Es gibt Legenden über starke, todesmutige Männer und verführerische Frauen, über mystische Wesen, über göttliche und teuflische Kreaturen.
Doch diese Legende erzählt von nichts Übersinnlichem. Diese Legende ist nicht nur eine Legende, nein, sie ist wahr. Es ist die Geschichte über Klaus Störtebeker, den gefürchteten Piraten der Nord- und Ostsee. Es gibt zahlreiche Sagen und Legenden um seine Person und jede einzelne ist ebenso erstaunlich wie alle anderen.
Auf Rügen geboren ist der junge Klaus ein Leibeigener. Seine Eltern schinden sich als Bauern, ebenso wie ihr Sohn, für ihre Gutsherren ab. Zu einem jungen Mann herangewachsen nimmt er im Geheimen einen Schluck Met aus dem Krug seines Leibeigners. Er wird dabei erwischt und soll bestraft werden. In Fesseln gelegt wird er geprügelt. Doch er sprengt die Fesseln, schlägt die Folter nieder und sucht schnell das Weite, sieht diesen Ort nie wieder.
Am Kap Arkona erblickt der junge Klaus eine Kogge, die unter dem Kommando von Seeräubern steht. Er bittet um Aufnahme bei der Mannschaft und der berüchtigte Hauptmann Gödeke Michels stimmt schließlich zu. Es gibt jedoch eine Bedingung für seine Aufnahme: Der junge Mann soll seine Kraft unter Beweis stellen. Ohne Mühe zieht Klaus ein Hufeisen mit bloßen Händen auseinander und drückt eine Zinnschüssel mühelos zusammen.
Durstig von seiner Kraftprobe fragt der Bauernsohn nach einem Schluck Met. Der Hauptmann reicht seinem neuen Mannschaftsmitglied kurzerhand den größten Becher an Bord, den der junge Klaus in einem Zug ausleert. Erst einmal, dann zweimal und schließlich ein drittes Mal. Der stiefelhohe Becher ist jedes Mal bis auf den allerletzten Tropfen geleert, und so entsteht sein Name. Denn beeindruckt von der Trinkfestigkeit des Mannes ruft Michels: "Du sollst von nun an Störtebeker heißen, für Stürz den Becher."
Die Piraten kapern Schiff um Schiff und rauben vor allem der Hanse den letzten, klaren Gedanken. Wegen seiner beeindruckenden Kraft und seiner ausgesprochenen Kühnheit ernennt Gödeke Michels den im lieb gewonnen Klaus Störtebeker ebenfalls zum Anführer der Piraten. So beginnt der Siegeszug des meistgefürchteten Seeräubers der Ost- und Westsee.
Doch vor allem der Tod des Klaus Störtebeker ist unsterblich. Unmögliches schaffte er der Legende nach:
Bei Helgoland liefern sich die Piraten um Klaus Störtebeker mit der Hanse einen letzten entscheidenden Kampf. Doch ein Verräter gießt Blei in das Steuerruder der Piraten, sie haben keinerlei Chance. Von dem Schiff Die bunte Kuh unter dem Kommando von Simon van Utrecht werden die geschlagenen Seeräuber nach Hamburg gebracht. Auf dem Grasbrook sollen sie hingerichtet werden.
Bevor jedoch der Hauptmann Störtebeker geköpft wird, äußert er eine letzte Bitte. Jeder Mann, an dem er ohne Kopf vorbeigehen kann, soll verschont werden. Belustigt stimmt der Bürgermeister zu.
Klaus Störtebeker wird im Jahre des Herrn 140geköpft und wandert aufrechten Ganges an elf seiner Männer vorbei. Wahrscheinlich wäre er noch an weiteren vorbeigeschritten, die lange Reihe entlang, hätte der Henker ihm kein Bein gestellt. Der Kopflose fällt zu Boden und bleibt leblos liegen. Doch Gnade wird keinem Pirat zuteil, stattdessen werden alle von Störtebekers dreiundsiebzig Gefährten hingerichtet.
Man sagt, der Schatz Störtebekers war in den Masten seines Schiffes versteckt und ein armer Tagelöhner entdeckte ihn. So blieb Störtebeker auch nach seinem Tod noch der Robin Hood der Meere. Er nahm von den Reichen und gab es an die Armen und teilte die Beute gerecht unter seinen Männern auf.
Klaus Störtebeker, eine lebende Legende in den Herzen der Menschen.
"Bitte, bitte! Erzähl uns eine Geschichte, Großmutter Amalia! Bitte, bitte!" Die Kinder waren wie immer ungeduldig. Sie liebten die Geschichten der alten Frau, die fast täglich in die Taverne Zum Wikinger kam und Unglaubliches zu berichten wusste.
Amalia war wirklich alt. Die Zeit hatte ihre Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen und auch ihre Gangart zeugte vom hohen Alter der Dame. Die Haare der Frau waren zwar noch immer ziemlich lang, doch ihre ursprüngliche Farbe war einem silbernen Grauton gewichen. Trotzdem sah sie freundlich und liebenswürdig aus. Denn die Falten um ihre blau-grauen Augen ließen diese bei jedem noch so kleinen Lächeln funkeln, ließen ihre Augen strahlen. Ihre Art war einnehmend, jedermann mochte sie. Denn eine so herzliche Dame, wie sie es war, konnte man nur gern haben.
Gemächlich trottete sie zu ihrem Schaukelstuhl, der schon seit langer Zeit einen festen Platz in einer Ecke der Taverne hatte. Als sie sich mit einem Stöhnen auf den Stuhl niederließ, wurde es mucksmäuschenstill in dem kleinen Häuschen. Alle waren gespannt auf die Geschichten der Alten. Jedermann hörte ihr allzeit gerne zu.
"Also", begann sie in aller Ruhe und rutschte noch ein wenig auf dem Stuhl herum, um es bequem zu haben, "was soll ich euch heute erzählen?"
Sie grübelte und schien die Frage mehr an sich selbst gerichtet zu haben als an ihre aufmerksamen Zuhörer. Dennoch rief eines der Kinder ohne zu zögern: "Wie hat Klara Nicolas überhaupt kennen gelernt?"
Ein Lächeln erschien auf dem Gesicht von Amalia. Ein liebevolles, zartes Lächeln, aus dem große Zuneigung sprach. Sie sprach gern über Klara und Nicolas, das wusste jeder in Ralswiek. Aber welch enge Beziehung sie wirklich zu ihren Lieblingen pflegte, wusste keiner so genau. Jeder hielt Klara und Nicolas lediglich für zwei Figuren, die der Fantasie der alten Frau entsprungen waren. Doch es war in Wirklichkeit ganz anders. Nur wusste das keiner, weil auch niemand danach fragte. Wenn sich doch einmal eines der Kinder danach erkundigte, warfen die Erwachsenen sofort ein, dass man so etwas nicht frage. Solche Fragen würden die Illusion der Geschichte zerstören. Dann schenkte die Alte jedem ein freundliches Lächeln und schaukelte in ihrem Schaukelstuhl vor und zurück, vor und zurück, vor und zurück.
"Nun gut, ich erzähle euch heute, wie sich die hübsche, junge Klara und der raubeinige Nicolas zum ersten Male begegnet sind." Ihre Stimme war angenehm ruhig und ihr Geist schien bereits nach diesen wenigen Worten abzudriften. Abzudriften in eine Welt, die nur sie gesehen hatte. Die alte Amalia blühte auf, sobald sie auch nur anfing eine ihrer abenteurerischen Geschichten zu erzählen.
Die Geschichten lenkten von den eigenen Sorgen ab, die mit dem herannahenden Winter auftraten. Während sich draußen die Blätter allmählich bunt verfärbten, die Kälte ihre langen Finger ausstreckte und die Tage immer kürzer wurden, hörte man gerne altbekannte Geschichten. Sie ließen einen vergessen, dass man die jährliche Arbeit noch nicht vollends geschafft hatte, dass man noch nicht genau wusste, wie man über den langen Winter kommen würde, weil zu wenig Geld für Essen und Trinken da war, oder dass man sich große Sorgen machte, ob das Haus dem Winterwind standhalten würde und in der Lage war, einen vor der tödlichen Kälte zu schützen. Dafür waren Amalias Erzählungen mehr als gut. Sie waren fantastisch, um für ein paar Stunden die Welt außerhalb der Kneipe zu vergessen.
"Es war im April 1422, als Klara gerade dabei war auf der Wiese hinter ihrem großen Haus einen Blumenstrauß zu pflücken... Ich saß gerade auf der farbenfrohen Wiese, da kam..."
Niemand störte sich daran, dass Amalia nun aus der Sicht ihrer Lieblingsfigur Klara van Utrecht berichtete. Denn das tat sie immer, es war normal für die in der Kneipe anwesenden Menschen. Normal für die kleinen Kinder und normal für die tüchtigen Erwachsenen, die tagein und tagaus ackerten, um für ihre Familien zu sorgen.
* * *
Ich saß gerade auf der farbenfrohen Wiese hinter unserem großen Haus und war dabei einen pompösen, bunten Blumenstrauß zu pflücken. Da kam meine kleine, verrückte Freundin Freya angerannt. Eilig kam sie auf mich zu. Sie hatte ihren Rock nur halbherzig hochgerafft, weshalb es fast schon vorhersehbar war, dass sie stolpern und hinfallen würde. Völlig aufgeregt rief sie mir im Rennen zu, achtete nicht auf ihre Füße: "Klara, Klara! Ich... Es sollen..." Sie war völlig außer Atem. Sportlich war Freya noch nie gewesen. Statt an der langen Schlange für Sportlichkeit und Geschick anzustehen, als diese Eigenschaften verteilt wurden, hatte sie sich lieber für die Aufmüpfigkeit und das freche Mundwerk gemeldet und aus voller Kehle geschrieen: "Hier, hier! Ich will, ich will!"
Freya war hübsch. Sie war zwar klein, wirkte aber keinesfalls zerbrechlich. Ihre braunen, langen Haare trug sie stets zu einem Reiterzopf gebunden – sehr zum Leidwesen ihrer hoch angesehenen Familie – und in ihren rehbraunen Augen glitzerten goldene Sprenkel, wenn die Sonne schien.
Meine Vorahnung eines Sturzes bewahrheitete sich schneller als gedacht. Als sie nur noch wenige Schritte von mir entfernt war, ließ sie ihren Rock achtlos fallen und verhakte sich prompt beim nächsten Schritt in dessen Saum. Das Geräusch von reißendem Stoff vermischte sich mit einem Schreckensschrei von Freya. Zuerst strauchelte sie nur leicht und versuchte ihr Gleichgewicht wieder zu finden, indem sie mit den Armen ruderte. Doch das machte alles nur noch schlimmer. Ihr Gleichgewicht schien sich nämlich gerade versteckt zu haben und unauffindbar zu sein, weshalb Freya wenig später auf ihrem empfindlichen Hinterteil landete und entrüstet auf ihren zerrissenen Rock schaute.
Ich musste über ihre Tollpatschigkeit lachen, was ich gekonnt vorgehaltener Hand versteckte. Denn Freya ärgerte sich und fluchte leise: "Zum Teufel noch eins!"
Sie ärgerte sich jedoch nicht über ihre Ungeschicklichkeit sondern viel mehr über den blauen Fleck, den sie von diesem Sturz davontragen würde und der ihr makelloses Antlitz zerstören würde. Freya konnte so oberflächlich wie kein anderer sein! Sie ärgerte sich außerdem über ihren zerrissenen Rock. Denn dieser Rock gehörte – wie fast jedes Kleidungsstück in ihrem Schrank – zu ihren Lieblingssachen.
Als Freya ihre Kleider wieder einigermaßen gerichtet hatte und erneut fest auf beiden Füßen stand, kam sie vorsichtiger und langsamer zu mir herüber. Derweil war ich aufgestanden, meine blumigen Eroberungen in einer Hand. "Was ist denn los, Freya", fragte ich neugierig.
"Hast du... Hast du es etwa noch nicht gehört?" Sie war immer wieder aufs Neue entsetzt, dass ich mich überhaupt nicht für den Klatsch und Tratsch der Leute begeistern konnte. Denn während ich mir zu jeder Zeit selbst ein Bild von allem machte, war Freya das komplette Gegenteil von mir. Sie vertraute den Gerüchten blind und schloss sich immer der Meinung dieser Gerüchte an. Sie gab sich nicht einmal die Mühe, sich eine eigene Meinung zu bilden. Das war ihr zu aufwendig.
Ich schüttelte den Kopf. Woher sollte ich schon wieder den Stadtklatsch kennen, wenn ich sowieso nichts darauf gab? Aber Freya ging stets davon aus, dass ihre Einstellung die Einstellung von jeder Frau, jedem Mann und jedem Kind war. Sie scherte sich einen Dreck darum, dass es nicht so war, dass es auch noch Menschen gab, die offen und unvoreingenommen durch die Welt gingen.
"Aber es wird doch überall davon geredet! Du musst es schon gehört haben." Ihre Stimme überschlug sich beinahe vor Aufregung. Manchmal war meine beste Freundin für mich einfach ein komplettes Rätsel!
"Nein, ich habe noch nichts gehört. Aber so wie ich dich kenne, werde ich es in wenigen Sekunden sowieso wissen, ob ich es hören will oder nicht!"
Auf dem Gesicht des Mädchens mit den rehbraunen Augen breitete sich ein Grinsen aus, das zunehmend breiter wurde. "Da hast du vollkommen recht, meine liebe Klara!" Sie holte noch einmal tief Luft, bevor sie mit ihren detaillierten Ausführungen begann. "Also... In der Stadt geht das Gerücht umher, dass ein fremdes Schiff heimlich angelegt hat. Es legen ja viele Schiffe in Stralsund an, aber dieses soll anders sein als die restlichen. Die Leute munkeln, dass es nicht unter der Flagge der Hanse und nicht unter politischer Flagge segelt." Freya stoppte ihre Ausführungen an dieser Stelle und weckte damit meine Neugierde. Denn ihre Stimme legte es nahe, dass das noch nicht alles war. Was behielt die Tollpatschigkeit in Person noch für sich?
"Und?" Sie konnte mich doch, wenn sie mich gerade an der Angel hatte, nicht einfach hängen lassen.
"Nichts", zuckte sie gleichgültig mit den Schultern. Das war echt fies!
Natürlich war da nicht nichts. Das sah ich ganz genau, ich wusste es mit absoluter Sicherheit. Mit einem wissenden Blick betrachtete ich Freya.
"Och Menno! Du bist echt mies", gab sie schließlich auf. "Wieso merkst du immer sofort, wenn ich dir etwas verschweige. Selbst wenn ich nur eine Notlüge benutze, weißt du es augenblicklich! Das ist wirklich nicht gerecht!" Bockig verschränkte sie die Arme vor der Brust und machte einen Schmollmund. Sie sah aus wie eine Fünfjährige.
Da brach meine Selbstbeherrschung, die ich während ihres Sturzes vorhin verzweifelt versucht hatte aufrecht zu erhalten, endgültig zusammen. Ich prustete los. Ihr Anblick war einfach urkomisch. "Nein, du bist nur... nur leicht zu durchschauen", versuchte ich zwischen zwei Lachanfällen herauszubringen.
Wütend stampfte Freya mit dem Fuß auf den Boden und zertrampelte dabei ein zartes, kleines Frühlings-Adonisröschen. Seine gelbe Blüte war wunderschön. Bis gerade eben. Denn nun war die Pflanze platt wie eine Flunder, zertreten von der brünetten Dame mit den Lederstiefeln. "Hör auf zu lachen", schrie sie trotzig.
Oh Mann, das war einmalig! Ich konnte nicht aufhören zu lachen. Denn genau wegen solchen Momenten hätte ich Freya gegen nichts in der Welt eingetauscht. Sie war einzigartig auf ihre spezielle, teilweise nervtötende Art und Weise.
"Na gut, na gut", versuchte ich mich zusammenzureißen. Tief atmete ich ein, doch das half nichts. Plötzlich begann ein neuerlicher Lachanfall und ich kugelte mich vor Lachen auf dem Rücken hin und her. Es war einfach zu witzig. Denn vor meinem inneren Auge tauchte immer wieder das Bild von einem fünfjährigen Mädchen auf, das den Kopf von Freya aufgesetzt bekommen hatte. Sprich kleines Kind – riesiger Kopf. Es war einfach zu komisch!
Böse Blicke brachten mich schließlich zum Schweigen. Ich verstummte. Denn wenn Blicke töten könnten, läge ich jetzt leichenblass in einem der Gräber auf dem Friedhof. Glücklicherweise war ich noch quicklebendig und damit ich das auch noch eine Weile blieb, setzte ich mich kerzengerade hin und blickte meine beste Freundin mit den rehbraunen Augen erwartungsvoll an.
Freya seufzte und erzählte mir den Rest über das fremde Schiff und seine Mannschaft: "Wie ich ja bereits erwähnt habe, gehört das Schiff weder zur Hanse noch zu einem König, Herzog, Baron oder zu einem ähnlichen Würdenträger. Stattdessen soll es, so wird es zumindest hinter vorgehaltener Hand gewispert, unter schwarzem Wimpel fahren..." Ihre Stimme wurde gegen Ende hin zusehends leiser, weshalb sie sich auch zu mir herunterlehnte.
"Piraten", flüsterte ich tonlos, mehr zu mir selbst als zu meiner besten Freundin.
"Genau", nickte Freya eifrig, "Piraten!" Und nach einer kurzen Pause, in der wir beide stillschweigend vor uns hin starrten, fügte sie noch hinzu: "Und ich weiß, in welcher Taverne sie heute Abend ihr Saufgelage abhalten." Mit offenem Mund starrte ich sie an. "Naja, wenn man den Gerüchten Glauben schenken kann, dann weiß ich es."
"Nein... Nein, nein, nein, Freya! Das ist nicht dein Ernst, oder", fragte ich. Meine Stimme wurde immer schriller. Nein, das konnte sie nicht wirklich vorhaben!
"Wieso denn nicht? Es wäre bestimmt spannend sie–"
"NEIN", unterbrach ich sie jäh. Die Wut brodelte heiß in meinem Bauch, schien jeden Moment herausbrechen zu wollen.
Freya versuchte sich mit aller Kraft zu rechtfertigen, sich zu verteidigen, und mir ihr Vorhaben schmackhaft zu machen. "Aber ich wollte nur mal kurz durch die Tür schauen und dann wäre ich sofort wieder weg."
Sie sah die Geschichte wohl als Spaß, aber das war es ganz und gar nicht. Was wenn diese Piraten sie anrührten? In ihrem Suff konnten sie einiges anstellen und Freya war sich dessen nicht einmal bewusst. Sie wusste gar nicht, in welche Gefahr sie sich begab und an ihrem unschuldigen Blick, der ein wenig zu unschuldig war, sah ich sofort, dass es mit Einmal-kurz-durch-die-Tür-schauen nicht getan wäre.
"Nein, Freya", sagte ich bestimmt. "Du wirst einen Dreck tun! Und ganz sicher wirst du nicht einmal-kurz-durch-die-Tür-schauen-und-dann-wieder-verschwinden. Ich kenne dich seit guten zwanzig Jahren und ich weiß ganz genau, wann du lügst."
"Aber... Aber ich wollte doch nur", stammelte das Mädchen mit den braunen Haaren.
"Nein. Du. Bleibst. Heute. Daheim!" Ich betonte jedes einzelne Wort, damit Freya es auch wirklich verstand.
Beleidigt schnappte meine beste Freundin nach Luft und gab sich damit geschlagen, vorerst zumindest. Sie wusste nämlich, dass ich die Sturere von uns beiden war und es an einigem bedurfte, dass ich von meinem Standpunkt abrückte. Tja, das war eine praktische aber auch – für die anderen – nervende Eigenschaft von mir. Eine Eigenschaft, mit der ich die meisten Meinungsverschiedenheiten haushoch gewann.
Ein zufriedenes Lächeln stahl sich auf mein Gesicht, als ich daran dachte, wie oft mein Vater schon an seiner kleinen, sturen Tochter verzweifelt war.
* * *
"Ascan", schrie ich und blickte suchend über meine Mannschaft. Wo war nur mein erster Mann? Wohin hatte er sich schon wieder verzogen? Wenn man ihn einmal brauchte, war er nicht zu finden.
Seit einigen Minuten hielt ich schon nach meinen engsten Vertrauten Ausschau. Allmählich verzweifelte ich, weil ich ihn nicht entdecken konnte.
Doch just in diesem Moment kam die rettende Antwort aus der Menge: "Hier, Nicolas, hier bin ich!"
"Na endlich", kam es mit hörbarer Erleichterung aus meiner Kehle.
"Was ist denn überhaupt so dringend, Nico", wollte mein Freund mit den meergrünen Augen und den wirr abstehenden, schwarzen Stoppelhaaren wissen.
Ich kannte den jungen, einunddreißigjährigen Mann seit meiner Geburt, darum zählte er zu meinen engsten Vertrauten, gehörte sozusagen schon zur Familie. Denn ich hatte mit dem groß gewachsenen, durchaus muskulösen Mann schon Unmengen an Abenteuern erlebt. Als Kinder hatten wir einen kilometerhohen Berg bestiegen – eigentlich war es ein Hügel hinter seinem Haus gewesen, auf dem die Hühner immer standen, der Misthaufen – oder wir waren zusammen über einen reißenden Fluss in einem alten Ruderboot übergesetzt und dabei beinahe ertrunken – es war ein kleines Bächlein gewesen, das wir mit einer Holzbrücke aus großen und kleinen Ästen überqueren wollten, wenn überhaupt hüfttief. Die Äste waren uns aber davongeschwommen, noch bevor wir überhaupt einen Fuß auf das andere Ufer gesetzt hatten.
Alle diese Erlebnisse hatten uns zusammenwachsen lassen. Wir konnten uns auf einander verlassen. Und jetzt als erwachsene Männer segelten wir bei jedem Wetter, bei Sonnenschein oder auch bei Sturm, auf der Ost- und Westsee herum und raubten rücksichtslos die Schiffe der Reichen aus. Wir führten die Arbeit meines Vaters zu Ende, der von den Reichen genommen hatte, um es den Armen zu geben.
Es erfüllte mich mit Traurigkeit, wenn ich an ihn dachte. Klaus Störtebeker. Mein Vater. An dem Tag, da er 1401 auf dem Grasbrook in Hamburg geköpft wurde, kannte ich ihn vielleicht eine Woche. Meine Mutter hatte ihren Mann so gut wie nie gesehen und ihm deshalb auch nichts von mir erzählt. Außerdem wusste sie, dass meinem Vater seine Gutmütigkeit irgendwann auf die Füße fallen würde und indem sie mich von ihm fernhielt, hatte sie gedacht, dass ich niemals in seine Fußstapfen treten würde. Doch da hatte sie sich geirrt. Denn als ich einundzwanzig geworden war und als erwachsener Mann galt, scharrte ich eine Meute tapferer und vor allem verrückter Männer um mich. Meine Mannschaft, mit der ich alsbald auf dem Sturmvogel in See stach.
"Ich hatte Gilmar geschickt, um sich in der Stadt umzuschauen und umzuhören. Ich wollte dir jetzt nur sagen, was er herausgefunden hat", meinte ich zu Ascan.
"Und", fragte dieser sofort besserer Laune. Denn er wusste, dass ich des Abends gerne mit meiner Mannschaft – auf meine Kosten natürlich – in eine Taverne ging und er war jedes Mal mehr als erfreut über solche Ausflüge. Ascan liebte Trinkgelage genauso sehr, wie jeder andere meiner Freibeuter.
"Naja..." Ich nahm mir vor, ihn noch ein wenig zappeln zu lassen.
"Komm schon, Nico! Raus mit der Sprache", forderte der Mann mit den meergrünen Augen ungeduldig.
"Nun ja... Es ist so", zog ich es weiter in die Länge und erntete dafür einen bösen Blick von meinem engsten Vertrauten. "Naja, es macht in der Stadt leider bereits das Gerücht die Runde, dass ein fremdes Schiff, das unter schwarzer Flagge segelt, im Hafen angelegt hat."
Schlagartig sank Ascans Laune wieder in den Keller. Er dachte bestimmt, man hätte uns bereits identifiziert, aber das stimmte nicht. "Mist", fluchte er in seinem Irrglauben leise, "ich hatte mich schon so auf heute Abend gefreut."
Lachend schlug ich ihm auf die Schulter und erlöste ihn aus seiner Unwissenheit: "Aber sie wissen nicht, was für Piraten in ihrem Hafen vor Anker liegen oder welches Schiff unseres ist. Also können wir den Abend in aller Ruhe genießen!"
"Puh", Ascan ließ die Luft aus seinen aufgeplusterten Backen entweichen und war sichtlich erleichtert. "Zum Glück. Aber Nico, tu das nie wieder. Ich dachte wirklich, wir müssten unser Trinkgelage verschieben. Das wäre grausam gewesen. Schließlich neigen sich unsere Biervorräte dem Ende zu."
"Aye", bestätigte ich mit dem Lieblingswort der Piraten. Aye bedeutete einfach nur ja. Warum die Piraten trotzdem aye sagten, wusste ich nicht. Irgendwann hatte ich es mir angeeignet. Ich hatte bereits vergessen, wann das geschehen war.
"Und in welche Taverne gehen wir heute, Kapitän Störtebeker?" Ascan war wieder bei bester Laune. Sein Ärger war genauso schnell wieder verraucht, wie er gekommen war.
