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Nueris

„Mama, Mamaaaaa!“ Das Geschrei des kleinen Jungen durchdringt jede Pore meines Körpers und macht mir Angst. „Kleiner, sei doch still. Du erschrickst mich noch zu Tode“, versuche ich ihm genauso laut entgegen zu brüllen. Er berührt mit seinen kleinen Fingern die Spürfasern, die sich um meinen ganzen Körper schlingen und durch den Sturz ins kalte Wasser des Swimmingpools verdickt haben. Sein Mund ist geöffnet und ich schmecke daraus den Menschen. „Was bist Du?“ Der Junge scheint sich etwas beruhigt zu haben und streichelt sanft meine Ceminos, die die Menschen Flügel nennen. „Ich bin ein Nueri. Eigentlich lebe ich auf Cumuluswolken, zusammen mit meinen Eltern. Durch ein starkes Gewitter muss ich durch die Troposphäre hindurch auf die Erde gefallen sein. Ich gehöre nicht hierher, bitte hilf mir, zurück in den Himmel zu kommen.“ „Ich bin Jonas,“ antwortet der Junge.

Jonas trocknet mit einem nach blütenriechendem Tuch meine Ceminos und tupft die Haarfasern vorsichtig ab. Zum ersten Mal spüre ich eine andere Wärme, als ich sie von unserer Sonne kenne. Mit der Kraft der Sonne tanken wir Nueris unsere Spürfasern auf, die wir für die Wetterfühligkeit brauchen. Wenn die Sonne ruht, beten wir zu den verschiedenen Wettergöttern, um sie zu unseren Gunsten zu beeinflussen. Der Bube hat kein zusätzliches Wort gesprochen. „Jonas, hilfst Du mir? Du bist ein Mensch, du kannst doch alles. Ihr könnt sogar stinkende Abfallluft in den Himmel pusten und mit fliegenden Ufos durch die Wolken fliegen.“ Jonas lacht. „Ich mag Dich, Nueri.“

Die Sonne hat sich auch hier unten zur Ruhe verabschiedet, doch es scheint so, als würden sich die Menschen nicht für ihr allnächtliches Gebet vorbereiten. Jonas hat nun andere Kleidung angezogen und sich in einen Holzkasten mit überzogenen Tüchern gelegt. Vorher hat er mir eine Decke mit vielen bunten Stickungen hingelegt, ich solle mich darauf ausruhe. Jetzt liegt er da, ganz stumm, regungslos und seine Augen sind zum ersten Mal geschlossen. Ist es das menschliche Gebet? Stunden verstreichen und Jonas gibt nur undefinierbare Geräusche vor sich, ohne dass er sich dabei bewegt. Als die Sonne bereits aus ihrem Ruhezustand erwacht ist, sind Jonas Augen plötzlich wieder geöffnet und aus seinem Mund kann ich Wörter erkennen und sogar verstehen. „Guten Morgen, Nueri. Hast Du gut geschlafen?“ Also hat er doch gebetet, das nennen die Menschen schlafen. „Ja, das habe ich.“

„Jonas, vergiss dein Pausenbrot nicht. Und denk daran, dass ich heute erst später von der Arbeit nach Hause kommen werde.“ Die grosse Frau gibt Jonas einen Kuss auf die Stirn und verschwindet aus der Türe, ohne mich dabei beachtet zu haben. „Hilft sie mir nicht zurück in den Himmel, Jonas?“ Er antwortet mir schnell: „Sie glaubt einfach nicht an Dich, Nueri. Aber ich habe eine Idee; warte hier bis am Nachmittag, dann helfe ich dir zurück in den Himmel.“ Ich lasse meine Flügel an meinen Körper hinunter hangen und lege mich auf dem Erdboden. „Nueri, wenn Du Sonne tanken willst, musst Du aus dem Haus raus gehen“. Jonas lacht vor sich hin als er die Terrassentüre öffnet. „Du kannst hier auf mich warten, Nueri. Aber mach keine Dummheiten!“ Sonderbar, diese Menschen: Bauen Gerüste, ohne dass die Sonne hinein darf.

