Das kahle Geäst der vielen Bäume vor ihrem Fenster, das sonst wie ein schwarzes Filgran Muster vor dem wintergrauen Himmel wirkt, leuchtet für einen Moment golden auf, als die Sonne noch einmal ihre Strahlen zur Erde schickt, bevor sie am westlichen Horizont versinkt.
Kühle breitet sich in dem kleinen Zimmer aus, in dem die alte Frau auf ihrem Sessel sitzt. Es ist ihre „Blaue Stunde.“ Jene Stunde des Tages, in welcher sich der Tag langsam verabschiedete und die Nacht herauf dämmert. Nicht mehr hell genug um alle Konturen erkennen zu können. Aber auch nicht dunkel genug, um nichts mehr zu sehen, um alles zu vergessen. Sie liebt diese Dämmerstunde. Dann sitzt sie still da, trinkt ihren Tee und läßt ihren Gedanken freien Lauf.
Alles, was in dem kleinen Zimmer steht, ist Teil ihrer Geschichte. Eine ganz normalen Lebensgeschichte einer Frau, die in eine große Familie hinein geboren wurde.
Die in der Obhut von Vater und Mutter, älteren Geschwistern und einigen wechselnden Pflichjahrsmädeln, wie sie einst genannt wurden, heran gewachsen ist.
Das Leben in ihrer Kindheit, geprägt vom Krieg, der in Europa tobte, verlief Tag für Tag für das Kind in scheinbar unveränderlichen Bahnen.
Erst mit dem Älterwerden begriff sie all die ständigen Veränderungen um sie herum.
Heute, im Alter, wird ihr erst bewusst, wie viel Abschiede es in ihrem Leben schon gegeben hat. War nicht jeder Tag eigentlich so ein Abschied? Am Abend, wenn die Sonne untergeht und die Dunkelheit sich ausbreitete in ihrem Zimmer, ist das nicht jedes mal ein Abschied?
In dieser Stunde wandern ihre Gedanken oft zurück zu all den vielen Menschen die sie auf ihrem langen Lebensweg begleitet haben. Großeltern, Vater und Mutter. Zwei Generationen sind schon vor ihr gegangen,. Nun gehört sie zu den „Alten.“ Zu der Generation, die sich auf jenen Abschied vorbereitet, der für die meisten etwas so Endgültiges hat: den Tod.
Aber... ist er das wirklich? All die vielen Menschen, die einmal wichtig waren für ihr Leben, sind sie wirklich fort? Leben sie nicht weiter in ihr? Wäre sie denn der Mensch, der sie heute ist, ohne ihren Vater, an dem sie so sehr gehangen hat. Ohne den Großvater, dessen Autorität ihr immer wie ein Fels in der Brandung vor gekommen war? Ohne ihre zwei Männer. Der eine, von dem sie sich trennte, weil ihre Ehe ein Irrtum war. Der andere, von dem sie sich schon verabschieden musste, als er noch viel zu jung war. Der Tod hatte diesen Abschied diktiert.
Waren all diese Menschen denn wirklich fort? Sie alle hatten doch ihren Platz in ihrem Inneren. Sie alle waren ein Stück ihres Lebens. Nichts, was ihr Leben ausmachte, wäre ohne diese Menschen möglich gewesen.
Und all die schönen Reisen, die sie gemacht hatte. Landschaften, die sie durchwandert hatte, mit Menschen die sie nur kurz auf diesen Reisen kennen gelernt hatte, und die doch einen festen Platz in ihren Gedanken eingenommen haben. Das alles gab es doch noch immer, auch wenn sie dort längst Abschied genommen hatte. Die Blumen würden dort immer wieder blühen, das Meer würde weiter in ewiger Wiederkehr seine Wellen an den Strand schicken. Und in den Hotelbetten würden eben nur andere Menschen ihre Urlaubsträume träumen.
Die vielen Tiere, die sie dank ihrer ausgeprägten Tierliebe betreut, versorgt und bei sich aufgenommen hatte, sie alle waren nur kurze Gäste ihres langen Lebens gewesen. Irgendwann hatte sie sich von allem verabschieden müssen. Aber... immer noch waren sie alle in ihren Gedanken gegenwärtig.
Das alles, was heute, nach so vielen Abschieden nur noch als Erinnerung zurück geblieben war, das war ihr Leben.
