Cover

Prolog



Gamal zog seine schwarz-weiß gestreifte Krawatte zurecht und blickte zufrieden in den Spiegel. Sein grauer Anzug mit dem weißen Tuch in der Seitentasche spiegelte die Perfektion wider, die er von sich erwartete. Auf diese Äußerlichkeiten legte er großen Wert, auch wenn er sich bewusst war, dass diese ihm nicht den erwünschten Erfolg garantieren würden. Sicher war er sich aber der Tatsache, dass sein äußeres Erscheinungsbild immer einen Einfluss auf andere Menschen hatte. Dies lernte er in den vielen Jahren, in denen er seinen Zielen Schritt für Schritt näher kam. Gamal war sich sicher, dass er alle bisherigen Ziele leichter erreicht hätte, wenn er aus einer anderen Familie entstammt wäre. Doch er war nur der Sohn eines ärmlichen Postboten und musste sich alle Erfolge hart erarbeiten. Schon als Jugendlicher hatte er sich engagiert und früh entdeckt, wer für die schlechten Lebensumstände in seinem Land verantwortlich gemacht werden musste. 1935 allerdings war seine Heimat diesen Tatsachen noch nicht gewachsen. Zu viel Macht ging noch von denen aus, die das Land in Elend stürzten und sich täglich an ihm und den Menschen bereicherten. Doch das Gefängnis war eine gute Schule. Dort traf er Menschen, die seine Meinung teilten und der Hass auf die Verursacher wurde immer größer. Gamal lernte die Protokolle der Weisen Zions kennen und fand in ihnen den Beweis für seine Theorien. Die Juden wollten die Weltherrschaft und er musste etwas dagegen unternehmen. Er blickte erneut in den Spiegel und lächelte. An diesem Tag würde er etwas dagegen unternehmen. Maria dröhnten die Ohren und die Hitze des Julitages sorgte dafür, dass ihr weit geschnittenes Kleid am Sitz festzukleben schien. Der hellblaue Ford Thunderbird fuhr mit beachtlicher Geschwindigkeit über die Landstraße, doch Maria kam es vor, als ob der neue Wagen schleichen würde. Sie tastete nach der Schleife unter ihrem Kinn und zog das Kopftuch fester. So schön der Wagen auch auf andere wirken mochte, ein Cabriolet war nicht gerade das Fortbewegungsmittel, das Maria sich für die Zukunft erhofft hatte und sicherlich erst Recht nicht für diese, in ihren Augen unnötige und anstrengende, Reise. Sie blickte auf die ausgetrockneten Felder neben der Landstraße. Dass sie offene Autos nicht mochte, konnte ihm nicht entgangen sein und dennoch fuhr er eines Tages mit dem Ford Thunderbird in die Auffahrt ihrer kleinen Stadtvilla und freute sich wie ein kleines Kind über sein neues Spielzeug.
„Ist das nicht eine wunderbare Überraschung?“, fragte er lachend, als Maria aus dem Haus getreten war und die neue Errungenschaft ihres Mannes sah. Er missdeutete ihren verblüfften Gesichtsausdruck und hielt ihn für freudige Überraschung. Marias Gefühle aber waren ungläubige Verblüffung. Sie starrte mit offenem Mund auf das Auto, während ihr Mann stolz die Beifahrertür streichelte.
„Es ist der absolute Renner. Jeder wird uns um ihn beneiden.“ Maria kniff die Augen zusammen und hoffte, dass sie träumte und die Auffahrt leer wäre, wenn sie die Augen wieder öffnen würde. Doch beim Öffnen der Augen bot sich ihr der gleiche Anblick.
„Das ist ein Cabriolet“, presste sie leise die Worte heraus. Ihr Mann sprang lachend auf sie zu und umarmte sie. „Ja mein Liebling. Das ist ein Cabriolet und wir werden darin tolle Ausflüge machen können. Du und ich und mein kleiner Sohn.“ Freudestrahlend streichelte er den kugelrunden Bauch seiner Frau. In ihrem Inneren breitete sich Wut aus, doch Maria wusste, dass sie damit bei ihrem Mann nichts erreichen würde. Deshalb versuchte sie ihre Gefühle so gut es ging zu verbergen und einen liebevollen Blick an ihren Mann zu richten, der ihr einst versprochen hatte, dass sie alle Entscheidungen
gemeinsam treffen würden. Doch weder das Haus, noch die Möbel, selbst ihre Kleider hatte sie sich in den letzten Monaten selbst ausgesucht. „Liebling, ist ein Cabriolet das Richtige für eine kleine Familie?“, fragte Maria mit dem zärtlichsten Unterton, den sie aufbringen konnte. Und dennoch schien es ihren Mann zu verärgern, dass sie ihn in Frage stellte. Er trat einen Schritt zurück und musterte sie argwöhnisch. „Denkst du, dass ich mir darum keine Gedanken gemacht habe?“ Maria versuchte ihn zu beschwichtigen und streichelte seinen Arm. „Natürlich denke ich das nicht, es ist nur ...“
Ärgerlich zog er den Arm von ihr zurück. „Ständig nörgelst du nur rum. Das Haus ist zu alt, die Möbel sind zu dunkel und meine Kleidergeschenke gefallen dir auch nicht, obwohl ich die teuersten und besten Umstandskleider der gesamten Gegend für dich auftreibe. Der Händler sagte, dass dieses Auto für eine Familie geradezu geschaffen ist.“ Maria wagte noch einen Versuch, ihn zu beschwichtigen, und trat näher an ihn heran, doch er sah nur verächtlich auf sie herab, drehte sich um und ging davon. Es tat ihr leid, ihn verärgert zu haben. Sie musste ihm schließlich doch recht geben, dass sie in den letzten Monaten sehr unzufrieden gewesen war. Deshalb hatte sie einige Tage später auch der Fahrt zu seinen Eltern zugestimmt und ihre Bedenken wegen der langen Reise in einem überdurchschnittlich heißen Sommermonat für sich behalten. Nun regte sich kein Windhauch um ihr Haar, sodass sie sich in immer kürzer werdenden Abständen den Schweiß aus dem Gesicht wischen musste. Ihre Füße waren bereits so stark von Wassereinlagerungen angeschwollen, dass sie die Schuhe nicht mehr auszuziehen vermochte. Verzweifelt blickte sie ihren Mann an, der wie immer gut gelaunt, am Steuer saß und zu einem Lied aus dem Radio pfiff. Als er das Auto bepackte, war der Ärger der letzten Tage verflogen und tief im Innersten schämte
sich Richard für seinen barschen Ton gegenüber seiner Frau. Die Schwangerschaft war anstrengend, besonders in den Sommermonaten, dessen war er sich bewusst und es war schließlich jedem bekannt, dass eine schwangere Frau noch mehr Stimmungsschwankungen unterlegen war, als es sowieso schon bei Frauen der Fall war.

