Irgendwo im Nirgendwo
Die mächtigen Mauern und Wehrtürme waren von weither sichtbar und trotzten, gemessen nach irdischen Maßstäben, seit hunderten von Jahren der unwirtlichen und lebensfeindlichen Umgebung. Am Tage stiegen die Temperaturen dermaßen an, dass man sich nur in hoch entwickelten Schutzanzügen hinaus wagen konnte, während nachts klirrende Kälte herrschte. Eine Kälte, die mit den niedrigsten Temperaturen der Antarktis nicht vergleichbar waren. Die Sonne versank hinter den riesigen Dünen und tauchte die Wüstenlandschaft des Planeten Epsilon Eridiani in ein mystisches Flammenmeer, während die Staubschwaden, aufgepeitscht durch den ständigen Wüstensturm, an den bizarren Sandformationen entlangschlichen, wie Diebe in der Nacht.
„So mein Junge, mach heute Nacht zur Abwechslung mal keinen Unsinn“, hatte der bullige kahlköpfige Kerl, dessen Körperlänge mindestens 1,90 m maß, zu ihm mit tiefer Stimme gesagt. „Du willst doch eines Tages hier wieder raus kommen, oder?“ Die Augen in seinem feisten Gesicht blickten den am Boden sitzenden Mann mit einer Mischung aus Fürsorge und Konsequenz an, dann zog er die Tür aus berylliumge-härtetem Stahl hinter sich zu.
Stets saß Jonas auf der Matratze seiner Zelle und zeichnete mit seinen Buntstiften ständig dieselben Bilder. Eine Kreatur, kräftig und überirdisch, gewandet in einen purpurnen Umhang. Ihr Gesicht, formlos und unmenschlich, verbarg sich im schwarzen Inneren der Kapuze. Nur zwei grelle Lichtpunkte fixierten den Betrachter bedrohlich. In der rechten Hand hielt das Wesen ein riesiges Schwert aus purem Gold, durch-sichtig wie Glas und seine Finger waren lang und knorrig. Unzählige Zeichnungen hingen bereits an der einen Wand seiner Zelle. An der Wand gegenüber hingen andere, fröhlichere, unbeschwertere Malereien. Ein kleiner Junge, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, lief über eine Rasenfläche, die vor einem Farmhaus irgendwo im amerikanischen Sektor auf der Erde stand. Hoch über seinem Kopf hielt er ein Spielzeug-flugzeug, einen roten Doppeldecker mit schnee-weißem Propeller. Der Junge lachte und seine strahlenden wasserblauen Augen zogen den Betrachter in eine andere Welt - glücklicher und heiler. All die Zeichnungen waren die einzigen Farbkleckse in der Zelle. Die Wände und der Boden waren weiß gekachelt das Fenster mit mondernster Panzerver-glasung maß gerade mal einen Quadratmeter.
Jonas war einst Captain der Erdstreitkräfte gewesen. Einer Armee, die nach Beendigung des Dritten Weltkrieges und des ersten intergalagtischen Krieges, den die Erde gegen das Volk der Kappiri geführt hatte, gegründet worden war, und Jonas hatte sich voller Stolz zum planetarischen Militärdienst gemeldet, um seinen Beitrag zu Frieden und Stabilität im Universum zu leisten.
In allen Prophezeiungen der außerirdischen Völker, mit denen die Erde seit Anfang des 22. Jahrhunderts wirtschaftliche und diplomatische Beziehungen unterhielt, war die gleiche Vorhersehung zu lesen, wie in den heiligen Schriften der Menschheit.
