Die Nachmittagsluft steht im Zimmer. Ein bisschen grau, durchspickt von einem seltsam gedämpften aber grellen Licht. Die Menschen in den Zimmern gegenüber, hinter den Fenstern, neben der Spiegelung meines eigenen Gesichts in meinem Fenster sitzen konzentriert an ihren kleinen flimmernden Bildschirmen und vergrößern, duchstöbern und ordnen Papierstapel.
An Abenden wie diesen ist mein Kopf ein wildes Grußelkabinett aus tausenden und abertausenden Schnipseln und Fetzen von Gedanken voller Bilder. Szenen brechen auf mich hinein, als würde ich den Film des Tages an verschiedene Stellen spulen und als würden diese zusammengespulten Stellen alle nebeneinander und wild durcheinanderwechselnd vor meinem inneren Auge ablaufen. Ich höre Stimmen und sehe zu den gesagten Sätzen sich bewegende Münder in dazugehörenden Gesichtern und im Hintergrund verschwommen den Schauplatz des gesagten Satzes. In solchen Momenten muss es um mich still sein und alles bricht mit Getöße über mir ein und ich kann nicht anders, als es über mich ergehen zu lassen.
Dann kann ich keine Menschen um mich haben und wenn ich darüber nachdenke ist dies auch ganz logisch: Noch mehr Menschen bedeuteten noch mehr sprechende Münder, noch mehr schillernde Sprechblasen mit unendlich viel Dezibel und ratterndes Epsiodenkarussell. Andererseits passiert es auch nur in der Stille. Und dann lebe ich in meiner Blubberblase, in meiner eigenen kleinen chaotischen Welt und kann nichts tun. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen, ich könnte nur welche fassen, die sich im Nachhinein als ersponnen und hineingesteigert erweisen würden. Ich möchte auch meine Papierstapel ordnen und Fachbücher lesen und in meiner modernen Flimmerkiste wunderbare wissenschaftliche Abhandlungen auf die Welt bringen. Aber ich bin irgendwo in mir drinnen.
„Lass uns rausgehen und Schatten boxen!“, sage ich und spreche einfach mit jemandem, weil ich mich verlassen, aber alles andere als alleine fühle. Wir verlassen das Zimmer, gehen zwei Schritte durch den engen Flur, sehen aus dem Augenwinkel die Küche an uns vorbeiziehen, überall diese Lichtstrahlen, die Staubkörnchen wie in Zeitlupe tanzen lassen. Der Geruch von draußen zieht herein, als ich die Wohnungstüre öffne – gemischt vom Zitrusgeschmack des Bodenputzmittels. Ich muss mich immer an die Türe hängen, es ist als ob sie sich davor ziert, sich zu öffnen. Die Treppen hinunter, das Getummel kommt näher.
Den Moment muss ich auskosten – wenn sich ein nur fühlbarer Schleier über die Hausdächer legt. Dann werden sich die Stadtparkbäume sanft wiegen, die Menschen werden langsamer gehen, die Schatten werden sich länger ziehen, die Gassen dunkler, die Luft würziger werden. Vielleicht kocht mein innerer Eintopf dann noch über, aber die Stadt ruft. In mir das Chaos, in meinem Zimmer die Stille. Gleiches zu Gleichem – ich brauche Stadt.
Nun ein paar Schritte über den kühlen Kachelboden, dann die zweite Tür – sie steht offen wie immer. Ich trete hinaus.
Heute will ich es wagen. Das Gefühl, wenn man sich dem Leben hergibt, wie der Kick der unendlichen Nacktheit, wie der Trip der unendlichen Weite, wie der Rausch des unendlichen Adrenalins.
Der Waldmeisterduft in meiner Nase. Das Absolute. Hat nicht einmal einer gesagt, mit Worten lässt sich das Absolute nicht ausdrücken, denn Worte beschreiben und alles was beschrieben wird ist bloß ein reines Faktum und nicht mehr? Ich muss es spüren.
Ich nehme sie an die Hand und steige in eine Bahn ein. Bahnfahren kann eine der unangenehmsten Dinge der Welt sein, aber nur, wenn man nicht in einer Großstadt lebt. Wenn die Menschen nicht von den metropolitanen Paradiesvögeln abgelenkt sind, die jeder ohne Scheu anstarrt, dann wissen sie nicht wohin sie schauen sollen und starren angestrengt aus dem Fenster oder - wenn einer das Pech hat im Gang zu sitzen - Löcher in die Luft. Oder sie wagen es, ihre Mitfahrer mit einem verstohlenen Beäugeln zu streifen.