Mit dem Auto hatte er Maria eine Freude machen wollen und ihre Zweifel trafen ihn tief. Vor allem, weil sie in letzter Zeit alles anzuzweifeln schien, was er entschied und regelte. Er wünschte sich eine zufriedene Frau, der er jeden Wunsch von den Augen ablas, doch alle Überraschungen und Geschenke schienen sie nicht glücklicher, sondern unzufriedener zu machen. Er konnte das nicht verstehen und schob es deshalb lieber auf die Schwangerschaft. Dennoch konnte er sich nicht zu einer Entschuldigung überwinden. Er war es nicht gewohnt, über Probleme zu sprechen. In einer Ehe sollte man eigentlich keine Probleme haben. Deshalb durchstöberte er am nächsten Tag sämtliche Juweliere der Stadt und fand am Ende eine zarte Goldkette mit kleinen Diamanten, die er Maria am Abend auf das Bett legte.
Ihre Freude über das Geschenk war zum ersten Mal seit Monaten deutlich zu spüren. Als er ihr anschließend von der geplanten Reise zu seinen Eltern berichtete, schien alles wieder perfekt zu sein. Die Hitze während der Fahrt auf der Landstraße machte ihm gar nichts aus. Der Wind, der über das Cabriolet wehte, kühlte ausreichend.
Eine Locke flog ihm in die Stirn, die kurz darauf wieder fortgeweht wurde. Begeistert wagte er einen Blick von der Straße fort auf seine schöne Frau. Als er jedoch ihren Gesichtsausdruck bemerkte, runzelte er besorgt die Stirnfalten.
„Alles in Ordnung, Kleines?“

Maria nickte entmutigt. Warum mussten sie diese lange Reise in ihrem Zustand noch wagen? Wie so oft drang die Frage in ihr hoch, weshalb sie geheiratet hatte. Vor einem Jahr noch träumte sie davon selbständig zu werden, vielleicht mit einem kleinen Modegeschäft unabhängig zu sein. Die Heirat mit Richard war erst zu einem späteren Zeitpunkt beabsichtigt gewesen, doch er und ihre Eltern, vor allem seine Mutter, hatten sie so lange bedrängt, bis sie keine Argumente mehr vorbringen konnte. Maria dachte an die Zeit vor ihrer Heirat zurück. Richard hatte ihr alle Freiheiten gelassen, die sie sich wünschte. Sie lebte bei ihrer Mutter, hatte ihr eigenes kleines Gehalt, das sie sich
als Sekretärin in seinem Architektenbüro verdient hatte. Langsam aber stetig mehrte sich ihr Erspartes auf einem Sparkonto. Mit diesem Geld wollte sie ihr Geschäft in der Stadt eröffnen. Dazu hatte sie sogar schon zusammen mit Richard Ladenlokale besichtigt, die in zentraler Lage mitten in der Stadt erbaut waren. Richard erklärte ihr, dass die Hochzeit nichts an ihrer Beziehung ändern würde und sie alle ihre Träume gemeinsam verwirklichen könnten. Maria aber hatte Richards Mutter und deren konservatives Frauenbild kennen gelernt und hegte Zweifel, ob Richard seine Worte auch in die Tat umsetzen würde.
„Ein junger, erfolgreicher Architekt aus einer alt eingesessenen Adelsfamilie ist die perfekte Partie“, hatte Marias Mutter gesagt. „Mit ihm kannst du alle deine Ziele verwirklichen.“ Nach langen Gesprächen ließ Maria sich überzeugen und blickte zuversichtlich in eine gemeinsame Zukunft. Sie zog aus der kleinen Stadtwohnung aus, die sie mit ihrer Mutter geteilt hatte, und begann ein neues Leben mit Richard in einer großen Villa am Rande der Stadt. Eine kleine Stadtwohnung wäre ihr zwar lieber gewesen, damit sie näher an ihrem Geschäft hätte sein können, doch Richard überzeugte sie, dass dieses Haus nahe genug an der Stadt sei und sie viel Platz für die Gründung einer Familie hätten. Mit der Familiengründung wollte Maria sich aber gerne noch Zeit lassen, bis sie ihr Geschäft aufgebaut hatte. Als sie nach vier Monaten feststellte, dass sie nicht genug aufgepasst hatte und schwanger war, war ihre Enttäuschung groß. Richard dagegen freute sich riesig und vertröstete Maria, dass ein Geschäft auch noch eröffnet werden könne, wenn das Kind etwas größer sei. Doch langsam kroch der Verdacht in Maria hoch, dass Richards Eltern dies niemals dulden würden und ihr Einfluss auf den Sohn dermaßen groß war, dass Maria ständig zurückstecken musste. Maria schaute mitleidig zu ihrem gutaussehenden Mann. Sie liebte ihn noch immer, doch die Beziehung war nicht mehr so unbefangen, wie sie begonnen hatte. Traurig streichelte sie über ihren Bauch und dachte an das kleine Lebewesen darin, welches ihr wahrscheinlich die Zukunft nehmen würde.
Plötzlich durchfuhr ein stechender Schmerz Marias Innerstes. Er war so intensiv, dass es ihr den Atem nahm. Entsetzt blickte sie an sich hinunter. „Nicht jetzt“, dachte sie und sah zu Richard hinüber. Dieser bemerkte ihren Blick und folgte diesem hin zu ihrem Bauch.
„Nur noch eine halbe Stunde, Liebes, dann sind wir da“, erklärte er in liebevollem Ton.
„Oh nein “, dachte sie verzweifelt. „Diese Zeit haben wir nicht mehr.“ Doch sie wollte Richard nicht beunruhigen und presste daher die Lippen zusammen. Wieder traf sie der furchtbare Schmerz und sie spürte, wie langsam Nässe ihre Beine entlang lief. Ein widerlich warmes Gefühl stieg von ihren Schenkeln nach oben. Gänsehaut überfiel ihren Rü-
cken und Entsetzen durchfuhr sie, als sie an sich herunter sah und bemerkte, wie sich ein nasser Fleck immer mehr auf dem weißen Kleid ausbreitete. Offensichtlich war die Fruchtblase geplatzt. Aber das konnte doch nicht richtig sein, dieser Schmerz war so intensiv, so furchtbar und die Wehen hatten doch gerade erst begonnen. „Wir müssen Hilfe holen“, sagte sie mit verzweifelter Stimme. Leicht verärgert sah er sie an, bemerkte den nassen Fleck und blickte sofort wieder angeekelt auf die Straße zurück. „Wir befinden uns auf einer Landstraße, was denkst du, wo ich jemanden herholen soll?“ Verzweiflung klang in seiner Stimme mit.
„Ahhh.“
Ein Stöhnen entwich ihr, als die nächste Schmerzwelle noch intensiver wurde. Dunkelheit machte sich vor ihren Augen breit und zwischen den Beinen war es mittlerweile vollkommen nass. Sie tastete nach der Nässe, hob die Finger hoch und blickte auf ihre blutige Hand. Der rote Fleck machte sich schleichend auf ihrem weißen Kleid breit. Verschwommen konnte sie noch Umrisse ihres Mannes erkennen, bis die Dunkelheit sie komplett einhüllte, als die nächste Schmerzwelle sie erreichte.

Kein anderer Mensch wusste in diesem Moment von Maria und Richard, die im Höchsttempo auf
der Landstraße zum nächsten Krankenhaus fuhren, während sich Gamal auf einem anderen Kontinent sicher sein konnte, dass seine Anweisungen die Welt bewegen könnten. Sein Ziel war eine vereinigte arabische Republik, die den westlichen Mächten, aber vor allem den
Juden, die das Nachbarland bevölkerten, gegenüberstand. Um dies zu erreichen, hatte er an diesem Tag den ersten Schritt getan. Am 26. Juli 1956 ließ Gamal Abdel Nasser den Suezkanal trotz des Suez-Abkommens mit Großbritannien sperren.

