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Endlose Kinderliebe



Mein Bauchumfang nimmt stetig zu und es fühlt sich inzwischen im 5. Monat so an, als würden in meinem Innern Zwillinge heranwachsen. Tagsüber halte ich gespannt meine Handflächen auf den Bauch um eine Regung meines zukünftigen Kindes wahrzunehmen. Zwischendurch verspüre ich ein leichtes Treten, und lässt mich alles in meiner Umgebung vergessen: Meine vergänglichen Schwangerschaftsprobleme, die überanstrengenden Arbeitstage und komplizierten Beziehungsangelegenheiten. Finn hat sich seit unserem neuen Familienstand verändert; die nächtlichen Partys und Alkoholeskapaden sind für ihn in den Hintergrund gerückt. Er nimmt vermehrt an meinem Leben teil und unterstützt mich mit aller Kraft. Unser Kind ist kein Wunschkind, vielmehr ist es ein Zeichen unserer endlosen Liebe. Finn ist der Traummann, den man sich als Mitte 30-jährige Frau wünscht. Es gibt nichts auf der Welt, das unsere Liebe entzweien könnte; besonders jetzt nicht mehr, wo wir beide freudig unseren Zuwachs erwarten.
Voraussichtlich der 12. Juni wird ein elementarer Tag in unser beider Leben werden. Ein kleiner Mensch, unser Sprössling, wird das Licht der Welt erblicken. Die nötigen Vorbereitungen sind bereits getroffen: das Kinderzimmer ist mit rosaroten Möbeln versehen, die von diversen Plüschtieren und Kinderspielzeugen geschmückt sind. Das Bettchen ist bereit, von unserem Baby in Empfang genommen zu werden. Finn hat alle Vorbereitungen getroffen, wahrscheinlich, um dabei seine Nervosität vor mir zu verstecken. Ich bin voll und ganz auf die Geburt und das Muttersein eingestellt.
Stechende Schmerzen im Bauch rütteln mich drei Uhr nachts aus meinem Schlaf. Nach einer anfänglichen Unsicherheit besinne ich mich an einen Artikel in der Zeitschrift „Baby for you“, in der die Wehen einer werdenden Mutter detailliert beschrieben waren. Ich versuche mich an die genauen Worte zu erinnern, um mich auf das Kommende vorzubereiten. Die Schmerzen sind also kein Alarmzeichen, sondern lediglich die Vorwehen, und können zehn Wochen vor Geburt auch mal blutig ausfallen. Ich strecke meine Beine wieder und rücke vorsichtig unter die Bettdecke von Finn, ohne ihn dabei aufzuwecken. Langsam zwinge ich mich erneut in den tiefen Schlaf.
„Finn, oh mein Gott, meine Tage sind gekommen!“ Aus lauter Angst schreie ich sitzend von meinem Bett aus die Worte hinaus in die Küche. Schnell besinne ich mich an die Fachzeitschriften: Es kann trotz normal verlaufender Schwangerschaft zu Blutungsstörungen kommen, ohne dass eine Gefahr für den Fetus besteht. Mein Herzschlag verlangsamt sich allmählich wieder. „Anna, was ist los? Soll ich den Krankenwagen rufen?“ Seine Augen sind mit Angst gekennzeichnet und lassen mich wissen, dass er nicht allzu viel Zeit für Schwangerschaftsberichte verschwendet hatte. „Alles gut Schatz“, versichere ich Finn. Ich bin wieder beruhigt. Auf der Toilette reinige ich mich vom Blut und zieh mir meinen Lieblingsbadmantel über. Finn hat ein herrliches Frühstück vorbereitet: Rührei mit jeder Menge Auswahl an Früchten und einen warmen, schokoladenhaltigen Kakao. Etwas zaghaft kann ich auch ihm wieder ein Lächeln von seinen Lippen entlocken, während er mich sanft küsst und seine Liebe zu mir ausspricht. Den Tag haben wir an der Sonne geplant und machen uns für den Spaziergang bereit. Liebevoll zieht er mir meinen roten Mantel über und streichelt meinen Bauch: „Na Samy, bist du schon bereit, den Männern da draussen den Kopf zu verdrehen?“ Insgeheim weiss ich, dass sich Finn auch auf einen Jungen gefreut hätte. Die Hoffnung darauf muss er ja nicht aufgeben, Samy soll kein Einzelkind bleiben.