„Der Abgrund tat sich auf und Drachen stiegen empor. Mächtige Wesen, gehüllt in den Gewändern aus Krankheit, Hunger, Krieg und Tod und ein jedes trug ein goldenes Gefäß, bis zum Rand gefüllt mit Unheil und Verderbnis.“ Weiter stand geschrieben. „Es wird aber eine Zeit kommen, da wird eine Kraft aus derer Mitte hervortreten, die diese Drachen fesseln und für tausend Jahre verbannen wird. Dann wird ein neues Zeitalter anbrechen und allen, die dem ersten Tod entgangen sind, können gewiss sein, dass dem zweiten Tod kein Reich mehr bleiben wird.“
Dann eines Tages, im Erdenjahr 2261 begann ein unvorstellbar mächtiges und grausames Volk, Krieg gegen die Erde und ihre Verbündeten zu führen. Die Wesen besaßen Raumschiffe so groß, dass sie die hinter sich liegenden Sterne verdunkelten. Die totale Vernichtung aller Völker stand bevor und nur die Wenigen, die an die Prophezeihungen glaubten, schlossen sich zu einer, noch nie zuvor da gewesenen Allianz zusammen. Mit dem Mut der Verzweiflung traten die Erde und ihre Verbündenten dem über-mächtigen Feind entgegen. Gelang es der Allianz, ein Schiff des Gegners zu zerstörren, vernichtete er im Gegenzug zwei von ihnen. Die Schlacht wogte über Monate unentschieden hin und her. Dann eines Tages, alle Völker hatten bereits verheerende Verluste erlitten, kam es im Corianasystem zur alles entscheidenden Schlacht. Mit allerletzter Kraft gelang es der Allianz, das Böse für immer aus dem Universum zu verbannen. Jonas, der unzählige Freunde und Kameraden sterben sah, kehrte aus diesem Krieg nicht als der Mann zu Frau und Kind heim, als der er einst aufgebrochen war. Die schrecklichen Bilder von Tod und Vernichtung ließen ihn nicht mehr los und grausame Chimären jagten ihn gnadenlos Nacht für Nacht.
Jonas erinnerte sich kaum noch daran, wie er in diese karge und lebensfremde Zelle, auf dem unwirtlichen Planeten Epsilon Eridiani, geraten war. Seine Erinnerungen waren nur bruchstückhaft, wie Schein-werfer, die zufällig Licht ins Dunkel brachten, immer auf nur einen Ausschnitt beschränkt.
Es hatte an jenem Tag im März geregnet. Bereits bei Tagesanbruch schüttete es aus solchen Kübeln, dass von den Tulpen nur die nackten Stängel übrig blieben. Sturzbäche flossen über die Straßen und auf Rasenf-lächen bildeten sich kleine Teiche. Das Geräusch von Regentropfen, die auf das Schieferdach klopften, begleiteten ihn in den Schlaf. Während sich die Nacht allmählich im Dunst des beginnenden Tages auflöste, hatte Jonas wieder diesen Traum.
Er sah eine Gestalt hinter der regennassen Glasscheibe. Ein Wesen gehüllt in ein weites purpurnes Gewand und dessen knorrige lange Finger ein riesiges goldenes Schwert umfassten. Sein Gesicht wirkte formlos und unmenschlich unter der großen Kapuze und zwei Augen durchbohrten Jonas wie zwei Laserstrahlen. Die Kreatur, die nicht von dieser Welt schien, trat auf Jonas zu und kämpfte mit ihm. Auch Jonas hatte ein Schwert in der Hand, aber es war nicht so groß und nicht so golden wie das seines übermenschlichen Gegners. Sie rangen beide. Der Kampf wogte lange unentschieden hin und her. Als die Kreatur erkannte, dass Jonas sich dieses Mal nicht niederringen ließ, gab es ihm einen Schlag gegen seinen Oberarm. Dennoch ließ Jonas sein Schwert nicht sinken, obwohl aus der tiefen Fleischwunde dunkelrot das Blut hervorquoll. „Ergebe dich; der Tag bricht an!“, befahl ihm das Wesen mit donnernder Stimme. „Nein!“, zischte Jonas entschlossen: „Erst, wenn du mir sagst wer du bist und was du von mir willst!“ Todesmutig warf er sich erneut mit erhobenem Schwert gegen seinen Gegner. Die Klingen sprühten Funken, wenn sie aufeinander trafen und jedes Mal dachte Jonas ein elektrischer Schlag von unvorstellbarer Kraft würde seinen Körper durchfahren und seine inneren Organe verbrennen. Er schrie, er fluchte und immer wieder parierte er die Angriffe des Wesens. „Verdammt noch mal, was willst du von mir!“, brüllte er zornig, aber die Kreatur antwortete nicht sondern erhob ihr mächtiges Schwert zum allerletzten entscheidenden Schlag.