Schlimm war es immer, wenn der Abschied von einem lieben Menschen zu früh kam. Wie etwa das kleine Menschlein, dass 9 Monate in ihre gewachsen war und das starb, noch bevor es geboren wurde. Ihr Sternenkind, von dem sie nicht einmal richtig Abschied nehmen konnte. Es wurde in die Leichenhalle gebracht, noch bevor sie aus der Narkose aufwachte und sie hat es niemals gesehen. Zu der Zeit, als sie jung war, dachte niemand an „Trauerarbeit“.
Der Krieg mit seinen vielen Toten hatte wohl die Generation, die damals den Alltag bestimmte, hart gemacht, und immun gegen die Unerbittlichkeit des Todes. Wenn jemand gestorben war, standen ganz praktische Notwendigkeiten im Vordergrund. Ein Abschiednehmen von dem Toten, das war in vielen Fällen nicht möglich.
Wie war es noch, als Ihr Großvater starb? Sie war damals eine junge Frau und arbeitete in ihrem Beruf
Am Morgen hatte sie noch Großvaters Stimme gehört, die trotz seiner fast 102 Jahre sehr energisch tönte. Sie war die Treppe runtergekommen von ihrem Zimmer, das oben im Dachgeschoss des alten Hauses lag, und hatte mitbekommen, als er mit ihrer Mutter sprach. Irgend etwas passte wohl nicht. Sie wusste ja nicht, dass es das letzte Mal sein würde und dass sie schon eine Stunde, nachdem sie an ihrem Schreibtisch saß einen Anruf erhalten würde, dass er gestorben sei.
Natürlich war es kein überraschender Tod. Großvater war über 100 Jahre alt. Und doch – wenn es dann so weit ist, dann ist es ein kleiner Schock.
Und als sie nach Hause kam, nun, da wurde sie von ihrer so praktischen Mutter, die als Krankenschwester so viele Menschen hatte sterben sehen und die zu dem Schwiegervater wohl auch kein sehr enges Verhältnis gehabt hatte, gleich angestellt, den Toten mit zu waschen und her zu richten. Mutter kannte sich da aus und nahm dem Bestatter diese Arbeit ab.
Die alte Frau erinnert sich noch genau, dass ihre Mutter erstaunt fragte, warum sie so blass würde. Es war ihr einfach nicht in den Sinn gekommen dass für die Tochter diese erste Begegnung mit dem Tod ein ziemlich erschütterndes Erlebnis war, das sie erst verkraften musste .
Es war ihre erste hautnahe Begegnung mit diesem für alle Menschen schlimmsten Abschied, weil er so unwiderruflich ist: dem Tod eines wichtigen und nahe stehenden Menschen. Dieses Erlebnis hat die alte Frau nie vergessen, es gehört zu den vielen wichtigen Momentaufnahmen aus welchen sich ihr gesamtes Leben wie ein Puzzlebild nach und nach zusammen gefügt hat.
Immer, wenn sie sich von einem Menschen, oder einem Tier oder auch von einem Ort, den sie liebte verabschieden musste,wurde ein neues Puzzleteil in das Bild ihres Lebens eingefügt.. Und jedes Mal bekommt das Bild auch neue Konturen. Und mit jedem Pussleteil konnte man besser erkennen wie dieses Bild einmal aussehen würde.
Am Ende, wenn das eigene Sterben als letztes Teil in dieses Puzzle eingefügt sein wird, ist das Bild fertig. Aber es werden Menschen da sein, für die auch dieser Abschied nur ein Teil ihres eigenen Puzzles sein wird. Die von ihr Abschied nehmen. Und an deren Leben auch sie Anteil hat über den eigenen Tod hinaus.
Es ist draußen dunkel geworden.
Die alte Frau geht zum Fenster, zieht die Rollos runter und macht Licht. Dann bringt sie ihre Teetasse in die Küche und schaut in die Fernsehzeitung. Mal schauen, was der Abend so bringt.
Aber unsichtbar sind um sie herum all die Menschen und Dinge gegenwärtig, die scheinbar für immer vergangen sind, und die doch dank ihrer Erinnerung da sind, weil sie Teil ihres ganzen Lebens sind das ohne all die vielen Menschen und Dinge, von welchen sie sich einst verabschieden musste, nie gelebt worden wäre.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf`um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen.
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden.
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden ...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde.
Hermann Hesse
Es ist dieses sehr bekannte Gedicht "Stufen" von Hermann Hesse, das mich zu meinen Gedanken animiert hat.
Darum füge ich den Teil des Gedichtes, der Vorlage meiner Gedanken ist, hier zur Erinnerung für die Leser in
mein Büchlein ein.
Texte: © bei der Autorin
Bildmaterialien: © Cover: Privatfoto der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 11.05.2014
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