"In die berühmt berüchtigte Taverne namens Störtebekers Kopf", meinte ich grinsend. In einer Taverne, die nach einem, nein, nach dem toten Piraten benannt war, würde man dessen Sohn und seine Meute wohl kaum vermuten.
Ascan dagegen fand meine Idee ganz und gar nicht toll und stammelte unsicher: "Aber... das meinst..." Er räusperte sich. "Das meinst du nicht ernst, oder?"
"Und ob", erwiderte ich selbstsicher, "ein Ort, an den sich kein Pirat bei vollem Verstand begeben hätte!"
"Warum wohl", murmelte Ascan kaum hörbar vor sich hin. Denn er wusste, dass man mich, hatte ich einmal eine Entscheidung getroffen, nur schwer umstimmen konnte. Ich war ein richtiger Sturkopf, was jedoch auch seine Vorteile mit sich brachte.
"Gut, dann ist ja alles in Ordnung und du weißt Bescheid." Ich wandte mich meiner Mannschaft zu, die noch eifrig bei der Arbeit war, und schrie aus voller Kehle: "Alle mal herhören!" Augenblicklich drehten sich alle Köpfe in meine Richtung und sämtliche Gespräche und Geräusche verstummten. Jeder sperrte die Ohren auf, damit jeder mitbekam, was ich, der Kapitän, zu verkünden hatte. Meine Männer achteten mich, behandelten mich aber abseits vom Steuerruder, wie einen von ihnen. Dann war ich einfach nur Nicolas und nicht der Kapitän des Sturmvogels. Darüber war ich stets sehr erleichtert. "Heute Abend gehen wir in eine Taverne hier in Stralsund! Das Bier geht den ganzen Abend auf mich!"
Lauter Jubel schlug mir entgegen, weil sich jeder Pirat auf den Abend an Land freute. Sie konnten sich für die heutige Nacht besaufen und sich mit den Huren im Bett austoben. Eine gerngesehene Abwechslung zu den eintönigen Männerabenden auf See.
Auch ich freute mich auf das Trinkgelage und würde mich bestimmt grandios amüsieren.
* * *
Es war erstaunlich, wie lange Freya den Mund halten konnte. Normalerweise redete sie ununterbrochen, ohne Punkt und Komma. Doch während der letzten zehn Minuten hatte sie kein Sterbenswörtchen gesagt. Sie war stumm wie ein Fisch geblieben und half mir stattdessen meinen Blumenstrauß fertig zu pflücken. Blume für Blume reichte sie mir und der Strauß wurde zunehmend größer und bunter. Er duftete frisch und süß.
Als ich schließlich einen fertigen, wunderschönen Blumenstrauß in den Händen hielt, den ich kaum mehr umfassen konnte, machten sich Freya und ich auf den Weg zurück ins Haus, um die Blumen ins Wasser zu stellen und uns eine Tasse Tee zu gönnen.
Erschöpft ließen wir uns auf die Sitzmöbel im Salon fallen und nahmen einen großen Schluck von unseren Getränken. "Klara", fragte die Frau mit den rehbraunen Augen vorsichtig, "Meintest du das vorhin ernst?"
"Was meinst du?"
"Na, das mit dem Daheimbleiben?" Sie war darauf bedacht keinen falschen Zug zu machen – wie beim Schach, ein unvorsichtiger, dummer Zug und das Spiel war verloren – und mich nicht gleich wieder zu erzürnen. Ich hatte bereits eine leise Vorahnung, warum sie das tat, und rollte in Gedanken bereits mit den Augen.
Bitte nicht ihre Bettelnummer, betete ich stillschweigend. Denn die konnte mir wirklich den letzten Nerv rauben.
"Ja, das meinte ich ernst, Freya von Baabe!" Ich schlug einen autoritären Ton an und hoffte, sie würde mich nun in Ruhe meine Tee genießen lassen.
"Und was wäre, wenn–", versuchte sie es behutsam. Sie würde demnach nicht aufgeben.
"Nicht und-was-wäre-wenn. Bitte, Freya, du gehst nicht in diese Taverne. Mir zuliebe." Bittend sah ich sie an.
Doch sie war besser darin als ich, jemanden umzustimmen. Mit ihrem Hundeblick, den sie nun aufsetzte, brachte Freya mich fast zur Verzweiflung. "Ich passe auch gut auf mich auf. Versprochen! Oder..." Sie machte eine kurze, bedeutsame Pause. "Wenn du mitkommen würdest, wäre ich nicht alleine uuuund..." Sie zog das und unnötig in die Länge, um ihm Nachdruck zu verleihen. Das brachte mich fast zur Weißglut. "Und du könnest auf mich Acht geben! Du kannst schauen, dass ich nichts Dummes und Unvorsichtiges anstelle", beendete sie ihre Überlegungen.
Es stimmte zwar, was sie sagte. Aber ich begab mich doch nicht einfach aus Spaß in die Nähe von gemeingefährlichen, räuberischen Piraten. Oder war ich etwa todesmutig? "Nein, Freya, das werde ich mit Sicherheit nicht", beharrte ich deshalb. Außerdem wusste nur Gott allein, wie man Freya von etwas Dummem und Unvorsichtigem abhalten konnte. Ich war dazu meist nicht in der Lage, Sturheit hin oder her.
"Ach komm schon! Bitte, bitte, bitte, Klara!" Sie konnte wirklich gut betteln, aber noch blieb ich standhaft und schüttelte mit dem Kopf. "Biiiiiiiiiiiiiiiiiiitteeeeeeeeeee", versuchte es das Mädchen mit den braunen Haaren erneut.
"Nein. Und das ist mein letztes Wort!"
"Wirklich? Dein letztes Wort?"
Ich nickte.
"Meinst du, es ist dein allerletztes Wort?"
Konnte sie es denn nicht lassen? Dieses nervtötende Miststück. "Ja."
"Sicher", hakte sie neuerlich nach.
"Ja, ich bin mir sicher, Freya.“
"Wirklich ganz sicher?"
Genervt verdrehte ich die Augen und nickte: "Ja, wirklich sicher." Meine Worte klangen unumstößlich.
"Och Menno–."
Erleichtert atmete ich auf, da meine beste Freundin scheinbar aufgab - leider nur scheinbar.
Ich nahm noch einen Schluck von meinem Kräutertee, an dem ich mir nun nicht mehr die Zunge verbrennen konnte. Dafür stand er schon zu lange auf dem Tisch. Er war köstlich, nicht zu kalt und nicht zu heiß, war perfekt aufgebrüht. Eine Wohltat für die Seele.
* * *
Die Sonne verschwand langsam am Horizont, zeigte ihre blutrote Farbe und die Dunkelheit breitet ihre mächtigen Schwingen über dem ganzen Land aus. Die Gassen wurden dunkler und damit auch gefährlicher.
Ich stand in einer der nicht besonders sicheren Gegenden vor einer Taverne namens Störtebekers Kopf. Es war ironisch, wenn man daran dachte, dass eine Meute Piraten heute in dieser Taverne Saufen ging. In einer Taverne, die nach einem der berüchtigtsten Piraten, besser gesagt nach dessen Todesumstand, benannt war. Aber das schien diese Seeräuber wohl nicht zu stören. Was juckte sie denn überhaupt? Das Gesetz war ihnen egal. Die Menschen waren ihnen egal. Hauptsache sie bekamen genügend Bier und Wein.
Aus dem Inneren des Störtebekers Kopf kam lautes Lachen. Ein Gewirr von tiefen Stimmen vermischte sich mit den nächtlichen Geräuschen aus den Straßen und Gassen der Stadt.
"Na los! Gehen wir hinein!" Freya war überglücklich hier zu sein und ging selbstbewusst zum Eingang der Taverne. Dieses Miststück hatte es geschafft mich solange zu nerven, bis ich irgendwann nachgegeben hatte und mit ihr zusammen zu dieser Taverne hier gegangen war. Das brünette Mädchen konnte eine ätzende Nervensäge sein und einem selbst den köstlichsten Tee und den gemütlichsten Nachmittag vermiesen.
Die Tür des Störtebekers Kopf fiel mit einem lauten Krachen zu und riss mich aus meinen Gedanken. Ich blickte mich suchend um, konnte Freya jedoch nicht entdecken. Da begriff ich es, sie war schon längst drinnen. "Zum Teufel noch eins", fluchte ich, knirschte mit den Zähnen und ging ebenfalls auf die Taverne zu.
Ich öffnete die löchrige Holztür und trat ein. Denn lieber begab ich mich in diese Abschaumtaverne, als allein in dieser dreckigen Schmuddelgasse zu stehen, während die Nacht hereinbrach und die Mörder und Gauner ihre Streifzüge begannen.
Es kam mir vor, als würde ich gegen eine Wand rennen. In der Taverne war es stickig und heiß von dem kleinen Feuer in einer Ecke und den dutzenden Menschen im Raum. Männer über Männer und hier und da vereinzelt eine Hure, die sich gerade darum bemühte einen der Piraten gegen zwei Mark in ihr Bett zu bekommen. Freya konnte ich jedoch nirgends entdecken.
Suchend schritt ich durch den Störtebekers Kopf und schaute unruhig von links nach rechts. Ich fühlte mich hier überhaupt nicht wohl und wollte so schnell wie möglich wieder verschwinden. Dies war kein Ort für Frauen wie Freya und mich. Viel mehr war es ein Ort für Halunken und Tunichtgute. Aber ohne meine beste Freundin konnte ich nicht gehen, konnte sie nicht einfach hier zurücklassen. Obwohl ich mir sicher war, dass Freya durchaus ohne meine Wenigkeit zurechtgekommen wäre, war das für mich keine Möglichkeit.
Da entdeckte ich urplötzlich einen braunen Haarschopf am Ende des Raumes, umringt von einer Schar Männern. Einer Schar Piraten.
Eilig lief ich auf die Meute zu und stieß dabei die Männer, die mir im Weg standen, unsacht beiseite. Ich bahnte mir mithilfe meiner Ellenbogen einen Weg zu meiner Freundin. Dafür fing ich mir zwar sämtliche unschöne Beschimpfungen ein, die es gab. Aber das interessierte mich im Moment nicht.
"Freya", rief ich, als ich bei der Piratenschar angekommen war.
Prompt teilte sich die Menge und machte mir Platz. Aber was ich dann sah, war ein Schock für mich, auf den mich kein Mensch der Welt hätte vorbereiten können. Mit einem solchen Anblick hatte ich nun rein gar nicht gerechnet und war deshalb sichtbar entsetzt.
Meine beste Freundin mit den rehbraunen Augen und dem braunen Reiterzopf saß auf dem Schoß eines Piraten und küsste diesen. Sie küsste ihn. Auf den Mund!?! Ich dachte, ich seh' nicht richtig. Aber es war definitiv Freya, die diesen Seeräuber mit den schwarzen Stoppelhaaren abschleckte. Igitt! Und sie schien sich noch darüber zu freuen, dass sie sich küssten. Dem Piraten gefiel es offenbar auch. Denn als sich die beiden voneinander lösten, lächelten sie sich an und seine meergrünen Augen funkelten vor Vergnügen.
"Freya", schrie ich hysterisch. "Was machst du da?"
Erschrocken fuhr Freyas Kopf herum und blieb an mir hängen. "Da bist du ja endlich. Ich dachte schon, ich muss den ganzen Spaß alleine genießen." Fröhlich schenkte sie ihrem Freier ein kleines Lächeln.
"Spaß?! Spinnst du?" Meine Stimme wurde immer schriller, schien sich beinahe zu überschlagen. Was sollte das?
Genervt und mit einem hörbaren Seufzer erhob sich meine beste Freundin vom Schoß ihres Piraten und kam auf mich zu. "Jetzt beruhig' dich mal", versuchte sie mich zu beschwichtigen.
"Beruhigen? Beruhigen?! Das ist nicht dein Ernst, Freya!"
Sie seufzte und atmete tief durch. "Klara, es ist alles in Ordnung. Die Männer hier sind wirklich freundlich." Mit einer Handbewegung wies sie auf die umstehenden Männer.
"Freya, das sind Piraten! Die sind ganz sicher nicht freundlich!"
Verzweifelte fasste sich die Frau mit den Unschuldaugen an den Kopf. "Klara", versuchte sie es erneut, diesmal ruhiger. "Diese Männer hier“, sie zeigte erneut in die Runde, "sind vielleicht Piraten. Aber–"
"Was ist hier los?" Eine tiefe Männerstimme unterbrach Freya und ich sah, wie die Seeräuber ihre Köpfe einzogen.
Ich blickte wieder zu meiner Freundin und wollte sie gerade am Handgelenk greifen und aus der Taverne zerren. Aber Freya schaute nur mit offenem Mund an mir vorbei. Was war denn jetzt los? Fragend sah ich sie an. Freya starrte noch immer fassungslos hinter mich. Ich verstand ihre Reaktion nicht. Wer stand denn da hinter mir, der so eine Wirkung auf sie hatte? Normalerweise war es schwer Freya zum Schweigen zu bringen.
Langsam drehte ich mich um und erstarrte, als ich den muskulösen, jungen Mann erblickte. Er stand so dicht vor mir, dass ich nur die Hand hätte heben müssen, um ihn zu berühren. Seine blonden Haare waren etwas zu lang und ein feiner Bartschatten verlieh seinem Gesicht eine kantige Wirkung. Seine Augen, seine hellblauen, klaren Augen bildeten das Gegenstück dazu. Sie wirkten weich aber trotzdem autoritär. Er war attraktiv, keine Frage. Aber etwas an ihm wirkte abschreckend, einschüchternd. Vielleicht war es die kleine Narbe auf seiner linken Wange, vielleicht auch seine Piratenkluft. Ich konnte es nicht genau ausmachen. Aber ich wusste zwei Dinge mit absoluter Sicherheit: Erstens, ich hatte diesen Mann irgendwo schon einmal gesehen - ich kam nicht sofort darauf, wo. Und zweitens, ich wollte schnellstmöglich hier weg. Doch meine Beine rührten sich nicht und ich starrte den Piraten sprachlos und wie erstarrt an.
"Also, was ist hier los", wiederholte er seine Frage von gerade eben.
Wie ein Geistesblitz fiel mir just in dieser Sekunde ein, wo ich das Gesicht dieses Piraten schon einmal entdeckt hatte. Auf einem Steckbrief, der einmal unachtsam auf dem Schreibtisch meines Vaters gelegen hatte.
Es war erschreckend, denn plötzlich hatte ich den Steckbrief deutlich vor Augen und sah auch den Namen, der oben auf dem Blatt stand. Nicolas Störtebeker. Mir stockte der Atem. Der Sohn des berühmten Likedeelers Klaus Störtebeker.
"Und was dann", fragte ein Mädchen mit roten Haaren.
Ein Junge mit kurzen, schwarzen Haaren wollte ebenfalls wissen, wie es weiterging: "Ja, was ist dann passiert, Großmutter Amalia?"
"Erzähl weiter, bitte", drängelten die Kinder.
Die alte Dame wippte in ihrem Schaukelstuhl in aller Seelenruhe vor und zurück. "Nun", sie faltete ihre Hände im Schoß zusammen, hörte auf zu schaukeln und sah in die Runde.
Die gespannten Gesichter der Kinder erfreuten sie. Das war es, was sie so liebte, wenn sie hier in der Kneipe saß und ihre Geschichten erzählte: Die Erwartung der Kinder, die sich in den Gesichtern widerspiegelte.
"Was dann passiert ist, ist ein wenig schwieriger zu erklären. Aber ich werde es gerne versuchen, wenn ihr es hören wollt."
Sie zog einen Mundwinkel nach oben, als die Kinder ihr entgegen schrieen, wie gern sie die Geschichte weiter hören wollten und die alte Dame begann sogleich in ihrem Stuhl vor und zurück zu schaukeln und weiterzuerzählen. "Also, Klara stand Nicolas gegenüber. Von Angesicht zu Angesicht. Sie war gefangen in seinen himmelblauen Augen und unfähig sich zu rühren oder auch nur ein einziges Wort zu sagen. Stattdessen starrte ich ihn nur wortlos an..."
* * *
Ich stand Nicolas gegenüber. Von Angesicht zu Angesicht. Ich war gefangen in seinen himmelblauen Augen, unfähig auch nur den kleinen Finger zu rühren. Ich brachte kein Wort heraus. Meine Kehle schien wie ausgedörrt. Stattdessen starrte ich ihn nur wortlos an.
Wie konnte ein Pirat, der berüchtigte Sohn Störtebekers, nur so eine Wirkung auf mich haben? Noch nie hatte ich so auf einen Mann reagiert.
Mein Puls raste. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Meine Hände wurden schwitzig. Ich hatte einen Kloß im Hals. Das alles waren Zeichen. Zeichen, die ich lieber nicht wahrhaben wollte. Ich fühlte mich zu diesem raubeinigen Piraten hingezogen und wusste nicht, warum. Es widerstrebte jeder Faser meines Körpers und doch wollte ich ihn berühren, ihn küssen.
Noch nie zuvor hatte ich mich zu einem Mann so hingezogen gefühlt wie zu ihm. Dabei sah ich ihn gerade zum aller ersten Mal in Fleisch und Blut. Er stand vor mir, ganz nah und ich hätte nur die Hand ausstrecken müssen, um seine beeindruckenden Bauchmuskeln zu berühren, die sich reizvoll unter seinem Leinenhemd abzeichnete. Ich wollte sie berühren, sie unter meinen Fingerspitzen fühlen und langsam nachzeichnen...
Entsetzt über meine eigenen Gedanken schüttelte ich den Kopf. Was war nur in mich gefahren? Seine Bauchmuskeln berühren? Ihn küssen?! War ich völlig durchgedreht?
"Also, was ist hier los", wollte der Piratenkapitän erneut wissen. Dieselbe Frage, doch ein anderer Tonfall. Er starrte mich an, beäugte mich voller Neugierde.
"Nichts, Nico", mischte sich nun Freyas Liebhaber ein. "Es ist alles in Ordnung." Er erhob sich und kam auf seinen Kapitän zu.
Derweil bedachte Nicolas Freya und mich mit einem skeptischen Blick. Er musterte uns von oben bis unten und erkannte sofort, dass wir keine Huren waren, dass wir hier eigentlich nichts zu suchen hatten. "Und wer sind die?" Mit einer Kopfbewegung deutete er in unsere Richtung.
"Keine Ahnung", gab der Pirat mit den schwarzen Stoppelhaaren zu. "Zwei Mädchen, die vielleicht neugierig waren und wissen wollten, ob wir wirklich Freibeuter sind." Gleichgültig zuckte er mit den Schultern.
"Aha", kam es da von dem Freibeuter mit den himmelblauen, märchenhaften Augen und der attraktiven Narbe auf der linken Wange–
Stopp, ermahnte ich mich scharf. Denn jetzt stand sicher fest: Ich hatte den Verstand verloren!
"Und wie heißt ihr zwei Hübschen?"
"Was?"
Ein Lächeln schlich sich auf das Gesicht des Piratenkapitäns. "Ich habe gefragt, wie ihr heißt", wiederholte er schmunzelnd. Er schien sich auf meine Kosten zu amüsieren und das gefiel mir ganz und gar nicht.
"Ach so, ähm... Klara", stotterte ich. Verdammt. Wieso musste ich gerade bei diesem Piraten meinen Mut verschluckt haben? Wieso musste mir gerade dieser Pirat so unter die Haut gehen?
"Und ich bin Freya, ihre beste Freundin!" Mit dem Daumen deutete Freya auf mich. Sie grinste breit, als sie noch hinzufügte: "Manchmal ist sie etwas schüchtern. Das ist ganz normal."
Dafür erntete sie einen bitterbösen Blick von mir und ich Gelächter von allen Seiten.
Was war denn jetzt schon wieder? Was hatte ich falsch gemacht? Es war zum Haare raufen. Wieso geschah so etwas immer nur mir? Wieso war Freya so ungerührt von Störtebekers Sohn, während ich völlig durchdrehte?
Es war nur eine Vermutung, aber die logischste, die mir einfiel: Freya wusste gar nicht, wem wir tatsächlich Gesellschaft leisteten. Wir befanden uns nicht mit irgendwelchen Piraten in ein und demselben Raum, sondern mit den gefürchteten Piraten. Die Mannschaft des Sturmvogels. Die Mannschaft von Nicolas Störtebeker.
Am liebsten wäre ich just in diesem Moment aus der Taverne gerannt. Aber ich tat es nicht.
* * *
Ich saß eingeengt zwischen Nicolas und Ascan, der von Freya angeschmachtet wurde, als würde ihr Leben davon abhängen. Ascan war der Pirat mit den meergrünen Augen und den schwarzen Stoppelhaaren, den Freya so ungeniert geküsst hatte. Er war, wie ich und meine beste Freundin wenig später erfahren hatten, sozusagen der Stellvertreter von Nicolas Störtebeker oder Nico, wie er mir persönlich anbot.
Die Männer saßen am Tisch und leerten einen Bierkrug nach dem anderen. Saufen, grölen, angraben, saufen. Zu mehr waren die Freibeuter scheinbar nicht in der Lage. Ich konnte das in keinem Maße nachvollziehen, wie man das Betrunkensein lieben konnte.
Schüchtern schielte ich zu Störtebeker, wendete meinen Blick von den hemmungslosen Säufern ab. Nicolas trank langsamer als die anderen und schaute immer wieder in die Runde. Es sah so aus, als würde er überprüfen, dass keiner seiner Männer Dummheiten machte.
Ach so ein Quatsch, dachte ich, das waren erwachsene, wenn auch kriminelle Männer, die gut auf sich selbst Acht geben konnten. Trotzdem erstaunte es mich, dass Nicolas auf sie aufzupassen schien. War das die Aufgabe eines Kapitäns? Ich kannte mich mit so etwas ja nicht aus, schließlich war ich ständig alleine Zuhause. Denn mein Bruder Frederick und mein Vater waren fast ununterbrochen unterwegs und machten Jagd auf... Piraten. Um genau zu sagen, jagten sie gerade verbissen den Mann, der just in diesem Augenblick neben mir saß. Sie versuchten Nicolas Störtebeker zu fangen. Aber dieser war hier in der Taverne Störtebekers Kopf und meine beiden letzten Familienmitglieder befanden sich auf einem Schiff auf der Westsee.
Zum Glück, fiel mir da ein. Würden sie mich hier mit den Freibeutern erwischen, wäre das Theater unermesslich groß. Vor allem für die Piraten würde es kein gutes Ende nehmen. Denn so wie ich Frederick und meinen Vater kannte, würden die Seeräuber schneller, als sie Segel setzen sagen könnten, ihre Köpfe verlieren.
In solchen Momenten wünschte ich mir, dass meine Mutter noch bei mir wäre. Denn ich hatte sie nicht mehr persönlich kennen gelernt. Ich kannte sie nur aus den Erzählungen meines Vaters. Auch mein Bruder war noch sehr jung gewesen, als sie, nachdem sie mich geboren hatte, an dem gefährlichen Kindbettfieber starb. Für mich war sie nicht vielmehr als eine mysteriöse Figur. Das Einzige, das sie mir hinterlassen hatte, war die kleine Silberkette mit dem Kreuz aus blauen Steinen. Ich nahm sie nie ab, trug sie stets um meinen Hals und behandelte sie wie einen Schatz. Denn das war die Kette für mich – ein wahrer Schatz. Ich vermisste meine Mutter und fragte mich oft, wie ich wohl aufgewachsen wäre, wenn sie noch geatmet und ihr Herz geschlagen hätte.
"Klara", fragte mich da plötzlich eine dunkle Männerstimme. Erstaunt blickte ich auf und sah in die tiefblauen Augen von Nicolas. "So heißt du doch, oder? Klara?"
Ich nickte. "Ja, Klara, das bin ich..." Ich war völlig konfus. Lag das schon wieder an ihm? Die Antwort lautete: Definitiv ja. Doch damit ergab sich eine andere, schwierigere Frage: Wieso war ich so kopflos in seiner Nähe? Ich kannte ihn doch gar nicht.
"Kommst du von hier?" Er lächelte mir aufmunternd zu. Ein verschmitztes Lächeln. Ein Lächeln, das mir durchaus gefiel.
"Ja, ich bin aus Stralsund", antwortete ich ihm schüchtern und sah augenblicklich auf meine Hände, die in meinem Schoß ruhten. Verdammt, wie peinlich. Wieso machte er mich so nervös?
"Aha..." Eine kurze Pause. "Willst du auch etwas trinken?" Er war freundlich, aufmerksam, zuvorkommend. Aber er war dennoch ein Pirat.
"Ähm... Nein, ich trinke keinen Alkohol", gab ich deshalb entschuldigend zurück.
"Und wie wäre es mit einem Becher Wasser?"
"Nein, danke." Ich sah noch immer auf meine Finger.
Er holte tief Luft und seufzte dann. "Ich schütte dir schon nichts in dein Getränk. Keine Sorge! Ich dachte nur... Nun ja, du schaust immer so gierig auf meinen Krug und da dachte ich halt, du hättest vielleicht Durst", stammelte er.
War er etwa auch nervös? Womöglich wegen mir? Nein, das war unmöglich! Wieso sollte ich, Klara Amalia van Utrecht, den Piratensohn Nicolas Störtebeker nervös machen? Das war nicht möglich.
Seine himmelblauen Augen ruhten noch immer auf mir, als ich wieder aufschaute und erinnerten mich daran, dass ich ihm noch eine Antwort schuldig war. "Oh... Na gut, gegen einen Becher Wasser wäre wohl nichts einzuwenden." Ich schenkte ihm ein zurückhaltendes Lächeln und er strahlte zurück.