Ungeduldig schritt Constanze durch die große Empfangshalle in die Bibliothek des herrschaftlichen Gebäudes. Die Hitze des Julitages drang kaum durch die schweren Steine hindurch, und daher war es angenehm für ihren Mann, sich in den großen Raum zurückzuziehen, dessen Bücherflut alle Besucher beeindruckte. Goethe, Schiller, Shakespeare und Werke anderer Autoren waren in diesem Schmuckstück des Hauses zu finden. Constanze hatte zwar noch kein einziges dieser Bücher in der Hand gehalten, doch ihr Herz erfüllte sich immer wieder mit Stolz, wenn sie durch die große Eichentür in das dunkle Zimmer schritt. Kein Mensch in der weitesten Umgebung konnte einen solchen Schatz vorweisen. Suchend glitt ihr Blick nun durch das Zimmer, obwohl sie genau wusste, wo sie Alexander finden konnte. Er saß wie immer in dem dunkelbraunen Lederohrensessel mit dem geknöpften Rücken vor dem großen Kamin und hielt eines der Werke in der Hand, das er schon mehrmals gelesen hatte. „Wie kann ein Mensch bloß ein und dasselbe Buch mehr als einmal lesen?“, fragte sie immer wieder verständnislos. „Den wahren Hintergrund großer Werke erkennt man erst nach mehrmaliger Auseinandersetzung mit dem selbigen“, war seine stets ruhige Antwort. Seine Interessen konnte sie nie verstehen. Warum sollte man sich weiterbilden, wenn man doch genug Vermögen hatte, um bis zu seinem Lebensende in Reichtum leben zu können? Constanze rümpfte die Nase, als sie ihren Mann so sitzen sah, doch davon abhalten wollte sie ihn auch nicht, denn aus irgendeinem Grunde machte es einen guten Eindruck auf alle ihre Freunde, wenn Alexander sich auf den wöchentlichen Abendessen in die Bibliothek zurückzog. Sie hielten ihn für intellektuell. Constanze dagegen empfand ihn als Langweiler, mit seinem trägen Gesichtsausdruck und dem traurigen Blick, der durch die Hornbrille kaum zu erkennen war. Früher war er ein stattlicher Mann gewesen, weiß Gott, denn sonst hätte sie ihn nicht geheiratet. Ein gutaussehender Geschäftsmann
war er, dessen Charme alle jungen Frauen dahinschmelzen ließ. Alle waren neidisch, als er sich mit Constanze verlobt hatte, an eben einem solchen heißen Julitag, wie er heute war. Auf einer Party seiner Eltern im Garten dieses Hauses. Doch alles hatte sich geändert, als er das Geschäft an den zweiten Sohn abgegeben hatte. Seine Haare wurden immer grauer und sein Charme verstaubter. Herablassend blickte Constanze nun auf den Mann herunter, den sie einst vergöttert hatte. „Schatz, denkst du nicht, dass die Kinder bereits hier sein sollten? Ich mache mir Sorgen.“ „Ach was, es wird schon nichts passiert sein“, antwortete er gedankenversunken, ohne von seinem Buch aufzublicken. Entnervt schaute sie aus dem Fenster neben dem Kamin und drehte sich dann abrupt wieder zu ihrem Ehemann um:
„Wie kannst du nur so furchtbar ruhig bleiben? Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!“
Langsam und desinteressiert blickte Alexander von seinem Buch hoch zu seiner Frau. Ihre blondierten Haare glänzten im Schein der Sonne, die durch das Fenster blinzelte und für einen kurzen Moment erkannte er die Frau, die vor vielen Jahren lächelnd dort stand, doch schnell sah er nur wieder eine alte Frau mit einem verbitterten Gesichtsausdruck und zu viel Schminke, welche die Person versteckte, in die er sich einst verliebt hatte.
„Nun gut, was soll ich deiner Meinung nach tun?“
„Ach“, sagte sie und setzte ein verängstigtes Lächeln auf, „sei doch so lieb und ruf die Polizei an. Ich mache mir solche Sorgen, dass mein Kopf bereits schmerzt.“ Bei diesen Worten fasste sie sich theatralisch mit der Hand an die Stirn und blickte ihn leidend an.
Wohl wissend, dass seine Frau keine Ruhe geben würde, stützte Alexander seine Hände auf der Lehne ab und richtete sich auf, um die Tür anzusteuern, doch auf dem Weg dorthin wurde er vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Alarmiert sah Constanze ihren Mann an. Niklas, der Hausdiener, trat in die Tür und nahm eine steife Haltung ein, um seine Würdigung zu zeigen. „Ihr Sohn ist am Apparat, eure Herrschaft. Soll ich das Telefonat durchstellen?“ Alexander öffnete den Mund, um zu bejahen, doch seine Frau tippelte hektisch an ihm vorbei. „Natürlich Niklas! Denkst du nicht mehr mit?“
Rügend sah sie den Hausdiener an, während sie ins Foyer schritt. Auf halbem Weg drehte sie sich wieder um. Scharf blinzelte sie ihren Mann aus den hellblauen Augen an.
„Was ist? Kommst du etwa nicht mit?“ Resigniert ließ Alexander die Arme hängen und folgte seiner Frau, während der mitleidige Blick seines Hausdieners ihn begleitete. Durch die riesige, weiß marmorierte Halle traten beide ins Wohnzimmer, welches im klassischen Stil der Jahrhundertwende eingerichtet und auf den Kamin als zentralen Punkt ausgerichtet war. Constanze nahm den Telefonhörer in die Hand und setzte sich auf das samtbezogene Sofa neben dem Apparat. „Ja bitte“, sagte sie zu ihrem Sohn am anderen Ende der Leitung. Die Antwort schien etwas Beunruhigendes zu sein, denn sie riss ihre Augen vor Entsetzen weit auf. Constanze hob den Kopf zu ihrem Mann, der besorgten Blickes herauszufinden versuchte, was seine Frau so Schreckliches erfahren hatte. „Gut, wir kommen“, antwortete sie in den Hörer und legte ihn anschließend auf. „Wir müssen sofort fahren.“
Energisch stand sie auf und schaute ihren Mann ungeduldig an. „Wohin?“, fragte er.
„Niklas, wo treibst du dich schon wieder herum?“ Constanzes Schreie hallten durchs ganze Haus. In diesem Moment hatte die Frau, die sonst so auf gute Manieren achtete etwas Primitives an sich. Alexander verzog das Gesicht. In manchen Momenten empfand er nur Abscheu für seine Frau. Der Hausdiener trat fragend aus dem Esszimmer, in dem er offensichtlich gerade abgestaubt hatte, was der Staubwedel in seiner Hand verriet.
„Ja, Madam, was kann ich für Sie tun?“ „Wir müssen sofort ins St. Elisabeth“, antwortete sie ihm. „Liebling“, ungeduldig blickte Constanze ihren Mann an, der immer noch mit fragendem Blick in der Wohnzimmertür stand, „bitte, zieh mir meine Jacke endlich an, wir müssen fahren.“ „Aber was ist denn passiert?“ Er nahm ihre Jacke und bot sie ihr dar, während sie ihm antwortete: „Sie hat das Kind bekommen und der Arzt sprach von Komplikationen. Richard hat sie bisher nicht gesehen und erhält auch keine weiteren Informationen. Er befürchtet Schlimmstes, schließlich hätte sie noch einen Monat gehabt.“

Im Krankenhaus angekommen kümmerte Constanze sich sofort um die Formalitäten. So hatten
sie in Kürze alle Informationen, die sie benötigten, um die Lage einzuschätzen. Die Ärzte behandelten die Schwiegertochter noch, während Richard durch die Bemühungen seiner Mutter bereits seinen Sohn besuchen konnte. Er lag an Maschinen angeschlossen in einem Brutkasten und wirkte so noch winziger und unrealistisch. Die mit Stolz erfüllten Augen seines Sohnes erinnerten Alexander an den Tag, an dem sein Kind das Licht der Welt erblickt hatte. Lächelnd zog er zwei Zigarren aus der Innentasche seiner Jacke, während Richard seinem Jungen nachblickte, der von der Krankenschwester für weitere Untersuchungen abgeholt worden war. „Hier mein Sohn“, sagte Alexander und überreichte Richard eine der beiden, „auf dass du uns noch viele weitere solcher Freuden bereitest.“

