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Mein schönstes Adventserlebnis

Es war der Samstag vorm 1 Advent im Jahr 1946. Ich war damals 11 Jahre alt. Im Mai des vorherigen Jahres hatten die Engländer meinen Vater genau wie viele andere Deutsche wegen ihrer Partei Zugehörigkeit ohne Anklage weg geholt und eingesperrt. Wie erst in den letzten Jahren bekannt wurde, hatten die Besatzer Angst vor Vergeltungsanschlägen durch die „Nazis“ So wurden dann alle Bürger, die während des Krieges in irgend einer Funktion tätig waren, ohne Angabe von Gründen interniert. Mein Vater war leitender Arzt eines Sanitätstrupps, der nach den Bombenangriffen die Verwundeten und Toten aus den Luftschutzkellern barg. Das war sein „Kriegsverbrechen.“ Die ersten Wochen wusste meine Mutter nicht, wo er war. Später wurden die Internierten dann in ein großes Lager in der Senne bei Bielefeld verbracht. Das Lager musste erst noch erbaut werden, und die Insassen hatten die ersten Monate mit dem Aufbau von Drahtverhauen, Baracken usw. genug zu tun. Aus dem Lager bekamen die Angehörigen der Internierten dann auch endlich Nachricht, wo sich ihre Männer, Väter und Söhne befanden.

Weihnachten 1945 hatten wir schon ohne meinen Vater gefeiert. Und nun kam Weihnachten 1946 und wir hatten uns darauf eingerichtet auch dieses Mal ohne ihn das Weihnachtsfest zu feiern.

So holten wir dann, wie jedes Jahr, am Samstag vorm 1.Advent die Weihnachtskiste vom Boden und meine Mutter machte sich mit uns drei Schwestern und unserem Dienstmädchen Lottchen daran, die Wohnung weihnachtlich zu schmücken.

Wir wohnten in Bahnhofsnähe, und die Küchenfenster zeigten in Richtung Bahnhof. Während wir alle mit unserer Arbeit beschäftigt waren, wir bewohnten ein ganzes Haus und es gab viele Räume zu schmücken, hörten wir, dass ein Zug am Bahnsteig ein fuhr. Meine Mutter blickte auf, dann sagte sie ganz spontan: „ Ich glaube, Papa kommt heute zurück. Ich gehe zum Bahnhof und hole ihn ab“ Ohne ein weiteres Wort legte sie ihre Schürze ab, griff zum Mantel und ging zur Tür raus. Wir Geschwister und unsere Lottchen wussten nicht, wie uns geschah.

Es dauerte nicht einmal eine volle Stunde, als wir hörten, das unten die Haustür auf gemacht wurde und: Mein Vater, abgemagert zum Skelett, aber mit glücklich strahlendem Gesicht, stand in der Tür. Später erfuhren wir, dass er Krebs hatte und sehr krank war und deswegen entlassen worden war. Er hatte noch einen Kameraden mit gebracht, der durch die Kriegswirren die Verbindung zu seiner Frau verloren hatte, und nicht wusste, wohin er nach seiner Entlassung gehen sollte. Er ist die nächsten Wochen bei uns geblieben, bis er seine Angehörigen wieder gefunden hatte.

Als die beiden Männer am Bahnhof meine Mutter gesehen hatten, hat mein Vater zu seinem Begleiter nur gesagt: „Siehste, ich habe Dir doch gesagt, meine Frau holt uns am Bahnhof ab. Du wolltest es ja nicht glauben!“

Und selbst Geschenke waren nicht vergessen. Mein Bruder bekam einen handgenähten Elefanten, der aus dem Flicken Rest einer groben alten Decke genäht war und wir drei Schwestern je einen kleinen Hund aus dem gleichen Stoff. Ein kleines Lineal, dass mein Vater sich aus einem Gaumenspachtel selber gefertigt hatte, hat mich meine ganze Schulzeit begleitet. Ich habe es heute noch. Und ich habe auch noch ein selbstverfasstes, in Schönschrift auf einfachem Papier geschriebenes Gebet, das mein Vater von einem Kameraden geschenkt bekam, der keine Angehörigen hatte, die ihm Futterpakete ins Lager senden konnten, und den er aus seinen Paketen mit versorgte. Unsere ganze dörfliche Verwandtschaft schickte regelmäßig Esspaketen in das Lager, sobald dieses von den Besatzern erlaubt wurde. Deswegen konnte mein Vater hungernden Kameraden, die keine Verbindung zu ihren Angehörigen hatten, und keine Pakete bekamen, noch von seinem Überfluss abgeben. Auch die kleinen genähten Tiere hatte er bei den Kameraden, die so etwas im Lager her stellten, mit Schätzen aus diesen Fresspaketen ein getauscht.

Jedes Jahr, wenn ich meine Weihnachtssachen vom Boden hole und die Wohnung schmücke kommt bei mir wieder die Erinnerung an diesen schönsten ersten Advent in meinem Leben. So einfach und schlicht wir in den Notjahren auch feierten, Geschenke fielen auch in den Folgejahren nicht all zu üppig bei uns aus, weil die Krankheit meines Vaters für die Familie viele wirtschaftliche Probleme mit sich brachte, nie wieder habe ich die Adventszeit schöner in Erinnerung behalten, als in diesen Zeiten wirtschaftlicher Not. Wir waren alle zusammen. Und das war die Hauptsache.  

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Texte: © bei der Autorin
Bildmaterialien: Privatfoto der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 09.12.2013

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