Ich stelle mir vor, es steigt plötzlich einer dieser Paradiesvögel ein, denn heute fehlt ein solcher schmerzlich. Er hat einen französischen Schnurrbart und ein türkisfarbenes schillerndes Kostüm an, das glänzt und raschelt, wenn er sich bewegt. Er hat irgendein kleines Gerät unterm Arm aus dem elektronische Beats geschleudert werden, stellt es ab, geht in die Knie und schwingt sich auf die Decke der Bahn- schüttelt seinen Körper kopfüber in ekstatischen Verrenkungen und schwungvollen Verdrehungen seiner gummiartigen Gliedmaßen. Dann lässt er sich auf den Boden zurückfallen, schreit mit einem markzerreisenden schrillen Ton „Buttermilch!!“ und steigt aus.
Ich muss schmunzeln, weiß genau, dass ich darüber nachdenke, was mein Gegenüber sich nun denken muss, der ja nicht meine Vorstellung über die französische Techno-Tanzeinlage sehen konnte – und steige aus. Wieso stelle ich mir so etwas vor?
Wir schlendern in eindrucksvoll unsichtbaren Seifenblasen auf dem Weg der Fantasie. Die Realen laufen neben uns. Aber scheinbar können sie uns nicht durch unsere Seifenblasenwand hindurch berühren. In den Gassen sehe ich sie – all die Fabelwesen-Hirngespinste. Sie krabbeln die romantischen bunten Hauswände entlang. Ich sehe die Ninja-Kämpfer über die hohen Vorstadtterrassen springen, dort wo der Strand auf den Betondächern wabert. Ich spüre, neben der Straße stehend, im Zug der vorbeirasenden Autos, im Gedröhn der Straßenbahnen, im Zischen und Züngeln der Fahrradkolonnen, wie in einer anderen Zeit Pferdehufe die feuchte Erde zerquetschten, wie Grasbüschel im Galopp dahinflogen und erinnere mich an den aufgewedelten Staub daheim – im untergehenden Sonnenlicht tanzend.
Wir setzen uns mitten auf einen Platz, neben einen Stand, der vor Einbruch der Nacht von einer Frau im Esmeralda-Kostüm abgebaut wird. Sie schenkt uns eine Cafétasse im Retro-Style, bevor wir weitergehen und noch ein Stück quer über den flink zerfallenden Flohmarkt laufen. Die Leute gucken, ich versuche sie zu ignorieren und nicht darüber nachzudenken, wie ich wohl im Moment schauen mag. „Nehmen wir den Aufzug.“, sage ich. „Den Aufzug wohin?“ „Nach oben. Wo die Luft dünn und salzig ist.“
Es ist dann, wenn der Cocktail der Stadt-Impressionen dich in seinen bunten Strudel reist, wenn er all deine Sinne in seinen verführerischen Sog zieht. In deinen Ohren hallt der Takt der Pfennigabsätze auf dem verkohlten Sommerasphalt und das Lachen der Leute auf den Straßen, in den Cafés, in den Läden, den Promenaden, aus den Fenstern der angemalten Häuserblöcke heraus. Auf deiner Zunge liegt der Geschmack nach Sonnencreme, Passionsfrucht und salzigen Tränen, in deiner Nase der Duft nach Tabak, Ölkreide, Abgas und grünem Wiesengras, durch deinen Körper strömt der Beat der Nacht, durch deine Seele der Gitarrenklang am Waldrand. Und überall dieser Waldmeistergeruch – langsam glaube ich, er wächst mir in der Nase.
Du spürst den Drang danach, dich gehen zu lassen, du spürst den Druck der auf dir lastet, weil unzählige Ansprüche täglich an deinen übervollen Kopf klopfen, in deine zarte Haut zwicken – du musst die Uni ernst nehmen, du musst all das neue Wissen in dich aufsaugen, du musst den Job richtig machen, du darfst die Freunde nicht vergessen, die Familie nicht missen, dich entwickeln.
Und da siehst du sie – die Unvereinbarkeit. Es geht nicht voller Ernst und begeistert vom Wissen der antiken Denker. Es geht nicht traurig und im Selbstmitleid badend. Es geht nicht verwirrt und wie ein alter Skeptiker den Wahrheitsgehalt der Welt anzweifelnd (denn wo bist du noch, wenn du weggezweifelt bist?). Es geht nicht lachend und befreit, denn in der nächsten Sekunde steht die nächste Pflicht vor deiner Tür. Es geht nicht ernsthaft und sauer auf irgendetwas, Hauptsache etwas.
„Wenn du nun loslässt, dann geht es.“ Aber wir gehen weiter, ich sollte heute nicht zu lange wach bleiben. Ich spüre, wie unsichtbare Finger nach mir haschen und die Lust nach Großstadtrausch mich packt, ich spüre von weither einen Bass durch meinen Körper wummern, meine Kehle ist trocken und lüstern nach dem Getränk der sieben Sinne. Der große Bildschirm am Gebäude vor mir wirft den Vorübergehenden bunte Schatten ins Gesicht.