Das Zimmer war dunkel gewesen, bis diese Kreatur auftauchte. Etwas Böses, das hereinkam. Er erwachte. Jonas setzte sich auf und starrte in die Dunkelheit. Sein Herz schlug heftig gegen seine Rippen. Seine Kehle fühlte sich an, als wäre sie voller kleiner Glassplitter. Jonas wusste zuerst nicht, was ihn geweckt hatte, dann hörte er Saras Stimme erneut: „Jonas, wach auf! Was ist denn nur los?“ Er taste im Dunkeln nach der Nachttischlampe und knipste sie an. Sara, seine Frau, saß neben ihn und starrte ihm mit einer Mischung aus Entsetzten und Sorge an. „So geht es nicht weiter,“ sagte sie mit tränenerstickter Stimme. „Ich kann nicht mehr.“ Sie stieg aus dem Bett, warf sich ihren Morgenmantel über, der am Fußende lag. Bevor sie das Schlafzimmer verließ, drehte sie sich noch einmal um. In ihrem Blick lag eine traurige Entschlossenheit. „Es tut mir Leid,“ hauchte sie kaum hörbar. „Aber ich muss zu allererst an Kevin denken.“ Jonas blieb allein zurück.
Aus dem Erdgeschoss des Hauses hörte er, wie Sara sagte: „Ja, Sie müssen sofort kommen. Es wird immer schlimmer.“ Offensichtlich telefonierte sie. „Ja, er ist auch handgreiflich geworden“, fuhr sie schluchzend fort. „Er hatte Kevin geschlagen, wegen einer Nichtigkeit. Nur weil das Glas Milch umkippte. Und mich brüllt er nur noch an.“ Sara telefonierte mit Dr. Lancaster, dem Psychiater, bei dem Jonas, auf Befehl seines vorgesetzten Offiziers, seit der Rückkehr aus dem Krieg in Behandlung war. „Bitte Doktor,“ flehte Sara. „Ich habe Angst um das Leben meines Sohnes. Jonas verliert mehr und mehr die Kontrolle.“
Als der Krankenwagen die Auffahrt hinunterfuhr, stand Sara in der Eingangstür und weinte. Jonas blickte hinauf zum Licht der Lampe, die über der Veranda hing und in das Fenster darüber. Es war Kevins Zimmer. Bleich stand der Junge da und starrte verängstigt hinaus auf das, was sich da im Vorgarten abspielte. Über ihm im Fensterrahmen baumelte etwas windschief der rote Doppeldecker mit dem schneeweißen Propeller. Jonas hatte dieses Flugzeug zusammen mit seinem Sohn aus Holz gebaut, bevor er zu seinem Einsatz ins Corianasystem abberufen wurde.
„So, Nachtruhe!“ Der bullige kahlköpfige Pfleger wollte gerade das Zellenlicht löschen und hielt erstaunt inne. Der Patient saß nicht, wie sonst, auf seiner Matratze und blickte auf die düsteren Zeichnungen an der Wand, während er eine neue Version davon auf seinen Zeichenblock kritzelte. Diesmal hockte er still in der Ecke und betrachtete mild lächelnd die wenigen Bilder an der Wand gegenüber. Es waren die Zeichnungen von dem Jungen mit einem roten Doppeldecker und der Pfleger glaubte so etwas wie einen Lichtschimmer, in den sonst toten Augen des Patienten zu erkennen.
Tag der Veröffentlichung: 12.02.2009
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