Sie war eine jener zeitlos wirkenden, altjüngferlichen Lehrerinnen, deren Alter man nie richtig einschätzen kann. Ganz jung war sie nicht mehr. Ob sie überhaupt jemals richtig jung war?
Sie war klein, untersetzt und ihr ehemals blondes Haar dass nun mit vielen grauen Strähnen durchsetzt war, lag glatt am Kopf und war hinten zu einem Knoten zusammen gefasst. Was ihrer unscheinbaren Erscheinung einen Ausdruck von unnachgiebiger Strenge gab.
Als sie in unserer Klasse den Geschichtsunterricht übernahm, war ihr ein schlechter Ruf bei uns Schülern bereits voraus geeilt. Wir, das war die Obertertia eines Aufbaugymnasiums, etwa 30 pubertierende Schüler und Schülerinnen im schwierigsten Alter.
Sie war, bevor sie 1952 zu uns an die Schule kam, an einer Oberschule einer größeren Stadt im Ruhrgebiet, wo weiß ich heute nicht mehr, wegen disziplinarischer Schwierigkeiten entlassen und an unsere Penne versetzt worden. Irgendwer in unserer Schule kannte ihre Vorgeschichte, die natürlich bei uns Schülern die Runde machte.
Die verantwortliche Schulbehörde, die sie im Lehramt unterbringen musste, weil sie Beamtin war, hatte wohl gehofft, dass sie an unserem kleinen Gymnasium in Aufbauform, dass in einer ländlichen Region lag, besser zurecht kommen würde als in einem Großstadt Gymnasium mit mehr als 1000 Schülern, wie bisher. Diese Rechnung hatte die Schulbehörde aber ohne uns Schüler gemacht, wie sich zeigen sollte.
Das Gymnasium, das ich damals besuchte, gibt es immer noch. Es liegt in einem kleinen Ort in Ostwestfalen, mit damals etwa 3ooo Einwohnern. Unsere Schule hatte seinerzeit, am Beginn der 50er Jahre, etwa 400 Schüler Ein Teil der Schüler stammten aus den umliegenden Dörfern. Dann gab es noch ein Internat, in dem vor allem Söhne aus Flüchtlingsfamilien ihr Abitur an unserer Penne machen sollten, weil es in ihren neuen Heimatorten oft kein Gymnasium in erreichbarer Nähe gab. Und die auch häufig durch den Krieg und die Flucht verlorene Schulzeit aufholen mussten. Gerade für diese Gruppe waren Gymnasien in Aufbauform, wo man noch nach der 6. Volkschulklasse aufgenommen wurde, nach dem Krieg eingerichtet worden.
Und dann gab es noch eine kleine Schar von Fahrschülern, die jeden Morgen mit der Kreisbahn aus der nahen Kreisstadt kamen, weil auch sie durch den Krieg Schuljahre verloren hatten und für die Oberschulen dort inzwischen zu alt geworden waren. Zu dieser Gruppe gehörte ich.
„Klein Erna“ das war der Spitznamen den die neue Lehrerin von uns Schülern gleich am ersten Tag bekam wegen ihrer geringen Körpergröße und ihrem Vornamen „Erna“.Schüler waren schon zu allen Zeiten sehr kreativ, wenn es darum ging Spitznamen für ihre Lehrer zu erfinden.
Schon als sie zur ersten Stunde die Klasse betrat, empfing sie jene erwartungsvolle Kampfstimmung, die von einer ganzen Klasse ausgeht, wenn dem neuen Lehrer der Ruf voraus eilt: Mit dem oder der kann man sich einen Spaß machen“.
Und so kam es dann auch. Wir waren sehr erfinderisch darin, uns Spielchen aus zu denken, um Klein Erna aus der Fassung zu bringen. Sie schien unbeeindruckt, offenbar war sie, was mangelnde Disziplin von Schülern angeht, einiges gewohnt.
