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Die Begegnung

Der Bus setzte sich in Bewegung in Richtung Kreisstadt. Sie saß in einem der engen Sitze. Die Tasche neben sich. Es war ein trüber Dezembertag. Die Sonne hatte es den ganzen Tag nicht geschafft, die von feinem Nieselregen vernebelte Luftschicht die über der Landschaft lag zu durchdringen. Den ganzen Tag über war es nicht richtig hell geworden. Und die Feuchtigkeit, welche schwer in der Luft hing, hatte die Fenster vom Bus mit einem aus Schmutz und Nässe vermischten Belag undurchsichtig gemacht.

Jedes mal wenn der Bus an einer der zahlreichen Stationen anhielt die zwischen dem Dorf, in welchem sie lebte, und der nahen Kreisstadt lagen, brachten einsteigende Fahrgäste ein Stückchen mehr von der ungemütlichen Nebelnässe mit in den Innenraum herein.

Für einen Moment ging das Licht an und man konnte die Fahrgäste auf den Sitzen erkennen. Wenn der Bus von neuem anfuhr, ging es wieder aus und die Notbeleuchtung schaltete sich ein, und ließ die Fahrgäste wieder in einem diffusen milchigen Nebel verschwinden.

Teilnahmslosigkeit und Leere stand in den Gesichtern der Mitfahrenden. Das passte ganz gut zu ihrer Stimmung. Sie war auf dem Weg in die Stadt, um für ihre Familie Weihnachtsgeschenke einzukaufen.

Sie hatte drei Kinder. Der älteste Sohn war bereits erwachsen und leistete zur Zeit seinen Bundeswehrdienst ab. Seine Freizeit verbrachte er meistens bei der Großmutter. Er verstand sich nicht so gut mit seinem Stiefvater.

Die beiden Mädchen gingen noch zur Schule. Nächstes Jahr sollte die Konfirmation der Ältesten sein. Und dann war da noch ihr Mann. Ihr Mann, der zu Hause geblieben war. Der vor wenigen Wochen eine schwierige Lungenoperation überstanden hatte, und nun voller Hoffnung war, die Krankheit überwunden zu haben. Nur sie wusste, wie trügerisch diese Hoffnung war. Die Ärzte hatten ihr wie man sagt, "reinen Wein eingeschenkt". An dem Tag, als sie mit ihm in die große Stadt zur der Operation in ein Spezialkrankenhaus fuhr.

Während bei ihrem Mann noch einige Untersuchungen vor der Abfahrt gemacht wurden, hatte der junge Stationsarzt mit ihr allein gesprochen. Eigentlich hatte sie schon die ganzen Wochen, als ihr Mann im heimischen Krankenhaus lag, geahnt, das es schlimm sein würde. Aber, solange die Diagnose noch nicht genau fest stand, verdrängte sie den Gedanken an die Schwere seiner Krankheit.

Doch jetzt wusste sie Bescheid. Sie hatte sich zusammengerissen während der Fahrt nach Hannover, als sie in dem Taxi neben ihm saß. Er sollte nicht merken, dass sie wusste, wie es wirklich um ihn stand. Die bevorstehende Operation würde sehr schwer werden. Wie sollte er die ohne Hoffnung überstehen? Sie würde wohl stark sein müssen, die nächste Zeit. Für ihn, für die Kinder, für die Familie.

Nur einmal, als sie allein von der Klinik, wo er zurückgeblieben war, wieder zurückfuhr zum Bahnhof in Hannover um nach Hause zu kommen, da brach sie zusammen. Hemmungslos schüttelte sie ein Weinkrampf, als sie in der Straßenbahn saß, zwischen all den fremden Leuten. Aber, es ging vorbei. Als sie wieder bei den Kindern zu Hause war, merkte man ihr nichts mehr an,.

Und nun saß sie im Bus, um Weihnachtsgeschenke ein zu kaufen für ihre Familie. Und sie wusste, es würde das letzte gemeinsame Fest sein, dass sie als Familie feiern würden. Aber nur sie wusste es. Und ihr Mann, ahnte er wie es um ihn stand? Er sprach nicht über seine Krankheit. Warum sollte sie die Kinder beunruhigen? Die Zukunft lag vor ihr wie ein riesiges dunkles Loch. Der Sohn ahnte wohl auch, wie es um den Stiefvater stand. Aber, er war ja selten zu Hause, so behielt sie ihr Wissen, ihre Ängste für sich und sprach mit niemandem darüber.

Und nun fuhr sie, wie jedes Jahr vor den Weihnachtstagen, in die Kreisstadt um Geschenke für die Familie einzukaufen. Doch es war nicht wie jedes Jahr. Vor ihr lag ein Weihnachtsfest, von dem sie nicht wusste, wie es überhaupt verlaufen würde.

Schnell war der Einkaufszettel erledigt. So üppig fielen die Geschenke eh nicht aus. Als sie fertig war, blieb ihr noch eine gute Stunde Zeit bis der Bus wieder zurück in ihr Dorf fuhr.. Sie setzte sich in das Kaffee in der Nähe ihrer Bushaltestelle um dort die Wartezeit im Warmen bei einer Tasse Kaffee zu verbringen. Der Nieselregen war inzwischen in einen feuchten Schneefall übergegangen. Auf den Straßen sammelte sich eine hässliche Schicht von grauem Schneematsch.. Es war ungemütlich.

