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Ein Hauch von Frühling lag an diesem Apriltag über der Stadt.
Seit einer Stunde bereits sortierte ich die Eingangspost. Eine Aufbewahrungsbox, nicht größer als ein Karton für Kinderschuhe, reichte vollkommen aus, die wenigen Briefe, meistens Schreiben vom Sozial- oder Arbeitsamt, zwischen die Registerblätter zu ordnen. Kommt das P vor dem Q? In Gedanken sagte ich das Alphabet auf. Das passierte mir häufiger in letzter Zeit. Schwere Depressionen und die Medikamente dagegen blockierten meine Synapsen und lähmten jeden Gedankenfluss. Deshalb und auch aus anderen Gründen taugte ich offiziell nicht mehr für den Arbeitsmarkt. Frührente! Und das mit sechsund-dreißig. So begann ein Jahr zuvor meine Karriere als ehrenamtliche Hilfe im Ladies Room. Einer Anlauf-stelle für wohnungslose junge Frauen.

Marlies huschte gerade am Empfangstresen vorbei, murmelte ein „guten Morgen“, schnappte sich die Büropost und eilte sogleich wieder die Treppen hinauf, in den ersten Stock. Marlies war eine der drei Sozial-arbeiterinnen, die von der Stadt noch zähneknirschend bezahlt wurden. Der Bau eines neuen Megastadtteils am Hafen und der damit verbundenen so genannten Leuchtturmprojekte war den Regierungsverantwort-lichen wichtiger, als gestrauchelte junge Erwachsene wieder auf die Beine und auf den rechten Pfad des Lebens zu verhelfen.
Gleich würde die offene Beratung beginnen und die ersten Klientinnen warteten schon ungeduldig auf Marlies, Verena und Petra.

Sie trug ein blassblaues Kleid aus Leinen, dass zu groß für sie wirkte. Die Sorgen der durchwachten Nächte ließen ihr Gesicht älter erscheinen, als es war. Ihre Stimme klang leise und gebrochen, als sie das Foto vor mir auf den Tresen legte. Es zeigte ein Mädchen. Vielleicht sechzehn. Vielleicht siebzehn. Nein, sie sei jetzt älter, neunzehn, hatte mir die Frau am Tresen später erzählt. Das Foto zeigte Simone. Die Frau im blassblauen Kleid vor mir war die Mutter gewesen. Die zwölf Monate, die ich nun schon am Empfang arbeitete, hatten mich sensibilisiert für die Töne und Worte zwischen den Zeilen und so spürte ich, dass dies ein intensiveres Gespräch werden würde. Ich steckte den letzten Brief hinter die Registerkarte mit dem Z, führte die Frau in den noch leeren Speisesaal, schenkte Kaffee vom Getränke-wagen in zwei Pappbecher und setzte mich mit ihr an einen der fünfzig Tische. Die Sozialarbeiterinnen waren froh darüber, wenn wir ihnen derartige Gespräche abnahmen, denn der Beratungsbedarf war groß und der Ladies Room chronisch unterbe-setzt.
„Simone sollte im letzten Sommer für ein Jahr in die USA reisen. Schüleraustausch. Wissen Sie?“ Ich nickte. Meine Nichte war in Australien gewesen, aber ich erzählte es nicht. Hier ging es um Simone und nicht um eine belanglose Plauderei über Schüleraustausch-programme.
“Alles war bereits in trockenen Tüchern“, fuhr die Mutter fort. „Simone wartete nur noch darauf, welcher Familie sie in Kalifornien zugeteilt werden würde. Sie war eine gute Schülerin. Ging aufs Gymnasium und wollte Pilotin werden. Kurz vor der Abreise dann ist sie einfach verschwunden. Als ich morgens hinauf in ihr Zimmer ging, um sie, wie jeden Tag, zu wecken, war das Bett unberührt und ein Abschiedsbrief lag auf ihrem Schreibtisch.“
Eine Geschichte, wie tausend andere auch. Dennoch stellte ich mir jeden Tag bei jedem Gespräch erneut die gleiche Frage. Wieso läuft ein Mädchen, dass noch Träume hat und genügend Ehrgeiz für deren Verwirklichung besitzt, einfach von zu Hause weg? Ich schaute in das Gesicht auf dem Foto, das zwischen uns auf dem Tisch lag, so als sollte es Simones Anwesenheit demonstrieren. Für mich war Simone das, dieses fröhlich lächelnde Mädchen, mit den wachen blauen Augen, dem dezenten Nasenpiercing und den hochgesteckten blonden Haaren. Ein ganz normaler Teenager in einem ganz normalen Leben. Eigentlich.
“Waren sie schon bei der Polizei“, fragte ich und spürte, wie dumm doch diese Frage jedes Mal wieder war. “Ja“, antwortete die Mutter mit tränenerstickter Stimme. „Aber Simone ist volljährig und kann tun und lassen, was sie will.“ Die Verzweiflung lag schwer zwischen uns, wie Blei. “Ich bin am Hauptbahnhof gewesen, bei der Jugendhilfeeinrichtung auf dem Kiez und habe den anderen Obdachlosen ihr Foto gezeigt. Ohne Erfolg. Mein Mann hat sogar die Huren gefragt.“ Beim letzten Satz machte sich Entsetzen auf ihrem Gesicht breit. Ob über die Tatsache, dass ihr Mann mit Prostituierten sprach oder die Furcht, dass ihre Tochter vielleicht in diesem Milieu zu finden wäre, wusste ich nicht. Vermutlich war es beides.
“Nun bin ich hier. Sie sind meine letzte Hoffnung. Kennen Sie Simone?“ “Der Name kommt häufiger vor und ich fürchte das Leben auf der Straße hat das Äußere ihrer Tochter stark verändert“. Ich bemühte mich so sachlich wie möglich zu klingen, denn die Tatsache, dass Simone, dieses adrett gekleidete und geschminkte Mädchen auf dem Foto, nun vollkommen verwahrlost war und wahrscheinlich sogar Drogen nahm, wäre dieser Unterhaltung wenig dienlich gewesen. Die Straße verändert einen Menschen. Nicht nur äußerlich.