Wir drangsalierten sie mit einem monotonen Summen, alle zu gleicher Zeit, so dass sie den Urheber dieses Geräusches nicht ausfindig machen konnte.
Meistens aber zeigten wir unser absolutes Desinteresse am Unterricht, indem wir uns ungeniert unterhielten mit den Banknachbarn, oder in einem mitgebrachten Buch lasen.
Die Jungen flippten mit Papierschnipseln durch die Gegend, die dann auch schon mal vorne am Pult landeten. Die Fenster wurden auf und wieder zugemacht und ständig meldeten sich Schüler, um zur Toilette gehen zu dürfen.
Mitten in diesem chaotischen Durcheinander stand Klein Erna und versuchte uns die Geschichte des Deutschen Ritterordens zu vermitteln.
Sie selber stammte aus Marienburg und hatte dort noch die totale Zerstörung der Burganlage erlebt, als die Burg des Deutschen Ritterordens in Flammen aufging. Und, aus damaliger Sicht, wohl für immer zerstört bleiben würde.
Trotz des Durcheinanders im Unterricht bei Klein Erna und trotz meines Desinteresses an der Person der Lehrerin, bemerkte ich doch, wie sehr Klein Erna an ihrem Heimatort Marienburg gehangen hat. Die Geschichte des Deutschen Ostens, vor allem der Marienburg, war ihr wohl eine Herzensangelegenheit. Sie hat dieses imposante Bauwerk und Wahrzeichen der Eroberung des Deutschen Ostens offensichtlich sehr geliebt und verehrt.
Die Probleme dieser, wie ich heute sagen muss, bedauernswerten Lehrerin beschränkten sich aber nicht nur auf unsere Klasse, die gleichen disziplinarischen Schwierigkeiten, die schon einmal zu ihrer Versetzung geführt hatten, hatte sie nun auch an unserer Schule in allen Klassen.
Zunächst versuchte unser Lateinlehrer, der selber als Soldat an der Ostfront gekämpft hatte und russische Kriegsgefangenschaft kennen gelernt hatte, uns zur Vernunft zu bringen, in dem er einiges aus dem Leben von Klein Erna erzählte.
Sie stammte, wie ich schon schrieb, aus Marienburg. Beim Einmarsch der Russen wurde sie verhaftet, den Grund weiß ich nicht mehr, und in ein Straflager nach Sibirien verschleppt, wo sie unter unmenschlichen Bedingung einige Jahre verbracht hat. Einzelheiten will ich hier nicht berichten, es ist an anderer Stelle ja oft genug geschrieben, was Frauen in diesen Lagern und unter der russischen Soldateska zu leiden hatten. Ursprünglich hatte man sie zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, aber dann doch früher frei gelassen. Solche Kriegsschicksale von Frauen und Mädchen gab es seinerzeit viele. Es wurde im allgemeinen wenig Aufhebens davon gemacht.
Nach diesem Gespräch mit unserem Lateinlehrer haben dann wenigsten die Mädchen in der Klasse ihr Verhalten geändert, aber unter den Jungen gab es doch einige, die sich auch weiterhin einen Spaß daraus machten, Klein Erna zu trietzen und zu ärgern. Wie gesagt, wir waren gerade im schwierigsten Alter!
Ich war Klassensprecherin, und sah es in einer der Schulstunden nach diesem Gespräch als meine Pflicht an, einem Jungen in der Nachbarbank, der es besonders arg trieb zu zu flüstern: „Mensch, hör auf!“
Klein Erna hörte mein Flüstern, missdeutete es aber und ließ sich auch nicht durch einige Mitschüler der Klasse aufklären. Zum ersten Mal seit sie bei uns unterrichtete, verlor sie die Fassung und fuhr mich an: „Komm sofort nach vorne, ich verlange, dass Deine Mutter zu einem Gespräch zu mir kommt.“ Und setzte so das Erste Mal ein Strafverfahren gegen eine Schülerin in Gang. Mein Gerechtigkeitsgefühl wurde dabei arg strapaziert, denn eigentlich hatte ich ja mit meiner „Tat“ der Lehrerin beistehen wollen! Aber, das wurde einfach nicht zur Kenntnis genommen.