Sie betrat das warme, gemütliche kleine Lokal und entdeckte nach einigem Suchen ganz hinten in dem langgestreckten Raum des Kaffee´s noch einen unbesetzten Tisch für zwei Personen.

Als sie sich eben ihrem heiß dampfenden Kaffee zu wandte, kam eine Dame in Begleitung eines alten Herrn in ihrer Ecke auf sie zu, und bat um Erlaubnis dass der alte Herrn sich zu ihr an ihren Tisch setzen dürfte.

Die Dame wollte offenbar auch Besorgungen machen, und ihr Vater sollte während dieser Zeit im Kaffee auf sie warten. Als die Tochter gegangen war, wandte sich der alte Herr zu ihr und fragte, "Wie alt schätzen sie mich?" Nun handelte es sich bei besagtem alten Herrn um ein stadtbekanntes Original und ehemaligen Geschäftsmann, den sie aus ihrer Zeit als Buchhändlerin in der Kreisstadt kannte und auch seine Tochter war ihr bekannt als Kundin und sie wusste aus einem Zeitungsbericht, dass er in wenigen Wochen 90 Jahre alt werden würde. Als sie dann sein Alter richtig nannte, war ihm die Enttäuschung anzusehen. Offenbar hatte er gehofft, für jünger gehalten zu werden. Sie lachte, und stellte sich dann vor. Er hatte ihren Vater gut gekannt, sie hatten beide viel gemeinsame Bekannte in der Kreisstadt, wo sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte, und er sein ganzes Leben. Und die ihnen beiden Heimat war.

Es entspannte sich eine Unterhaltung wie zwischen zwei uralten Freunden, die sich schon immer gekannt hatten. Der alte Mann begann, von seinen Begegnungen mit ihrem Vater zu erzählen. Ihrem Vater, der schon vor etlichen Jahren gestorben war, und den sie so sehr vermisste. Gerade jetzt, in dieser Situation in der sie lebte, hätte sie ihn gebraucht, um sich in ihrer Not und ihren Ängsten auffangen zu lassen.

Es tat gut, mit einem Menschen, auch wenn er ihr bisher nur sehr oberflächlich bekannt gewesen war, über den Vater und noch andere, längst verstorbene Menschen zu sprechen die in ihrer eigenen Kindheit und Jugend so wichtig für sie gewesen waren. Es war ihr, als würde sie wieder die wunderbare Geborgenheit dieser Zeit spüren. Draußen wurde es vollends dunkel, und an dem kleinen Tisch im Kaffee saßen die zwei Menschen, eingesponnen in die heimelige Wärme und Geborgenheit ihrer gemeinsamen Erinnerungen.

Es fiel ihr schwer, sich zu verabschieden, zwei Busse versäumte sie, aber den letzten Bus der am Abend in ihr Dorf fuhr, durfte sie nicht verpassen. Sie sollten sich nie wieder sehen. 2 Monate nach dieser Begegnung stand in der Heimatzeitung der Nachruf des alten Mannes. Er litt, ebenso wie ihr Mann, an einer unheilbaren Krankheit.

Sie selber musste ihren Mann wenige Tage nach Weihnachten ins Krankenhaus bringen, wo er nach drei Wochen starb. Immer, wenn sie an dieses letzte gemeinsame Weihnachtsfest denkt, dann gehört dazu diese Begegnung, von der soviel Tröstliches, soviel Kraft auf sie übergegangen war mit der sie die nächsten Wochen überstand.

Zufall? Nein, sie war sich sicher, diese Begegnung war kein Zufall, es war Fügung. Fügung, dass sie gerade an diesem Tag, gerade in dieses Kaffee ging, um auf ihren Bus zu warten.

Fügung, dass der einzig freie Platz in dem Kaffee an ihrem Tisch war und Fügung, dass sie Zwei sich begegnet waren, der alte Mann, mit dem sie, ohne es zu wissen soviel gemeinsame Erinnerungen an den Vater, an alte Freunde und Wegbegleiter ihrer Kindheit und Jugend verband

Der selber an der Schwelle seines eigenen Todes stand und sie, die um viele Jahre jüngere Frau, die schwer an dem Wissen trug, dass der Tod nach ihrer kleinen Welt griff, um den Mann, den Vater ihrer Kinder fort zu nehmen aus ihrer Familie.

Eigentlich war gar nichts Besonderes passiert. Sie hatte nicht einmal von den Sorgen gesprochen die sie belasteten. Und doch hatte diese Begegnung in ihr eine große Ruhe und ein tiefes Gefühl von Geborgenheit ausgelöst, die ihr halfen die nächsten Wochen und Monate, die schwersten ihres bisherigen Lebens, zu überstehen.

 

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Texte: © bei der Autorin
Bildmaterialien: Privatfoto der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 11.07.2014

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