Ein starker Schulterklopfer sollte Richards Leistung honorieren. Constanze trat in den Raum und lächelte ihren Sohn verkrampft an. „Leider weiß ich noch nichts Neues, Junge. Sie wird immer noch behandelt.“ Kaum hatte sie die Worte gesprochen, schien die Besorgnis schon wieder verflogen zu sein. Sie trat auf Richard zu und umarmte ihn mütterlich. Ihr Lächeln erinnerte an eine Puppe. „Ach, ich bin so stolz auf dich mein Sohn. Endlich hast du uns einen Enkel geschenkt.“ Energisch trat sie dann wieder von ihm weg. Ein Hauch von Ekel stand auf ihrem Gesicht. Gefühlsausbrüche gehörten nicht zum guten Ton.
„Nun muss ich aber wieder nach Hause, um eure Willkommensfeier vorzubereiten. Ach, was es
da noch alles zu tun gibt. Die gesamte Nachbarschaft muss informiert werden.“ Mit gespielt fragendem Blick drehte sie sich ihrem Mann zu. „Du bleibst bitte hier und kümmerst dich um die Kleine.“ „Sie heißt Maria, Constanze“, antwortete er mit rügendem Unterton. „Jaja. Sei doch nicht immer so kleinlich. Du weißt schließlich, wen ich meine. Na dann, bis heute Abend. Ich sage Niklas, dass er etwas Feierliches auftischen soll.“
Alexander drehte sich zu seinem Sohn um, der selbstgerecht lächelnd an der Wand lehnte. Es schien, als wolle er sich am liebsten selbst auf die Schulter klopfen. Er nahm einen letzten Zug von der Zigarre und warf den Stumpen auf den sauber polierten Krankenhausboden. „Beeindruckend, welche Wesensveränderung der Kontakt mit seiner Mutter bei Richard bewirkte“, dachte Alexander wehmütig. Noch vor wenigen Minuten war sein Sohn ein stolzer, aber auch ängstlicher Vater, der sich Sorgen um seine Frau zu machen schien. Nach einem kurzen Wortwechsel mit seiner Mutter aber wirkte er überheblich und arrogant.

Für Richard war der Weg zum Krankenhaus von Ängsten und Verzweiflung begleitet. Er hatte
Maria zur Hochzeit gedrängt und sich sehnlichst eine kleine Familie gewünscht. Er wusste, dass sie noch keine Kinder wollte und die Selbständigkeit mit einem eigenen Geschäft ihr sehr wichtig war. Diesen Traum wollte er ihr nicht nehmen. Im Gegenteil, er wollte sie finanzieren und ihr helfen. Aber bereits kurz nach der Heirat rief seine Mutter täglich bei ihnen an und erkundigte sich, ob Maria bereits schwanger sei. Anfangs nahm er seine Frau noch in Schutz und erklärte seiner Mutter die Zukunftspläne. Nach und nach jedoch änderte Richard seine Einstellung. Die konservativen Argumente seiner Mutter waren schlüssig und sein Wunsch nach Nachwuchs groß. Schließlich waren auch die Ehefrauen seiner Freunde glückliche Hausfrauen und Mütter. Das sollte doch auch Maria reichen, wenn er ihr nur die Wünsche von den Augen ablesen würde. Daher vertröstete er Maria immer wieder. Als sich das Baby ankündigte, war er überglücklich. Doch als Maria in ihrem Blut
neben Richard im Wagen saß und ihr Gesicht von Schmerzen verzerrt war, traten in Richard Zweifel auf, ob seine eigenen Wünsche vielleicht sein Glück zerstören könnten.
Im Krankenhaus angekommen kümmerten sich unzählige Ärzte und Schwestern um Maria. Ri-
chard wurde in einen kleinen Aufenthaltsraum geführt und alleine gelassen. Jede Minute, die er mit Warten verbrachte, ließ seine Verzweiflung steigen. Er hatte furchtbare Angst um seine Frau und sein ungeborenes Kind. Als seine Eltern diese Einsamkeit unterbrachen und seine Mutter in ihrer gewohnt fröhlichen Art auf ihn zukam, wurde Richard gelassener.
Immer wenn er in ihrer Nähe war, versetzte sie ihn wieder in seine Kindheit. Obwohl er der jüngere Sohn war, sorgte sie sich fast ausschließlich um ihn. Dadurch entstand eine bis zu diesem Tage anhaltende Rivalität zwischen ihm und seinem älteren Bruder. Richards Mutter vermittelte ihm stets, dass er etwas Besonderes war, die wichtigste Person, die für sie existierte. Dadurch gewöhnte sich Richard eine Arroganz an, die dazu führte, dass er in der Schule häufig alleine war. Doch das machte ihm nichts aus, denn er dachte, er sei etwas Besseres als seine Mitschüler. Erst am College konnte er diese Einstellung ablegen. Er erkannte, dass er nur einer unter vielen Studenten war und Leistung bringen musste, um sich hervorzuheben. Deshalb arbeitete er hart, um ein besonders guter Architekt zu werden. Nun war er der angesehenste Architekt der Stadt.

Dennoch veränderte er stets unbewusst seine Haltung, wenn seine Mutter in der Nähe war. Für kurze Zeit war er wieder der arrogante kleine Junge von damals.
„Also Vater, gehen wir es an. So langsam sollte sie schließlich wach sein“, erklärte Richard lässig. „Was war bloß mit diesem Jungen los?“ Die Hände in der Hosentasche schlenderte er an seinem Vater vorbei in Richtung Tür, die im selben Moment von einem älteren, grauhaarigen Mann im weißen Kittel aufgestoßen wurde. „Ah, hier sind Sie. Ihre Ehefrau ist nun soweit. Sie wartet auf Sie.“ Richard nickte und öffnete die Tür, um den Raum zu verlassen, doch der Arzt legte den Arm auf seine Schulter. „Entschuldigung, aber da wäre noch etwas zu besprechen.“ „Die Aufenthaltskosten übernehmen meine Eltern“, antwortete er und schob ungeduldig die Hand von seiner Schulter. „Nein, das ist es nicht. Es geht um Ihre Frau.“ Richard wendete sich nun ganz dem Arzt zu. Plötzlich stand wieder Besorgnis in seinen Augen geschrieben. „Was ist denn? Es geht ihr doch gut, oder?“
„Nun ja“, begann der Arzt. Dann nahm er Richard mit einer angedeuteten Umarmung beiseite
und flüsterte ihm die Diagnose ins rechte Ohr. Alexander versuchte die Worte des Arztes zu verstehen, doch dieser sprach so leise, dass Alexander nur Bruchstücke des Gespräches verstand, mit denen er nichts anzufangen vermochte. Sein Sohn jedoch starrte den Doktor plötzlich wutentbrannt an. Seine Stimme klang rau und seine Worte hatten einen drohenden Unterton. Er hob den rechten Zeigefinger und fixierte den Mediziner. „Ich schwöre ihnen, sie wird von anderen Ärzten untersucht und falls herauskommt, dass Sie gepfuscht haben, werde ich Sie dermaßen verklagen, dass Sie danach auf der Straße leben.“ Großen Schrittes verließ er den Raum und ließ seinen Vater mit dem verdutzten Arzt zurück. „Es tut mir leid, Herr Doktor, der Schock lässt uns Dinge sagen, die nicht so gemeint sind.“ Dieser nickte verständnisvoll und verließ den Raum.