Meine Mutter war leider noch vom alten Schlage. Sie stand auf dem Standpunkt: Lehrer sind gut, machen alles richtig, wenn es Ärger gibt, liegt es immer an den Kindern“. Sie machte da auch keinen Unterschied zwischen den Kindern der anderen Leute und ihrem eigenen Nachwuchs. So war es eben früher.
Es nützte auch nichts, dass sich die ganze Klasse, die ja wusste, dass ich Klein Erna eigentlich zur Seite stehen wollte, für mich einsetzte. Klein Erna war in Fahrt, meine Mutter bekam einen Brief und wurde über ihre schlimme Tochter so aufgeklärt, dass zu Hause beschlossen wurde mich gegen meinen Wunsch und auch gegen den Rat der anderen Lehrer nach dem Absolvieren des nächsten Jahres von der Schule zu nehmen, mit dem Abschluss der mittleren Reife, und ohne Abitur.
Genau genommen hat mir die betreffende Lehrerin durch ihr unnachgiebiges Verhalten und die Verkennung der Situation meine Zukunft verbaut. Ich hätte gerne Abitur gemacht und Tiermedizin studiert. Oder Biologie. Mit meinem Vater hätte ich wohl noch reden können, aber... er redete meiner Mutter wenig in die Führung der Familie rein, weil er durch seine Krankheit gezeichnet war, und auch beruflich sehr eingespannt. Entscheidungen in Erziehungsangelegenheiten überließ er weitgehend meiner Mutter.
Wenn ich heute darüber nachdenke, so meine ich, dass es von vornherein ein Fehler der Schulbehörde war, eine Frau mit einem solchen Schicksal vor eine Klasse mit munteren pubertierenden Jugendlichen zu stellen. Sowohl die Lehrerin als auch die Schüler waren mit dieser Situation einfach überfordert. Auf der einen Seite Klein Erna, die nach ihren Kriegserlebnissen und ihrer Gefangenschaft in Sibirien jeden Humor, jeden Frohsinn verloren hatte weil man ihr das seelische Rückgrat zerbrochen hatte.
Auf der anderen Seite wir Schüler, eine Schar pubertierender Jugendlicher, die viel zu unreif waren, um die Tragweite eines solchen Schicksals begreifen zu können.
Die Geschichte hat noch eine Pointe. Wir hatten bei Klein Erna Geschichtsunterricht. Ein Fach, das ich eigentlich liebte und in dem ich immer eine gute Note hatte bis ich dann in dem Schuljahr bei Klein Erna ein Mangelhaft in meinem Zeugnis bekam.
Als wir im nächsten Schuljahr einen neuen Lehrer in Geschichte bekamen, einen Assessor, der zwar als Soldat auch noch im Krieg gewesen war und auch in russischer Gefangenschaft, aber wesentlich besser mit diesen Erlebnissen fertig geworden war als seine Vorgängerin im Geschichtsunterricht, machte mir das Fach wieder Spaß wie zuvor.
Besagter Assessor hatte manchmal Probleme einen Satz zu Ende zu bringen, im fehlte das Abschlusswort. Und ich, vorwitzig wie ich war und immer sprachgewandt, wusste stets was er sagen wollte und souflierte in dem ich seinen Satz ergänzte. Er hatte genug Humor, damit um zugehen. Und ich konnte mein Interesse an Geschichte wieder zeigen. In einer der ersten Stunden fragte er mich dann, was ich denn in Geschichte für eine Zensur im letzten Zeugnis gehabt hätte, und ich erklärte ihm, wahrheitsgemäß, unter dem Gelächter der ganzen Klasse: „eine Fünf“. Er schaute sehr verdutzt! Damit hatte er wohl nicht gerechnet.