Mit einer Handbewegung in Richtung Theke gab er der Wirtin zu verstehen, was er wollte. Und sofort stand der Becher mit dem kühlen, erfrischenden Wasser vor mir. Ich leerte ihn in einem Zug.
"Haha", lachte Nicolas kehlig. "Keinen Durst, was", fragte er frech, was mir die Röte ins Gesicht trieb. Verlegen wich ich seinem Blick aus. "Willst du noch einen Becher?" Er war wirklich zuvorkommend. Ähm, ich meinte, für einen gesuchten Piraten war er recht höflich.
"Ja, gerne!" Schon wieder wurde ich rot. Es war zum Verzweifeln, dass er so eine Wirkung auf mich hatte. Aber seine Stimme, sie war so dunkel und rau und dennoch streichelte sie meine Ohren.
Nicolas. Nico. Selbst sein Name war verführerisch.
Da schob sich ein metallischer Gegenstand in mein Blickfeld, erinnerte mich wieder daran, wo ich eigentlich war. Mein zweiter Becher Wasser. Diesmal trank ich langsamer, genoss es, wie die kühle Flüssigkeit meinen Rachen hinunterfloss und die Dürre wegspülte.
Als ich den geleerten Becher auf den Tisch stellte, grinste Nicolas mich verschmitzt an. "Du bist nicht oft in dieser Gegend, oder?"
Seine Frage überraschte mich ein wenig. Wieso wollte er das wissen? War das nicht offensichtlich? "Nein." Ich schüttelte den Kopf. "Die Gesellschaft in dieser Gegend ist nicht gerade die, mit der ich verkehre. Wieso fragst du?"
"Ach, nur so aus reinem Interesse. Ich habe an deiner Kleidung und deinem Verhalten bereits gemerkt, dass du hier nicht hingehörst. Du hast gute Manieren."
Hörte ich da etwa Anerkennung, Bewunderung, in seiner Stimme mitschwingen? Nein, das bildete ich mir sicher nur ein. Aber seine Augen wirkten ehrlich.
"Naja, Freya wollte unbedingt wissen, ob die Gerüchte stimmen. Sie wollte wissen, ob hier heute wirklich Piraten ein Saufgelage abhalten. Tja, jetzt weiß sie, dass es stimmte." Ungerührt zuckte ich mit den Schultern.
Nickend nahm Nicolas einen großen Schluck von seinem Bier.
"Hey, Klara!" Freya rammte mir ihren Ellebogen zwischen die Rippen. Schmerzhaft verzog ich das Gesicht. "Ascan mag misch. Er will mia etwas zeegen, bin gleech wieda dao." Sie lallte. "Mach dia also keene Sorgen, Mamaa...." Sie grinste schief und ihr Atem roch stark nach Alkohol.
"Bist du betrunken, Freya?"
"Ach so eeen Quadsch. Mir gehd'ssss gud." Doch das sah ganz und gar nicht so aus. Die brünette Frau lag nämlich schon halb unterm Tisch.
Ich wollte gerade aufstehen und sie nach Hause schleppen, da griff Nicolas nach meinem Arm und hielt mich zurück. Fragend sah ich ihn an. Aber er seufzte nur und zeigte mit dem Kopf zu Ascan. "Bleib doch noch ein bisschen", bat er mich. Besorgt warf ich einen Blick auf Ascan und Freya. "Der passt gut auf sie auf. Versprochen! Mach dir keine Sorgen."
Skeptisch wandte ich den Blick zu dem Pirat mit den schwarzen Stoppelhaaren. Er war noch bei vollem Bewusstsein und schien trotz der zahlreichen Bierkrüge klar denken zu können. Er blickte mich an.
Die Luft aus meinen Lungen stoßend, ließ ich mich zurück auf meinen Stuhl sinken und nickte. "Gut. Aber wehe ihr geschieht etwas, dann bring ich dich eigenhändig an den Galgen, Ascan!" Das war eine eindeutige Ansage und sie war todernst gemeint.
"Gut zu wissen." Ascan lachte und zwinkerte mir verschwörerisch zu. Anschließend stand er auf, nahm Freya an der Hand und verließ mit meiner besten Freundin die Taverne.
Zweifelnd blickte ich den zwei Turteltauben nach. So ganz überzeugt war ich von der Sicherheit meiner Freundin noch nicht.
"Ihr wird nichts geschehen", versicherte mir Nicolas, der meinen misstrauischen Blick entdeckt hatte, "ich würde für Ascan meine Hand ins Feuer legen."
"Hoffentlich verbrennst du dich nicht", wisperte ich leise.
Nicolas lachte laut und herzlich. Er hatte es trotzdem gehört. "Keine Sorgen. Ich mag die Flammen."
* * *
Betrunken torkelte Freya vor mir her.
Ich war erstaunt gewesen. Denn sie hatte für eine Frau verdammt viel Bier getrunken und konnte immer noch stehen – na ja zumindest halbwegs. Außerdem konnte sie noch immer selbstständig laufen. Wenn auch etwas wackelig und schlängelnd, aber sie konnte es.
Klara hatte sich wirklich Sorgen um ihre Freundin gemacht. Aber ich war noch nie jemand gewesen, der die geistige Verfassung einer Frau rücksichtslos ausnutzte. Ihre Sorge war also unbegründet und Nicolas hatte ihr das scheinbar auch klar machen können. Wenn ich jemanden ins Bett bekommen wollte, dann schaffte ich das auch ohne Alkohol. Dafür war ich Manns genug.
"Ascan... hihi", lallte es da vor mir und riss mich aus meinen Gedanken. Freya stand mit dem Rücken an eine Hauswand gelehnt und grinste schelmisch.
"Ich bin hier, Freya", sagte ich mit ruhiger Stimme und trat auf sie zu. Plötzlich zog sie mich am Kragen zu sich heran. Ich empfand den mörderischen Ausdruck in ihren Augen als unbehaglich. Ich sah ihr jedoch an ihrer rot glühenden Nasenspitze an, dass sie in diesem Zustand keine Chance gegen mich hätte.
Als sie mir ohne Vorwarnung ihre zarten, warmen Lippen auf die meinen drückte, war ich allerdings überrascht. Diese Frau war ein Rätsel für mich.
Ohne Scheu hatte sie heute die Taverne betreten und war schnurstracks auf mich zugekommen. Dabei wäre sie beinahe über ihre eigenen Füße gestolpert. Im letzten Moment hatte sie sich wieder fangen können. Herausfordernd war sie vor mir stehen geblieben, die Hände in die attraktiven Hüften gestemmt, und hatte frech gefragt: "Seid ihr diese Piraten, die laut den Gerüchten im Hafen vor Anker liegen?" Draufgängerisch hatte ich einen Mundwinkel nach oben gezogen und ihre Frage mit einer Gegenfrage beantwortet: "Und wer würde das wissen wollen?" Ich hatte sie von Kopf bis Fuß gemustert und sofort bemerkt, wie hübsch dieses brünette, braunäugige Mädchen war. "Ich", war ihre kesse Antwort. Ungerührt hatte sie sich eine Locke aus dem Gesicht gestrichen und mir anschleißend unverfroren in die Augen geschaut. In diesem Moment waren die Pferde mit mir durchgegangen. Ich hatte sie kurzerhand an mich gezogen und sie geküsst. Ihre zartrosa Lippen waren weich. Sie schmeckte süß und blumig. Als ich sie freigab, sah sie mich sprachlos an und nach und nach zeigte sich ein unverschämter Ausdruck auf ihrem Gesicht. Ihre rehbraunen Augen glitzerten unverschämt. Der Kuss hatte ihr genauso gut gefallen wie mir. Das hatte sie noch bestätigt: "Also küssen könnt ihr Freibeuter schon mal ganz gut..." Danach hatte ich mich für ein Bier auf einen Stuhl gesetzt und ihr den Stuhl neben mir angeboten. Doch sie hatte abgelehnt, sich stattdessen auf meinen Schoß gesetzt und damit dafür gesorgt, dass ich mich böse verschluckte. Als ich wieder atmen konnte, hatte sie mich erneut geküsst und ihre Freundin war in die Taverne gestürmt.
Ich musste grinsen, wenn ich an Klaras entsetzten Gesichtsausdruck dachte.
"Hihi", kicherte Freya in diesem Moment erneut und lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf sich.
"Komm, ich bring dich nach Hause", sagte ich nun.
"Aba Freya möschte bei ihrem Ascansch bleeben..." Sie war definitiv sturzbetrunken. Na toll!
"Es ist besser für dich", versuchte ich es.
"Isch mag aba nisch", meinte sie dickköpfig und zog einen Schmollmund.
"Aber ich komme doch mit."
Meine Trumpfkarte, denn sie mochte mich. Das war offensichtlich.
Es schien sie sogar zu überzeugen, denn sie nickte und ließ mich sie nach Hause bringen.
* * *
Sie trieb mich noch in den Wahnsinn. Ich kannte sie überhaupt nicht und trotzdem konnte ich meine Augen nicht von ihr lassen. Ihre blonden Haare wallten ihr über den graziösen Rücken. Ihre blaugrauen Augen funkelten im Licht des Feuers und ihr Lächeln wirkte durch die vielen Sommersprossen in ihrem Gesicht verführerisch niedlich. Aber was merkwürdig war, war die Tatsache, dass sie meinen Blicken ständig auswich. Sie sah mir so gut wie nie in die Augen. Fürchtete sie sich vor mir?
"Ähm... Nicolas?"
"Ja?"
"Könnte ich vielleicht doch einmal von deinem Bier probieren?" Sie war so verlegen, dass es schon wieder attraktiv war.
"Natürlich", ich hielt ihr meinen Bierkrug hin, "aber nur wenn du Nico zu mir sagst."
Sie rang sich ein kleines Schmunzeln ab und nickte. "Gut... Nico. Danke." Sie nahm mir den Krug ab und nahm erst einen kleinen, dann einen größeren Schluck. "Mhmmm", machte sie.
"Schmeckt es dir?"
Sie nickte.
"Möchtest du vielleicht ein eigenes?"
"Es schmeckt besser, als ich erwartet hätte. Aber ich glaube, ich nehme lieber noch einen Becher Wasser."
Aufmunternd meinte ich zu ihr: "Sei nicht so schüchtern, du kannst gerne ein eigenes Bier haben. Die Getränke gehen heute Abend sowieso alle auf mich."
Ihre Augen wurden groß. "Alle?"
Ich nickte zustimmend.
"Oh..." Sie schien kurz zu überlegen.
Fragend zog ich eine Augenbraue nach oben und wartete darauf, dass sie doch ein Bier wollte.
"Trotzdem bleib' ich, glaube ich, lieber bei Wasser", erklärte sie dann endlich.
"Wenn du meinst, Klara." Mit einer kurzen Handbewegung signalisierte ich der Wirtin meinen Wunsch und wenig später stand vor Klara ein weiteres Mal ein voller Becher klaren Wassers.
* * *
Nico war wirklich freundlich. Er kümmerte sich rührend um mein Wohlbefinden, sorgte für ausreichend Getränke und versuchte ungezwungene Gespräche zu beginnen. Doch ich hörte nur mit einem Ohr seinen Abenteuern auf hoher See zu, auf die er schließlich zurückgriff. Er wollte mich unterhalten, wollte, dass ich mich in seiner Gesellschaft wohl fühlte. Ich wollte jedoch nur wissen, wo Freya war. Ich machte mir ehrlich Sorgen um meine tollpatschige Freundin.
Da knallte die Tür der Taverne zu und mein Kopf schnellte in Richtung Eingang. Ascan war hereingekommen. Aber er war allein. Wo war Freya? Was hatte dieser Kerl mit ihr gemacht?
Lässig kam der Pirat mit den meergrünen Augen zu Nicolas und mir herüber. "Wo ist meine Freundin", platzte es aus mir heraus, sobald er in Hörweite war. Ich war angespannt.
Der Freibeuter dagegen nahm sich entspannt seinen Humpen Bier, der noch nicht leer war, und goss das Getränk mit einem Schluck hinter. Anschließend knallte er den Krug auf den Tisch und rief: "Noch ein Bier für mich, Wirtin!"
"Wo ist Freya, Ascan", fragte ich neuerlich, diesmal drängender.
"Zuhause", antwortete er mir und schenkte mir ein freundliches Lächeln.
"Zuhause?" Ich verstand nicht richtig, was er mir damit sagen wollte. War sie auf dem Schiff der Piraten? Das war doch das Zuhause der Piraten, oder?
"Ja, sie ist Zuhause. Ich habe sie sicher heimgebracht. Also komm wieder runter." Wie konnte Freya in ihrem Zustand nach Hause gekommen sein, ohne sich Hals und Beine zu brechen?
"Wie sie ist Zuhause? Du meinst, sicher und unverletzt?" Ascans Worte wollten einfach nicht in meinen Kopf gehen.
"Ja, genau. Das meine ich: Freya liegt sicher und unverletzt in ihrem Bett." Er betonte jedes einzelne Wort.
Erleichterung durchströmte meinen gesamten Köper und hinterließ ein warmes Gefühl. Ich ließ mich zurück fallen, lehnte mich an. Meine beste Freundin war sicher nach Hause gekommen. Meine beste Freundin würde voraussichtlich keine bleibenden Schäden vom heutigen Abend davontragen. Der Pirat hatte ihr nichts getan. Nicolas hatte recht behalten. Man konnte sich auf Ascan verlassen.
Seufzend erhob ich mich. "Ich gehe dann wohl besser auch", sagte ich in die Runde und zu Nico gewandt fügte ich hinzu: "Danke für das Wasser und den Schluck Bier." Verlegen grinste ich.
"Kein Problem!" Er winkte lässig ab. "Komm sicher nach Hause, ja?"
Machte er sich Sorgen um mich? Nein, das sagte man zu jedem. Ich interpretierte da schon wieder zu viel hinein. Trotzdem. Es war eine schöne Vorstellung, dass sich jemand um mich sorgte.
Ich nickte schnell, bevor ich noch Dummheiten anstellte und irgendetwas tat, das ich später ernsthaft bereuen würde. "Auf Wiedersehen!" Ich winkte in die Runde und verließ zügig die Taverne.
* * *
Ich lag in meinem Bett und versuchte verzweifelt zur Ruhe zu kommen. Ich war müde, wollte endlich schlafen. Doch ich wälzte mich nur von einer Seite des Bettes auf die andere, wechselte meine Schlafposition ununterbrochen. Genervt setzte ich mich auf.
Der Mond schien durch das Fenster auf mein Bett. Der Himmel war wolkenlos und man konnte den klaren Sternenhimmel sehen. Tausende und aber tausende Sterne funkelten am dunkelblauen Nachthimmel.
Jedes Mal wenn ich die Augen schloss, versuchte zu schlafen, tauchte vor meinem inneren Auge ein Gesicht auf. Ein Gesicht, das ich nicht vergessen konnte und dabei sollte es mir doch so schnell wie möglich entfallen.
Nicolas. Nico. Nur ein Name. Nein, denn sein Name vertrieb jegliche Müdigkeit und hielt mich hellwach. Warum auch immer, irgendetwas von mir klammerte sich fest an ihn.
Dabei müsste ich ihn verachten, so wie es die gesamte restliche Bevölkerung tat. Ich müsste ihn an den Galgen bringen wollen. Denn er war ein Freibeuter. Ein Seeräuber. Ein Pirat.
Stattdessen sehnte ich mich nach seiner Gesellschaft. Er war so nett gewesen, hatte sich ständig darum gekümmert, dass ich etwas zu trinken hatte, und hatte sich mit mir unterhalten. ER hatte mir seine Aufmerksamkeit zuteil werden lassen.
Was er wohl von mir hielt? Dachte er gerade auch an mich, wie ich an ihn dachte? Vermisste er mich? Nein–! Ich verlor gerade meinen Verstand. Ein raubeiniger Pirat und eine wohlerzogene, junge Dame aus gutem Hause. Das konnte nicht gut gehen. Aber ich wünschte es mir.
Du wirst ihn sowieso nie wieder sehen, höchstens bei seiner Köpfung auf dem Grasbrook, redete mir eine fiese Stimme zu. Aber was, wenn er mich wieder sehen wollte? Würde er mich suchen? Würde er mich finden?
Seine Stimme. Rau und tief. Männlich. Sein kehliges Lachen. Seine himmelblauen Augen. Seine muskulösen Arme. Seine breiten Schultern. Seine blonden, zerzausten Haare, die ihm fast bis zu den Schultern reichten. Und sein aufrichtiges, schiefes Lächeln. Er war ein Traum von einem Mann. So attraktiv und freundlich.
Man konnte ihn beim besten Willen nicht vergessen.
Ich dachte noch sehr lange an sein kantiges Gesicht mit der kleinen Narbe auf der linken Wange, an den hilfsbereiten Freibeuter.
Aber schließlich übermannte mich die Müdigkeit doch und ließ meine Augen zufallen. Ich träumte von diesem unvergesslichen Abend in der Taverne. Ein Abend zwischen Bier und Piraten. Ein Abend zwischen Skeptik und Offenheit. Ich träumte von meinem Nicolas Störtebeker.
* * *
Wir hatten bereits kurz nach dem Ende des stimmungsvollen Abends abgelegt und befanden uns nun wieder auf hoher See. Der Sturmvogel lag ruhig im Wasser. Es war still. Nur das sanfte Rauschen der Wellen war zu hören. Die meisten meiner Männer waren schlafen gegangen, nur einige hielten wie üblich Wache. Ich saß am Bug auf der Reling die Arme auf den Knien ruhend und blickte auf den Horizont. Die ersten Morgenstrahlen kämpften sich ihren Weg durch die Dunkelheit.
Ich hatte schon zahlreiche Sonnenaufgänge auf dem Meer gesehen. Doch dieser war anders.
Während sich der Himmel langsam türkis färbte und das nächtliche Dunkelblau in die Flucht schlug, stellte ich mir vor, wie sich die ersten Sonnenstrahlen des Tages auf dem goldblonden Haar von Klara brachen. Ihr seidiges Haar passte perfekt zu ihren graublauen Augen. Ihr zierliches Kinn und die tausend Sommersprossen auf ihrem Gesicht. Ein Hauch von Rosa hatte die ganze Zeit über auf ihren Wangen gelegen und farblich zu ihren vollen Lippen gepasst. Sie war nicht groß gewesen aber auch nicht allzu klein.
Ihre ganze Gestalt hatte mich verzaubert. Ihre ganze Art hatte mich beeindruckt. Sie ging mir nicht mehr aus dem Sinn. Immer wieder ließ ich den Abend in der Taverne Störtebekers Kopf Revue passieren, analysierte jede ihrer Bewegungen. Ihre feine, glockenklare Stimme und die zierlichen Hände.
Eigentlich war sie nur ein Mädchen gewesen. Doch dass sie keine Hure gewesen war und aus gutem Hause zu stammen schien, zog mich auf irgendeine mir unbekannte Art und Weise an. Sie und ihre Freundin hatten scheinbar nur Unsinn machen wollen, als sie in die Taverne gestürmt waren. Doch sie hatten dafür gesorgt, dass der Abend unvergesslich geworden war. Ich hatte kein Auge zutun können, weil ich jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, Klaras wunderschönes Gesicht sah. Es stand außer Frage, dass auch Ascan Gefallen an ihrer Freundin Freya gefunden hatte.
Doch nun stellten sich die Fragen: Würden wir uns alle wieder sehen? Hatten die zwei Mädchen den Abend genauso genossen wie wir? Dachten sie auch an uns? Hatte ich Klara gefallen und war ihr sympathisch gewesen?
Ich wusste auf keine Frage eine Antwort. Ich wusste nur, dass ich Klara wieder sehen wollte. Koste es, was es wolle! Denn sie hatte in mir eine lang versteckte Begierde geweckt.
Selbst wenn ich sie nun niemals wieder sehen würde, war es doch zu spät für mich. Denn ich fing bereits an mich unwiderruflich in sie zu verlieben und das nach diesem einen Abend. Es war etwas Besonderes. Schicksal.
"Gestern war ein schöner Abend, findest du nicht?"
"Es war in Ordnung, Freya", gab ich auf ihre Frage zurück. Es war ein wenig merkwürdig, dass Freya noch nicht gefragt hatte, wie genau sie gestern nach Hause gekommen war. Denn sie war so betrunken gewesen, dass sie nicht einmal mehr hatte gerade gehen können. Ich fragte mich, wie sie sich dann an ihren Heimweg erinnern sollte. Aber bisher hatte sie keine Andeutungen in diese Richtung gemacht.
Stattdessen waren unsere Gespräche heute ziemlich belanglos geblieben. Wir hatten uns über den Hussitenkrieg, den König Sigismund im Moment führte, und über meinen Bruder und meinen Vater unterhalten. Denn Frederick und Vater hatten für heute ihre Rückkehr angekündigt. Ich freute mich darauf die beiden nach fast einem Monat wieder zu sehen.
"Und was ist alles passiert?"
Da war es doch! Sie wollte wissen, was gestern Abend geschehen war, weil sie sich an nichts mehr erinnerte. Tja, dachte ich, wenn man nicht so viel trinkt, würde man sich an den gestrigen Abend auch erinnern.
"Gestern Abend?" Eilig nickte Freya. "Du musst es doch wissen. Du warst doch dabei", meinte ich ungerührt.
"Aber erzähl doch mal, wie du den Abend empfunden hast!"
"Ich fand den Abend... speziell aber unerwartet angenehm."
"Jetzt lass dir doch nicht alles so aus der Nase ziehen", forderte meine beste Freundin mit den rehbraunen Augen.
Seufzend gab ich mich geschlagen. "Gut, am Anfang, als du kopflos in die Taverne gestürmt bist, hatte ich tatsächlich Angst. Dir hätte ja etwas passieren können. Doch wo ich dich gesehen habe", angewidert verzog ich das Gesicht und erntete einen missbilligenden Blick, "wie du diesen Piraten geküsst hast, hätte ich an die Decke gehen können. Ich dachte: Jetzt dreht Freya völlig durch!" Ein leises Kichern entfuhr der brünetten Frau, die mir gegenüber saß. "Und dann hast du diese Widerlinge auch noch in Schutz nehmen wollen."
Verwirrt fragte Freya: "Widerlinge?"
Ich nickte. "Ja, anfangs hielt ich sie dafür." Meine Gedanken kreisten um Nicolas und zum wiederholten Male tauchte sein Bild vor meinem inneren Auge auf. In Gedanken entfuhr mir ein Seufzer. "Aber als–"
"Wieso wirst du denn auf einmal so rot?"
Entsetzt starrte ich sie an. "Werde ich gar nicht!"
"Und ob", meinte sie bestimmt und traf damit genau ins Schwarze. Mist, sie hatte mich ertappt. Ich hatte gegenüber Freya noch kein einziges Wort über Nicolas verloren. Hoffentlich würde sie es nicht bemerken, aber er hatte bei mir ziemlichen Eindruck geschändet. Und wenn ich ganz tief in mich hineinhorchte, musste ich mir eingestehen: Er hatte mir gefallen.
"Und dann hast du gemerkt, dass die Freibeuter doch alle ganz freundlich sind, nicht wahr", holte mich meine beste Freundin zurück in die Realität.
Ich holte tief Luft und erzählte weiter, anstatt auf ihre Frage einzugehen: "Als du die Seeräuber in Schutz nehmen wolltest, ist Nicolas aufgetaucht. Ich wusste erst nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte. Er wirkte so... so autoritär. Anschließend saßen wir ja alle zusammen und du und die Freibeuter haben ziemlich viel Bier getrunken. Ich wusste bis dahin gar nicht, dass du Bier magst. Nicolas wollte mir immer wieder etwas anbieten. Anfangs lehnte ich jedes Mal ab. Schließlich wurde mein Durst aber so groß, dass ich mir doch einen Becher Wasser genehmigte. Während ich mehrere Becher Wasser trank – später habe ich auch einmal von Nicos Bier genippt – hast du mehr und mehr Bier getrunken. Ascan hat sich um dich gekümmert, Nicolas sich um mich. Immer wieder hat Nicolas versucht ungezwungene Gespräche mit mir zu führen und dann rammst du mir deinen Ellenbogen zwischen die Rippen. Du meintest, du wolltest mit Ascan irgendwohin gehen und ich habe Theater gemacht." Verlegen schmunzelte ich. "Aber Nico und Ascan haben mir versichert, dir würde nichts passieren. Also habe ich mich zurückgelehnt und die Zeit genossen." Ich grinste verschwörerisch. "Ich weiß nicht, was du und Ascan gemacht habt. Aber er kam allein zurück in den Störtebekers Kopf. Ich habe mir wahnsinnige Sorgen um dich gemacht und hätte Ascan den Kopf abgerissen – vor allen Anwesenden, wenn es hätte sein müssen. Er hatte dich jedoch sicher heimgebracht. Schlussendlich bin ich auch gegangen, weil ich ja eigentlich nur wegen dir dort war." Ich zuckte mit den Schultern.
"Aha", nickte Freya wissend. Was sollte das jetzt schon wieder? "Und was haben Nico und du noch so getrieben?"
"Was?!" Erschrocken schreckte ich aus meinem Sessel hoch. "Ich... Also da... war..." Um meine Gedanken zu ordnen und mich wieder in den Griff zu bekommen, schüttelte ich wild den Kopf von links nach rechts. Nach einem geräuschvollen Räuspern hatte ich mich gefangen. "Zwischen Nico und mir war gar nichts."
"Wirklich?" Die junge Dame mit den rehbraunen Augen schien nicht überzeugt.
"Ja", meinte ich etwas zu entschieden.
