Älter werden ist nur der Weg hin zum Alter. Aber es ist noch nicht das Alter. „Das wirkliche Alter ist fürchterlich“, wie Marcel Reich Ranicki in seinem letzten Interview sagte. Und weiter sagt er in diesem Interview:
„Im Alter stehen wir einem übermächtigen Gegner gegenüber, wir sind allein und werden immer schwächer. Dieser Gegner, die Zeit, wird immer stärker, und sie vernichtet nach und nach immer mehr von uns, ohne dass wir uns wehren können, bis er uns schließlich ganz auslöscht. Einen Vorteil sehe ich da nicht“.
Ich kann ihm nur bei pflichten. Und möchte mit meiner Erzählung aufräumen mit jenen Altersbeschreibungen und Lebensbeschreibungen des „Älterwerdens“ die durch eine rosarote Brille geschönt ein sehr unrealistisches Bild von diesem Teil unseres Lebensweges vermitteln. Vielleicht, um die unumstößliche Gewissheit des eigenen Sterbens zu verdrängen? Sich selber ein zu reden, dass einem selbst dieser hässliche Teil des Alters erspart bleibt? Niemand hat es in der Hand! Zu keiner Zeit unseres Lebens sind wir dem Schicksal mehr ausgeliefert, als in der letzten Phase des Altwerdens. Es gibt kein leicht zu bewältigendes „Älterwerden“. Es gibt nur den am Ende so steinigen und mühsamen Weg des Altwerdens.
„Ich habe einen Vertrag mit unserem Herrgott, ich werde 100 Jahre alt.“ So hatte er oft im Scherz gesagt. Jeder bewunderte ihn, wegen seiner geistigen und körperlichen Frische. Er lebt allein in seinem Haus hinter dem Deich. Wenn er aus seinem Leben erzählte, so war das eine Zeitreise in eine längst untergegangene Welt. Er hatte noch auf Segelschiffen dreimal unseren Erdball umrundet. Er kannte fast jeden Winkel der Erde, den man mit einem Schiff erreichen kann. Bis zu dem lange erwarteten Tag, dem 100 Geburtstag, lebte er allein in seinem Haus über dem Strom, das noch von seinem Vater auf dem Deichstück erbaut worden war.
Nur den Winter verbrachte er mit den Jahren immer häufiger in der Familie seines Sohnes. Das Heizen des Hauses und die ganzen Umstände damit, wurden ihm doch beschwerlicher als der Altersverfall begann.
Der Sohn hatte seine Praxis in einem Ort der 200 KM entfernt von der Heimat des alten Käp`tn lag. Die Familie besuchte den Vater und Großvater so oft sie es eben ein richten konnten. Und da das Haus, mit dem großen Garten sehr schön am Ufer der Weser gelegen war, kamen auch Freunde und Bekannte gerne zu Besuch und verbrachten einige Tage bei dem alten Mann um dort Ferien zu machen. Aber auch, um dort mal nach dem Rechten zu schauen. Vor allem die Sauberkeit lies mit der Zeit zu wünschen übrig. Und auch die Mahlzeiten wurden mit der Zeit sehr einseitig. Der Besuch sorgte dann dafür, dass der Gastgeber in dieser Zeit auch mal etwas abwechslungsreichere Kost bekam. Und die Wäsche wurde gereinigt. Man konnte auf diese Weise nützliches und angenehmes mit einander verbinden. Das alles war natürlich mit Sohn und Schwiegertochter des Alten Herrn abgesprochen.
So war er eigentlich nie längere Zeit ganz auf sich gestellt. Ein Zimmer war immer hergerichtet für Besucher. Und jeder der zu den Gästen des Hauses gehörte, kannte sich mit den Gewohnheiten des alten Mannes aus. Und wusste im Haus Bescheid.
Der große Tag kam, der 100 Geburtstag wurde ein Tag, den sicherlich niemand der dabei gewesen ist, so leicht vergessen wird.
Die Reederei, bei der das Geburtstagskind viele Jahre als Offizier und später als Kapitän Dienst getan hatte, spendete dem jüngsten Sohn des Jubilars eine Passage von Kanada nach Deutschland auf einem Passagierdampfer. Der Sohn war 1927 nach Kanada ausgewandert und seither hatten Vater und Sohn sich nicht mehr gesehen. Nun kam er mit seiner Frau zum 100 Geburtstag des Vaters das erste Mal wieder nach Deutschland.
Die Ankunft des Schiffes am Columbus Bahnhof in Bremerhaven wurde dank der Reederei zu einem großen Ereignis mit viel Presse. In den Kreisen der Seemannschaft war der alte Herr inzwischen eine Legende. Er war der älteste lebende Kapitän hier in Europa. Nur in Amerika gab es einen Fahrensmann, der noch ein wenig älter war.