“Wie ist ihr Nachname“, fragte ich. Inzwischen waren wir an die Rezeption zurückgekehrt und ich blätterte die Box durch. Ich hoffte, dass sie unsere Einrichtung als Postanschrift bei den Ämtern angegeben hatte. “Feddersen, Simone Feddersen“, erwiderte die Mutter. „Sie hatte den Namen ihres Vaters nach seinem Tod behalten. Ich habe wieder geheiratet.“ “Wieder geheiratet“, war für mich das Schlüsselwort. Die meisten Mädchen laufen nicht aus einer Laune heraus von Zuhause weg. Meistens steckt mehr dahinter. Das hatte mich die Erfahrung gelehrt. Meistens waren die Eltern nach dem Verlust eines Partners zu sehr mit sich selbst beschäftigt und nahmen die weit vorausliegenden Ursachen nicht wahr, oder die Mütter, blind vor Liebe, sahen, oder wollten auch nicht sehen, was der ach so liebe Partner Nacht für Nacht mit der Tochter Grausames trieb. Ich aber war nicht dort, um zu urteilen. Das war Aufgabe anderer gewesen.
Weder unter F, wie Feddersen, noch unter S wie Simone war etwas zu finden. Die Enttäuschung löschte sofort das kleine hoffnungsvolle Lächeln der Frau wieder aus. Vor der gläsernen Eingangstür hatten sich bereits die ersten Frauen versammelt, denn in Kürze sollte das kostenlose Essen verteilt werden.
“Es gibt noch eine Möglichkeit“, sagte ich. „Simone kann auch bloß zum Essen kommen. Dann kennen wir ihren Namen nicht, denn niemand muss seine Identität hier preisgeben.“
“Oh, darf ... darf ich dann hier warten?“ Wieder blitzte ein Schatten der Hoffnung in ihren Augen auf. “Natürlich. Aber, wenn Simone davonrennt, werden wir sie nicht aufhalten. Wir werden sie zu nichts zwingen.“
Die Mutter nickte entmutigt und stellte sich an die Tür zum Hinterhof, von wo aus man den Eingangsbereich gut überblicken konnte, und nicht nur ihr Herz schlug vor Aufregung.

Die Glastür öffnete sich, die Frauen strömten herein und nahmen die Essenmarken, die Verena ihnen mit einem freundlichen „Hallo“ reichte, entgegen. Viele fragten bei mir nach Post und an den Gesichtern konnte ich stets ablesen, was der Inhalt der Briefe war. Je nach dem, ob eine Leistung vom Amt bewilligt wurde, oder nicht.
“Simone!“, rief die Frau im blauen Leinenkleid plötzlich und lief auf ein Mädchen mit strähnigen blonden Haaren und vollkommen verdreckter Kleidung zu. Simones Blick verfinsterte sich. Sie rührte sich allerdings nicht vom Fleck. Petra gab gerade den Küchenhilfen Anweisungen und wandte sich geistesgegenwärtig nun dem Geschehen zu. Deeskalation war das oberste Gebot in unserer Einrichtung. Es kam nämlich nicht selten vor, dass die jungen Frauen, wenn sie unverhofft ihren Angehörigen gegenüberstanden, vor denen sie Hals über Kopf geflüchtet waren, komplett ausrasteten – sogar handgreiflich wurden. Die drei Frauen wechselten einige Worte, wobei Petra immer wieder besonders beruhigend auf Simone einwirkte. Nach einer Weile entspannten sich die Gesichtszüge des Teenagers wieder und die drei Frauen gingen gemeinsam hinauf in Petras Büro.

Allmählich leerte sich der Speisesaal wieder. Nur diejenigen, die noch kostenlos duschen wollten, warteten geduldig, bis eine der Kabinen frei wurde. Langsam wurde ich an der Rezeption von einem frischen Hauch aus Seife, Rasierschaum und Shampoo, eingehüllt, der den penetranten und beißenden Gestank der Straße wieder aus unseren Räumen vertrieb. Manch eine junge Frau war, nach einer heißen Brause oft nicht wieder zu erkennen. Als auch ich zwei Stunden später dann Feierabend machte, dauerte das Mutter-Tochter-Gespräch in Petras Büro noch immer an. Länger als Beratungsgespräche üblicherweise.

Am folgenden Tag erfuhr ich dann, dass Simone das Haus gemeinsam mit ihrer Mutter verließ, aber ob sie tatsächlich wieder nach Hause zurückgekehrt ist, wusste niemand. Simone tauchte jedenfalls in unserer Einrichtung nie mehr auf und auch die Mutter haben wir nie wieder gesehen. Selten allerdings enden Geschichten von der Straße mit einem Happyend.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.07.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
"Das Vorurteil ist hochnäsige Empfangsdame im Vorzimmer der Vernunft" von Karl Heinrich Waggerl

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