Augenblicklich hatte Freya mich durchschaut. Erstaunt stellte sie fest: "Du magst ihn!"
"Nein."
"Und ob! Du brauchst gar nicht erst versuchen es zu leugnen. Ich sehe es dir an deiner Nasenspitze an und an dem Funkeln in deinen Augen, wenn du seinen Namen sagst."
"Ich habe gar kein Funkeln in den Augen, wenn ich Nico sage!"
"Doch. Da war es nämlich gerade wieder." Siegessicher breitete sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht aus.
"Gar nicht", murmelte ich kleinlaut. Wieso musste sie in Sachen Liebe so genau Bescheid wissen?
Freya hatte schon etlichen Männern die Köpfe verdreht, während ich daheim gesessen und gelesen hatte. Freya besaß einen klaren Vorteil gegenüber mir und das musste ich ändern. So schnell wie irgendwie möglich!
Apropos Liebe: "Und was ist zwischen dir und dem Piraten mit den meergrünen Augen passiert?"
"Da war nichts." Demonstrativ drehte sie mir den Rücken zu. Nichts sah anders aus.
"Ach wirklich?"
Ruhe.
"Gut. Gut, gut, ich erzähl es dir ja schon."
Ich lächelte zufrieden: "Geht doch."
"Wir haben die Taverne verlassen und ich bin durch die Straßen getorkelt."
"Und?"
"Das ist alles, mehr weiß ich nicht mehr. Ich glaube aber, da war noch ein Kuss. Ich bin mir aber nicht sicher." Sie tippte sich mit einem Finger ans Kinn, so als würde sie angestrengt überlegen.
Darauf ließ ich es mir nicht nehmen mit den Augen zu rollen. Mich quetschte sie aus und sie wusste es einfach nicht mehr.
"Tut mir leid, aber ich war betrunken." Das war die einfallsreichste Entschuldigung, die ich je gehört hatte, dachte ich sarkastisch. "Wirklich", beharrte Freya.
"Ich glaube dir ja. Aber ich hatte gehofft, dass du etwas Spannendes oder Interessantes zu berichten hättest."
"Tut mir leid..."
Es entstand eine kurze Pause, bis Freya plötzlich das dringende Bedürfnis verspürte mir noch etwas Wichtiges mitzuteilen. "Aber", plapperte sie hibbelig, "Ascan kann sooooooo gut küssen. Und er war so süß. Und er ist so attraktiv. Er ist perfekt: stark, liebevoll, hübsch, zuvorkommend–"
"Ich hab es verstanden, Freya", meinte ich bedeutend, "du bist verliebt."
"Was?! Nein!"
"Doch."
"Na gut." Das ging aber schnell. "Du hast ja recht. Aber Ascan ist auch so toll. Allein sein Name... Ascan..." Theatralisch rollte ich erneut mit den Augen. "Klara?" Fragend sah sie mich an, und hatte ihren einzigartigen Hundeblick aufgesetzt. Ich war schon jetzt geschlagen, egal was sie wollte oder worum es ging.
"Was möchtest du denn, Freya", fragte ich eher desinteressiert.
Ihre Stimme wurde weich und liebevoll. Sie schmeichelte jeder Silbe. "Ich möchte Ascan wieder sehen." Ungläubig musterte ich sie. "Er ist der liebste und aufrichtigste Mensch, den ich kenne." Freya hatte sich definitiv in Ascan verschaut. Doch er war nicht aufrichtig. Er war ein skrupelloser Pirat. Nur wusste meine beste Freundin das nicht und ich wollte nicht diejenige sein, die ihr das Herz brach. Denn Ascan gehörte zu den am meisten gesuchten Piraten auf Ost- und Westsee. Er war ein Mitglied von Störtebekers Mannschaft. Aber irgendwann musste jemand Freya die Wahrheit über Nico und Ascan sagen. Ich ahnte bereits, dass ich diejenige sein würde.
In diesem Moment schlug laut die Vordertür zu und kündigte Besuch an. Eilig stand ich auf und ging in die große Halle.
Weit kam ich nicht, ich wurde von zwei mir wohlbekannten Armen aufgehalten, die sich um meine Taille schlangen und mich herumwirbelten. "Schön dich wieder zu sehen, Schwesterchen", war die freudige Begrüßung, die damit einherging.
* * *
"Frederick", quietschte ich überglücklich. "Du bist wieder da!"
Noch immer wirbelte er uns beide herum und seine zerzausten, dunkelbraunen Haare flogen mir ins Gesicht.
"Das hatte ich dir doch in meinem letzten Brief versprochen." Er grinste mich schief an, so dass man seine Zahnlücke sehen konnte und seine blaugrauen Augen funkelten.
In einem Kampf hatte er diesen Zahn herausgeschlagen bekommen. Doch das störte ihn keineswegs. Stattdessen war es ein Beweis für seine Tapferkeit, wie er es immer ausdrückte.
Endlich ließ er mich herunter. Tief sah er mir in die Augen, sein Blick veränderte sich, wurde mitleidig und ich wurde wie immer rot. "Klara, was ist passiert? Du bist auf einmal so, nun ja, so glücklich und trotzdem traurig..."
"So ein Quatsch!" War es etwa so offensichtlich, dass sogar mein Bruder, der mehrere Wochen nicht da gewesen war, es mit einem Blick erkannte? "Mir geht es ausgezeichnet", strahlte ich und fügte noch witzelnd hinzu: "Du siehst Gespenster, wo keine sind."
"Kann sein!" Er lachte ausgelassen.
Oh, wie hatte ich dieses Lachen, das ich von jeher so gut kannte, vermisst? Augenblicklich hegte ich keinen weiteren Zweifel an dem, was ich gesagt hatte. Mir ging es tatsächlich ausgezeichnet. Frederick hatte dazu beigetragen. Er liebte mich unbändig und ich liebte ihn. Das war tiefe Geschwisterliebe.
"Also, was habe ich verpasst, während ich weg war", erkundigte sich der braunhaarige, junge Mann.
"Nichts besonders Spannendes", log ich und hoffte inständig, dass Freya nur ein einziges Mal ihren Mund halten und nichts von den Piraten erzählen würde. Meine Hoffnung erfüllte sich erstaunlicherweise, sie blieb stumm. Sie blieb stumm? Seit wann gab Freya keinen Ton mehr von sich? Sonst mischte sie sich doch überall ein.
"Na dann ist ja alles gut, bei meinem kleinen Schwesterchen." Provozierend schenkte mir mein Bruder sein breites Froschlächeln, das ich so liebte.
"Du bist auf See unverschämt geworden, mein lieber Bruder", tadelte ich ihn mit erhobenem Zeigefinger.
"Ich wollte nur wissen, ob du darauf eingehst."
Dieser Lausebube, scherzte ich in Gedanken.
Da fiel mir plötzlich etwas auf: "Wo ist denn Vater?"
"Er müsste gleich kommen. Er wollte noch kurz zum Jäger", beruhigte Frederick mich. "Heute Abend gibt es Fasan", fügte er freudig hinzu.
Typisch, Frederick hatte mal wieder nur Essen im Kopf. Mein Bruder konnte soviel verdrücken wie drei gutgebaute Männer zusammen. Das Wunder dabei war, dass er trotz allem kein Gramm zuzunehmen schien.
"Willst du zum Essen bleiben, Freya?"
"Ja, sehr gerne", nahm sie mein Angebot an.
In diesem Moment schlug die Eingangspforte ein zweites Mal geräuschvoll zu und kündigte uns die Heimkehr meines Vaters an. Heiter lief ich zu ihm, um auch ihn herzlich zu begrüßen und willkommen zu heißen.
* * *
Wir saßen am Tisch beim Abendessen. Der Tisch war gedeckt mit Wein, Brot und einer großen Platte in der Mitte, auf der ein zubereiteter Fasan drapiert war. Es war köstlich.
Alle saßen wir zusammen: Meine beste Freundin Freya, mein Bruder Frederick, mein Vater und ich. Meine Familie.
Die Einzige, die Am Tisch fehlte, war meine Mutter. Aber sie wandelte schon seit langer Zeit nicht mehr unter den Lebenden. Sie war gestorben vor fast sechsundzwanzig Jahren. Nach meiner Geburt hatte sie Kindbettfieber bekommen. Sie hatte gekämpft, es aber nicht überstanden. Deshalb war ich als einziges Mädchen in diesem Haus aufgewachsen.
Mein Vater hatte sich zu jeder Zeit die größte Mühe gegeben, mich anständig zu erziehen. Er besorgte mir die besten Lehrmeister, die mich schreiben, lesen und rechnen lernten. Ich bekam Reitunterricht und lernte nebenbei noch Bogenschießen. Denn ich war ein so wissbegieriger Mensch, dass ich binnen weniger Stunden neue Dinge lernte. Auch mit dem Schwert umzugehen, wurde ich gelehrt. Es hätte ja einmal etwas passieren können, während mein Vater und mein Bruder nicht daheim wären. Ich sollte mich zu verteidigen wissen. Nun zählte ich zu den gebildetesten, jungen Damen von Stralsund, was mir viele Türen öffnete.
"Was habt ihr eigentlich auf eurer Reise erlebt, Vater?" Ich war bisher noch nicht dazu gekommen, diese Frage zu stellen. Doch nun trieb mich die Neugierde.
"Nun ja", mein Vater wischte sich den Mund an einem Tuch sauber, "wir sind an der Küste entlang gefahren, haben uns sogar Richtung Norden gewendet. Unsere Suche blieb erfolglos. Keiner konnte uns sagen, wo wir hätten suchen sollen."
"Ihr habt Jagd auf den Störtebekersohn gemacht, nicht wahr", redete Freya hinein.
In diesem Moment verschluckte ich mich an einem Stück Fasanenfleisch und hustete, weil ich keine Luft bekam. Das Fleisch steckte mir im Halse fest. Doch nach einem Schluck Wein ging es mir wieder besser. Die anderen sahen mich an und als sie sicher waren, dass wieder alles in Ordnung war, setzten sie ihr Gespräch an der Stelle fort, wo sie aufgehört hatten, so als wäre nichts gewesen.
"Richtig, junge Dame", stimmte mein Vater zu. "Aber wie ich bereits erwähnte, war unsere Suche erfolglos. Doch als sinnlos würde ich sie keineswegs bezeichnen. Statt Störtebeker begegneten wir einem anderen Piratenschiff. Es stand unter dem Kommando von Michel Bund."
Nun fiel auch Frederick in das Gespräch ein: "Ja, und wir haben sie eine ganze Weile vor uns her gejagt, wie ein Raubtier – sie haben blitzschnell Reißaus genommen, als sie uns sahen. Aber sie hatten gar keine Chance gegen unser Schiff. Es ist das schnellste und wendigste, das auf der Ostsee unterwegs ist. Kein Piratenschiff kann es mit der Maria aufnehmen." Frederick rühmte sich stolz mit dem Schiff, das er zwar weder selbst erbaut noch eigenhändig gesteuert hatte, aber auf dem er nur allzu oft dahingesegelt war.
"Schließlich haben Frederick und ich sie mit einem gekonnten Manöver eingeholt und aufgehalten. Der Widerstand war geradezu lächerlich, auch wenn der Versuch von ihnen ehrenhaft war. Die meisten von ihnen ergaben sich am Ende und die wenigen anderen..." Er machte eine kurze Pause. "Nun ja, sie lagen leblos auf dem Deck", nahm mein Vater das Wort wieder an sich. Sein Ton war verächtlich, abwertend. So redete er jedes Mal über die Piraten. Aber war es im zu verdenken? Das waren Monster, die keine Skrupel kannten.
"Ich habe ebenso tapfer gekämpft wie Vater und mindestens einem dutzend Freibeutern mein Schwert durch den Körper gerammt. Doch ich war für sie beinahe unantastbar. Nur diese kleine Schnittwunde habe ich davon getragen, als ich den ersten Mann des Kapitäns herausgefordert habe." Stolz präsentierte uns mein Bruder seinen mit Wundgrind überzogenen, rechten Oberarm.
Das war typisch für Männer. Ihre Verletzungen waren für sie Trophäen.
"Tat das nicht weh?"
Was sollte das denn jetzt, Freya, fragte ich meine Freundin in Gedanken. Seit wann war sie besorgt um meinen Bruder?
"Nein", gab er kopfschüttelnd zurück und brüstete sich mit seiner Tapferkeit.
"Und wisst ihr, wo Störtebeker jetzt ist?" Sie schien ein wenig übereifrig.
"Das würde ich auch gerne wissen, Vater", schloss ich mich an.
"Nein, Klara. Leider nicht, mein Schatz." Mein Vater trank einen Schluck dunkelroten Wein. "Und was ist hier alles passiert? Muss ich irgendetwas wissen?"
Geschwind verneinte ich. "Es war alles wie immer. Ruhig, friedlich und langweilig..." Ich erinnerte mich ruhig zu bleiben. Doch auf meiner Stirn bildete sich ein Schweißtropfen.
Mein Vater schmunzelte über meine Antwort und nahm einen weiteren Schluck von dem vorzüglichen Wein. "Und hast du über meinen Vorschlag nachgedacht?"
Ich wusste nicht sofort, was er meinte. "Welchen Vorschlag von Euch, Vater?"
Er legte das Besteck zur Seite und sah mich an: "Den Vorschlag, den ich dir vor unserer Abreise", er deute zu Frederick, "gemacht habe."
Ich überlegte angestrengt, konnte mich jedoch an nichts erinnern.
Seufzend erlöste mich Vater aus meiner Unwissenheit: "Klara, meine Blume, du bist jetzt schon fast dreißig Jahre alt und allmählich wird es Zeit, dass du einen Mann findest, der für dich sorgt und der ein guter Vater wird. Das Leben dauert nicht ewig..."
Mist, das hatte ich ja ganz vergessen! Mein Vater wollte mich verheiraten. Zu meinem Leidwesen hatte er auch schon einen Bewerber ins Auge gefasst. Während seiner Abwesenheit hätte ich eine Entscheidung treffen sollen, ob der Mann mir gefiel oder nicht. Doch ich hatte das völlig vergessen.
"Du siehst, dass ich älter werde und ich somit nicht ewig für dich sorgen kann. Dein Bruder wird auch bald heiraten und eine eigene Familie zu ernähren haben. Du brauchst einen Mann, der dich zu schätzen weiß." Mein Bruder verschluckte sich an seinem Wein, als mein Vater auf ihn zu sprechen kam. Ich musste mir ein Lachen verkneifen. "Berthold wäre ein solcher Mann."
Leise kicherte Freya.
Verräterin, warf ich ihr gedanklich an den Kopf.
Berthold war ein neunmalkluger, besitzergreifender Mann. Ein finsterer Ausdruck lag stets auf seinem Gesicht und man hörte selten ein gutes Wort über ihn. Einzig von Gold und Silber schien er Ahnung zu haben.
Ich holte tief Luft und meinte: "Vater, es tut mir sehr leid, aber ich liebe ihn nicht."
"Liebe wächst bestimmt zwischen euch beiden. Du musst ihm nur die Chance geben, der Mann zu sein, den du dir wünschst."
"Nein, Vater", sagte ich bestimmt, "Berthold mag ein erfolgreicher Mann sein, aber er ist nicht gut auf kluge Frauen zu sprechen. Er könnte nie der Vater sein, den ich für meine Kinder wollte."
"Vielleicht wirkt er auch nur so."
Verstand Vater denn nicht? Ich wollte Berthold nicht.
Ich startete einen erneuten Versuch: "Das bezweifle ich. Hört mir zu Vater: Ich möchte einen Gatten, der liebenswürdig ist und mich nicht nur im Haus hält und mich an den Herd stellt. Ich möchte einen Gatten, der mich auch auf seinen Reisen nicht missen möchte."
"Solch einen Mann wirst du wohl kaum finden, mein Kind."
Dieser Gedanke hatte mir schon oft meine Zukunftsträume zunichte gemacht und ich wusste, dass Vater recht hatte. Einen solchen Mann fand man nicht. Denn es ziemte sich für eine Frau nicht zu reisen, um Vergnügen zu haben. Die Gefahren auf den Reisen waren zu zahlreich und zu gefährlich.
"Aber einen anderen Mann werde ich nicht zum Gatten nehmen." Ich wollte keine Frau wie jede andere sein. Ich wollte einzigartig sein. Frei sein und mich nicht einsperren lassen.
"Dann bleibst du auf ewig allein", Wut brannte in meinem Vater auf, "und das einzig wegen deiner Sturköpfigkeit." Ruckartig schob er den Stuhl zurück und stand auf.
"Dann ist das eben mein Schicksal", schrie ich aufgebracht.
"Das lasse ich nicht zu, Klara Amalia", donnerte mein Vater zurück. Mit den Händen schlug er flach auf den Tisch.
"Und ich werde nicht irgendeinen Mann heiraten, den ich nicht liebe!"
Das Gesicht meines Vaters wurde dunkelrot. "Es reicht jetzt! Du wirst einen Mann bekommen. Punkt." Er verließ das Speisezimmer, duldete keine weitere Diskussion.
"Lieber sterbe ich", flüsterte ich, da er aus dem Raum war. Auch ich erhob mich und stürmte wütend hinaus. Das musste ich mir wirklich nicht bieten lassen.
* * *
Ich sah meiner Schwester nach, wie sie aus dem Zimmer stürmte.
Mein Vater und meine Schwester waren solche Sturköpfe. Keiner wollte nachgeben. Nie. Da kam es nicht selten vor, dass die beiden aneinander gerieten. Anstatt nachzugeben, stritten sie sich auch lieber und sprangen sich beinahe an die Kehle. Das endete immer damit, dass sie sich beide wie verletzte Tiere zurückzogen, um ihre Wunden zu lecken.
Und nun saß ich hier mit Freya und sollte mein Abendessen zu Ende genießen können. Doch das war nicht möglich.
Auch wenn ich Freyas Gesellschaft als ausgesprochen angenehm empfand, schien ihr der Appetit vergangen zu sein. Freya schob ihren Teller, der noch immer halbvoll war, von sich weg. Stöhnend tat ich es ihr gleich und stand anschließend auf. "Soll ich dich zur Tür bringen", fragte ich höflich.
"Gerne." Sie stand auf, strich ihren Roch glatt und kam um den Tisch herum. Plötzlich stolperte sie, verlor das Gleichgewicht und stürzte auf mich zu. Ich konnte sie gerade noch am Arm packen und festhalten, bevor sie mich im Fall mit sich gerissen hätte.
"Hoppla, danke!" Peinlich berührt strich sie sich eine braune Locke hinters Ohr.
Ich begleitete Freya zur Tür, achtete darauf, dass sie nicht erneut hinfiel. Auf der Türschwelle verabschiedeten wir uns: "Komm gut nach Hause, Freya." Ich lächelte freundlich.
"Danke. Auf Wiedersehen", erwiderte sie, drehte sich um und ging davon.
Ich blickte ihr noch eine ganze Weile nach, auch als sie schon längst verschwunden war. Sie war hübsch, keine Frage. Aber sie hatte meine Gefühle für sie bisher nie bemerkt. Auch meiner Schwester schien es seit jeher entgangen zu sein, dass ich mehr für das Mädchen mit den braunen Augen empfand als Freundschaft. Aber sie empfand offensichtlich nicht das Gleiche für mich.
Wehleidig schloss ich die Tür und ging auf mein Zimmer.
Freya. Seit unserer Kindheit bewunderte ich sie, wurde nervös, wenn sie in meiner Nähe war.
Ich liebte sie. Aber sie schien das nie zu bemerken.
Die alte Dame räusperte sich, eine Faust vor den Mund haltend und fuhr dann fort: "Die Tage gingen dahin. Freya und ich lebten in den Tag hinein. Tag für Tag, Stunde um Stunde.
Wir unternahmen mit meinem Bruder hin und wieder kleinere Ausflüge. Einmal fuhren wir mit einem kleinen Ruderboot auf dem Bodden umher. Ein anderes Mal veranstalteten wir ein gemütliches Picknick im Wald.
Doch schließlich war es Zeit zum neuerlichen Abschied. Uns hatte die Nachricht erreicht, dass Störtebeker sich momentan in der Nähe von Hamburg aufhielt und Frederick und mein Vater wollten ihn natürlich suchen.
Es tat weh, meinen geliebten Bruder und meinen Vater, der gebückter ging als noch vor einem Monat – als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte –, gehen zu lassen. Ungewissheit würde mich plagen, bis sie sicher heimgekehrt wären. Doch ich musste sie schweren Herzens davonziehen lassen.
Nach ihrer Abreise vergingen weitere Tage, bis eines Morgens Freya angerannt kam. Sie schrie lautstark nach mir und ihre Stimme überschlug sich beinahe vor Freude. Sie hatte eine besondere Überraschung, mit der sie wild herumwedelte..."
* * *
"Klara! Klara!" Ihre Stimme quietschte vor Freude. "Klara, das musst du gelesen haben!" Ihr Gesicht war von einem breiten Grinsen gezeichnet, das von einem Ohr zum anderen reichte.
Was um Gottes Willen hatte meine beste Freundin geritten?
Atemlos kam sie vor mir zum Stehen und stützte sich zuerst auf ihren Knien ab. Sie rang nach Luft, ließ es sich jedoch nicht nehmen mir trotzdem die einzigartige Neuigkeiten zu berichten: "Ich habe- Ich habe einen Brief be-bekommen." Sie schnappte nach Luft. "Hier, das ist der Bri-Brief... Rate mal von we-wem er ist!" Sie hielt mir den Brief vor die Nase. Doch als ich danach greifen wollte, entzog sie ihn mir.
"Ich weiß es nicht. Von wem ist er?" Ich war neugierig, was so eine Reaktion bei Freya ausgelöst hatte und wollte mich nicht lange auf die Folter spannen lassen.
"Ra-rate", beharrte sie.
"Keine Ahnung. Von einem deiner vielen Liebhaber?" Sie schüttelte verneinend den Kopf. "Freya, nun sag es mir endlich!"
"Nein–. Rate wei-weiter." Noch immer hatte sich ihr Puls nicht normalisiert.
"Von deiner verschollenen Cousine?" Wieder schüttelte sie den Kopf. Die Ideen gingen mir aus. "Von... Von einer Hexe, die dich um Erlösung von ihren Sünden bittet?"
Verwirrt riss das brünette Mädchen die Augen auf und bekreuzigte sich. "Nein, bei Gott!"
Sie ließ mich wie einen Fisch auf dem Trocknen zappeln. "Rück heraus mit der Sprache, Freya, oder ich dreh dir den Kopf um, wenn du mich noch weiter im Ungewissen lässt", drohte ich ihr.
Diese Drohung schien die junge Dame, die endlich bei Atem war, überzeugt zu haben. "Ich habe diesen Brief gestern in der Nacht von einem Boten erhalten. Von der Neugierde getrieben öffnete ich ihn sogleich. Ich las die Zeilen und unten stand der Name des Absenders." Sie schmolz dahin.
Von wem war der Brief denn nun? Wieso reagierte sie so auf dieses Schriftstück?
"Er ist von Ascan, schau!" Sie öffnete das säuberlich gefaltete Blatt Papier, hielt es mir unter die Nase.
Da sah ich es. Ganz unten am Rand stand in verschlungener Handschrift der Name. Ascan.
Aber wenn Ascan Freya einen Brief geschrieben hatte, wieso hatte ich keinen von Nicolas bekommen?
Es gab nur eine mögliche Antwort, warf mein Verstand ein. Er hatte mich bereits vergessen, und es war besser so.
Ich war also doch nur ein Mädchen von vielen gewesen, dessen Bekanntschaft er bei einem Landgang gemacht hatte. Meine Stimmung sank auf den Tiefpunkt zu.
"Und was schreibt dein Liebhaber?", wollte ich missmutig wissen, versuchte aber Haltung zu bewahren.
Eifrig machte sich Freya daran, meine Frage zu beantworten. Dabei war es ihr gleich, dass es mich eigentlich gar nicht interessierte. Der Brief war an sie gerichtet, von Ascan. Er war nicht für mich. Er war nicht von Nicolas.
"Ascan schreibt, dass er mich einfach nicht vergessen kann und ständig an mich denkt. Ist das nicht romantisch?" Abwartend sah mich Freya an. Als ich abwesend nickte, fuhr sie fort: "Er schreibt außerdem, dass er mir erst jetzt schreiben kann, weil sie vorher nirgendwo angelegt haben, wo er den Brief hätte abgeben können. Er hat sich dutzende Male dafür entschuldigt. Das ist so süß, findest du nicht?" Diesmal wartete sie auf keine Reaktion meinerseits, sondern machte nur eine kurze Pause, um Luft zu holen. "Er schreibt auch, dass sie demnächst in Hamburg vor Anker gehen und zwar genau in drei Tagen. Und er würde sich freuen mich zu sehen. Ich soll ihn in Hamburg besuchen kommen..."
Schmacht, schmacht, schmacht... Entnervt rollte ich mit den Augen. Wieso hörte ich mir diesen Schmarren überhaupt an? Das betraf mich doch gar nicht. Ich sollte einfach ins Haus gehen und Freya hier draußen zusammen mit ihrem ach so tollen Brief stehen lassen. Genau, das sollte ich tun.
Da riss Freya meine Aufmerksamkeit mit sieben wenigen Wörtern wieder an sich: "Und ich soll dir von Nicolas sagen..."
"Von Nicolas?"
Sie nickte zufrieden.
"Was sollst du mir ausrichten? Los, heraus mit der Sprache! Was ist es?"
