ohr sickerte eine feine Blutspur. Sein Blick trübte sich. Massimo stand vor ihm, mitleidlos hart, wie nie zuvor in seinem Leben.
„Das ist dein Todesurteil. Aber ich will den Triumph dich zu töten selbst auskosten. Kein anderer hat das Recht über dich das Urteil zu fällen.“
Sergio versuchte sich aufzurichten, fiel kraftlos zurück auf den Boden.
Massimo stemmte ihn hoch und schleppte ihn ins Bootshaus an den Klippen. Ein tosender Sturm peitschte die regennassen Zweige gegen die morschen Bretter der Hütte. Tropfen trommelten auf das Blechdach. Ein unheimliches Pfeifen und Zischen erfüllte den kleinen Raum. Die Boote wippten im aufgewühlten Wasser, schlugen aneinander, knirschten. Metallteile klirrten und rasselten. Apokalyptische Gefühle zwangen sich auf, erfüllten Massimos geschundenes Herz. Angst, Verzweiflung, Wahnsinn. Der unbarmherzigen Naturgewalt ausgeliefert starrte er in Sergios flehende Augen. Die totale Ausweglosigkeit – das Ende.
„Was tust du? Lass mich los!“ Ein letzter verzweifelter Versuch sich dem starken Griff zu entwinden misslang kläglich.
Massimo zerrte ihn aufs Boot. Ein schweres Tau löste sich und schnalzte gegen Sergios Schädel. Bewegungslos lag er auf den nassen Schwielen, ohnmächtig, hilflos. Er zurrte den Bewusstlosen fest und segelte gegen die brodelnde Gischt. Immer weiter und weiter. Das Boot ächzte, die Segel blähten sich unheilvoll, die Seile drohten zu reißen. Selbstzerstörerisch, halb wahnsinnig in seiner Wut kämpfte Massimo gegen die Gewalt des Meeres an. Sergios Wimmern drang befriedigend an sein Ohr, vermischte sich mit dem Brausen des Sturms, mit dem Schlagen der Wellen am Rumpf des Bootes.
Ein erbitterter Kampf gegen die Allmacht Gottes und des Teufels tobte in seinem Herzen. Schließlich schlang er ein Seil um Sergios Rumpf, befestigte daran den Reserveanker. Ein heftiger Stoß. Schwer klatschte der Körper am Wasser auf. Schaumkronen überrollten ihn. Mit einem kräftigen Hieb kappte Massimo die Halterung des Ankers.
„Fahr zur Hölle. Nie wieder wirst du meiner Tess ein Leid zufügen, das schwöre ich.“
Sergios Körper versank in den Fluten. Nur Augenblicke dauerte der Spuk. Rasch warf Massimo die beiden Rettungsringe nach und feuerte eine Rakete ab. Die rote Kugel leuchtete auf. Der Wind verblies die mächtige Rauchwolke.
„Mein ist die Rache, sprach der Herr.“ Verloren sank Massimo in sich zusammen. Wirre Gedanken. In letzter Sekunde konnte er das Segel herumreißen, das Kentern des Bootes verhindern. Der Sturm pfiff ihm um die Ohren, drohte ihn über Bord zu fegen. Mit übermenschlicher Kraft steuerte er den Segler zurück in den Hafen.
Ich habe getan was ein Mann tun muss. Ich habe Tess ihr Leben zurückgegeben.

Litauen 1991


Schneeregen schlug gegen die Windschutzscheibe, immer dichter. In den Kegeln der Scheinwerfer, eine schräge Schaffierung in der hereinbrechenden Finsternis. Die kargen Lichter des letzten Dorfes waren schon lange hinter ihnen geblieben. Der VW-Bus ratterte scheppernd über holprige Straßen in die fremde Dunkelheit. Endlose Weideflächen wechselten mit endlosen Wäldern. Am Horizont, schwarze Silhouetten sanfter Hügel und Senken. Seitlich glitzerten Wasserflächen.
In enthusiastischen Berichten hatte sich der junge Ingenieur für die traumhafte Landschaft begeistert, in der er den richtigen Platz für den Bau der Fabrik gefunden zu haben vorgab.