Irgendwann komme ich an und wir setzen uns auf den großen Wiesenberg am oberen Horizont und schauen auf die Stadt hinab. Man kann sich auch in Ruhe hingeben. Man muss tapfer sein auf der Welt. Wenn man sich ihr öffnet, ist man frei, aber verletzlich. Wenn man sich vor ihr verschließt, ist man in sich selbst gefangen und von sich selbst erdrückt. Ich bin ein Gedankenknäuel, wenn ich durch die Straßen laufe. Ich denke und denke und es geht mir so unheimlich auf die Nerven.. Wir sitzen eine Weile nebeneinander und spüren das weiche Gras unterm Hosenboden, fühlen die sanfte Abendbrise, unsere Augen sich feucht vom Anblick der goldenen Stadt. Der Puls der Hochhausgerippe, der bis zu uns hinauf die Luft zittern lässt. Doch wir sind in Ruhe.
Irgendwann dreht sie sich zu mir, schaut mich an und sagt: „Schwester, ich gehe jetzt.“ Alsbald bildet sich ein Kloß in meinem Hals, ein kleiner Adrenalinstoß geht irgendwo durch mich, ich sehe in ihr Gesicht, warm leuchtend von der nahenden Sommernacht. Und ich spüre, dass ich sie nicht aufhalten kann. Ich unterlasse es auch, etwas zu erwidern.
„Und ich nehme deine Luftblase mit.“
Sie gibt mir einen sanften kurzen Kuss auf die Wange. Ich sehe ihr nach, wie sie leicht über die Wiese läuft und hinter den Laubbäumen verschwindet. Im nächsten Moment trifft mich die Erkenntnis wie ein Schlag – ein eiskalter Schauer rinnt mir den Rücken entlang: Ich bin nackt.
Ich schlinge die Arme um mich selbst, ziehe die Knie an, kauere auf der Wiese und fiebere krankhaft nach einem anderen Ausweg. Das Gras zwischen meinen Fersen und meinem Bauch, das ich sehen kann, wenn ich den Kopf zwischen den über den Knien verschränkten Armen durchstecke, ist frisch und duftet. Es ist wie immer.
„Tschüss, Kleine…“, murmele ich und es ist mir jetzt egal, ob es einer hört.
Ich hebe den Kopf wieder und höre wie jemand von hinten über das Gras geht. Ich lausche, wie nackte Füße an mir vorbeigehen und sehe vor mir eine ältere Dame, die sich nun hinstellt und auf die dunkel glühende Stadtkugel hinunterschaut. Ihr altroséfarbener Rock weht leicht im Wind, sie scheint die runzelige Nasenspitze in die Luft zu recken. Nach einer Zeit sagt sie mit sanfter Stimme: „Du hast gewusst, dass ich komme. Sonst hätten wir uns nun hier nicht treffen können – ich bin nun hier und deine Seifenblase ist davon." Sie schweigt und lässt ihre Worte in mir nachhallen. Können Tagträume so unheimlich real wirken? Für einen kurzen Moment schockt mich der Gedanke daran, dass all die Gedankengestalten der letzten Stunden real werden könnten.
"Wir waren übrigens alle schon die ganze Zeit da.“ Ihr Blick richtet sich auf einen Punkt hinter meinem Rücken und ich drehe mich ihm folgend um. Unter den Laubäumen sitzen ein paar weitere ältere Damen und trinken mit Röhrchen Eistee aus Dosen, sie grinsen und kichern. Manche schweigen. Die Dame neben mir sagt: „In deiner Seifenblase hast du dich versteckt und allen anderen vorgeworfen dich nicht wahrzunehmen. Dabei hast du selbst alle anderen nicht bemerkt. Ich bin die Erkenntnis dieser Tatsache. Du musst dich nicht ergeben. Aber das Leben besteht scheinbar, was das Menschgemachte betrifft, auch aus Willkür. Du rettest dich nicht in einer Seifenblase. Stell dich.“ Ich stehe auf und klopfe mit das zerdrückte Gras von den Kleidern. Sie streckt mir eine Dose Tee hin. „Mit viel Farbstoff!“, bemerkt sie und zwinkert.
"Je länger du deine Seifenblase um dich lässt, desto undurchsichtiger wird die Haut, die dich vom Leben trennt. Wenn nun ein Dachziegel vom Himmel fällt, wird deine Seifenblase dir nicht helfen können."
Sie schaute wieder zu ihren Kolleginnen auf und diese hoben die Dose zum Anstoß.
Wenn nun Leute zu WG-Parties kommen und eine alte Eistee-Dose auf meiner Kommode stehen sehen, werden fragen sie sich, welche Art von Deko-Fetischismus das wohl sein mag. Dass andere Leute mit dieser Dose nichts anfangen können werden, mag auch daran liegen, dass sie in ihrer pinkfarbenen Inhaltsstoff-Angabe nicht „Trau deiner Kraft“ lesen können. Schließlich steht zwischen den Zeilen so einiges - natürlich für jeden mit der eigenen Bedeutung.
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Tag der Veröffentlichung: 25.04.2009
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