Ihre Stimme klang bedeutungsvoll. Sie wartete ab, spannte mich erneut auf die Folter. "Es ist nicht viel, das sage ich dir lieber jetzt schon."
"Egal. Was sollst du mir ausrichten?" Ich platzte beinahe vor Neugierde.
Sie lachte belustigt. "Ich soll dir sagen, dass Nicolas dich ebenfalls gerne wieder sehen würde und du auch nach Hamburg kommen sollst."
Ich war sprachlos vor Glück. Er hatte mich also doch nicht einfach vergessen. Er wollte mich wieder sehen. Aber wollte ich ihm überhaupt begegnen?
Die Antwort lautete ohne jeglichen Zweifel: Ja. Zumindest war das die Antwort von meinem Herzen. Mein Verstand sagte dagegen etwas ganz anderes. Doch ich hörte nicht auf das Er-ist-ein-Verbrecher,-halte-dich-lieber-von-ihm-fern-Gerede, das in meinem Kopf losbrandete. Ich war überglücklich.
"Und Klara?" Ihre Stimme war verheißungsvoll.
"Ja?"
"Ascan meint: Auch wenn Nico es niemals zugeben würde, er vermisst dich." Och, war das süß. "Er sitzt wohl bei jedem Sonnenauf- und bei jedem Sonnenuntergang am Bug und blickt aufs Meer. Ascan hat sich einmal heimlich hinter ihn gestellt und gehört, wie er immer wieder deinen Namen geflüstert hat."
Ein Strahlen breitete sich auf meinem Gesicht aus, wurde immer breiter und hätte der Sonne an einem heißen, wolkenlosen Sommertag Konkurrenz machen können.
Nicolas, ich denke ununterbrochen an dich, teilte ich dem Piraten in Gedanken mit. Ich würde deinen Namen auch jede Sekunde vor mich hinmurmeln, wenn ich könnte.
"Gute Neuigkeiten?" Freyas Frage hatte einen frechen Unterton.
"Ja, grandiose Neuigkeiten", bestätigte ich.
Dümmlich kam mir unser Grinsen bereits vor, als wir uns in die Sessel in der Eingangshalle des Hauses fallen ließen. Wir waren beide überglücklich, was man auf einen Blick erkannte.
Nicolas wollte mich sehen. Ich wollte Nicolas sehen. Er vermisste mich und ich vermisste ihn mindestens genauso stark. Doch es war ein weiter Weg nach Hamburg und er würde erst in drei unerträglich langsam vergehenden Tagen dort sein. Ich wollte in aber jetzt sehen, auf der Stelle.
In diesem Moment wurde mir unabstreitbar bewusst: Dieser Mann, dieser gesuchte Pirat, hatte sich einen Platz in meinem Herzen erschlichen und mir war es unmöglich, ihn wieder hinauszuwerfen. Ich hatte Gefühle für diesen Mann entwickelt. Gefühle, die sich nicht unterdrücken ließen, ganz egal, wer er war. Ich musste damit leben, dass er Störtebekers Sohn war und dass mein Vater und mein Bruder ihn dem Scharfrichter vorführen wollten.
Dabei wusste er noch nicht einmal, wer ich wirklich war. Er wusste nicht, dass gerade diese Leute, die ihn und seine Mannschaft jagten, meine Familie darstellten. Seine Feinde waren meine engsten Vertrauten.
Ein mulmiges Gefühl überkam mich bei diesen Gedanken.
Diese Geschichte würde kein gutes Ende nehmen und unzählige Unannehmlichkeiten mit sich bringen. Das war mir bewusst.
* * *
"Können wir eine kurze Pause machen, Klara. Bitte", bettelte Freya. "Mir tut mein Hinterteil weh."
"Wenn wir schon wieder eine Pause machen, kommen wir nie rechtzeitig in Hamburg an", erinnerte ich meine beste Freundin.
Freya saß stolz auf ihrem braunen Pferd. Das Fell ihres Wallachs hatte dieselbe Farbe wie ihr eigenes Haar und ihr Zopf wehte im Wind wie der Schweif des Pferdes. Es war ein schönes Bild, malerisch. Aber ein kleines Detail störte: Ihr schmerzverzerrtes Gesicht.
"Ich bin es nicht gewöhnt, solange auf einem Pferderücken zu sitzen. Im Gegenteil zu dir reite ich nur sehr selten", meldete sich Freya nach kurzer Zeit erneut. "Und mir schmerzt mein Hinterteil wirklich unerträglich."
Seufzend brachte ich meine schwarze Stute zum Stehen und schwang mein Bein über ihren Rücken, um abzusitzen. "Na gut, wir machen eine Pause. Aber wirklich nur eine ganz kurze", gab ich schließlich nach, schüttelte jedoch missbilligend mit dem Kopf.
Ihr Gedrängel ging mir allmählich auf die Nerven. Andauernd mussten wir Pausen einlegen, weil ihr mal dies schmerzte, mal die Blase drückte und mal hatte sie Durst und mal hatte sie Hunger. Es war zum Verzweifeln.
Nun brachte auch Freya ihr Pferd zum Stehen, stieg ab und drückte mir wortlos dessen Zügel in die Hand. "Ich bin gleich wieder da", rief sie mir im Rennen über die Schulter zu, "ich muss nur kurz etwas erledigen." Wenige Augenblicke später war sie hinter dem nächsten Baum verschwunden – doch nicht ohne vorher wenigstens einmal gestrauchelt zu haben.
Kopfschüttelnd blickte ich ihr nach.
Es würde wirklich eng werden, stellte ich mit einem Blick in den Himmel fest. Die Sonne hatte den Zenit schon seit ein paar Stunden überschritten und wir waren gerade einmal bei Rostock.
Wenn ich wegen Freya mein Treffen mit Nico verpasste, würde sie das bereuen. Denn wegen diesem Treffen hatte ich die letzten Nächte kaum ein Auge zubekommen können. Wenn ich es wegen Freya verpassen würde, würde ich sie das niemals vergessen lassen.
Dieses Treffen war mir unsagbar wichtig.
* * *
"Käpt'n, wir sind bereit zum Anlegen", teilte mir ein bemühter Pirat meiner Mannschaft mit.
"In Ordnung." Ich nickte und schrie aus vollem Hals: "Segel einholen und Anker werfen!"
Damit ging ein ungeordneter Haufen an seine Arbeit. Es sah aus wie in einem Ameisenhügel. Jeder wuselte scheinbar unkoordiniert herum und doch wussten alle, was sie zu tun hatten.
Ich stand hinter dem Steuerruder und blickte auf die Küste. Hamburg. Die Stadt lag vor uns und man erkannte bereits die vor vier Jahren fertig gestellte Sankt-Petri-Kirche. Lange war ich nicht mehr hier gewesen, weil es einfach zu gefährlich war. Ich war ein gesuchter Verbrecher für die Hanse, obwohl ich doch nur das Vermächtnis meines Vaters weiterführte. Dieses Vermächtnis war keineswegs ein Verbrechen. Mein Vater war damals der Robin Hood des Meeres gewesen und heute war ich das. Es war Ausbeutung, was die Hanse und die Könige, Kaiser und Adligen betrieben. Ich nahm lediglich von dem, was sie zu viel hatten, um es denen zu geben, die es nötiger brauchten. Das war Gerechtigkeit und kein Verbrechen.
Doch für heute schob ich das alles beiseite. Alle Bedenken und die möglichen Gefahren. Heute wollte ich mich nicht von der Hanse einschränken lassen. Denn heute würde ich sie wieder sehen. Das hoffte ich zumindest.
Es war nicht möglich gewesen, dass sie uns auf Ascans Brief antworteten. Schließlich hatten sie keine Ahnung, wo wir uns wann aufhielten und die meiste Zeit waren wir sowieso auf See.
Zum Glück hatte mein bester Freund Freya nach Hause gebracht, an diesem besonderen Abend in Stralsund. Dadurch hatte er erfahren, wo Freya wohnte und konnte ihr einen Brief schicken und über diesen konnte ich Klara eine Nachricht übermitteln.
Ich hatte sie wirklich vermisst. Das Mädchen mit den blaugrauen Augen und den langen, blonden Haaren. Klara.
Anfangs hatte ich noch versucht, sie zu vergessen. Sie hätte für mich nur eine flüchtige Bekanntschaft von einer meiner Landgänge seien sollen. Doch das war sie nie gewesen. Denn sie war keine Hure, die mir das Saufgelage angenehmer gestaltet hatte. Sie war eine wohlerzogene Bürgerin von gutem Stande. Sie war anders als die Mädchen, die ich normalerweise an Land kennen lernte. Das war wahrscheinlich auch der Grund, warum sie ununterbrochen in meinem Kopf herumspukte. Wenn ich auf das blaugraue Meer starrte, wenn ich den goldenen Sonnenuntergang blickte oder die strahlende Mittagssonne betrachtete, ich musste immer an sie denken.
Das Geräusch des Ankers, der heruntergelassen wurde, riss mich aus meinen Gedanken. Das Rasseln der Kette war ein vertrautes Geräusch für meine Ohren, anders als das unermüdliche Stimmengewirr vom Hafen.
Heute war Fischmarkt und jede Frau und jeder Mann waren zum Hafen geeilt, um die frischesten Fische der Fischer zu ergattern. Der perfekte Tag, um unerkannt an Land zu gehen.
"Angetreten", forderte ich lautstark meine Männer auf. Blitzschnell hatten sie sich versammelt und blickten mich erwartungsvoll an. "Genießt den Tag. Wir legen bei Sonnenuntergang ab. Gilmar, Onno, ihr bleibt hier und werft ein Auge auf das Schiff."
Salutierend antworteten die zwei bärtigen Seemänner mir: "Aye, aye!"
Zufrieden nickte ich und entließ meine Mannschaft mit den Worten: "Machen wir Hamburg unsicher, Männer." Jubel schlug mir entgegen und brachte mir zum Schmunzeln.
Wenig später zerstreute sich die Menge auch schon und Ascan kam auf mich zu. Er hatte heute erstaunlich gute Laune, was ich auf das bevorstehende Treffen zurückführte. Seit er den Brief abgeschickt hatte, lief er mit einem dümmlichen Grinsen herum und ich tat es ihm nach.
Frauen konnten einen um den Verstand bringen. Klara und Freya. Es war merkwürdig, wie schnell sich diese beiden Mädchen einen festen Platz in unseren Köpfen erbeutet hatten.
"Dann wollen wir mal!" Seine Augen sprühten vor Vorfreude, aber er war auch sichtlich nervös. Er konnte seine Hände nicht stillhalten.
"Es wird schon alles gut gehen. Du brauchst nicht nervös zu sein", lachte ich amüsiert.
"Ich bin nicht nervös", protestierte er. Ich zog eine Augenbraue hoch. "Na gut, ich bin nervös. Aber was ist, wenn sie nicht kommen?"
"Dann können wir es auch nicht ändern. Aber ich denke, sie werden da sein."
"Du bist so ruhig... Bist du denn gar nicht aufgeregt?"
Ich schüttelte mit dem kopf, doch in Gedanken antwortete ich ihm: Und ob ich aufgeregt bin. Sehr sogar. Ich konnte es kaum erwarten.
* * *
Endlich sahen wir in der Ferne die Sankt-Petri-Kirche von Hamburg. Erleichterung durchströmte mich und hinterließ eine angenehme Wärme. Wir waren endlich da!
"Ist... Ist das Hamburg?" Freya hatte mir die halbe Strecke die Ohren voll gejammert, was ihr alles wehtat. Doch diesmal war ich hart geblieben. Ich hatte uns keine weitere Pause zugestanden. Nur während der Nacht hatten wir uns ausgeruht und somit auch unseren Pferden eine Pause gegönnt. Doch in aller Frühe, vor Sonnenaufgang, hatte ich meine beste Freundin aus dem Schlaf gerissen, um weiterzureiten. Der Dank war miese Laune, Gejammer und Genörgel gewesen. Doch nun waren wir pünktlich in Hamburg angekommen.
"Ja, Freya, das ist die Hansestadt Hamburg, der wichtigste deutsche Umschlag- und Stapelplatz zwischen Ost- und Westsee", staunte ich sprachlos.
Ich hatte Hamburg seit vielen Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen. Das letzte Mal war ich zur Köpfung von Klaus Störtebeker im Jahre des Herrn 1401 hier gewesen. Zur Köpfung von Nicolas Vater. Es schauderte mich bei dem bloßen Gedanken daran.
Der muskelbepackte Pirat hatte mit dem Bürgermeister der Stadt Kersten Miles verhandelt, damit all jene Männer freigelassen werden sollten, an denen er nach seiner Enthauptung noch vorbeigehen konnte. Ich hatte mit eigenen Augen gesehen, wie der kopflose Freibeuter an elf seiner Männer vorbeiging und er wäre noch an weiteren vorbeigegangen, wenn der Henker ihm nicht den Richtblock vor die Füße geworfen hätte, über den der Kopflose stolperte und im Sand liegen blieb. Tot. Trotz dem Versprechen von Miles wurden alle dreiundsiebzig Piratenkameraden von Störtebeker geköpft und ihre abgetrennten Häupter auf Pfähle genagelt, um andere Seeräuber abzuschrecken. Störtebekers Schicksal ereilte alle Piraten, die gefangen genommen wurden. Keiner konnte seinen Kopf noch aus der Schlinge des Todes ziehen.
"Das ist unglaublich", bestaunte auch Freya den uns dargebotenen Anblick.
Golden strahlte die Stadt im Licht der Morgensonne.
Wir standen noch eine Weile auf dem Rücken unserer Pferde da und bewunderten die Schönheit dieser Stadt, bis ich schließlich meine schwarze Stute antrieb und im Galopp auf das Stadttor zuritt. In einigem Abstand folgte mir das Mädchen mit den Rehaugen.
* * *
"Gut, unsere Pferde sind versorgt und wir haben jeder ein Zimmer für die Nacht", meinte Freya zufrieden. Sie klopfte sich die Hände an ihrem Rock ab.
Tief atmeten wir durch, als wir aus dem Gasthaus traten. Nun stellte sich nur noch eine große Frage: Wo war der Treffpunkt? Wo würden wir Nicolas und Ascan begegnen? Mussten wir sie in dieser riesigen Stadt suchen, ohne einen Anhaltspunkt?
Ich fragte Freya. Schließlich war sie diejenige, die einen Brief bekommen hatte: "Freya? Steht in dem Brief auch, wo wir Ascan und Nicolas treffen sollen?"
Sie nickte zu meiner Erleichterung. "Wir sollen zu einem bestimmten Gasthaus kommen und dort einfach nach Ascan fragen."
Sehr ausgefuchst, dachte ich sarkastisch. "Und wie heißt dieses Gasthaus und wo befindet es sich?"
Ein freches Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. "Dreh dich einfach einmal um, dann weißt du es."
Nun musste auch ich grinsen.
Denn Freya hatte gesagt, sie wolle in einem ganz bestimmten Gasthaus ein Zimmer mieten, als wir durch das Stadttor der Hansestadt geritten waren. Ohne das weiter zu hinterfragen, hatte ich zugestimmt. Sie war mit mir zu diesem Gasthaus geritten.
Nun wusste ich, dass sie es gezielt ausgewählt hatte, weil es den Treffpunkt mit Ascan und Nicolas darstellte. Freya war wirklicht nicht dumm.
* * *
Wir saßen in der Wirtsstube des Gasthauses und starrten gebannt auf die Tür. Jedes Mal wenn sie aufging, hielten wir den Atem an. Aber es waren nie Nicolas und Ascan.
Mittlerweile war später Nachmittag geworden. Vielleicht hatten es die zwei Piraten nicht geschafft.
Schwermütig rührte ich mit einem Löffel in meinem Tee herum. Erneut hörte ich das Knarren der Tür. Diesmal blickte ich jedoch nicht auf, sondern hypnotisierte weiterhin den Strudel, den ich mit dem Löffel in meinem Tee entstehen ließ.
Plötzlich krallte sich eine zierliche Hand in meinen Arm. Freya. Ich blickte sie fragend an. Doch sie schenkte mir keinerlei Beachtung. Stattdessen starrte sie wie in Trance auf die Tür. Ich folgte ihrem Blick, weil ich mir ihre Reaktion nicht erklären konnte. Noch immer krallte sie sich in meinen Arm. Da entdeckte ich den Grund für ihr Verhalten und ihre Starre ging auf mich über.
Neben der Tür standen zwei junge Männer und blickten sich suchend nach einem freien Tisch um. Einer der beiden Männer hatte seine etwas zu langen, blonden Haare mit einem Strick zurückgebunden. Er hatte himmelblaue Augen und eine kleine Narbe auf der linken Wange. Der zweite Mann hatte kurze, schwarze Haare und meergrüne Augen. Beide waren gut gebaut und sichtbar muskulös. Aber die zwei sahen nicht aus wie die Piraten, die wir vor einiger Zeit im Störtebekers Kopf kennen gelernt hatten. Sie sahen anders aus. Diesmal trugen sie Kaufmannskleidung. Die edlen Kleider standen ihnen. Doch es war nicht das, was Freya und ich erwartet hatten zu sehen:
Ich empfand es als merkwürdig, die zwei Männer in solchen Trachten zu erblicken.
"Sind sie das, Klara?", fragte Freya flüsternd.
Ich nickte perplex. Mir klappte gerade die Kinnlade herunter.
"Unglaublich..." Freya war vollkommen unzurechnungsfähig, deshalb ergriff ich die Initiative und erhob mich von meinem Stuhl.
Strauchelnd wankte ich auf die zwei Männer zu. Ich wollte gerade winken oder mich anderweitig bemerkbar machen, als Nicolas Blick mich streifte und an mir hängen blieb. Schlagartig blieb ich wie angewurzelt stehen. Ich versuchte ihn anzulächeln, doch ich scheiterte kläglich. Denn Nicolas schien mein Anblick zu erheitern. Er fing an zu lachen und sein Körper vibrierte. Ascan schien das aufzufallen, weshalb er seinen Kapitän argwöhnisch betrachtete. Anschließend folgte er dessen Blick und sichtete mich. Er begann ebenfalls zu lachen.
Mist, ist das peinlich.
Die Röte stieg mir ins Gesicht. Ich drehte mich auf dem Absatz um und steuerte zurück zu unserem Tisch.
Die Männer folgten mir und Freya gaffte sie unverschämt offen an.
Erschöpft ließ ich mich auf den Stuhl fallen, atmete tief durch.
Die Piraten in Kaufmannstracht erreichten unseren Tisch und nahmen ohne eine weitere Frage die freien Stühle in Beschlag. Lässig lehnten sie sich auf den Tisch und grinsten uns fröhlich an.
"Wie geht es Ihnen, meine Damen?", fragte Ascan charmant und strahlte Freya an.
"Sehr... Sehr gut", stotterte sie noch immer völlig aus dem Konzept gebracht.
Lächelnd bedachte ich sie und bemerkte so nicht Nicos Blick.
"Und dir?", wollte er mit Samtstimme von mir wissen und erschlich sich damit meine Aufmerksamkeit.
"Gut", meinte ich freudig. Kleinlaut fügte ich noch hinzu: "Ich habe dich vermisst."
Mit meiner entwaffnenden Offenheit schien ich ihn zu überraschen. Denn er schenkte mir lediglich sein einnehmendes, schiefes Lächeln. Ich liebte dieses Lächeln. "Ich dich auch", gab er schließlich zurück, als ich längst nicht mehr darauf hoffte.
"Wollt... Ähm, wollt ihr vielleicht etwas trinken?"
"Ja, sehr gerne", war die Antwort von Ascan auf meine eingeworfene Frage. "Ich nehme ein Bier."
"Ich möchte auch eines, Klara."
Ich rollte mit den Augen. Hoffentlich betrank sich Freya nicht wie beim letzten Mal.
"Ich auch. Aber lass mich dir helfen", sagte Nicolas mit seiner tiefen Stimme und machte Anstalten aufzustehen.
Ich drückte ihn sanft wieder auf seinen Stuhl. "Ich schaffe das schon. Außerdem kann ich den Wirt bitten, es uns an den Tisch zu bringen."
"Wie du meinst", meinte er achselzuckend.
Ich wendete mich zur Theke, bestellte die vier Bier und kehrte zurück an den Tisch.
Ein eintöniges Gesäusel zwischen Ascan und Freya war im Gange. Die Augen verdrehend hatte sich Nicolas abgewendet und seine Laune schlug schlagartig um, als er sah, dass ich zurückkam.
"Na endlich!", sagte er voller Erleichterung. "Ich dachte schon, du überlässt mich dem Tod durch Liebesgeflüster."
Ich musste lachen. "Nein, ich glaube, dass würde ich niemandem antun."
"Dann ist ja gut!" Sein Lachen klang rau und kehlig.
"Und wie geht es euch?"
"Ganz gut", murmelte Nicolas wenig überzeugend. "Im Moment ist es schwierig, da alle hinter uns her zu sein scheinen. Es kommt mir so vor, als würde die gesamte Flotte der Hanse jagt auf uns Piraten machen."
"Es war also nicht gerade einfach für euch hierher zu kommen..."
"Nein, leider nicht. Aber davon lassen wir uns doch nicht abhalten euch wieder zu sehen."
Geschmeichelt von seinen Worten zeigte sich ein leichter Rosaton auf meinen Wangen.
Da tauchte der Wirt auf und brachte uns unsere Getränke. Dankend nickte ich ihm zu, was er ebenfalls mit einem Nicken quittierte. Er entfernte sich.
"Deshalb habt ihr euch also als Kaufleute verkleidet."
"Ja, das war der Grund."
"Aber woher habt ihr diese Kleidungsstücke überhaupt?"
"Sagen wir es so, ganz umsonst hat man sie uns nicht überlassen. Aber das sollte dich nicht interessieren." Er machte eine kurze Pause. "Du siehst heute Abend sehr hübsch aus, Klara."
Mein Herzschlag setzte für eine Sekunde aus. Danach schlug mein Puls dreimal so schnell wie zuvor.
"Danke", bedankte ich mich. Hoffentlich hatte er nicht meinen erhöhten Puls bemerkt.
Was sagte man nach einem solchen Kompliment von einem Mann? Ich wusste es nicht und entschied mich für: "Du siehst auch sehr gut aus."
Um mir Mut anzutrinken nahm ich meinen Bierkrug und stürzte das Gesöff hinunter, in einem Zug. Als ich den ellenhohen Humpen absetzte, funkelten Nicolas Augen amüsiert. Anfangs fragte ich mich warum, doch schließlich fiel es mir ein. Er trug dank seines Vaters den Namen Störtebeker, der eigentlich Stürz den Becher bedeutete. Sein Vater Klaus Störtebeker hatte nämlich einen Vier-Liter-Humpen, einen solchen Humpen wie ich gerade, ohne abzusetzen ausgetrunken. In einem Zug, wie ich.
Heiter blickte ich ihm in seine himmelblauen Augen. Ich schien darin zu versinken.
"Du heißt nicht etwa Störtebeker, Klara?"
Ich lachte laut auf, als er das sagte, während Ascan sich an seinem Bier verschluckte, das er gerade trinken wollte. Er hustete und hustete und Freya musste ihm auf den Rücken klopfen, damit er sich beruhigte. Entsetzt aber heimlich schaute er zu seinem Kapitän. Nicolas bemerkte es nicht, ich dagegen schon.
"Nein", meinte ich immer noch kichernd, "nein, ich heiße nicht Störtebeker." In Gedanken fügte ich instinktiv den Anhang hinzu: Noch nicht.
Warum ich das tat, wusste ich nicht.
"Na dann ist ja gut." Erneut entstand eine Pause, in der sich die Stille wie ein Tuch über uns legte. Selbst das Liebesgeplänkel zwischen Ascan und Freya hatte aufgehört. Man hörte lediglich das Gemurmel der anderen Gäste, das Klirren von aneinander stoßenden Bechern und das Knarren der Dielen, wenn jemand im Raum umherlief.
Nicolas brach schließlich das unangenehm werdende Schweigen: "Und ihr seid noch nicht versprochen oder verheiratet?" Seine Frage richtete sich sowohl an das Mädchen mit den rehbraunen Augen als auch an mich.
Die Frage überraschte mich, denn solche Fragen schickten sich nicht. Um so etwas kümmerten sich Piraten zwar nicht, aber trotzdem.
"Nein", sagte Freya und grinste ihren Piraten mit den meergrünen Augen verschwörerisch an. "Aber ich brauche auch keinen wohlerzogenen, reichen Kaufmann. Ich brauche nur jemanden, der mich liebt." Sie machte Ascan so offensichtlich den Hof, dass man sofort erkannte, was sie wollte – was sie sich erhoffte – was sie sich wünschte.
"Und du, Klara", wendete sich Ascan nun an mich.
Ich schüttelte mit dem Kopf. "Nein, mein Vater würde mich zwar nur allzu gerne unter die Haube bringen, aber ich möchte auch nicht irgendwen heiraten. Ich möchte denjenigen kennen und lieben und andersherum sollte es genauso sein."
Anerkennend wippte Freya mit dem Kopf. Ihre braunen Haare, die sie zur Abwechslung einmal offen trug, schwangen dabei hin und her, wippten auf und ab.
Der Nachmittag blieb weiterhin ruhig und angenehm. Nicolas und ich unterhielten uns miteinander und Ascan und Freya unterhielten sich ebenfalls. Die Themen waren eher belanglos und kratzten nur an der Oberfläche. Aber dennoch genoss ich jede einzelne Sekunde mit Nico. Die Männer schmeichelten uns beiden mit unzähligen Komplimenten.