Maria lag erschöpft in ihrem Krankenhausbett und blickte weg, während eine Krankenschwester ihr Blut entnahm. Sie konnte die rote Flüssigkeit einfach nicht sehen, ohne in Ohnmacht zu fallen. Richard stand am Fenster, die Hände in den Hosentaschen, und schaute in die Ferne, als Alexander das Zimmer betrat. Er lächelte seiner Schwiegertochter zu, die dies erwiderte, trat seinem Sohn entgegen und legte die Hand auf dessen Schulter. „Was sagte der Arzt?“ Maria zuckte erschrocken zusammen. „Stimmt etwas nicht?“ Richard schüttelte den Kopf und sah seinem Vater verbittert in die Augen. Er wusste nicht, wie er die Worte des Mediziners wiedergeben sollte. Die Verzweiflung schien ihm die Kehle abzuschnüren. Er schaute auf seine Frau, der die Strapazen der letzten Stunden deutlich anzusehen waren. Das sonst adrett frisierte Haar klebte schweißnass an ihrer Stirn. Die Augen waren glasig und ihr Teint glich der einer Leiche. Richard konnte ihren Anblick nicht ertragen. Er musste den Raum verlassen. „Ich muss gehen“, sagte er hastig. Maria riss schockiert die Augen auf. „Was heißt, du musst gehen? Was hat der Arzt gesagt? Du kannst mich doch jetzt nicht alleine lassen.“ Mit einem „Es tut mir leid“ flüchtete er aus dem Zimmer. In der Türschwelle traf er auf den eintreffenden Arzt.
„Sie müssen es ihr sagen. Ich kann es nicht“, erklärte Richard mit gepresster Stimme.
Die Tür flog zu und Alexander und der Arzt blickten in Marias fragende Augen.
„Was sollen Sie mir sagen?“ Panik spiegelte sich in ihren Worten wider.
Langsam trat der Arzt auf Maria zu, setzte sich an den Rand des Bettes und nahm ihre Hand. „Frau Monrac, Sie müssen jetzt besonders stark sein ...“
Richard stand noch einen Moment vor der Tür und lehnte den Kopf gegen die Wand. Sein Traum von einer großen Familie war gerade gestorben. Der Schock saß tief. Plötzlich ertönten entsetzte Schreie aus dem Zimmer seiner Frau. Sie versetzten ihm einen tiefen Stich. Es schien ihm, als würde jemand seine Brust abschnüren und so seinen Atem nehmen. Großen Schrittes flüchtete er aus dem sterilen Krankenhaus, begleitet von Marias verzweifelten Schreien.

Bekanntschaft



Ob ich Angst habe, fragst du mich?
Nein, ich habe keine Angst. Ich hatte noch nie Angst. Mein ganzes Leben lang war ich erfüllt von dem Gefühl, das mich in diesem Moment beherrscht, da ich hier liege und mein Leben vor meinem geistigen Auge an mir vorbeiziehen lasse. Ich denke, man kann es mit Neugierde beschreiben. Ich bin neugierig, auf die Dinge, die da noch kommen. Auf die Augenblicke, die Gefühle, die Ereignisse die mich noch erwarten, denn ich bin mir sicher, dass ich noch einiges erleben werde, wenn auch nicht auf dieser Welt. Natürlich war neben der Neugierde auch ein mulmiges Gefühl bestimmend in meinem Leben. Ich machte mir Sorgen. Ich machte mir Sorgen um meine zierliche Mutter, die momentan mit einem Magazin neben meinem Bett sitzt und mit mir auf den Besuch meines Papas wartet. Ihre blondierten Haare legen sich mit äußerster Präzision um ihr puppenartig geschminktes Gesicht und heben so ihre grasgrünen Augen hervor. Oh ja, meine Mutter. Ihr Ehrgeiz hat mich erst so
weit gebracht. Sie ließ nie etwas unversucht, um meine Situation zu verbessern, zu beheben, erträglich zu machen.
Es passiert schon wieder! Ich fühle, wie leise, sanft und schleichend Wärme von meinem Mund-
winkel das Kinn hinunterläuft. Die kalte Luft, die an mir vorbeizieht, weist mich darauf hin, dass es eine nasse Wärme ist, die ein unangenehmes Gefühl hervorbringt. Die Scham treibt mir Röte ins Gesicht. Ich sehe es nicht, aber fühlen kann ich die Wärme meiner Wangen, welche die peinliche Situation noch unerträglicher zu machen scheint. Die nun folgenden Reaktionen sind mir bestens bekannt und ich weiß, dass mein Wunsch, es möge nicht passieren, wieder nicht in Erfüllung gehen wird. Verzweifelt drehe ich mein Gesicht zu meiner Mutter, dann wieder zur Tür und schon kann ich die Bewegung nicht mehr abstellen. Links – rechts – links. Oh Gott, bitte mach, dass es aufhört.
Die Panik steigt in mir hoch, die Art von Panik, die meine Beine und Arme zur Eigeninitiative anregt. Hoch – runter – hoch. Alles – nur nicht abstellbar. Meine Mutter schaut kurz von ihrem Magazin hoch, dann steht sie auf, geht zum Fenster und lässt den Blick in die Ferne schweifen, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen. Sie wartet auf meinen Vater. Nach einigen Minuten lassen mich meine Gliedmaßen wieder in Ruhe, mein Kinn ist wieder trocken und ich kann mich wieder auf den Fernseher konzentrieren, der meinem Bett gegenübersteht. Ich bin neugierig, das sagte ich bereits. Ich warte auch heute wieder auf eine sensationelle Sache. Ich warte auf einen Bericht im Fernseher. Warum ein zwölfjähriger Junge sich für einen Bericht im Fernsehen anstatt für Autos, Weltraum und Heldengeschichten interessiert, fragst du mich? Ich denke, das kannst du erst verstehen und nachvollziehen, wenn du meine Geschichte, mein Leben kennenlernst.
Mein Name ist Michael, Michael Monrac. Vielleicht kommt dir dieser Name bekannt vor, denn es rankt sich eine uralte Legende um unseren Familiennamen. Es heißt, im alten Rom seien wir mit dem Fluch belegt worden, jeder männliche Nachfahre solle solange im Unglück stehen, bis es keine Nachfahren mehr gäbe. Nun bin ich also ein männlicher Nachfahre und mein Vater auch. Das Unglück meines Vater bin wohl ich. Und mein Unglück? Mein Unglück ist wahrscheinlich meine Gesellschaftsunfähigkeit. Seit meiner Geburt im Jahre 1956 versuchte meine Mutter, dieser Tatsache immer wieder entgegenzuwirken. Sie benutzte unsere hohe gesellschaftliche Stellung und unser Vermögen, um neuartige Therapien und Behandlungen bei mir einsetzen zu lassen. Seit der ersten Diagnose hatte sie eine nicht enden wollende Motivation gezeigt. Anfangs legte sie das Augenmerk auf meine motorischen Fähigkeiten. Täglich ging sie mit mir zu Dr. Brunner, der die Gehübungen und Tastübungen mit mir
durchführte. Nach einiger Zeit kamen Sprach- und Hörübungen hinzu. Fest davon überzeugt, dass ich alles eines Tages beherrschen würde, nahm ich alle Übungen sehr ernst und strengte mich bis an meine Grenzen an. Leider war selbst nach Jahren keine Veränderung für meine Mutter sichtbar. Sie war resigniert und einsam, denn in all der Zeit, die sie mit mir verbrachte, waren Freunde, gesellschaftliche Treffen, Friseur und Kosmetik vernachlässigt worden und Papa war häufiger auf Geschäftsreise als zu Hause. Dazu kam, dass sie von keiner Seite Rückendeckung für ihre Versuche hatte. Ihre Eltern hatten von Anfang an betont, dass ich in ein Sanatorium gehöre und dies jedes Mal erneut angesprochen, wenn sie auf Besuch waren. Papas Eltern habe ich noch nie gesehen. Sie verweigerten jeden Besuch in unserem Haus, und wenn meine Eltern zu ihnen fuhren, durfte ich sie nicht begleiten. Mutter sagte, sie hätten Angst davor, dass die Nachbarn etwas von ihrem Enkel erführen. Auch sonst war nie jemand in unserem Haus. Alle Freunde und Verwandten hatten sich von Mutter abgewandt, als sie entschied, mich bei sich zu behalten. Sie war einsam und diese Einsamkeit konnte die schwindende Motivation schon lange nicht mehr verdrängen, doch die Hoffnung ganz aufgeben wollte sie damals auch nicht.
„Wer weiß, ob er nicht in einigen Jahren vollkommen geheilt werden kann?“ sagte sie immer
wieder, wenn Vater sie wegen ihres Starrsinns kritisierte.
Also begann sie ihr Augenmerk auf meine Bildung zu legen, damit ich auf dem gleichen Ent-
wicklungsstand wie Gleichaltrige wäre, wenn meine Heilung eintreten würde. Ich denke allerdings, dass sie tief in ihrem Inneren wie alle anderen annahm, dass ich davon nichts mitbekam. Doch da irrten sich alle!
In Wahrheit merkte ich mir jede Einzelheit. Meine Mutter setzte mich tagtäglich vor unseren
kleinen, modernen Fernseher und schaltete den Nachrichtensender ein.
„Nun wirst du wissen, was in deiner Welt passiert“, sagte sie am ersten Tag dieses Unternehmens und lächelte mich an.
Ich versuchte mich ihr mitzuteilen, sie zu trösten und zu zeigen, dass die Mühe mit mir nicht vergeblich war, denn schließlich konnte ich bereits mit sechs Jahren perfekt lesen. Ich konnte das Gelesene nur nicht über die Lippen bringen. Jeder Versuch scheiterte und nur ein Glucksen war verbales Ergebnis meiner Gedankengänge. Auch in dieser Situation grinste ich sie nur liebevoll an, wobei meine Zähne nach vorne zeigten und ich die Mundwinkel bis zu den Ohren zog. Mit entmutigtem Blick verließ sie mich und mein Krankenzimmer, in welchem ich wie immer frontal zum Fernseher saß.
Doch begonnen hat alles mit einem anderen Fernseher. Es war der kleine Fernseher in meinem
Zimmer in unserer großen Villa am Stadtrand. Täglich saß ich mehrere Stunden in einem rosa geblümten Sessel vor ihm und lernte.