Ein zugefrorener See zur Linken. Eine bizarre Ruine aus kahlen Mauern zur Rechten. Ein Schauer von Enttäuschung. Eds Gesichtsausdruck wirkte besorgniserregend. All seine hochtrabenden Zukunftsvisionen zerflossen, wie die Rinnsale auf dem steinigen Bauplatz.
„Hier wollen wir ein neues, florierendes Unternehmen aufbauen? Hier eine Produktion ins Rollen bringen?“ Tonlose Worte aus einer zugeschnürten Kehle. „Alles ist so eckig und kantig, so frostig und steif. Ich will doch schwingende, wogende Mode erzeugen, die Frauenherzen zum Lächeln und Männer zum Staunen bringt.“ Erste Zweifel machten sich bemerkbar. Bis zur völligen Verzweiflung würde es wohl nicht mehr weit sein.
Der Himmel hatte sich in den letzten Stunden in zahlreichen Grauschattierungen gefärbt. Wolkenmassen ballten sich massiv zusammen und tauchten die Landschaft in diffuses Licht. Der Sturm orgelte durch das kahle Gemäuer, fegte vergilbte Papierfetzen über den rissigen Estrich, rüttelte mit schaudernder Gewalt an den klapprigen Fensterrahmen. Aus schwarzen Wolken zuckten grelle Blitze. Erste schwere Tropfen klatschten auf das helle Grau der Wellpappe des Vorbaues. Hässliche dunkle Flecke.
„Es wird ein heftiges Gewitter geben“, zeterte der deutsch-russische Hausmeister Wladimir besorgt durch das Brausen des Windes.
„In den nächsten Stunden werden Bäche zu Strömen anschwellen, die Mengen von Treibgut anschwemmen, womöglich die morschen Brückenpfeiler mit sich reißen“, brüllte der verzweifelte Baumeister. „Verdammt, ohne Brücke sitzen wir auf unbestimmte Zeit an dem trostlosen Flecken fest.“ Schauder lief Eduard bei diesem Gedanken über den Nacken, ließ ihn eine Gänsehaut bekommen.
Krachend flog ein Fensterflügel zu. Scheiben klirrten. Scherben splitterten im Leuchten der Blitze wie glitzernde Diamanten, sprangen auf Ziegelsteine, die unordentlich gestapelt herumlagen, verlöschten im gleichen Augenblick wieder, wenn der Blitz sein Ziel gefunden hatte.
Plötzlich loderte eine riesige Fackel vor der breiten Fensterwand. Der halbe Stamm vergloste im sumpfigen Boden, während die andere Hälfte bizarr zum Himmel ragte.
„Eine Riesenkerze in einer schwarzen, sternenlosen Nacht.“ Der Regen peitschte mit unerwarteter Heftigkeit an die Wände, zu schwach, das Feuer zu löschen. Durch die nasse Wand starrte Behring frierend auf das Feuer. Funken griffen gierig nach den nächsten Ästen und Zweigen, um nicht zu verglimmen. Immer mehr Bäume fingen Feuer, und der Regen fiel immer dichter, ohne die Glut zu dämpfen.
„Was tun wir wenn das Feuer auf das Gebäude übergreift“, ächzte Behring mutlos.
„Hoffen und beten, dass nicht all zu viel passiert. Steine brennen nicht sonderlich gut!“ Der junge Mann versuchte die missliche Stimmung Eduards etwas aufzumuntern.
„Gottvertrauen, mein Lieber. Hier hilft nur mehr Gottvertrauen. Wird schon schief gehen. Ich kenn dich nicht wieder. Du bist doch immer ein Draufgänger gewesen. Was soll das Gejammer.“
Ergeben in sein Schicksal blickte Eduard erstarrt auf das tobende Naturschauspiel und betete tatsächlich.