"Du bist das hübscheste Mädchen, das ich je kennen gelernt habe. Für mich bist du etwas ganz Besonderes", säuselte Nicolas und blickte mir tief in meine Augen. Er schien in meine Seele zu blicken und ich genoss es in vollen Zügen.
Langsam näherten sich unsere Gesichter einander.
Auf einmal stürmte ein vollbärtiger Pirat in das Gasthaus und kam auf uns zugeeilt. Die Tür knallte laut zu und alle Köpfe im Raum wandten sich unserem Tisch zu.
Der Freibeuter war völlig außer Atem, als er sich zu Nicolas herunterbeugte und ihm etwas für mich Unverständliches zuflüsterte. Dabei wurden Nicolas wunderschöne, himmelblaue Augen immer größer und größer.
"Was?!" Er war fassungslos. Krachend fiel sein Stuhl um, weil er sich abrupt aufgerichtet hatte. "Ascan", schrie er, Panik in der Stimme, "wir gehen. Auf der Stelle!"
"Was ist denn los?", wollte dieser seelenruhig wissen.
"Wir. Gehen. Sofort", wiederholte Nicolas mit fester Stimme. Er hatte sich wieder im Griff.
Widerwillig erhob sich Ascan und hauchte Freya noch einen leichten Kuss auf die Stirn. Das war zuviel.
Nicolas rastete völlig aus: "Das reicht jetzt! Beeil dich, Ascan!" Damit stürmte er ohne ein Wort des Abschieds davon, der vollbärtige Pirat hinterher. "Ascan", donnerte es erneut, als Ascan nicht sofort folgte. Seufzend rannte er hinterher.
Fassungslos starrten Freya und ich unseren Liebhabern hinterher. "Was war das denn?" Ihre Augen bekamen einen wässrigen Glanz. Die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Ich ahnte, dass ich nicht anders aussah.
"Ich habe keinen blassen Schimmer", eröffnete ich meiner besten Freundin. Ich war völlig überrascht und gleichzeitig stieg eine unbändige Wut in mir auf. Sie ließen uns einfach hier sitzen, ohne eine Erklärung. Die Wut ballte sich in meinem Magen zusammen. Nein, das würde ich mir nicht gefallen lassen. Wie in Zeitlupe stand ich auf, die Hände zu Fäusten geballt.
"Wo willst du hin, Klara?", fragte Freya besorgt, blieb jedoch sitzen.
Ich antwortete ihr nicht. Stattdessen sog ich die Luft scharf ein und rannte los.
Das war zuviel. So konnten sie nicht mit uns umgehen! Wir waren extra für sie angereist. So ließ ich mich nicht abspeisen.
Ich nahm mir vor sie zur Rede zu stellen und rannte davon. Meine Beine trugen mich weiter und weiter, hinaus in die Hansestadt Hamburg, über die sich die Nacht ausbreitete.
Die beiden Piraten hatten uns einfach sitzen gelassen. Ohne eine plausible Erklärung waren sie davongerauscht.
Freya und ich waren völlig perplex. Fassungslos über ihren blitzschnellen Abgang. Fassungslos über ihren abrupten Stimmungsumschwung. Gerade waren sie noch die zuvorkommensten, liebevollsten Verehrer und im nächsten Moment verwandelten sie sich in durch und durch ruchlose, räuberische Seemänner auf der Flucht.
Die Wut, die sich in meinem Bauch zusammen ballte, staute sich auf, wurde zu einem Knoten, der mir auf meinen Magen drückte.
Ich wollte mich nicht mit Wir gehen, sofort zufrieden geben. Nein, ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und raffte meinen restlichen Stolz, den ich bereits bei meinem ersten Treffen mit den Piraten verloren hatte, auf. So konnten sie nicht mit meiner Freundin und mir umspringen. Das ließ ich mir nicht so einfach gefallen.
Blindlings sprang ich von meinem Stuhl, rannte aus dem Gasthaus in die Nacht hinein und kämpfte mich durch das abendliche Gedrängel.
Suchend schnellte mein Kopf von einer Seite auf die andere. Ich suchte alles genau ab.
Ich finde dich und deine Meute, Nicolas. Das schwöre ich dir. Mich wirst du nicht so einfach wieder los, drohte ich in Gedanken.
Ich rannte orientierungslos durch die dunklen Gassen. Die Sonne verschwand bereits am Horizont.
Da erblickte ich mit einem Mal den Hafen. Schiffe über Schiffe lagen dort vor Anker. Eines glich dem anderen. Zumindest für einen Laien wie mich. Welches gehörte Nicolas? Wo sollte ich anfangen zu suchen?
Tief durchatmend zwang ich mich zur Ruhe, um meine Umgebung genau zu begutachten. Ich ließ meinen Blick über die Schiffe gleiten und blieb schließlich an einem Schiff mit zwei Flaggen hängen. Die eine flatterte im Wind und zeigte die Flagge des Heiligen Römischen Reiches. Die zweite Flagge war fest an den Mast gebunden, damit sie nicht zu sehn war. Trotzdem erkannte ich, dass sie schwarz war. Schwarz wie eine Piratenflagge. Schwarz wie der Tod, den die Seeräuber mit sich brachten.
Ich eilte zu jenem Schiff und blieb vor seinem Rumpf stehen. In großen Buchstaben war in das Holz der Name Sturmvogel geritzt.
Jetzt war ich mir todsicher: Das war Nicolas Schiff.
Vorsichtig lugte ich um den Rumpf herum auf den Steg. Ein dutzend Männer sputeten sich mit dem Aufladen von Kisten und Säcken. Vorräte, wie ich mit einem Blick erkannte.
Aber das bedeutete, dass ich mich schon einmal nicht auf diesem Weg an Bord schleichen konnte. Ich würde sofort entdeckt werden und Nicolas nicht mal zu Gesicht bekommen. Schließlich war er ihr Kapitän und sie würden ihn versuchen zu schützen, um jeden Preis.
Doch Fortuna war mir wohl gesonnen. Denn ein Mann, der einen Pfeil und einen Köcher mit mindestens einem Dutzend Pfeilen bei sich hatte, lief pfeifend an mir vorbei.
Ohne zu zögern ging ich auf ihn zu und bat ihn mir gegen zehn Pfennige seine Sachen auszuhändigen. Irritiert gab er sie mir schließlich. Doch das hatte meine gesamten Überredungskünste benötigt.
Von der nächsten Kiste klaute ich mir ein dickes Seil und band es an einen der Pfeile.
Nun würde sich das jahrelange Üben auszahlen. Ich legte den Pfeil ein, spannte die Sehne, merkte ihren Widerstand, ihre Kraft, zielte und ließ den Pfeil los. Er durchschnitt die Luft und: Volltreffer!
Prüfend zog ich am Seil aber der Pfeil hatte sich, wie von mir nicht anders erwartet, um die Reling gewickelt und würde mein Gewicht aushalten. Ich warf mir Köcher und Bogen über die Schulter und kletterte nach oben.
Es war schwierig, denn ich hatte meine Kraft ein wenig überschätzt. Ich zog mich unermüdlich weiter nach oben, ignorierte den Schmerz in meinen Armen und schwang mich schließlich unbemerkt an Deck.
Dort war ein ebenso großes Gewusel wie auf dem Steg vor dem Schiff. Deshalb hielt ich es für das Beste mich zu allererst zu verstecken. Nur wo?
Suchend schaute ich mich um. Es blieb mir nur die Luke unter der Treppe übrig. Seufzend öffnete ich sie, blickte hinein und kletterte in die Dunkelheit.
Ich war blind, blinzelte mehrmals. Denn ich erkannte nur schemenhafte Umrisse.
Langsam gewöhnten sich meine Augen an das Dämmerlicht und ich konnte meine Umgebung grob erkennen. Matten hingen von der Decke – die Schlafplätze der Besatzung – und einige Fässer standen an den Seiten.
Leise schlich ich mich weiter, kam an der Küche und einem riesigen Tisch mit zahlreichen Stühlen vorbei. Ich schritt weiter und entdeckte endlich das perfekte Versteck für mich. Bequem und trotzdem nicht allzu offensichtlich. Denn ich war nun zu dem Schluss gekommen, dass ich lieber auf eine gute Gelegenheit warten sollte, um Ascan und Nicolas zur Rede zu stellen. Ich schaute mich um. Kein Mensch war in der Nähe.
Es raschelte ein weinig zu laut für meinen Geschmack, als ich mich in das Stroh wühlte, dass ich in einer Ecke des Schiffes gefunden hatte. Ich grub mich ein und machte es mir gemütlich.
Ich würde warten, warten bis es günstig wäre mit den beiden Freibeutern zu reden. Ich war geduldig. Ich würde warten, bis sich der Tumult an Deck beruhigt hatte. Ich konnte mich zusammenreißen und für Stunden keinen Ton von mir geben. Ich...
Ein herzhaftes Gähnen entfuhr mir.
Ich hatte gar nicht bemerkt, wie müde ich war. Langsam fielen mir die Augen zu, doch ich ermahnte mich immer wieder zur Wachsamkeit. Aber diesen Kampf konnte ich nicht gewinnen.
Das frühe Aufstehen, das stundenlange Reiten, das Bier. Nun forderte alles seinen Tribut und die Erschöpfung machte meine Glieder schwer wie Blei. Es war schier unmöglich bei Bewusstsein zu bleiben und schließlich überrollte mich die Müdigkeit. Sie entführte mich in eine Traumwelt, in der ich meinen geheimsten Sehnsüchten gegenüberstand.
* * *
Ich gähnte herzhaft und streckte meine müden Glieder. Ich hatte gut geschlafen. Mein Bett war weich und warm gewesen, sanft hatten mich die Federn eingehüllt. Ohne die Augen richtig aufzumachen, wühlte ich mich aus der Wärme und ging zum Badezimmer. Die kurze Treppe hoch und dann links. Erneut gähnte ich, reckte und streckte meinen Körper.
Völlig übermüdet nahm ich Wasser in meine Hände, die ich wie eine Schaufel zusammenhielt, spritzte mir das erfrischende Nass ins Gesicht und wusch mich. Zum Abtrocknen griff ich gewohnter Weise nach rechts und suchte dort nach dem vertrauten Stofftuch zum Abtrocknen. Doch statt einem Tuch spürte ich Stoff, der auf etwas Warmen lag.
Ich patschte weiter mit meiner Hand herum. Mein Gesicht war mit Wasser bedeckt und ich hasste Wasser in den Augen. Doch schließlich bemerkte ich, dass der Stoff über durchaus muskulösem Fleisch spannte. Ein Arm. Ein Männerarm, um genau zu sein.
Erschrocken zog ich meine Hand zurück und blickte auf.
Es war das erste Mal, dass ich meine Umgebung ernsthaft wahrnahm. Ein grimmiges, vernarbtes Gesicht starrte mich an, schien mich beinahe mit seinem Blick zu durchbohren.
Ängstlich schrie ich auf und wich zurück.
Verdammt, träumte ich etwa noch? Wo war ich hier gelandet? Orientierungslos wanderte mein Blick umher und so entdeckte ich, wie sich immer mehr Männer, die mich alle samt mit dem gleichen Ausdruck anstarrten, um mich scharrten. Sie gafften mich an, ließen ihre Blicke über meinen Körper gleiten und blieben irgendwann an meinen Ausschnitt hängen.
Schützend schlang ich die Arme um meine Brust.
Wo zum Teufel war ich hier gelandet?
Schließlich durchbrach ein Mann das stille Anstarren und trat auf mich zu: "Wer bist du, Weib? Und wie bist du überhaupt auf unser Schiff gelangt?"
Schiff? In diesem Moment fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Zum Teufel, ich war auf dem Sturmvogel, Nicos Schiff, und ich hatte eigentlich vorgehabt, ihn wegen gestern zur Rede zu stellen.
Der Boden schwankte leicht. Wieso schwankte der Boden?
Mein Blick richtete sich auf den Horizont, suchte nach einem vertrauten Gebäude. Aber nichts. Ich blickte auf das graue Meer, das sich weit vor uns erstreckte. Wir segelten dahin, auf den Horizont und das Ende der Welt zu.
"Ich..." Meine Kehle war wie zugeschnürt und ich brachte keinen Ton heraus.
Diese Männer ängstigten mich, wie sie mich noch immer angafften. Unser momentaner Aufenthaltsort tat das seinige dazu, um meine Situation auswegloser erscheinen zu lassen.
Die Piraten strahlten eine unausweichliche Gefahr aus. Eine Gefahr, der man sich, stand man ihr einmal gegenüber, nicht mehr entziehen konnte. Piraten. Verbrecher. Todesschergen.
Sie wurden ungeduldig, weil ich nicht antwortete, rückten näher, engten mich ein.
"Ist doch egal, woher sie kommt", schrie schließlich einer.
Ein andere schnaubte wütend: "Frauen an Bord bringen Unglück!"
"Werfen wir sie von Bord!"
"Das können wir doch nicht tun. Wir sind doch keine Bastarde."
"Dann übergeben wir sie eben dem nächsten Schiff, das vorbei kommt."
"Und was willst du denen erzählen?"
"Weiß nicht."
"Aber was machen wir dann?"
Jeder Seeräuber warf irgendetwas in das Gespräch ein und schon bald wusste man nicht mehr, wer was sagte. Alle redeten aufgeregt durcheinander. Es wurde zunehmend lauter.
Mist, fluchte ich still. Was hatte ich hier nur angerichtet? Bei Gott, ich bitte dich Herr, lass mich das lebend überstehen. Ich flehte gedanklich dem Himmel entgegen und hoffte, dass mein Gebet erhört würde.
Immer noch redeten die Piraten durcheinander, diskutierten, was sie am besten mit mir anstellen sollten. Von einfach ignorieren und auf dem Schiff festhalten bis direkt über die Planke laufen lassen, war alles dabei, und sie drängten immer weiter auf mich zu.
Tonlos und eingeschüchtert stand ich vor der Gruppe Seeräuber und wünschte mir nichts sehnlicher, als unsichtbar zu sein. Aber mein Wunsch erfüllte sich sehr zu meinem Leidwesen nicht. Ich konnte nun auch keine Fingerbreite mehr zurückweichen. Mein Rücken presste sich an das Holz des Schiffes. Ich wünschte mir, ich wäre nie auf dieses Schiff geklettert.
Plötzlich ertönte eine mir wohlbekannte, kehlige Stimme und fragte laut: "Was soll der Tumult, Männer? Zurück an die Arbeit mit euch!"
Doch statt sich zu zerstreuen, bildeten die Männer eine Gasse für ihren Kapitän. Er kam direkt auf mich zu. Noch sah er mich nicht, ich sah ihn aber sehr genau.
Seine Augenbrauen waren grimmig zusammengezogen. Eine Falte hatte sich zwischen ihnen gebildet. Mir stockte der Atem.
* * *
Der Tumult an Dreck hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Meine Mannschaft stand tatenlos herum. Was zum Teufel sollte das denn? Wir hatten andere Probleme.
Wütend fuhr ich die Truppe an: "Was soll der Tumult, Männer? Zurück an die Arbeit mit euch!" Doch anstatt sich zu zerstreuen und zurück an die Arbeit zu gehen, die sich definitiv nicht von alleine machte, teilte sich der Haufen lediglich und öffnete einen Gang.
Was war denn hier los? Ich war nicht in Stimmung für Scherze und zog deshalb eine grimmige Miene. Das ganze hier kostete uns wertvolle Zeit. Zeit, die uns vielleicht noch einmal fehlen würde.
Doch als ich in der Mitte der Gruppe ankam, traute ich meinen Augen kaum. Ich musste mehrmals blinzeln, um sicher zu gehen, dass meine Augen mir keinen Streich spielten. Vor mir stand ein blondes Mädchen, das mit hochgezogenen Schultern auf ihre Finger starrte, mit denen sie nervös hantierte. Sie wirkte klein und verletzlich.
Ich erstarrte.
Was hatte sie hier zu suchen? Ich war völlig verwirrt. "Wer hat dieses Mädchen auf das Schiff gelassen?" Ich zeigte mit dem Finger auf sie. Vielleicht würde niemand, außer Ascan, auf die verrückte Idee kommen, dass ich sie kannte und mir denken konnte, was sie wollte.
Apropos Ascan: Wo war der überhaupt? Scheinbar hielt er es nicht für wichtig, sich um diesen Tumult zu kümmern.
Die Mannschaft schüttelte unwissend mit dem Kopf und fing an zu spekulieren, wie Klara an Bord gekommen sei. Einige äußerten wilde Beschuldigungen gegenüber ihren Brüdern. Die Situation bauschte sich auf.
"Ruhe", schrie ich mit strapazierten Nerven. "Wer. Zum. Teufel. Hat. Dieses. Mädchen. Auf. Unser. Schiff. Gelassen?" Ich betonte jedes Wort. "Wer war so dumm?"
"Aber... Aber, Nicolas", stotterte Klara zögerlich.
Na toll! Das hatte mir gerade noch gefehlt. Jetzt wussten doch bald alle, was sie hier zu suchen hatte.
Ich blickte zu ihr und bemerkte, wie glasig ihre Augen schienen. Bei Gott, bitte, lass sie jetzt nicht anfangen zu weinen, betete ich, nicht vor der versammelten Mannschaft.
Seufzend wandte ich mich an meine Piraten und schickte sie streng zurück an die Arbeit: "Was steht ihr hier noch so herum? Los, die Arbeit macht sich schließlich nicht von allein! Ich kümmere mich darum."
Ascan kam an mich herangetreten. Fand er sich auch endlich ein...?
Er schien von alledem noch nichts bemerkt zu haben und fragte ahnungslos: "Was ist denn..." Mitten in der Frage hielt er inne, denn er sah den Grund für den Tumult deutlich vor mir stehen.
Ich seufzte und wandte mich dann etwas freundlicher an das blonde Mädchen, das scheinbar immer für eine Überraschung gut war: "Du kommst mit und du auch, Ascan." Ich packte Klara am Ellebogen und ging zu meiner Kajüte. Ascan trat als letzter ein und schloss die Tür hinter sich.
Ich holte noch einmal tief Luft, um mich etwas zu fangen. "Was hast du hier zu suchen, Klara?" Sie wirkte noch immer eingeschüchtert. "Es ist alles in Ordnung. Du kannst frei sprechen", sprach ich ihr Mut zu.
Auch sie holte tief Luft, versuchte Mut zufassen. "Ich hatte vor... Nun, ich wollte..." Sie räusperte sich und schien sich erst dann wieder gefasst zu haben. "Ich wollte mit euch Reden", sagte sie mit fester Stimme.
Fragend blickte ich sie an. "Du wolltest mit uns", ich deute erst auf meinen besten Freund und dann auf mich, "reden?" Sie nickte zustimmend. "Na gut, dann leg mal los..."
Innerlich machte ich mich auf einen stundenlangen Vortrag gefasst, wie ich es von enttäuschten Frauen gewohnt war. Doch der blieb aus. Stattdessen stellte sie uns lediglich eine einzige Frage: "Wieso seid ihr gestern ohne ein Wort des Abschieds gegangen?"
War das alles? Das war lächerlich und es ging sie auch gar nichts an. Dennoch hatte ich das bedrängende Gefühl ihr eine Erklärung schuldig zu sein.
"Gilmar, der Pirat, der gestern in das Gasthaus gestürmt kam, hat mir ein Problem mitgeteilt, dem ich mich auf der Stelle widmen musste." Unzufrieden blickte sie mich aus ihren tiefen, blaugrauen Augen an. "Wir wurden entdeckt. Besser gesagt, unser Schiff wurde im Hafen entdeckt und identifiziert. Wären wir geblieben, hätte man uns geschnappt und ins Gefängnis gesteckt. Vielleicht hätte man uns, nein, nicht vielleicht, mit Sicherheit hätte man uns geköpft und unsere abgeschlagenen Köpfe auf Holzpfählen drapiert."
"Gut, aber ihr hättet doch beruhigt sein können, schließlich ward ihr beide verkleidet."
Ein spöttisches Grinsen zeichnete sich auf Ascans Gesicht ab. "Hast du schon einmal davon gehört, dass jeder Kapitän zusammen mit seinem Schiff untergeht, Klara?"
"Ja, habe ich", äußerte sie unsicher.
"Dann verstehst du ja auch, warum ich nicht seelenruhig weiter mit euch in dem Gasthaus sitzen konnte. Ich konnte meine Männer nicht ihrem Schicksal überlassen." Sie blickte mich an. "Dann ist das jetzt geklärt?", wollte ich zum Schluss noch einmal wissen.
Sie nickte zögerlich und das genügte mir als Antwort. Auch wenn Klara nicht ganz zufrieden schien.
* * *
"Was machen wir jetzt? Ich meine, die Männer werden keine Frau an Bord akzeptieren", warf ich ein, als Nicolas und ich die Kapitänskajüte verließen. Klara war darin zurückgeblieben.
"Ich weiß es nicht. Schließlich kann ich sie nicht mitten auf See von Bord werfen." Er schien nachdenklich. Was beschäftigte ihn wohl? War sie es, die seine Gedanken in Beschlag nahm? "Ich glaube, wir müssen den nächsten Hafen ansteuern, um sie dort abzusetzen."
"Ja, das wird das Vernünftigste sein, dass wir tun können."
"Kapitän!" In diesem Moment kam Gilmar angestürmt. Er wollte ganz vorbildlich Bericht zur derzeitigen Lage erstatten.
Laut seiner Auskunft war alles in Ordnung. Es waren keine Schiffe in Sicht und das Meer war ruhig. Das Wetter angenehm mild und wir machten gute sechs Knoten.
Als er sich wieder davon machte, um in das Krähennest zu klettern, widmeten Nicolas und ich uns wieder unserem weiblichen Problem. "Was ist eigentlich der nächste Hafen?"
"Helgoland. Aber dort können wir sie nicht absetzen. Wir müssen also in Richtung Friesland segeln", meinte Nicolas.
Ich konnte es mir nicht erklären, aber etwas Wehmütiges lag in seiner Stimme. Vielleicht konnte man sogar so weit gehen und sagen, dass er traurig schien. Hatte dieses Mädchen ihm bereits jetzt das Herz gestohlen? Wie um Gottes Willen hatte sie das geschafft?
Normalerweise war Nicolas eher kalt, wenn es um Gefühle ging. Durch den frühen Verlust seines Vaters geprägt, ließ er so gut wie niemanden an sich heran. Einen Blick in seine Seele gestattete er nicht einmal mir, seinem besten Freund. Er hatte Angst verletzt zu werden. Körperlicher Schmerz stellte für ihn überhaupt kein Problem da. Seelischer Schmerz dagegen schon. Er hatte Angst, dass ihn diese seelische Qual zusammenbrechen ließe, dass es ihn zerstören würde.
Doch diese Bedenken schien er bei ihr zur Seite zu schieben. Ich verstand bloß nicht, wieso. Was war an ihr so Besonderes?
"Gut, dann berechne ich den Kurs."
"Danke, mein Freund." Verbunden klopfte mir Nicolas auf Schulter und ging dann zum Steuerruder. Auf seinem Weg schrie er zwei faulpelzige Freibeuter an, die sich in aller Ruhe an der Reling stehend unterhielten: "Was steht ihr da so tatenlos herum? Habt ihr nichts zu tun?"
Schützend zogen sie die Köpfe ein und machten sich an die Arbeit. Manchmal waren die Seeräuber wirklich träge. Nicolas sorgte für Zucht und Ordnung auf dem Schiff. Ohne ihn wären wir alle aufgeschmissen.
* * *
"Gut", ich lächelte, "kennst du dich etwa mit Schiffen aus?"
Sie verneinte entschuldigend. "Eigentlich nicht. Ich weiß nur das, was mir mein Bruder und mein Vater von ihren Schiffsreisen erzählt haben."
"Was machen sie denn? Sie werden ja wohl kaum Piraten sein", wollte ich scherzend wissen, aber es interessierte mich tatsächlich.
"Sie sind", sie stockte kaum merklich, "Kaufleute."
Ich nickte gedankenverloren. Sie verheimlichte mir etwas, oder? Sie hatte ja schließlich kurz gestockt. Wollte sie mir irgendetwas nicht erzählen? Behielt sie die wahre Arbeit ihres Bruders und ihres Vaters geheim? Aber warum würde sie das tun? Ich schob die Gedanken beiseite. "Und was ist mit deiner Mutter?"
Ihre Stimmung schlug schlagartig um. Gerade war sie noch fröhlich gewesen und unbeschwert und jetzt– "Sie ist früh von uns gegangen..." Ihre Antwort war nur ein Flüstern und ein Ausdruck unendlich tiefer Traurigkeit schlich sich in ihre sonst so strahlenden, blaugrauen Augen.
"Das tut mir leid", sprach ich ihr mein ehrlich gemeintes Beileid aus und wollte schon tröstend meinen Arm um sie legen. Doch im letzten Moment zog ich die Hand zurück. Vielleicht wollte sie gar nicht von mir getröstet werden.
"Sie starb bei meiner Geburt, ich habe sie nie kennen gelernt. Aber das ist schon lange her." Sie machte eine kurze Pause, fasste sich wieder und ihr fröhliches Ich kämpfte sich erneut an die Oberfläche. "Wohin geht die Reise überhaupt?"
In Gedanken schaufelte ich bereits mein Grab, als sie diese Frage stellte. Ich ahnte, dass Klara mein Vorhaben nicht gutheißen würde. Viel wahrscheinlicher war, dass Klara einen Aufstand anzettelte, um an Bord bleiben zu können.
"Nach Friesland", meinte ich schuldbewusst.