Valentina spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Sie strich sich durch die kurzen, dunklen Haare. Die Aufregung der letzten Tage schien sich nun in einem Knoten ihres Halses festzusetzen und dennoch überwog nicht die Angst, sondern Stolz und Vorfreude.
Endlich hatte sie das erreicht, wofür sie lange Zeit mit größtmöglichem Ehrgeiz gekämpft hatte. Viele Jahre verbrachte sie mit harter Arbeit in unterschiedlichen Fabriken und besuchte jeden Abend die Schule, um eine Ausbildung zur Technikerin zu machen.
Diese schwere Zeit sollte sich für Valentina lohnen, doch anfangs sah es noch nicht so aus, als würde sich die Arbeit auszahlen. Die Bewerbungen für die Kosmonautenschule konnte sie kaum noch zählen, ebenso wie die ständigen Ablehnungen.
Sie war sich bewusst darüber, dass es für Frauen nicht einfach sein würde, aber in der UdSSR
sollte es ihrer Meinung nach keine Geschlechterunterschiede geben. Als sie endlich die Zusage erreichte, konnte sie es kaum noch fassen. Und nun sah sie auf das Ziel ihrer Träume. Wunderschön und gigantisch erhob sich vor ihren Augen die Wostock 6.

Bernhard trat aus der Tür seiner Garderobe und sah sich um. Alles um ihn regte sich in hektischem Treiben und man erkannte schnell, dass es nur noch wenige Minuten dauern würde, bis die Sendung begann. Peter kam ebenfalls aus seiner Garderobe, die direkt nebenan lag, und klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter. „Komm lass uns beginnen“, sagte er aufmunternd. Das Strahlen seiner hellblauen Augen zeigte, dass er sich auf diese Sendung besonders freute und Bernhard wusste genau warum. Seit er Peter kannte, war dieser immer ein Gegner der Frauenbewegung und ein vehementer Verfechter konservativer Gesellschaftsstrukturen gewesen. Heute waren Gäste eingeladen worden, die ihm genau dies bestätigen sollten. Die neuesten Ereignisse aus dem, wie Peter es nannte, „Kommunistenlager“ brachten sie dazu, die heutige Diskussion mit dem renommierten Mediziner Jakobs zu führen. Nach den letzten Meldungen hatte die Sowjetunion nämlich vor, als erste Nation eine Frau in den Weltraum zu schicken, nachdem die Amerikaner den ersten Schritt auf dem Mond gemacht hatten. Dieser Wettlauf der Nationen war nun Mittelpunkt jeder Diskussion geworden. Bernhard strich sich eine blonde Locke aus der Stirn und fixierte mit seinen
grünen Augen die Gäste der Diskussionsrunde. An ihm vorbei tippelte der Doktor, der einen ganzen Kopf kleiner war und seinen Bauch vor sich her trug, wie eine schwangere Frau. Bernhard konnte genau auf dessen kahlen Kopf schauen und beobachtete den Mann. Er setzte sich in einen grasgrünen Sessel neben den Politiker Blas und zog nervös an seiner Krawatte. Peter saß bereits rechts neben beiden. Vor ihnen stand ein, mit vollen Gläsern bedeckter, runder Glastisch. Bernhard platzierte sich nun in dem linken Sessel und die Maskenbildnerin legte ihm ein letztes Mal Puder auf.
„O.K. Peter, Bernhard, ihr kennt eure Einsätze, wir beginnen in zehn Sekunden.“
Der Regisseur räumte die Plattform und stellte sich neben den Kameramann.
„Kamera eins, Jungs. Noch fünf, vier, drei, zwei, eins und los.“
Peter lächelte in die Kamera.
„Guten Tag und herzlich willkommen bei "Was Sie interessiert". Vielen Dank, dass Sie wieder
eingeschaltet haben.“
Die Kamera schwenkte um auf Bernhard, der als Erstes ruhig die Gäste begrüßte: „Heute begrü-
ßen wir Herrn Doktor Jakobs, Spezialist für Frauenheilkunde“, freundlich nickte er dem rundlichen Mann neben Peter zu, „und den Innenpolitiker Blas, Spezialist für die momentane politische Lage.“
Auch ihm nickte Bernhard zu. Peter legte das rechte Bein über das Linke.
„Dr. Jakobs. Nach unbestätigten Informationen wollen die Kommunisten eine Kosmonautin na-
mens Valentina Tereschkowa in den Weltraum senden. Ist es Ihrer Meinung nach für eine Frau überhaupt möglich im Weltraum zu überleben?“
„Nun, Peter, leider muss ich dazu sagen, dass die Russen hier einen großen Fehler begehen. Nach unseren Forschungen schicken sie diese junge Frau geradewegs in den Tod.“
Bernhard schaute etwas verwundert.
„Aha, Doktor, Sie sind also der Meinung, sie überlebe diese Reise keinesfalls.“
„Nein, Bernhard“, antwortete er. „Auf gar keinen Fall.“
Der kleine, dicke Mann lächelte selbstgefällig in die Runde.
„Welche Forschungen sind denn bisher von Ihrer Seite aus unternommen worden und welche Er-
gebnisse wurden erzielt?“, fragte Peter ernst, wobei er sich mit der Hand durch sein schwarzes Haar strich.
Seine Augen blickten interessiert und herausfordernd zugleich. Der Doktor räusperte sich und die Anspannung stieg. Bernhard musste seinen aufsteigenden Ärger unterdrücken, denn ein Befürworter der Frauenbewegung war im Fernsehen nicht gerne gesehen. Für ihn würde es keine stichhaltigen Beweise geben, die belegen könnten, dass eine Frau etwas nicht tun könnte, wozu ein Mann fähig ist, ausgenommen natürlich von Arbeiten, bei denen viel Kraft benötigt wurde. Dies war nicht die vorherrschende Meinung und aus Bernhards Familiengeschichte war sicherlich nicht erklärbar, wie er zu einer solchen Haltung gelangt war.
Bernhards Eltern entstammten aus einer alten, englischen Adelsfamilie, die vor vielen Jahren nach Amerika umgesiedelt war und eine große Bekleidungsfabrik gegründet hatte. Die konservative Weltanschauung hatte die Familie aus England mitgenommen und so war die Rollenverteilung in Bernhards Elternhaus deutlich festgelegt. Doch Bernhard hatte diese Einstellung nicht übernommen. Dies war wahrscheinlich seinem Kindermädchen zu verdanken, die stetig gegen solche konservativen Strukturen gewettert hatte.
„Also Peter, packen wir das Problem an der Wurzel“, antwortete nun der Arzt. „Wir machten Forschungen unter dem Druck der Schwerelosigkeit mit reellen Weltraumbedingungen und auch psychologische Tests unter Simulation einiger Situationen, die in einem Raumschiff passieren könnten. Daraus resultierend müssen wir leider sagen, dass Frauen definitiv nicht für solch enorme Anforderungen geschaffen sind. Hier denke ich, kommt das "Jäger – Sammler – Prinzip" zum Tragen.“

