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Der kleine dicke Mann

Als ich ihn zum ersten Mal traf, da war er schon „der kleine dicke Mann“. So kannte man ihn und so nannte ihn jeder wenn er von ihm sprach.

Wir begegneten uns das erste Mal in einem Kaffee bei einer Dichterlesung. Der kleine dicke Mann saß in der ersten Reihe und war auch der erste, der begeistert klatschte, als der Autor das letzte seiner Gedichte für den Abend zitiert hatte.

Ich selber tat mich etwas schwer mit dem Klatschen. Die Gedichte waren zwar von ausgewählter Sprache. Man merkte wie sich der Autor bemüht hatte, jeden Anflug von Alltagssprache zu vermeiden, um dem Zuhörer und Leser seiner Gedichte seine große Belesenheit und Gelehrsamkeit vor zu führen. Meine Gefühle angesichts dieser hoch geistigen Kost waren etwas zwiespältig. Und so klang das leichte aneinander Schlagen meiner beiden Handinnenflächen etwas verhalten.

Der kleine dicke Mann war im Gegensatz zu mir aber offensichtlich so beeindruckt von dem hoch geistigen Vortrag, dass er sich nicht zurück halten konnte, begeistert Beifall zu klatschen am Ende der Veranstaltung.

In den folgenden Jahren ergab es sich, dass ich den dicken kleinen Mann noch des öfteren traf auf allen möglichen Veranstaltungen.

Und immer wieder beobachtete ich bei ihm am Ende jeder Veranstaltungen die gleiche Begeisterung wie an jenem Abend unserer ersten Begegnung, als der Dichter XYZ seine Gedichte vortrug.

Überhaupt schien der kleine dicke Mann ein sehr lebensbejahender, liebenswerter Typ zu sein. Denn, immer wenn ich ihm begegnete, schien er Beifall zu klatschen. Ganz egal, um welch eine Situation es sich handelte. Ob er sich im Kreis von Schülern befand, die eine Pop-Group begründet hatten, oder ob er in einem Konzert der Philharmonie unserer Nachbarstadt lauschte, die in unserer kleinen Stadt regelmäßig Konzerte der Klassik darbot.

Irgend wie drängte sich mir der Eindruck auf, dass der kleine dicke Mann sich überall auskannte, und in allen Sätteln gerecht war.

Dazu trug er ein ständig freundliches Gesicht zur Schau. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass dieser Mann irgend wann einmal mit der Faust auf einen Tisch hauen konnte, oder von irgend einer emotionalen Explosion heim gesucht wurde.

Alles an ihm war anpassungsfähig, jovial und bejahend.

Und genau das war sein Problem. Eines Tages lernte ich den kleinen dicken Mann nämlich etwas näher kennen. Es stellte sich heraus, dass der kleine dicke Mann und ich beide mit der gleichen Familie befreundet waren. Er war in jungen Jahren mit dem Hausherrn in die gleiche Schule gegangen und mich verband eine lange Mädchen Freundschaft mit der Hausherrin, wir waren Nachbarkinder gewesen und hatten uns nie so ganz aus den Augen verloren.

Und so erfuhr ich dann in einem vertraulichen Gespräch mit meiner alten Freundin, dass der kleine dicke Mann einen schlimmen Geburtsfehler hatte: Er konnte nicht NEIN sagen. Es war ihm einfach nicht möglich. Was immer man ihm auch anbot, antrug oder vortrug, er sagte JA zu allem und jedem.

Vor allem die vielen Angebote, die ihm bei Einladungen zum Essen gemacht wurden, „Bitte, nehmen sie doch noch ein Stück von dem köstlichen Kuchen“, oder ähnliche Aufforderungen sich doch ein weiteres Mal der auserlesenen Speisen zu bedienen, lehnte er nie ab. Selbst wenn er eigentlich satt war fiel es ihm im Traum nicht ein, NEIN zu sagen und der Aufforderung nicht nach zu kommen.

Und so konnte es eben nicht ausbleiben, dass der Gute, der in jungen Jahren nach Aussage seines Schulfreundes ein durchaus gut gewachsener schlanker junger Mann gewesen war, mit den Jahren beträchtlich an Gewicht zu legte und sich den Namen erwarb „der kleine dicke Mann.“

Außerdem galt er als ein außerordentlich kluger und intelligenter Zeitgenosse, weil er jedem bestätigte, Recht zu haben. Durch nichts kann man nämlich einen Gesprächspartner besser von der eigenen Intelligenz überzeugen, als wenn man dessen Meinung in allen Punkten bestätigt und mit ihm teilt! Weil man einfach nicht NEIN sagen kann!

 

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Texte: © bei der Autorin
Bildmaterialien: © Google
Tag der Veröffentlichung: 29.12.2013

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