"Und was wollen wir da?" Sie war skeptisch.
"Wir?" Ich atmete tief durch. "Wir wollen dich da absetzten."
Ihr Lächeln gefror. "Was?"
Ich seufzte. "Es tut mir Leid, aber du kannst nicht auf dem Schiff bleiben. Das ist kein Ort für eine Dame wie dich. Außerdem–"
Weiter kam ich nicht, denn sie unterbrach mich jäh: "Nein! Ich werde nicht einfach von Bord gehen und dich davonfahren lassen." Sie überlegte kurz. "Ich kann nützlich sein. Ich könnte kochen oder–", geiferte sie.
"Klara", brachte ich sie sanft zum Schweigen und legte ihr die Hände auf die Schultern. "Es geht einfach nicht. Die Männer akzeptieren keine Frau auf dem Schiff." Das war die reine Wahrheit, so hart sie auch klang.
"Dann befiehl ihnen mich zu akzeptieren. Du bist schließlich der Kapitän dieser Kogge und... Und du möchtest mich doch hier behalten, oder etwa nicht?"
Ich schwieg und verletzte damit deutlich Klaras Gefühle. Das hatte ich nicht vorgehabt. Eine Frau mit verletzten Gefühlen war schlimmer als der Teufel höchstpersönlich. Aber so gern ich Klara bei mir hatte, eine Meuterei herauszufordern war nicht in meinem Sinne.
"Aber... Aber..." Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie versuchte zwar sie zurückzuhalten, wollte sie einfach wegblinzeln. Doch ein Schluchzer entwich trotzdem ihrer Kehle. Sie wendete sich ab und schaute auf das Meer.
"Hör zu, Klara! Natürlich würde ich dich gerne, nein, liebend gerne hier behalten. Mehr als alles andere würde ich das tun wollen. Aber meine Männer sind sehr abergläubig. Sie denken, eine Frau an Bord des Schiffes bringe Unglück." Ich fasste sie bei den Schultern, drehte sie wieder zu mir, spürte, wie sie zitterte. "Klara", sagte ich nun sanfter, "es tut mir leid, glaub' mir das. Ich–"
"Kapitän! Ein Schiff der Hanse auf Steuerbord", schrie Gilmar aus dem Krähennest – der Pirat mit dem vernarbten Gesicht.
Blitzschnell reagierte ich, griff nach dem Fernrohr und suchte nach dem fremden Schiff auf See. Mein kleiner Streit mit Klara war vergessen, zumindest für den Augenblick.
Da war es. Es war noch weit entfernt, trotzdem erkannte ich, dass es eine nagelneue Kogge unter hansischer Flagge war. Ich kannte dieses Schiff nicht.
Klara eilte zu mir an die Reling und riss mir das Fernrohr aus der Hand. Auch sie schien unsere Unstimmigkeiten vergessen zu haben.
Sprachlos sah ich sie an, wie sie das fremde Schiff betrachtete. Als sie das Fernrohr absetzte, schien sie ängstlich, erschrocken, besorgt. Wie schnell konnte doch die Stimmung einer Frau umschlagen.
"Was ist los, Klara?", wollte ich wissen, zog sie an mich heran und schlang die Arme um sie. Ich wollte sie in Schutz nehmen. In Schutz vor allem, was ihr Angst oder Sorgen bereitete. Denn es tat weh, wenn sich diese Emotionen auf ihrem hübschen Gesicht abzeichneten.
Zitternd deute sie auf die fremde Kogge. "Das... Das ist...", sie schluckte schwer, "das ist die Maria."
"Und was bedeutet das? Kennst du dieses Schiff?" Ich konnte ihr gerade nicht folgen.
Sie nickte zustimmend und voller Angst. "Das ist das Schiff von..." Sie riss sich verzweifelt zusammen. "Das ist das Schiff von Simon van Utrecht und seinem Sohn..."
Ich erstarrte. Zum Teufel noch eins! Meine Reaktion war instinktiv. "Schwarze Flagge einholen und alle Segel setzen! Zeigt ihnen nur die englische Flagge!"
Ascan kam herangeeilt. "Was ist los, Nicolas?"
"Das Schiff dort." Ascan blickte in die von mir angedeutete Richtung. "Es ist die Kogge, die unter dem Kommando von Simon van Utrecht steht."
Immer noch hielt ich die schlotternde Klara in meinen Armen.
"Bei Gott", stöhnte mein bester Freund, als er endlich begriff.
Plötzlich brach Hektik auf dem Schiff aus. Dennoch wusste ich, jeder kannte seine Aufgabe in- und auswendig, auch wenn es für einen Fremden nicht danach aussah.
Sanft schob ich mich mit Klara in Richtung meiner Kajüte. Sie musste das jetzt nicht miterleben. Die Situation war nichts für ein Mädchen wie sie. Denn ich hatte Angst, dass sie daran zerbrechen könnte.
* * *
Nicolas hielt mich fest in seinen starken Armen. Ich fühlte mich seit langer Zeit das erste Mal wieder geborgen. Ich kam mir behütet vor. Er stand einfach mit mir da und hielt mich an sich gepresst. Für ihn und mich schien die Welt um uns herum zu verschwimmen.
Wir kümmerten uns nicht um die Hektik. Scheinbar wussten die Piraten sehr genau, welches Ausweichmanöver sie zu fahren hatten. Ascan übernahm das Steuer, während Nicolas mir beruhigend über den Rücken streichelte und uns in Richtung seiner Kajüte manövrierte. Ein wohliger Schauer fuhr durch meinen Körper. Ich war so froh ihn gefunden zu haben.
Ich blendete alles um mich herum aus, spürte einzig und allein Nicolas Stärke und Wärme. Irgendwann legte er seinen Kopf auf meinen, der an seiner Brust ruhte. Beruhigende Worte verließen seinen Mund und waren nur für mich bestimmt. Doch das Gefühl seiner Nähe fesselte mich so sehr, dass ich nicht einmal verstand, was er mir da zuflüsterte. Er war für mich da. Er kümmerte sich um mich, widmete mir seine gesamte Aufmerksamkeit. Und ich war zufrieden. Nein, ich war mehr als das: Ich war glückselig, wunschlos glücklich.
Nach einer Ewigkeit, die mir jedoch viel zu kurz erschien, löste sich Nicolas von mir, schob mich ein Stück von sich weg, um mir in die Augen sehen zu können. "Alles wieder in Ordnung?" Er war hörbar besorgt.
Ich nickte, weil ich mich nicht in der Lage fühlte zu sprechen. Mein Mund war zu trocken.
Mit seinem rauen Daumen wischte Nicolas mir etwas von der Wange. Eine Träne. Ich hatte geweint. Mein ganzes Gesicht war nass.
"Hör auf zu weinen, Klara, bitte." Seine Stimme war liebevoll und seine Augen offenbarten mir, dass er sich wirklich um mich sorgte.
Ich schniefte. "Ja, alles in Ordnung." Ich wischte mir mit den Händen das Gesicht trocken. Die Tränen waren mir unangenehm. Ich wusste nicht einmal, woher sie gekommen waren.
"Was war denn los?", mischte sich nun auch Ascan mit spürbarer Besorgnis ein.
Ich schniefte erneut und zögerte kurz, bevor ich antwortete: "Nichts... Ich weiß wirklich nicht, was in mich gefahren ist..."
"Jetzt ist ja alles wieder gut", munterte mich Nico auf und schenkte mir mein geliebtes, schiefes Lächeln.
Ich nickte und schlang die Arme erneut um ihn. Noch nie hatte ich meine verletzliche Seite jemandem gezeigt. Ohne dass ich es wollte, hatte Nicolas sie zusehen bekommen.
Überrascht über meine Emotionen aber glücklich umarmte mich mein Pirat ebenfalls und vergrub sein Gesicht in meinen Haaren.
"Ich liebe dich, Klara", flüsterte er, sodass nur ich es hören konnte.
Nun kannte Nicolas zwar auch diese Seite von mir, die verletzliche, doch er liebte mich trotzdem. Er liebte auch diese Seite an mir und dieses Wissen nahm jegliche Anspannung von mir.
Zufrieden lächelnd schloss ich die Augen und genoss einfach nur seine Nähe.
Die Sonne verschwand mehr und mehr am Horizont, bettete sich zur Ruhe. Die Männer saßen alles samt unter Deck und genossen den milden Frühlingsabend. Ich stand an der Reling und blickte über die ruhige See.
Leise drangen die Geräusche der gutgelaunten Seeräuber, die unter Dreck ihr Saufgelage abhielten, herauf. Aber davon ließ ich mich nicht stören, stattdessen genoss ich den atemberaubenden Sonnenuntergang.
Die salzige Seeluft gefiel mir. Die Schiffsfahrt gefiel mir. Der Wind, der mit meinen Haaren spielte, gefiel mir.
Ich fühlte mich bei den Piraten wohl, auch wenn das wohl kein Mensch, der bei vollem Verstand war, verstehen würde. Aber sie waren freundlich, nett, beinahe liebevoll.
Ich schloss genießerisch die Augen, spürte nur noch den leichten Wind und die kalte Gischt in meinem Gesicht. Es war einfach traumhaft hier. Egal, ob ich auf dem Schiff von Verbrechern war.
"Du scheinst dich hier sehr wohl zu fühlen", stellte da eine Stimme fest. Sie war rau und tief. Ich erkannte sie sofort. Nicolas.
Ich drehte mich zu ihm um und lehnte mich an die Reling. Er stand einige Meter von mir entfernt und lächelte mich schief an.
Ich lächelte zurück. "Das tue ich auch. Ihr seid alle so fröhlich und nett. Das hätte ich nie erwartet."
Er kam auf mich zu und zog mich an sich. Frohlockend erwiderte ich seine Umarmung. Doch schließlich konnte ich nicht anders, als ihn zu fragen: "Wieso machst du das? Ich meine, du kennst mich doch kaum und hast mich trotzdem gern?" Ich wollte ihn ansehen, nachdem ich ihm die Frage gestellt hatte, die mich schon solange plagte. Doch er hielt mich fest, wollte sich unter keinen Umständen von mir lösen.
"Ich weiß es nicht", murmelte er nachdenklich, "ich habe mich das auch schon gefragt. Aber vermutlich ist es einfach so. Ich habe dich einfach sehr gern." Er legte seine Wange an meine Haare. "Und irgendwo in meinem Inneren, glaube ich, dass du etwas Besonderes bist, Klara – dass das zwischen uns etwas Besonderes ist."
Geschmeichelt aber auch verblüfft lauschte ich auf seine Worte und drängte mich noch enger an meinen Piraten.
So standen wir eine ganze Weile an Deck, fest umschlungen. Doch irgendwann löste Nicolas sich von mir und schaute mir tief in die Augen.
Ich sah ihm an, dass ihm etwas auf der Seele brannte. Auch mich bedrückte etwas. Ich war es leid, ihn und seine Männer anzulügen. Ich wollte Nicolas am liebsten sagen, dass ich Utrechts Tochter war. Aber eine Stimme in meinem Kopf warnte mich davor, redete mir ein und überzeugte mich am Schluss stets davon, dass es nicht gut wäre, Nicolas zu sagen, wer ich wirklich war. Die Stimme meinte, er würde mir mein Schweigen nicht verzeihen können. Deshalb blieb ich stumm und allmählich verließ mich der Mut es ihm irgendwann einmal sagen zu können. Ich hatte Angst – Angst, die immer größer wurde –, wie er reagieren würde, wenn er es erfahren würde. Der Wut eines Piraten wollte ich nicht begegnen. Sie war unberechenbar.
"Klara, ich muss dir etwas sagen." Nicolas wurde ernst. Scheinbar ging ihm die Sache ziemlich nahe. "Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll..." Er kratzte sich am Kopf und mir ging das Herz auf. Es war irgendwie niedlich, wenn er unsicher war. "Also... Ähm..." Noch immer fand er nicht die passenden Worte. "Ich weiß nicht, ob du weißt, wie ich wirklich heiße... Ich werde von meiner Mannschaft nur Nicolas, Nico oder Kapitän genannt, aber die meisten Menschen in den Städten... Nun ja, sie nennen mich anders. Sie sagen... Störtebekers Sohn zu mir." Erleichtert ließ er die Luft aus seinen Lungen entweichen, weil er die Worte endlich über seine Lippen bekommen hatte. "Ich bin Nicolas Störtebeker." Nun blickte er mich ängstlich an.
Ich schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. "Das weiß ich doch schon längst."
"Ist das alles? Du akzeptierst es einfach?", fragte er ungläubig.
Ich nickte. "Ich habe es mir gedacht, als ich das Schiff gesehen habe. Sturmvogel. Es gibt nur einen Mann dessen Schiff auf diesen Namen getauft ist."
"Puh", stöhnte er, "und ich dachte, du würdest mich zum Teufel jagen, oder noch schlimmer, der Hanse ausliefern." Glücklich zog er mich erneut in seine Arme und drückte mir einen Kuss auf den Kopf. "Danke", flüsterte er.
"Wofür?"
"Einfach dafür, dass es dich gibt und du so bist, wie du bist." Er kuschelte sich noch enger an mich, als er das sagte. Es schien, als wolle er mich niemals wieder loslassen, niemals gehen lassen und mich hätte das keinesfalls gestört.
Aber ich wusste, dass es immer noch etwas gab, das zwischen uns und einer gemeinsamen Zukunft stand. Und das war ich.
* * *
"Klara?"
"Mhmm?"
Ich wollte im Moment eigentlich nicht gestört werden. Denn ich wollte die Zweisamkeit mit Nicolas in vollen Zügen auskosten.
Ich hatte meinen Kopf in seinen Schoß gelegt und betrachtete zusammen mit ihm die Sterne. Er erklärte mir, wie ein Seefahrer bei Nacht durch die Sterne auf Kurs blieb. Er zeigte mir die Sternenbilder, die er kannte und erzählte mir die Legenden, die sich um die Bilder am Nachthimmel rankten.
Es war romantisch und nebenbei auch sehr interessant. Ich hatte zwar in meiner Kindheit viele Lehrer gehabt, die mir die verschiedensten Dinge beigebracht hatten. Aber die Sterne waren nie ein Thema gewesen. Nun bedauerte ich dies.
"Weißt du? Jetzt, in diesem Moment möchte ich am liebsten die Zeit anhalten und dich nie wieder loslassen. Denn", seine Stimme senkte sich zu einem verführerischen Flüstern, "ich liebe dich, mein Engel."
Ich fühlte mich geschmeichelt, spürte eine Hitze in meinen Wangen aufsteigen.
Wieso wurde ich in Nicolas Nähe immer wieder rot? Normalerweise passierte mir so etwas nur äußerst selten.
Ich drehte meinen Kopf ein wenig, um ihm in die himmelblauen Augen blicken zu können. "Ich habe mein Herz schon eine ganze Weile an dich verloren, Nico", hauchte ich ebenso verführerisch wie er.
Erneut blickten wir in die Ferne. Mein sehnlichster Wunsch in diesem Moment war: Die Ewigkeit. Ich wollte diese Zeit mit meinem Freibeuter verbringen. Ich wollte mit ihm bis ans Ende der Welt segeln und noch weiter. Ich wollte mich erst durch den Tod von ihm trennen lassen. Doch leider wusste ich, dass die Realität mir einen Strich durch die Rechnung machen würde. Sie würde mir Nicolas schon bald wieder nehmen.
Mir war sehr wohl bewusst, dass Ascan und er recht hatten. Ich gehörte hier nicht her. Meine Welt fand ich nicht auf dem Sturmvogel. Ich fand meine Welt, mein Zuhause, in Stralsund. Und spätestens wenn es zu einem Kampf zwischen meinem Vater und Nico käme, würde alles herauskommen. Denn ich würde mich vor beide werfen, um ihre Leben zu beschützen, um um Erbarmen zu flehen, egal wer den Kampf zwischen beiden verlieren würde. Ich war nun einmal Utrechts Tochter und daran ließ sich nicht rütteln. Aber genauso wenig ließ sich etwas an meiner Zuneigung für Nicolas ändern. Ich war ihm verfallen, ohne wenn und aber.
"Siehst du dort am Horizont die Lichtstreifen?" Nicolas zeigte auf dünne Stiche am Horizont, die so schnell wieder erloschen, wie sie aufgetaucht waren, und riss mich damit aus meinen Gedanken.
"Sternschnuppen", sagte ich beeindruckt.
Er nickte. "Du darfst dir etwas wünschen, wenn du eine Sternschnuppe siehst. Es heißt, wenn du deinen Wunsch für dich behältst, wird er wahr."
Ich sah ihn an und dachte nach. Was konnte ich mir schon wünschen? Im Augenblick schwappte mein Herz vor Glück über.
"Und? Hast du dir schon etwas gewünscht?" Ich schüttelte mit dem Kopf und legte meinen Kopf zurück in seinen Schoß.
Als die nächste Sternschnuppe vom Himmel auf die Erde fiel, hatte ich eine Idee. Ich schloss die Augen, kniff sie fest zusammen und äußerte in Gedanken aus tiefster Seele meinen Wunsch. Nachdem ich die Augen wieder aufschlug, sah ich in Nicolas himmelblaue Augen. Er lächelte sein schiefes Lächeln und beugte sich zu mir herunter.
Seine warmen Lippen trafen auf meine und in meinem Bauch begann es zu kribbeln. Der Kuss fühlte sich heiß und kalt zugleich an und die Luft um uns herum schien zu knistern. Er schmeckte so gut, seine Lippen waren so weich und er war so liebevoll zu mir.
Widerwillig ließ ich es zu, dass er sich von mir löste. Nur um danach erneut in einen leidenschaftlichen Kuss zu verfallen. Ich schlang die Arme um seinen Nacken, er griff unter meine Kniekehlen und an meinen Rücken. Leichtfüßig hob er mich hoch und trug mich zu seiner Kajüte, ohne dass sich seine Lippen von meinen Lippen lösten. Behutsam legte er mich auf sein Bett. Noch immer spielten unsere Münder miteinander. Unsere Zungen tanzten einen Reigen und erforschten neugierig den Mund des jeweils anderen.
Liebkosend strich mir Nicolas mit seinen kräftigen, rauen Händen über die Hüften. Mein Rock rutschte dabei ein Stück nach oben, doch das störte keinen von uns. Wir waren vollkommen von der Wärme, von der Nähe, von der Liebe des anderen eingenommen. Wir vergaßen die Welt um uns herum. Es gab nur noch uns beide, unsere Liebe, unsere Körper, unsere Münder.
* * *
Die Sonnenstrahlen kitzelten mich im Gesicht und weckten mich sanft aus meinen Träumen. Gähnend streckte ich meine Glieder und stieß mich dabei an etwas.
Erneut streckte ich mich.
Irgendetwas lag an meiner Seite. Es war warm und schwer.
Als ich über die Schulter blickte, sah ich blonde Haare und eine kleine Narbe. Nicolas schlief neben mir. Sein schlafendes Gesicht wirkte friedlich, beinahe kindlich und verletzlich. Sonst war er der beherrschte Kapitän eines Piratenschiffs. Doch in meiner Gegenwart war er ein liebevoller Mann, der lieben und geliebt werden wollte. Er war genauso ein Mensch wie jeder andere auch – ein Mensch, wie ich, Frederick, Ascan oder mein Vater.
Still drehte ich mich zu ihm um und beobachtete ihn beim Schlafen. Nun verstand ich, warum alle Verliebten so gerne neben ihren Geliebten einschliefen und wieder aufwachten. Es war ein Gefühl von Geborgenheit. Es war ein Gefühl von Heimat.
Eine blonde Haarsträhne hing Nicolas ins Gesicht. Zärtlich strich ich sie hinter sein Ohr.
Er atmete noch immer gleichmäßig, schlief tief und fest. Unter seinen Lidern zuckten seine Augen.
Er träumt, dachte ich.
Ich lag noch eine Ewigkeit so neben Nicolas, neben meinem Piratenhauptmann. Doch schließlich wurden meine Arme und Beine steif.
Seufzend setzte ich mich auf. Ganz langsam und vorsichtig, damit ich Nico nicht aus seinen Träumen riss, schnappte mir meine Kleider und ging zu dem kleinen Spiegel, der an einer Wand der Kajüte hing.
Ich zog mir meine Kleider über den Kopf, flocht mir die Haare und stellte erfreut fest, dass ich ein einnehmendes Strahlen in den Augen hatte. Ich nahm meine Stiefel in die Hand und schlich auf Zehenspitzen zur Tür.
Nachdem ich sie hinter mir leise geschlossen hatte, stieß ich die Luft aus meinen Lungen. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich sie angehalten hatte.
Ich straffte die Schultern, reckte das Kinn, zog mir meine Stiefel über die noch immer nackten Füße und ging zur Treppe, die nach unten führte. Dort lagen sowohl die Schlafplätze der Mannschaft als auch die Schiffsküche und der große Esstisch. Mein Magen knurrte und bettelte nach etwas Nahrhaftem. Meine Kehle war trocken und ich hatte Durst.
Am Tisch saßen bereits einige Männer. Unter ihnen war auch Ascan, der mich mit einem freundlichen Zwinkern begrüßte. Fröhlich setzte ich mich neben ihn und schenkte ihm ein Lächeln.
"Wo ist Nicolas?", wollte er wissen.
"Der schläft noch wie ein Engel. Ich wollte ihn nicht wecken."
"Dann ist gut. Wenn man ihn aus seinen Träumen reißt, kann er nämlich ziemlich unangenehm werden." Grinsend griff er nach einem Apfel und biss krachend hinein. Er spülte, wie es typisch für Piraten war, mit Bier nach. Die frühe Tageszeit schien ihn nicht dabei zu stören.
Ich nahm mir stattdessen eine Scheibe trockenes Brot und einen Becher Wasser. Am frühen Morgen vertrug ich, im Gegensatz zu den Freibeutern, keinen Alkohol.
* * *
"Neeeiiiin", schrie ich und schreckte aus dem Schlaf. Ich war schweißgebadet.
Ich hatte schlecht geträumt. Doch das Merkwürdige daran war: Zuerst war mein Traum himmlisch gewesen, Klara hatte einen nicht allzu geringen Anteil daran gehabt und dann war plötzlich alles umgeschlagen. Von einem Moment auf den anderen hatte sich mein Traum in einen Albtraum verwandelt. Klara hatte sich wie Rauch aufgelöst und war verschwunden. Sie war gegangen und hatte mich allein zurückgelassen. Orientierungslos war ich durch die erdrückende Dunkelheit gelaufen, suchend und doch ohne etwas zu finden. Ich war gelaufen und gelaufen, bis meine Füße blutig waren. Als ich anhielt, um Luft zu holen, war ich in einen unendlich tiefen Abgrund gestürzt, einen Abgrund ohne Boden. Ich war gefallen und an hundert Gesichtern von Simon van Utrecht vorbeigerauscht. Er hatte mich ausgelacht. Sein Lachen war mir durch Mark und Bein gegangen und schließlich war ich schreiend aufgewacht.
Apropos Klara. Verwirrt sah ich mich um. Wo war sie nur?
Das Bett war noch warm, also musste sie noch bis vor kurzem neben mir gelegen haben. Doch nun konnte ich sie nirgendwo in der Kajüte entdecken.
Schläfrig wühlte ich mich aus der Decke heraus und schwang meine Beine über die Bettkante. Ich stützte meinen Kopf mit einer Hand ab.
Ein scharfer Schmerz durchzuckte mich, weil ich zu stürmisch aufstehen wollte. Der stechende Schmerz war nur kurz, aber mein Kopf pochte dennoch unerträglich. Das war nun die Quittung für die vergangene Nacht.
Schwankend stand ich auf und ging zu der Holztruhe am Fußende, um mir neue Sachen herauszunehmen. Ich entschied mir wie immer für ein Hemd und eine Leinenhose. Dann schlüpfte ich noch in meine Schuhe und taumelte zu Tür. Ich drückte sie auf und stand an Deck.
Das gleißende Licht der Sonne blendete mich und brannte schmerzhaft in meinen Augen. Ich schirmte sie mit einer Hand ab und kniff die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen.
Mit meinem Blick überflog ich das Deck, konnte Klara jedoch nicht entdecken.
Enttäuscht ließ ich die Hand sinken, meine Augen gewöhnten sich allmählich an das helle Tageslicht.
Nun erkannte ich auch, wie hoch die Sonne bereits am Horizont stand. Wieso hatte mich niemand geweckt? Es war fast Mittag. Um diese Zeit hatten wir an anderen Tagen schon längst volle Fahrt aufgenommen und suchten nach einer Kogge, die uns unbedingt etwas von ihrer Fracht abgeben wollte.
Ich grinste. So drückte ich es gerne aus, wenn ich vom Kapern eines andern Schiffes sprach.
Eine Tür knallte. "Jetzt aber an die Arbeit!" Ascan. Er trieb die Männer an.
Anscheinend hatte die gesamte Mannschaft bis vor wenigen Augenblicken gemütlich unter Deck am Gemeinschaftstisch gesessen. Die Piraten an Bord des Sturmvogels beeilten sich an ihre Plätze zu kommen. Sie hatten großen Respekt vor meinem besten Freund, denn er konnte strenger sein als ich.
Die Hände in die Hüften gestemmt stellte sich Ascan neben mich und beäugte mit prüfendem Blick die Freibeuter. Als er zufrieden zu sein schien und sicher war, dass alle ihren Pflichten nachgingen, seufzte er und ließ die Arme neben seinen Körper baumeln.