Der Festtag kam, führende Persönlichkeiten der örtlichen Kommunalpolitiker, der Kirche und auch seines alten Arbeitgebers, einer großen und namhaften Reederei waren dabei und natürlich die gesamte Familie, bis auf meinen Vater, seinem älteren Sohn, der wegen Krankheit nicht dabei sein konnte. Der amtierende Bundespräsident, der Niedersächsische Ministerpräsident gratulierten dem hochbetagten Jubilar und selbst der ehemalige Bundespräsident Theodor Heus, der den Jubilar anlässlich einer Schaffermahlzeit kennen gelernt hatte, gratulierte in einem sehr persönlich gehaltenen und geschriebenen Brief. Auch der damals noch amtierende Bundeskanzler Dr. Adenauer, der den Jubilar ebenfalls während einer Schaffermahlzeit kennen gelernt hatte, gratulierte mit einem Telegramm.
Aber dann war auch dieses Fest vorbei und es war, als ob mit dem Erreichen des Zieles, nämlich 100 Jahre alt zu werden, die Kräfte des alten Käp`tns immer schneller schwanden. Nur zwei Monate nach der großen Feier, als auch der jüngere Sohn wieder nach Kanada zurück gereist war, gab er endlich dem Drängen des Sohnes und der Schwiegertochter nach und zog aus dem kleinen Städtchen, in dem er einst geboren wurde und wo er eigentlich auch sterben wollte, zu seinen Kindern.
Hier verbrachte er dann die letzten anderthalb Jahre, die ihm noch vom Schicksal beschieden waren in der Obhut seiner Familie.
Ich habe ihn seiner Zeit mit gepflegt. Es war für mich das erste Mal, dass ich mit dem wirklichen Alter konfrontiert wurde. Nicht mit jenen „Senioren“, die in Bussen durch die Welt reisen als wollten sie dem Alter davon reisen.
Oder in Seniorengruppen mit irgendwelchen Basteleien und
Beschäftigungen Geschäftigkeit vortäuschen und mit künstlich aufgesetzter Fröhlichkeit versuchen das Alter zu verdrängen.
Ich habe damals schon früh erfahren, was alt werden wirklich bedeutet. Es bedeutet, für einen Menschen, der nicht dement wird, sondern dessen Geist bis zuletzt alles was mit ihm und um ihn geschieht voll aufnehmen kann, den eigenen körperlichen Verfall mit vollem Verstand ertragen zu müssen. Es bedeutet eine immer größere Vereinsamung, weil alles, was einmal zum eigenen Leben gehörte, im Strom der Zeit davon eilt. Weil eine neue Welt um einen herum entsteht, die man nicht mehr versteht und die auch die Alten nicht mehr versteht.
Was „Alter“ wirklich bedeutet, kann wohl nur jemand ermessen, der schon einmal so einen alten ausgemergelten Körper eines alten Menschen gewaschen und gekleidet hat, der ihn gereinigt und gewickelt hat wie einen Säugling. Weil der Körper keine Gewalt mehr über all die erschlafften Muskeln hat, und weder Urin noch Kot mehr bei sich halten kann.
Damals habe ich als junge Frau etwas Wichtiges gelernt: Achtung vor dem Alter zu haben! Und zwar Achtung vor dem wirklichen Alter. Und ich habe den Begriff „Menschenwürde“ neu zu definieren gelernt
Ich meine damit nicht Jene, die mit krampfhaften und für mich manches Mal etwas lächerlich anmutenden Versuchen meinen, ihrem Alter davon laufen zu können. Die oft versuchen, es sich schön zu reden.
Was ich am meisten bewundert habe an meinem Großvater, einer Persönlichkeit von so großer Autorität, der einst als Kapitän Verantwortung für ein ganzes Schiff getragen hatte, der die ganze Welt bereist hatte, der so viele berühmte Persönlichkeiten seiner Zeit persönlich kannte, war die Ruhe und Gelassenheit mit welcher er es hin nahm, von seiner Schwiegertochter und seiner Enkelin wie ein Säugling gefüttert und gewickelt zu werden.
Heute bin ich selber 79 Jahre alt und lebe in einer Altenwohnung das zu einer kirchlichen Alten- und Pflegeeinrichtung gehört. Der langsame Kräfteverfall hat mich erreicht, auch wenn ich mich manchmal selber betrügen möchte. Aber, es ist nur ein frommer Selbstbetrug! Obwohl ich, gemessen an anderen Menschen meiner Altersgruppe noch gut zu Wege bin. Offenbar habe ich einige der guten Gene meines Großvaters mit bekommen.
Um mich herum erlebe ich aber leider auch viel Alterselend.
Elend, das sich hinter den Mauern der Heime verbirgt oder in privaten Wohnungen, jenseits der großen Öffentlichkeit und unbemerkt.
Da ich zu den Menschen gehöre, die auch vor den Schattenseiten des menschlichen Daseins die Augen nicht zu machen, habe ich hier viel Gelegenheit diese ganz reale Seite des wirklichen Alters zu erleben.
Und für jeden Tag dankbar zu sein, den ich noch dank guter Gesundheit selbst bestimmt leben darf. Denn in Würde altern zu können ist keine Sache des eigenen Willens oder der eigenen Einstellung es ist eine Gnade, für die man dankbar sein sollte.
Texte: © bei der Autorin
Bildmaterialien: Albrecht Dürer: Die Mutter des Malers
Tag der Veröffentlichung: 10.03.2014
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