Einige Monate später


Theresa war Eduard an einen Ort gefolgt, der ihr vor einigen Wochen noch als das Ende der Welt erschienen war.
Nach stundenlanger Fahrt durch dichte Birkenwälder, über brüchige Strassen, vorbei an winzigen Ortschaften und ärmlichen Holzhäusern, die sich furchtsam in dem Schutz einiger hoher Föhren schmiegten, an schwarz glänzenden Seen vorüber, hatte sie teils fasziniert von der Landschaft, teils deprimiert von der Armut des Landes, ihren Zielort erreicht. Klaipeda, an der Ostsee.
Vor drei Stunden war sie in Vilnius gelandet. Nach enervierenden Zollformalitäten, Einreisevisum, endlosen Fragen nach Grund und Ursache der Reise, stand sie vor dem abgetakelten Flughafengebäude und hielt vergeblich Ausschau nach einer Transportmöglichkeit. Ed war verhindert, das wusste sie.
„Könnten sie mir ein Taxi herrufen?“, versuchte sie sich einen schlendrigen Mann in blauer Uniform verständlich zu machen. Ein hilfloser Blick traf sie. Dann ein Achselzucken.
„Taxi!“, brüllte sie nun. „Auto!“ Mit den Armen drehte sie an einem unsichtbaren Lenkrad. „Transport!“
Endlich. Ein Leuchten trat in die Augen des Befragten. Verlegen deutete er auf den leeren Platz vor ihr.
„Nischto! Warten, poshalsta! Bitarschen.“ Sollte wohl bitte heißen, lächelte Tess verzweifelt. Der Mann ließ sie mit ihren Koffern und Taschen stehen. Mühsam hatte sie ein paar Brocken der mehr als komplizierten litauischen Sprache erlernt, nun hörte sie nur russische Worte. Ewas unglücklich blickte sie dem Gesetzeshüter nach.
Nach einer geschlagenen Stunde zuckelte ein alter Moskwitsch in die Einfahrt.
„Sie wollen fahren, Lady? Kuda? Wohin!“ Ein Seufzer der Erleichterung. Ein etwas ungeduldiges Drängen des Chauffeurs.
„Klaipeda! Memel!“, flüsterte Tess mit eingefrorenem Lächeln. Die Mine des Mannes erhellte sich.
„Ist weite gorod, Stadt“, lächelte er entschuldigend aus Zahnruinen. Drei Stunden, Frau! Äto stoit mnogo djengi! Kosten viele Gelde.“
„Schon gut. Machen sie nur schnell. Ich friere, habe Hunger und bin hundemüde.“

Hier in Litauen, das einstmals von Kiew am schwarzen Meer bis hin zur Ostsee gereicht, reich und einflussreich über hunderte von Jahren dominiert hatte, herrschte trauriges Chaos. Kinder trieben ein paar Ziegen und Schafe durch die unkultivierte Gegend. Eine einsame Kuh, der stolze Besitz eines mickrigen Bäuerleins, stand angepflockt auf der dürftigen Weide. Männer versuchten dem jahrelang ungedüngten Boden mit Ochs und hölzerner Pflugschar etwas Getreide abzuringen. Ein Sprung über zweitausend Jahre Entwicklungsgeschichte, in wenigen Flugstunden. Lebensbedingungen, denen man sich als Gast des Landes anpassen musste.
„Wer hier Geschäfte machen will“, erklärte Eduard lapidar, „ muss in erster Linie die Beziehung zur Bevölkerung pflegen. Ein Unternehmen in einem neuen Land zu starten, heißt sich intensiv mit Land und Leuten befassen. Du musst über den eigenen Tellerrand hinausschauen, und soziale Verantwortung übernehmen.“ Mit solchen und ähnlichen Worten versuchte er Theresas aufkeimende Ungeduld immer wieder zu besänftigen.
„Entwicklungshilfe ist angesagt, bei Menschen, die Jahrzehnte lang verkümmert waren. Die ohne das Gehirn einzuschalten, Befehle von Vorgesetzten empfingen und lustlos ausführten, um überleben zu können. Diesen gefühlsverstümmelten Menschen wieder eigene Verantwortung zu übertragen, sie zu fordern, ihre Kapazitäten auszuschöpfen und möglichst zu steigern, ist das gesetzte Ziel.“ Seine Worte klangen überzeugend. Sein unverbesserlicher Optimismus war ansteckend.
„Dazu ist Schulung nötig und Vertrauen, sonst sind Hilfe und auch Erfolg nur von kurzer Dauer, das investierte Geld im Sand, sobald bei diesem Triebwerk ein Keilriemen reißt.
„Es sind in der Regel nicht die großen Projekte, die etwas bewegen. Oft fehlt es nicht so sehr am Geld, an Ausrüstung, sondern einfach am Know-how, wo und wie man beginnen soll, an der Bereitschaft etwas zu bewegen. Nachhaltigkeit ist das Ziel, das verfolgt werden muss, Engagement und Mut.“