„Sie meinen das Prinzip der spezifischen Geschlechtsverteilung?“, fragte Peter. Eine rhetorische Frage, das konnte Bernhard an dessen Unterton feststellen und Peter lächelte selbstbestätigend, als der Arzt antwortete.
„Genau. Frauen wurden nicht für Anforderungen wie die Jagd oder schwere körperliche Arbeit
geschaffen. Sie sind für den Haushalt und die Kindererziehung bestimmt. Leichte Tätigkeiten also, die dem schwachen Organismus der Frau entsprechen. Ihre Aufgabe ist klar als die ergänzende zum Mann definiert.“
„Ja Herr Doktor“, meinte Peter mit einem verkniffenen Lächeln in die Kamera, „das ist uns
durchaus klar, doch welche Probleme genau ergeben sich bei einem Flug ins All?“
„Natürlich ist dies jedem klar, doch ich wollte dennoch die Ausgangssituation noch einmal klarstellen. Also, unsere Tests ergaben, dass Frauen dem Druck der physischen Belastung der veränderten atmosphärischen Situation nicht gewachsen sind.“
„Und wie äußerte sich dieses Ergebnis?“
Bernhard rutschte unruhig im Sessel hin und her. Der Doktor redete so selbstgefällig, dass er nur auf die nächste Werbepause hoffte, um sich abzureagieren. Diese angeblichen Tatsachen waren doch nichts mehr als Unfug, entsprungen aus einem alten, langweiligen Arzt, der sich im Fernsehen profilieren wollte. Bernhard verstand nicht, weshalb ein solcher Trottel von seinem Vorgesetzten ausgesucht wurde. Diese angebliche Berichterstattung war zu einseitig. Das war Bernhard schon vor einiger Zeit bewusst geworden. Es war eine Manipulation der Massen, ihnen stetig nur die allgemeine Meinung vorzusetzen und nicht zwei Seiten dazu zu hören. „Bei den meisten war Unfruchtbarkeit die Folge der Belastungen“, antwortete der kleine Mann nun mit warnendem Unterton. Peter machte einen gespielt erschrockenen Gesichtsausdruck und Herr Blas nickte bestätigend, während Bernhard ungläubig die rechte Augenbraue hob. „Zudem klagten einige über enormen Haarausfall und motorische Störungen. Vier von dreißig Frauen mussten wir leider nach den Tests in eine psychiatrische Klinik einweisen, da sie dem psychischen Druck nicht standhielten. Sie schafften es nur eine Viertelstunde. Die Restlichen brachen nach einer Dreiviertelstunde weinend ab.“ Er sah wissend lächelnd zu Peter rüber, der ebenso reagierte.
„Männer dagegen, halten den Druck immer bis zum Ende des Experiments durch, das circa drei
bis fünf Stunden dauert.“ „Sie sagen also damit, dass Frauen vor allem psychisch nicht in der Lage sind, den Weltraum zu erobern. Aber wie sieht es mit der physischen Belastung aus?“ Bernhard versuchte krampfhaft die Objektivität der Sendung zu wahren, doch die schleimige Art des Gesprächspartners verärgerte ihn ebenso, wie die subjektive Haltung seines Kollegen. „Natürlich muss ich leider zugeben, dass wir es niemals schaffen können, die tatsächliche, die reale Situation im All nachzustellen. Der Druck müsste nach unseren Berechnungen deutlich höher liegen als in der künstlichen Kapsel, in welcher wir die Testperson prüften. Doch wir können mit Sicherheit sagen, dass die weiblichen Geschlechtsorgane der Anstrengung nicht gewachsen sind. Unser Experiment ergab bereits eine starke Schwellung des Uterus und des weiteren gehen wir nun davon aus, dass der jungen Astronautin dieser wohl noch stärker anschwellen wird, da der Druck schließlich viel höher ist.“ Bernhard sah den Doktor verwundert an.
„Sie denken tatsächlich, dass die Geschlechtsorgane platzen könnten?“
„Ja, davon gehen wir aus.“
Überzeugt lehnte er sich, mit vor der Brust verschränkten Armen, zurück, während Peter ernst in die Kamera blickte.
„Mit diesem erschreckenden Ergebnis, meine lieben Zuschauer, möchten wir sie nun in die Wer-
bung entlassen. Nach den daran anschließenden Nachrichten führen wir unsere Diskussion fort und lassen den Politiker Blas zu Wort kommen, der uns über die politischen Hintergründe dieser Wahnsinnstat aufklären wird.“
Mit breitem Grinsen zeigte er in die Kamera und Bernhard fiel in den Chor mit ein: „Also bleiben Sie dran und sehen Sie, was Sie interessiert.“

Eigentlich reichte dem jungen Moderator diese Diskussion schon vollkommen aus. Angewidert
eilte er in seine Garderobe, um sich auf den zweiten Teil der Sendung vorzubereiten. Sabrina, seine neue Assistentin, stolperte ihm hinterher. Angekommen sah sie ihn fragend durch ihre scharfen grünen Augen an. „Kann ich etwas für Sie tun? Wasser, Kaffee, Kekse?“
„Nein, Sabrina, danke.“ Sie wollte sich gerade zur Tür drehen, um ihrem Chef eine Ruhepause zu gönnen, als er sie stoppte.
„Sagen Sie, haben Sie sich das Gespräch angehört?“
„Natürlich“, verlegen fuhr sie sich durch das dichte, braune Haar und blickte auf den Boden. „Ich sehe mir immer alles an.“
„Gut, dann sind Sie auch der Ansicht, dass der Doktor richtig liegt?!?“
Verwirrt sah sie ihn an. Was sollte sie nun antworten? Die Röte stieg in ihr Gesicht. Verkrampft überlegte sie, ob sie ihre wahren Gedanken offenbaren oder sich in die sicherere Ecke der Lüge begeben sollte. Er blickte sie so offen fragend an, dass sie nicht mehr anders konnte. Er hatte sie bisher kaum bemerkt, sie musste ihn nun von sich überraschen. Tief atmete sie ein und sprudelte dann die Worte hinaus:
„Nein, ich bin auf gar keinem Fall seiner Meinung. Eine Frau kann alles tun, was Männer auch können. Wir bringen Babys zur Welt, also können wir kaum so schwach sein, wie er behauptet.“ „Hhm.“ Nachdenklich musterte Bernhard seine Assistentin, indem er den Kopf leicht zur Seite neigte. Die Röte in Sabrinas Gesicht wurde immer intensiver und das Gefühl, einen großen Fehler begangen zu haben machte sich in ihr breit. Plötzlich lächelte er. „Sie sind eine kluge Frau. Sie hätten studieren sollen.“ Ungläubig wollte Sabrina antworten, doch Bernhard hatte sich bereits zu seinem Tisch umgedreht
und blätterte in Papieren. Sabrina konnte sich ihren Gefühlen nicht entziehen. Sie musste sich alles eingestehen und dies ließ nur einen Entschluss zu. Er war ungewöhnlich, doch er war unumgänglich.