Ich bin sicher, im Lehrerzimmer wird er auf Rückfrage bei seinen Lehrerkollegen die Hintergründe für diesen drastischen Leistungsabfall bei einer Schülerin erfahren haben. Auf jeden Fall steht in meinem Abschlusszeugnis im Fach Geschichte ein Gut.
Klein Erna ist in dem gleichen Jahr, als ich auf Wunsch meiner Mutter die Schule verlassen musste, leider „nur“ mit der mittleren Reife, auch aus dem Schuldienst entlassen worden. Was mir aber nichts mehr nützte. Und was auch von meiner Mutter nicht mehr zur Kenntnis genommen wurde. Sie hatte entschieden, und damit basta.
Man hat Klein Erna in einer Verwaltungsstelle in Münster eingesetzt um ihr wohl weitere Unannehmlichkeiten mit Schülern zu ersparen. Und das war auch besser so für beide Seiten.
So tragisch auch das Schicksal dieser Lehrerin verlaufen ist, bin ich doch bis heute der Ansicht, dass man von einer Horde pubertierender, lebendiger Jugendlicher nicht erwarten kann, dass sie damit richtig umgehen können. Man hätte Klein Erna vielleicht von vornherein diesem Stress nicht aus setzten dürfen. Und ihre Schüler auch nicht. Ohne sie hätte ich vielleicht doch mein Abi machen können und meinen Traumberuf ergreifen dürfen!
Für mich ist die Erinnerung an diese Lehrerin des wegen so wichtig, weil sie zeigt, wie der Krieg und die Folgen des Krieges selbst noch nach seinem Ende in die Schicksale von Menschen unheilvoll eingegriffen hat.
1993, nach dem Fall des eisernen Vorhangs hatte ich dann die Gelegenheit, auf dem Weg zu einer Urlaubsreise nach Masuren die Marienburg zu besichtigen. Die Burg ist von den Polen wunderbar und originalgetreu unter großen Mühen wieder aufgebaut. Nichts erinnert mehr an die Zerstörung durch den großen Brand von 1945 außer einer ausgestellten Fotoserie. Inzwischen wurde diese imposante und so geschichtsträchtige Burganlage zum Weltkulturerbe erklärt..
Wir wurden von einer polnischen Historikerin durch die Gebäude und die Anlage geführt und mir war, als ob Klein Erna neben mir ginge. Ob sie es wohl noch erlebt hat, dass die Marienburg, die sie so geliebt hat, und deren totale Zerstörung durch den großen Brand 1945 ihre letzte Erinnerung an die Burg war, aus Ruinen wieder auferstanden ist? Ich habe es nie erfahren. Weil ich Klein Erna ja nie wieder gesehen habe und ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist.
Ob sie wohl begriffen hat, welch unheilvolle Rolle sie in meinem Leben gespielt hat? Trotz allem... ich kann ihr nicht böse sein. Wir waren beide Spielbälle von Ereignissen, die wir nicht beeinflussen konnten. Sie genau so wenig wie ich. Es war der Krieg. „Kismet“ würden die Araber sagen.
Eines hat sie aber doch erreicht, obwohl ich ihrem Unterricht nie so richtig gefolgt bin, die Geschichte des Deutschen Ostens, vor allem des Deutschen Ritterordens ist für mich bis heute mit der Person dieser ungeliebten Lehrerin verbunden! Immer, wenn ich etwas zu diesem Thema höre oder lese, sehe ich die kleine, unscheinbare Gestalt vor mir, wie sie krampfhaft versucht, einer Klasse von randalierenden und aus den Fugen geratenen Jugendlichen die Geschichte der ehemals deutschen Ostgebiete zu vermitteln, die einmal ihre Heimat waren.
Texte: ©bei der Autorin
Bildmaterialien: © Cover Privatfoto der Autorin
Lektorat: Die Autorin
Tag der Veröffentlichung: 01.02.2014
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