Obwohl ich Stunden an der Sonne getankt habe, sind meine Spürfasern noch nicht voll einsatzbereit. Ob das an der weiten Distanz liegen mag? Ich fühle mich gelähmt und unnütze. Diese Menschenwelt ist zu gross und unlogisch aufgebaut. Meine Cumuluswolken sind viel zu weit weg, genauso wie meine Heimat.

„Nueri, bist Du hier?“ Schon wieder schreit der Junge so laut, dass sich die Nachklänge millionenfach übertönen. „Ja Mensch, ich bin hier. Ich glaube, ihr solltet höhere Gerüste bauen, dass ihr näher an der Sonne seid und besser tanken könnt.“ Jonas Stirn faltet sich und ich merke, wie er das Gesagte durchdenkt. „Ich bin erst dreizehn Jahre alt. Das Häuserbauen haben wir noch nicht in der Schule gehabt. Dafür haben wir gelernt, wie ein Drachen richtig gebaut wird. Und das mache ich jetzt für Dich.“ Flink bereitet Jonas diverse Materialien vor und baut diese zu einem Etwas zusammen, das zehnmal grösser als ich selbst ist. Mit Schrecken verfolge ich das Entstehen eines Monsters und frage mich, ob Jonas jetzt mein Freund oder Feind ist. Immer wieder klebt er einen Stoff an den nächsten und vergrössert das Bauwerk immer mehr. Auf vier Seiten des Monsters hat er starke Spitzen gebaut, und unten hängt ein langer, verzierter Faden. Mit einem Mensch oder einem Nueri scheint es wenige Gemeinsamkeiten zu geben. „So Nueri, jetzt lasse ich es noch ein wenig trocknen, und dann suchen wir einen geeigneten Startort.“ Auf seiner Stirn haben sich viele Wassertropfen gebildet und das Ungetüm, das er Drachen nennt, legt er in den Schatten. Also ist der Drachen noch keine Gefahr für mich, solange er keine Sonne tankt.

„Nueri, komm schnell, bevor meine Mutter nach Hause kommt!“ Jonas Beine bewegen sich schneller als ich es bis jetzt gesehen habe und den Drachen hält er fest in seiner rechten Hand. Mit Mühe kann ich ihm folgen und wir erreichen ein grosses, grünes Feld. „Du musst dich beeilen. Der Wind wird nicht allzulange anhalten. Halte dich in der Mitte des Drachen fest, und ich lasse dich dann mit ihm zusammen hochsteigen. So erreichst Du bis morgen deine Wolken. Vertraue mir.“ Ungläubig starre ich den Drachen an und frage mich, ob ich wirklich mein Leben von einem Monster abhängig machen soll. Dann schaue ich zu Jonas und denke daran, dass er mir helfen will und schon viel geholfen hat. Immer mehr spüre ich, dass meine Spürfasern lahmgelegt sind und entscheide mich, Jonas und somit dem Drachen zu vertrauen. „Also Mensch, ich höre auf dich. Bring mich nach Hause.“

Fest umklammere ich den Drachen und steige in die Höhe, die Wolken nicht aus den Augen lassend. „Tschüss Jonas, du bist ein guter Mensch. Ich werde auch für dein Wetter beten. Danke für Alles.“ Der kleine Mensch winkt mir zu und schreit in gewohnter Lautstärke: „tschüss Nueri, besuche mich bald wieder und grüsse deine Familie.“ Je weiter ich in den Himmel steige, desto undeutlicher werden die Umrisse der Menschenwelt. In meinen Gedanken bin ich bei der Sonne und meinen Cumuluswolken.

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Tag der Veröffentlichung: 26.09.2016

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