An diesem Tag also sah ich Bernhard und Peter zum ersten Mal. In der weiterlaufenden Diskus-
sionsrunde erklärte der Politiker, dass die Sowjetunion nur versuchen würde, das Katz-und-
Mausspiel weiterzuführen, indem sie diese unmögliche Odyssee beging. Sozusagen eine Reaktion auf Amerikas Mondlandung 1962. Valentina Tereschkowa steuerte das Raumschiff Wostock 6 vom 16-19. Juni 1963 um die Erde und kam unbeschadet zurück.
Ich empfand es als faszinierend und beängstigend zugleich, dass es möglich war, eindeutig falsche Meinungen im Fernsehen zu vertreten und damit eine große Masse mit angeblichen Informationen zu versorgen, die nicht stimmten.
Nur wenige Tage, nachdem Valentina mit ihrem Raumschiff in Nowosibirsk gelandet war, be-
suchte John F. Kennedy Westberlin. Der Nachrichtensprecher berichtete von jedem Detail des Aufenthaltes. „John F. Kennedy, der sich auf einem Besuch in Westberlin befindet, stach heute der Sowjetunion mitten ins Herz, als er in einer Rede an das deutsche Volk mit den Worten „Ich bin ein Berliner“ betonte, dass es eine unbedingte Hilfe der Amerikaner gegen den Kommunismus erwarten kann. Daraufhin besichtigte er den Checkpoint Charlie und betonte abermals seinen Glauben an die Wiedervereinigung Deutschlands.“
Mir machte diese Nachricht Sorgen, denn ich war mir nicht sicher, ob es jedem gefallen würde, dass ein solch junger amerikanischer Mann der Sowjetunion derart die Stirn bot. Er spannte damit die Lage noch mehr an. Doch leider konnte ich niemandem meine Gedanken anvertrauen. Ich behielt sie also für mich. Meine Befürchtungen aber wurden am 22.November bestätigt. Die Welt war schockiert, doch ich saß in meinem Sessel und zeigte keine Regung.
Eine enorme Menschenmenge säumte sich entlang der Straße, die von Sicherheitsmännern be-
wacht wurde. Der Moderator sprach von einer der größten Jubelparaden, die jemals in Memphis abgehalten wurde. Die Kamera hielt auf ein kleines Mädchen, welches mit schwarzen Locken und rosa Kleid auf den Schultern ihres Vaters saß und die amerikanische Fahne schwang. Die Begeisterung in ihren Augen spiegelte die ganze Atmosphäre innerhalb der Menge wieder. Jubelschreie und lächelnde Gesichter waren überall zu sehen. Die Kamera hielt auf die Straße. Auch hier waren Sicherheitsbeamte, die vor einem schwarzen Cabriolet gingen. In diesem Wagen saß ein Paar. Ein gutaussehender junger, blonder Mann sowie eine wunderschöne, schwarzhaarige Frau. Sie winkten der Masse freudig zu und die Begeisterung steigerte sich weiter. Es war ein Bild wie im Märchen.
Das Traumpaar umjubelt vom Volk. Amerikas Lieblinge. Die schönste Frau an der Seite des Man-
nes, auf den Amerikas Hoffnungen bauten. Es machte den Eindruck, als wäre König Arthur in die Neuzeit zurückgekehrt. Ich ließ mich mitreißen. Ein warmes, glückliches Gefühl umgab mich. Plötzlich ertönte ein Knall. Geschirr klirrte und ich wusste, dass im Erdgeschoss das Hausmädchen das Kaffeegedeck hatte fallen lassen. Meine Mutter ließ einen schrillen Schrei aus dem Wohnzimmer ertönen und meine Pflegerin blickte schockiert und bleich auf den Bildschirm. Jackie Kennedy wurde schreiend und hysterisch von einem Beamten in das sichere Hinterteil des Cabriolets gezogen. Die Kamera schwenkte auf das Vorderteil und der Bildschirm präsentierte das Ende des Arthurtraums. John F. Kennedy lag in seinem Blut. Erschossen von einem Gegner seiner Politik.
Meine Mutter begann zu weinen und meine Pflegerin ging nach unten, um sie zu trösten und auch ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Ich wurde alleine zurückgelassen. Ich fragte mich, weshalb Menschen andere Menschen töten. Keiner konnte mir diese Frage beantworten. Aber gibt es überhaupt eine Antwort? Die Sendungen waren sofort nach diesen letzen Bildern ausgefallen. Am Bildschirm erschien der Text: „Wegen der momentanen Lage fallen alle weiteren Sendungen aus.“

Am nächsten Tag kam mein Vater vorzeitig von einer Geschäftsreise zurück und ich hörte ihn die Haustür öffnen. Meine Mutter ließ einen piepsenden Schrei los und ich lauschte, wie er sie unbeholfen zu trösten versuchte.
„Komm mein Schatz, es wird alles wieder gut. Jessica, komm bitte mein Gepäck holen und mach
mir etwas zum Trinken.“
Die tapsenden Schritte des Hausmädchens hallten durch das marmorierte Foyer.
„Natürlich mein Herr, willkommen zu Hause.“
In den darauffolgenden Tagen wurde kaum gesprochen. Das Haus war still, fast wie ein Geisterhaus. Auch der Fernseher blieb ausgeschaltet und somit saß ich unbeholfen in dem flauschigen Sessel, ohne irgendeine Information, welche die Langeweile hätte durchbrechen können. Ich denke, dass die Weltsituation sich so stark verändert hatte, dass sie in diesem Moment selbst mein kleines Leben in Besitz nahm. Ich stellte mir also die große Frage, warum das Leben eines einzigen Menschen unter vielen Millionen einen solchen Einfluss auf die vielen Millionen anderen haben konnte.
Wie kann ein Mensch einen solchen Wert erlangen?
Meine Tage waren nun für eine Woche unerträglich langweilig und ich konnte von Glück spre-
chen, dass die Wintertage kürzer waren als die Sommertage. Durchbrochen wurde diese Langeweile nur durch die kurzen Besuche eines neuen Freundes, der immer zur Mittagszeit an mein Schlafzimmerfenster klopfte. Eine wunderschöne weiße Taube war das erste Tier, das ich jemals real erblickte. Sie setzte sich auf die Fensterbank und gurrte etwa eine Stunde, bis sie mich wieder verließ, um am nächsten Tag wieder zu erscheinen. Der größte Teil der Dinge, die ich von der Welt kannte, waren aus Zweite-Handerlebnissen durch den Fernseher bekannt: Ich konnte mir nicht aussuchen, was ich kennenlernte und schon gar nicht wie. Die Taube aber interessierte mich tatsächlich, und wenn ich sie nicht sehen wollte, drehte ich einfach den Kopf und sah nicht hin. Doch das tat ich eigentlich nie. Sie kam seit diesem Tag jedes Mal um die gleiche Uhrzeit, immer nachmittags zu mir und blieb einige Zeit. Ich beobachtete ihre Anmut, wenn sie die Flügel hob, ihre Wärme in den sanften Blicken, wenn sie gurrte und mich beobachtete und es schien, als wenn sie mir Geschichten erzählte, die nur für mich alleine bestimmt waren.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 01.07.2012

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