Zur selben Zeit in der darauffolgenden Nacht wache ich mit den gleichen Schmerzen aus meinem Schlaf auf. Nur diesmal sind sie verstärkt und beunruhigen mich erstmals, sodass ich Finn aus seinen Träumen rüttle. „Schatz, was los?“, gähnt er mir entgegen. „Nichts Finn, schon ok.“ Verschlafen blickt er auf meine Bettdecke und sein Mund bleibt dabei offen. „Schatz, du blutest wieder“, sagt er entsetzt und reisst meine Decke weg. Das Lacken ist blutüberströmt und mir wird allmählich unwohl. „Ok, Schluss jetzt! Wir gehen ins Krankenhaus!“ Wortlos nicke ich ihm zu und meine Selbstsicherheit verschwindet allmählich. Finn stützt mich unter den Armen und schnell gelangen wir in die Notaufnahme. „Muss das sein? Meine Frau braucht schnelle Hilfe, den Personalbogen können wir auch später ausfüllen? höre ich Finn der Empfangsdame entgegen brüllen. „Tut mir Leid, Herr Coster, das muss sein. Wir beeilen uns ja und dann wird Ihrer Frau schnell geholfen“. Die Dame blickt Finn fast nicht an und es scheint, als wolle sie diesen Moment schnell hinter sich bringen. Mein Bewusstsein vermindert sich langsam und zuletzt kann ich nur noch die tobenden Hände von Finn vor mir erkennen.
„Frau Coster, hören Sie mich? Keine Angst, sie ist noch etwas schwach und braucht Ruhe. Geben Sie ihr die Zeit.“ Etwas unsicher öffne ich meine Augen und kann mit Umrissen Finn erkennen. Alles wird gut, alles ist gut. Finn ist da, und wahrscheinlich ist das Baby bereits per Kaiserschnitt zur Welt gekommen. Ganz sicher sogar.
Ich spüre Finns nasse Hand auf meiner und nehme dumpfe Stimmen im Hintergrund wahr. Es tut so gut, Finn in meiner Nähe zu wissen, obwohl mich sein besorgter Blick etwas verunsichert. „Finn, du bist da. Wir sind endlich eine Familie. Du, ich und Samy.“ Mir entweicht ein Lächeln und Finn rückt näher an mich heran. „Schatz, du musst dich ausruhen. Ich bin da und werde immer da sein, egal was kommt.“ In seinen Augen kann ich Tränen erkennen und seine Mundwinkel sind nach unten gewölbt. „Finn, hör auf. Ich brauche keine Zeit dafür. Wir konnten uns wochenlang auf Samy vorbereiten, jetzt haben wir unseren Traum verwirklicht. Ich bin ja so glücklich!“ Finn dreht sich von mir weg und flüstert dem in der Türe stehenden Arzt etwas zu. Beide kommen zu mir ans Krankenbett und Dr. Mire spricht mit den Worten „Frau Coster, wir haben alles versucht, glauben Sie uns. Aber wir konnten nichts mehr ausrichten. Sie haben leider ihr Kind verloren“ zu mir und nickt bejahend zu Finn. Dann verlässt er das Zimmer. Ich schaue Finn an und lächle ihm zu. „Schatz, hast du Dr. Mire zugehört? Hast du ihn verstanden?“ fragt er mich beängstigend. „Natürlich Schatz, alles ist gut. Wir sind endlich zu dritt!“ Finn entreissen sich wieder Tränen und er hält fest meine Hand. „Nein Schatz, das sind wir nicht. Nicht wirklich. Samy ist leider gestorben, sie ist nicht da. Verstehst Du?“ Was ist bloss mit Finn los? Wieso freut er sich nicht, dass Samy zu uns gestossen ist? „Du irrst dich, Finn“, versuche ich ihn zu überzeugen. Aus seinem Gesicht kann ich immer noch keine Freude erkennen. Enttäuscht schliesse ich meine Augen und sinke in den erholsamen Schlaf.
Nach 6 Tagen Krankenhausaufenthalt bin ich wieder zu Hause. Finn ist sehr besorgt und liest mir jeden Wunsch von meinen Lippen ab. „Wir schaffen das Schatz, wir haben bereits so viele Sachen geschafft. Warum also nicht auch diese Situation? Die Hauptsache ist, dass wir uns lieben. Und das tun wir doch, oder?“ Ich sehe ihm seine Traurigkeit an. Klar, dass wir alles zusammen schaffen und wir uns lieben. Das will ich ihm auch nicht abstreiten. Aber uns geht es doch gut? Wir sind eine glückliche, kleine Familie geworden, obwohl ich Finns momentane Gefühlslage nicht verstehen kann. Ich bin jetzt für ihn da, so wie er es während meiner Schwangerschaft mit Samy war. Die Zeit wird zeigen, was Finn so bedrückt. Ich ziehe meinen Badmantel eng um mich und gehe in Samys Zimmer. Dort öffne ich die Jalousien und stelle Samys Kleider für den Tag bereit. Ich bin einfach nur glücklich. Und das wird Finn bald auch wieder sein.

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Tag der Veröffentlichung: 06.03.2011

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