Auf einen endlos scheinenden eisigen Winter,

klirrender Kälte, eisverhangenen Himmel, glitzernden Eiskristallen an den Scheiben, die sich stets kaleidoskopisch veränderten folgte ein brütender Sommer, so heiß und trocken wie keiner, an den sich die Einheimischen erinnern konnten. Wochenlang blieb der Himmel wolkenlos. Die Solle knallte mitleidslos vom Himmel. Die Luft flimmerte, nahm bisweilen den Atem. Der Horizont zerfloss in der ausgedörrten Ebene. Eine düstere Heckenlandschaft. Gestrüpp soweit das Auge reichte. Braun und staubig spiegelte die Landschaft das Darben der Menschen wieder. Jeder Grashalm wurde zu Stroh, das wenige Gemüse verwelkten, starb ab. Tiere brüllten in den Ställen nach Wasser und verreckten in der Verzweiflung der Menschen. Nur der kristallblaue Meeresspiegel spendete den Augen Trost.
Autoladungen mit Wasser wurden täglich auf den Hof des Betriebsgeländes gekarrt, gefüllte Behälter aus den Reservoiren Lettlands herangeschafft, um wenigstens den Trinkwasserbedarf der eigenen Leute zu stillen. Nutzwasser gab es noch, wenn auch nicht im Überfluss. Die Seen hielten der sengenden Sonne kaum stand. Schlick und Tang, der sonst nur auf den Gründen wucherte, trieb an der Oberfläche. Morastige Tümpel. Fische verreckten, die weißen Bäuche nach oben gedreht, auf der schlammigen Oberfläche.
Dann tobten tagelange Sommergewitter. Die kreißenden Wolken brachen stöhnend auseinander. Eine Wasserflut klatschte auf den dampfenden Asphalt. Wolkenbrüche, dicht aufeinander folgende Blitze. Donnerschläge. Eine Kettenreaktion. Wehende Regenschleier stoben am Himmel heran, ballten sich zu einer Wand aus Wasser, Laub und geknickten Zweigen. Biegsames, vom Wind gerütteltes Unterholz. Sturzbäche überschwemmten in sekundenschnelle das Pflaster. Die wenigen Kanäle ertranken in der brasselnden Fülle und die Rinnsale glichen reißenden Fluten. Muren und Steinlawinen, Erdrutsche setzten sie in diesem elenden Kaff gefangen. Hundertfünfzig Kilometer entfernt von der Hauptstadt. Vier Stunden rumpelndes, Markdurchrüttelndes Gepolter über Stock und Stein. Durch Morast.
Hohlwege und Erdstraßen wandelten sich zu einer grundlosen Brühe, die wütend alles mit sich rissen, was ihren Weg behinderte. Feld und Flur vereinte sich mit übertretenden Seen zu einem endlosen, brodelnden Meer. Was vor wenigen Tagen noch heiß ersehnt war, drohte nun Mensch und Tier zu ertränken. Ein gewaltiges Szenario tat sich vor den entsetzten Augen auf, beunruhigend, spannungsgeladen. Verzweiflung und Furcht wich erst, als der Himmel aufriss und der Regen endlich versiegte.
Die Produktion war zum Stillstand gekommen. Auf das Verständnis der Auftraggeber zu hoffen war vergebliche Liebesmüh. Stornos von Bestellungen liefen täglich ein und würden noch mehr werden, fürchtete Behring. Hoffnungslosigkeit breitete sich aus.
„Wenn uns die Menschen keine Prügel vor die Fuße werfen, dann tut es der Herrgott“, meinte Eduard deprimiert.

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Tag der Veröffentlichung: 17.11.2011

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Roman

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