"Na endlich", murmelte er erleichtert. Erst jetzt schien er mich zu bemerken. "Nicolas", meinte er überrascht, "du bist schon wach?"
"Schon? Es ist beinahe Mittag. Wieso hat mich niemand geweckt?"
Er zuckte mit den Achseln. "Klara hat gesagt, du hättest es dir auch einmal verdient auszuschlafen. Und um ehrlich zu sein, hat sie mir aus der Seele gesprochen. Du brauchst auch deine Ruhe und Erholung. Sonst bist du einer der letzten, der zu Bett geht und einer der ersten, der wieder aufsteht. Du brauchst auch deine Erholung."
Gut, vielleicht hatten er und Klara recht. In letzter Zeit war ich ziemlich ausgelaugt gewesen. "Aber wo ist Klara überhaupt?", fiel mir da wieder ein, warum ich mich überhaupt aus dem Bett gequält hatte. Denn dass war der eigentliche Grund, warum ich hier stand. Ich suchte nach meinem Mädchen.
Mit dem Daumen deutete Ascan nach unten. "Sie ist unter Deck und hat uns alle hinausgescheucht. Sie meinte irgendwie, es solle eine Überraschung sein und es würde uns garantiert gefallen." Er verdrehte die Augen. "Frauen, sie sind ein einziges, großes Mysterium."
Meine Mundwinkel zuckten. Klara war wirklich jemand ganz besonderes. Ich mochte ihre spontane, manchmal etwas herrische Art und ich mochte diese Seite an ihr, die sie vor uns allen geheim hielt. "Na, dann schau ich mal, was meine Kleine da unten treibt."
Feixend erwiderte Ascan: "Pass auf, dass sie dir nicht die Bratpfanne über den Kopf zieht, wenn sie hört, dass du sie Kleine genannt hast. Ich kann mir gut vorstellen, dass ihr dieser Kosename nicht allzu gut gefällt."
"Mach dir keine Sorgen. Ich weiß, wie ich mit ihr umgehen muss", meinte ich selbstsicher.
Kopfschüttelnd warnte mich der Pirat mit den meergrünen Augen: "Na, da sei dir mal nicht zu sicher, Kapitän."
Grinsend drehte ich mich um und lief nach unten. Ascan hatte die Männer gut im Griff. Im Moment brauchte er meine Hilfe nicht.
"Klara", vorsichtig lugte ich um die Ecke, als ich am Fuß der Treppe angekommen war. Doch ich konnte sie nicht entdecken. Ich trat sicheren Schrittes nach vorne und stand nun mitten im Raum.
Wo war mein Mädchen nur? Vor ein paar Sekunden hatte ich doch noch gehört, wie sie herumhantiert hatte und ihr dabei ein Holzlöffel auf den Boden gefallen war.
Suchend durchkämmte ich den Bauch des Schiffes. Sie war unauffindbar.
"Klara?", versuchte ich es erneut. Die Antwort blieb sie mir schuldig. "Klara, wo bist du?" Ich trat in die Kombüse und blickte mich um. Doch auch hier war das blonde Mädchen nicht. Verdammt, wo konnte sie denn bitte noch sein? Sie konnte sich ja schlecht in Luft auslösen und so riesig war das Schiff auch nicht. "Klara, langsam finde ich das nicht mehr lustig, mein Engel."
Ich hörte ein leises Kichern. Sie versuchte es zu zwar zu unterdrücken, aber wie zu hören war, schaffte sie es nicht. Ich forderte mit einem kleinen Schmunzeln auf den Lippen: "Klara, ich habe dich genau gehört. Komm raus!"
"Nein", schlug es mir gedämpft zurück. "Aber vielleicht findest du mich ja." Sie wollte also Verstecken spielen. Das konnte sie gerne haben. Für kleine Späße war ich jederzeit zu begeistern. "Ich glaube jedoch kaum, dass du mich findest", sie war siegessicher. Wenn sie sich da mal nicht zu früh freute.
"Das werden wir ja sehen, Klara", ging ich auf ihr Spielchen ein.
Aufmerksam blickte ich mich um und lauschte auf jedes noch so zarte Geräusch. Doch das Einzige, was mir auffiel, war, das wir relativ starken Wellengang hatten. Denn das Meer peitschte gegen das Schiff.
Ich machte mir trotzdem keine Sorgen, weil ich wusste, welch unbändigen Stürme der Sturmvogel schon getrotzt hatte. Das Schiff und ich hatten bereits so viel zusammen erlebt – beinahe genauso viel wie Ascan und ich.
Ich suchte weiter nach Klara. Doch sie versteckte sich unglaublich gut.
Immer wenn ich dachte, ich hätte sie erwischt, blickte mir gähnende Leere entgegen anstatt von zwei funkelnden, blaugrauen Augen und einer Menge Sommersprossen auf der Nase. Sie war empörend gut. Aber ich gab nicht auf. Ich hatte noch nie freiwillig aufgegeben. Ich war eine Kämpfernatur.
Als ich mich auch diesmal wieder getäuscht hatte und vergeblich unter einen Tisch mit bodenlangem Tischtuch schaute, richtete ich mich auf und ein lautes Scheppern ertönte.
Plötzlich schmerzte mein Hinterkopf. Fluchend rieb ich mir die pochende Stelle. Es bildete sich bereits eine kleine Beule.
Na toll, als würden meine Kopfschmerzen nicht schon ausreichen.
Doch was war gerade passiert? War ich gegen irgendetwas gestoßen, dass einer der Männer an einem Strick aufgehängt hatte?
Mit einem deutlichen Ausdruck des Schmerzes, der mich gerade heimsuchte und meine Kopfschmerzen nicht verbesserte, richtete ich mich auf und drehte mich.
Doch auf das, was ich dann sah, hätte mich nichts in der Welt vorbereiten können. Ich war sprachlos und mein Mund stand erschrocken offen, während mir ein freches, zufriedenes Grinsen entgegenblickte.
* * *
"Klara", kreischte Nicolas, "was sollte das?"
Ich musste kichern. Sein Gesichtsausdruck war unbezahlbar.
"Hey!", beschwerte er sich.
"Tu-tut mir... Tut mir leid", ich gackerte noch immer.
Wehleidig sah er mich an. Er erinnerte mich stark an einen Fünfjährigen, der nicht das Spielzeug bekam, was er sich gewünscht hatte und sich nun bei seinen Eltern beschwerte, die sich deshalb über ihn amüsierten.
Lachend wischte ich mir eine Träne aus dem Augenwinkel.
Ich schwenkte meine Waffe. Eine Bratpfanne.
Entsetzt blickte Nico auf diese und zeigte fragend darauf: "Hast du mir gerade die Bratpfanne da über den Schädel gezogen?"
Ich nickte.
"Wieso?", erschien die Welt nicht mehr zu verstehen.
Oh Mann, manchmal hatten Männer wirklich ein Gedächtnis wie ein Sieb.
"Das war für vorhin."
"Wie? Für was von vorhin? Ich weiß nicht, was du mir damit sagen willst. Ich hab doch bis gerade eben geschlafen."
Nicolas war heute wohl wirklich schwer von Begriff. Seufzend erklärte ich es ihm: "Na, dann schau ich mal, was meine Kleine da unten treibt."
Alle Farbe wich aus Nicos Gesicht. Es fiel ihm schlagartig wieder ein, dass er das zu Ascan gesagt hatte. Und ihm fiel auch wieder ein, vor was sein bester Freund ihn gewarnt hatte. Pass auf, dass sie dir nicht die Bratpfanne über den Kopf zieht, wenn sie hört, dass du sie Kleine genannt hast. Ich kann mir gut vorstellen, dass ihr dieser Kosename nicht allzu gut gefällt.
Danke, Ascan, für die Idee mit der Bratpfanne, dankte ich dem Piraten mit den meergrünen Augen in Gedanken.
Nun stand ich grinsend vor meinem Freibeuter. Er wusste nicht weiter. Wahrscheinlich war es ihm sogar ein wenig peinlich. Tja, selbst Schuld! Ich hatte kein Fünkchen Mitleid mit ihm.
"Ich... Ähm, nun ja... Ich entschuldige mich ja schon, Klara. Ich habe dich nicht mit Absicht Kleine genannt. Es ist mir einfach so herausgerutscht. Verzeihst du mir?"
Er war ein reumütiger Hund. Doch seinem Hundeblick konnte ich nicht widerstehen. Seine großen, himmelblauen Augen waren viel zu verführerisch. Sie zogen mich magisch an.
Ich ließ die Pfanne los – sie krachte auf den Boden – und rannte auf Nicolas zu. Er empfing mich mit offenen Armen.
"Und? Verzeihst du mir, mein Schatz?" Seine Stimme war weich und wickelte mich ein.
Ich nickte. "Tut es sehr weh? Die Beule, meine ich", besorgt sah ich ihm in die Augen.
"Es geht schon", sagte er und schmiegte seine Wange in mein Haar, "irgendwie hatte ich es ja auch verdient."
"Stimmt", grinste ich.
So schnell war alles wieder in Ordnung. Nicolas und ich hielten uns in den Armen und waren so unglaublich verliebt. Es wunderte mich noch immer, wie schnell wir zueinander Vertrauen gefunden hatten, und wie schnell sich unsere Gefühle füreinander verselbstständigt hatten. Aber ich liebte Nicolas von ganzem Herzen und er liebte mich genauso sehr.
"Kogge auf Backbordseite", schrie plötzlich der Pirat im Krähennest und der Kopf meines Piraten fuhr herum. Nur widerwillig gab ich ihn frei. Denn sobald ich mich von ihm gelöst hatte, stürmte er an Deck.
Und schon war unsere Zweisamkeit zerstört, urplötzlich. Es war zum Verrücktwerden.
Langsam und missmutig trottete ich an Deck. Ich wollte wenigsten miterleben, was die Piraten nun vorhatten. Einmal in meinem Leben wollte ich miterleben, wie die berühmt berüchtigte Mannschaft des Sturmvogels ein Schiff kaperte.
"Alle Segel setzten! Volle Fahrt voraus", schrie Nicolas aus voller Kehle. "Jolly setzten! Zeigt ihnen, was auf sie zukommt."
Jolly? Was bedeutete das? Ich legte den Kopf in den Nacken, schaute zum Krähennest, wo gerade ein schwarzer Wimpel gehisst wurde. War das der Jolly? Vermutlich.
Ich war neugierig und sah mich interessiert um. Noch nie zuvor hatte ich erlebt, wie sich Piraten zum Kapern vorbereiteten. Ich würde auch nie wieder die Möglichkeit erhalten, das hautnah zu beobachten.
Ich stand nah bei der Tür zu Nicolas Kajüte, damit konnte ich mich, falls ich im Weg wäre, schnell verziehen.
Der Wind blähte die Segel auf. Das Schiff nahm Fahrt auf und schien bald über die Wellen zu fliegen. Wir waren schnell, unglaublich schnell. Die Kogge hatte nicht den Hauch einer Chance. Sie konnte uns nicht entkommen. Bereits nach kurzer Zeit waren wir mit der Kogge unter niederländischer Flagge auf gleicher Höhe und die Freibeuter fingen an, laut zu grölen. Ein Furcht einflößendes Angriffsgebrüll und zu gleich auch ein Siegesjubel. Die Piraten waren sich ihrer sicher.
Das Gefühl von Nutzlosigkeit breitete sich wie eine dunkle Decke über mir aus. Jeder an Bord hatten alle Hände voll zu tun. Nur ich stand unnütz herum. Die Männer schnappten sich Seile mit Enterhaken und lange Holzstangen.
Die Besatzung der Kogge dagegen stand geschockt an Bord. Sie waren wie erstarrt, bis schließlich der erste Mann, wahrscheinlich der Kapitän, sein Schwert zog.
Die Piraten waren bereits dabei, auf die Kogge zu klettern. Es gab bei ihnen kein Zögern. Der Ablauf des Kapern war ihnen vertraut.
Als ich sah, wie das Metall des Schwertes, das der Kapitän des niederländischen Schiffes gezogen hatte, die Strahlen der Sonne reflektierte, kroch mir ein Schauer über den Rücken. Angst übermannte mich und ich fing an zu beben.
Ich hoffte inständig, dass Nicolas und seinen Männern nichts zustoßen würde und just in diesem Moment setzten die ersten Freibeuter einen Fuß auf der niederländischen Kogge.
Mit lautem Geschrei gingen beide Parteien auf einander los. Die Schwerter streckten sie in den Himmel. Nun kletterte auch Nicolas auf das Schiff und bemerkte noch im letzten Moment, dass einer der niederländischen Schiffsmänner sich ihm von der Seite mit gezücktem Messer näherte. Nicolas parierte den Hieb ohne mit der Wimper zu zucken.
Doch mir entfuhr ein leiser Schrei. Nein! Nicolas. Ich hatte Angst um ihn und wollte ihm irgendwie helfen. Doch wie?
Ich hatte – Gott sei Dank – einen Geistesblitz. Ehrfürchtig sah ich in den Himmel und bedankte mich flüsternd. Dann stürmte ich in den Bauch des Schiffes, in eine der hinteren Ecken, wo sich das Stroh zum Heizen und Feuern befand. Panisch wühlte ich durch das getrocknete Gras, suchte verzweifelt.
Wo war das Ding nur? Ich brauchte es! Jetzt sofort.
Da erfühlten meine Finger eine vertraute Form aus Holz. Ich ergriff sie und zog sie heraus. Es hing alles zusammen.
Gott sei neuerlich Dank! Er rettete vielleicht jemandem das Leben.
Eilig rannte ich wieder an Deck, steuerte auf den großen Mast zu und fing an bis zu seiner Spitze zu klettern. Als ich meine Füße auf den Boden des Krähennestes stellte, verschwand das mulmige Gefühl aus meinem Bauch, das ich beim Hochklettern empfunden hatte. Normalerweise kletterte ich nie in solche Höhen. Ich blieb lieber in Bodennähe.
Unruhig blickte ich zur Kogge hinüber. Die Männer kämpften immer noch gegeneinander. Doch wer einem Piraten unterlegen war, wurde entwaffnet und in eine Ecke des Schiffes gedrängt. Dort bewachten fünf Freibeuter die Geschlagenen. Keiner der Seeräuber tötete einen einzigen Mann.
Ich war erstaunt. Soviel Ehre hätte ich ihnen nicht zugestanden. Jetzt hatten sie sich meinen vollen Respekt verdient. Sie waren ehrenhafte Männer. Niemand würde mir das zwar glauben, wenn ich es daheim erzählen würde. Doch ich kannte die Wahrheit und nahm mir vor, nie wieder schlecht von Piraten zu reden.
Da klirrte ein Schwert, das auf die Planken der Kogge fiel. Schockiert blickte ich über das Deck. Meine Augen blieben an Nicolas hängen. Er hatte kein Schwert mehr in der Hand und der Niederländer, den ich für den Kapitän des Schiffes hielt, zielte mit der Spitze seines Schwertes auf Nicos Herz.
Ohne Nachzudenken ergriff ich einen Pfeil, spannte den Bogen bis zum Äußersten, zielte, schoss. Ich traf ins Schwarze, haargenau.
Überrascht sah der Kapitän zu mir herauf. Ich hatte ihm mit meinem Pfeil das Schwert aus der Hand geschossen.
Die kurze Unaufmerksamkeit des Niederländers war Nicos Chance. Während der Niederländer noch immer wie erstarrt dastand und zu mir heraufschaute, bückte sich Nicolas blitzschnell, griff nach seinem Schwert und hielt es anschließend auf den Niederländer gerichtet. Er drängte ihn zurück, wollte ihn zu dessen geschlagener Mannschaft bringen.
Doch statt zurückzuweichen, machte der Kapitän des gekaperten Schiffes einen großen Schritt auf Nicolas zu. Der Blick, den der Niederländer mir in diesem Augenblick zuwarf, war mörderisch und voller Verachtung. Es erschien mir, als würde ich vor dem Ehrengericht sitzen – angeklagt. So war auch der Ausdruck im Blick des niederländischen Kapitäns: Beschuldigend. Ich fühlte mich an den Pranger gestellt.
Nicos Schwert durchbohrte seinen Hals. Ein dünner Rinnsal roten Blutes lief an der Klinge des Schwertes herunter und tropfte auf die Planken. Der Mann gurgelte und röchelte, bevor im die Beine unter dem Körper zusammensanken.
Schockiert schlug ich die Hände vors Gesicht.
Blut drang aus dem Mund des Niederländers, seine Augen verdrehten sich unnatürlich und verloren schließlich den Glanz des Lebens.
Was hatte ich getan?
Tränen begannen mir über das Gesicht rinnen. Aus meiner Kehle drang ein leises Schluchzen. Ich sank auf die Knie.
Das war meine Schuld. Ich hatte ihn zu einem schutzlosen Mann gemacht. Dabei hatte ich doch nur Nicolas beschützen wollen.
Ich weinte, scherte mich nicht um die Gedanken der Piraten, wenn sie mich so entdecken würde. Schutzlos, klein, verängstigt. Zerbrechlich.
Ich weinte und bekam durch den Schleier aus Tränen nur noch am Rande mit, wie die Piraten verkündeten, dass sie nun die Waren der Kogge übernehmen würden, den Männern aber nichts geschehe, wenn sie ruhig blieben.
Kiste für Kiste, Fass für Fass, Sack für Sack. Alles, was zu finden war, wurde von der Kogge auf den Sturmvogel geschleppt.
Als alles verladen war, zogen sich die Piraten zurück auf ihr eigenes Schiff und gaben die niederländische Kogge frei. Diese segelte davon, während die Freibeuter begeistert ihre Beute feierten.
Ich weinte währenddessen. Die Quelle meiner Tränen schien einfach nicht versiegen zu wollen. Ich hatte Schuld am Tod eines Mannes. Ich, Klara van Utrecht. Ich fühlte mich elendig und sah wahrscheinlich auch wie ein Häufchen Elend aus.
Ich war Schuld. Ich war eine Mörderin. Blut würde nun ständig an meinen Händen kleben. Ich war Schuld. Ich hatte diesen Mann getötet. Vielleicht hatte er Frau und Kinder gehabt. Ich hatte sie zu Witwe und Halbwaisen gemacht.
Da hörte ich wie jemand zu mir ins Krähennest kam und sich neben mich kniete. Starke Arme umfingen mich und ich drückte mich an seine starke Brust. Ich musste nicht hinschauen, um zu wissen, an wen ich mich anlehnte. Ich wusste es einfach.
Ich heulte bitterlich.
Er hielt mich einfach nur fest und streichelte mir mit einer Hand sanft über den Rücken. Er sagte kein einziges Wort. Er war einfach nur da. Er gab mir das Gefühl von Sicherheit und spendete mir Trost mit seiner Wärme. Mehr brauchte ich in diesem Augenblick auch nicht. Mehr hätte ich nicht ertragen können. Mehr hatte ich nicht verdient.
* * *
Sie hatte mir mit größter Wahrscheinlichkeit das Leben gerettet. Sie war nicht zögerlich gewesen und hatte den niederländischen Kapitän einfach entwaffnet. Mit einem einfachen Pfeil. Vom Krähennest aus. Ich war ihr unendlich dankbar dafür, dass sie geschossen hatte.
Ich hatte gar nicht gewusst, dass Klara Bogenschießen konnte. Sie musste unglaublich geübt im Umgang mit Pfeil und Bogen sein. Denn aus dieser Entfernung konnte kein Anfänger so zielsicher treffen.
Ihr Pfeil hatte das Schwert des Niederländers kurz über dem Griff getroffen. Die Folge war gewesen, dass ihm das Schwert sofort aus der Hand geflogen war.
Ich hatte im Schockzustand des Kapitäns mein Schwert ergreifen können und den Kampf noch zu meinem Vorteil wenden können.
Klara hatte geschossen wie Robin Hood. Sie war auch eine Art Robin Hood. Sie war meine Klara, der weibliche Robin Hood.
Sie war so tapfer gewesen, als sie geschossen hatte. Nun erschien sie schutzlos, klein und verängstigt. Ein solcher Unterschied von Erscheinungen. Und doch handelte es sich um die gleiche Person.
Sie weinte, durchnässte mein Hemd mit ihren salzigen Tränen und ich saß einfach nur bei ihr, hielt sie in den Armen. Zärtlich streichelte ich ihr über den Rücken. Auf und ab. Sie hatte mich gerettet. Sie hatte mich beschützt.
Klara, ich danke dir, sagte ich in Gedanken ehrwürdig zu ihr, du bist ein starkes, junges Mädchen und ich liebe dich dafür. Klara, ich weißt du kannst mich nicht hören, aber ich habe dich fälschlicher Weise unterschätzt. Du bist stärker, als ich gedacht hatte. Wir könnten dich an Bord gut gebrauchen.
Als hätte sie meine Gedanken gelesen, nickte sie in dieser Sekunde.
Ich hatte eigentlich vermutet, dass Klara während des Gefechts in den Bauch des Schiffes verschwunden war. Da hatte ich mich getäuscht. Sie war geblieben und hatte ein Auge auf meine Männer und auf mich geworfen. Wie ein Schutzengel.
Unendlich dankbar für diese wunderbare Frau drückte ich sie an mich. Was würde ich nur ohne sie machen? Was wäre gewesen, wenn sie sich nicht heimlich auf den Sturmvogel geschlichen hätte? Was wäre gewesen, wenn ich sie damals nicht in die Taverne Störtebekers Kopf getroffen hätte? Ich wollte es mir nicht vorstellen. Ich wollte dieses Mädchen nicht verlieren. Niemals. Ich wollte mit ihr bis ans Ende der Welt und noch weiter gehen. Ich konnte nicht mehr ohne sie leben und das wollte ich auch gar nicht mehr. Für nichts auf der Welt, für nichts in der Hölle oder im Himmel hätte ich sie mir wieder nehmen lassen.
Ich nahm mir vor, ihr das zu zeigen. Ich wollte ihr beweisen, wie tief meine Gefühle für sie waren.
So saßen wir im Krähennest, fest umschlungen, für eine Ewigkeit. Doch Klaras Tränen wollten nicht versiegen. Sie weinte und weinte. Unaufhörlich.
Ich hielt sie fest, stand ihr bei, weil ich sie aus tiefster Seele liebte.
* * *
Irgendwann durchbrach Nicolas das Schweigen. So langsam wurde es kalt und eng, hoch oben im Krähennest des Sturmvogels. "Wollen wir nicht lieber wieder hinunterklettern und in meine Kajüte gehen. Da ist es wärmer", meinte er fürsorglich.
Ich nickte unter Tränen.
Vorsichtig kletterten wir aus dem Krähennest, Nicolas kletterte zuerst hinaus, damit er mich auffangen konnte, falls ich den Halt verlor. Achtsam setzte ich einen Fuß unter den anderen und krallte mich mit den Händen fest. Ich wollte keinesfalls in die Tiefe stürzen.
Unten angekommen gaben meine Beine einfach unter mir nach, ich sackte zusammen. Das war wohl einfach zu viel für mich gewesen.
Liebevoll hob Nicolas mich auf seine Arme und trug mich sprichwörtlich auf Händen in seine Kajüte.
Die anderen Piraten schauten skeptisch auf mich, wie ich mich an Nico drückte. Doch das interessierte mich in diesem Augenblick nicht. Ich war müde. Ascan schien als Einziger bemerkt zu haben, was geschehen war. Denn er lächelte wissend, während er Nicolas hilfsbereit die Tür aufhielt. Mit einem Nicken bedankte sich dieser bei seinem besten Freund.
Behutsam legte mich der Pirat mit den himmelblauen Augen auf das Bett und deckte mich zu. Es war gemütlich hier. Ich kuschelte mich in die wohlige Wärme und schloss die Augen.
"Ruh die ein bisschen aus, mein Engel", flüsterte Nicolas leise und streichelte mir mit dem Rücken seiner Finger zärtlich über die Wange. "Ich liebe dich", fügte er noch kaum hörbar hinzu. "Du machst mein Leben wieder lebenswert." Anerkennung sprach aus seiner Stimme. Doch hinter seinen Worten steckte noch so viel mehr. Emotionen, Worte und Trauer – Dinge, über die Nicolas nur selten zu sprechen schien. Dinge, die Kerben in Nicolas Seele hinterlassen zu haben schienen. Diese Erlebnisse, Eindrücke und Gefühle begleiteten Nico scheinbar und ließen ihn nicht los.
Doch seine Worte, seine Berührungen, seinen gehauchten Kuss auf meine Stirn, seine versteckten Gefühle, alles verblasste, als ich in den Schlaf sank. Ich war müde und so ergriff der Schlaf bereits nach kurzer Zeit Besitz von mir. Vorher brachte ich gerade noch über Lippen: "Ich liebe dich auch, mein Störtebeker." Danach versank ich in den Tiefen der Träume.
* * *
"Und?"
"Sie schläft", meinte mein bester Freund zu mir.
"Sie hält dich ganz schön auf Trab, oder?"
Der blonde Piratenkapitän nickte. "Ja, das tut sie. Aber ohne sie... Ich glaube, ohne sie hätte ich heute so einige Kratzer abbekommen..." Er klang erschöpft und diese Erschöpfung zeigte sich auch in seinem Gesicht. Er wirkte alt, älter als er in Wirklichkeit war, und dunkle Schatten zeichneten sich unter seinen hellen Augen ab.
"Wusstest du, dass sie Bogenschießen kann?"
Nicolas schüttelte mit dem Kopf.
"Oder wusstest du, dass sie einen Bogen und Pfeile mit an Bord gebracht hat?"
Wieder schüttelte er mit dem Kopf. "Nein. Aber ich bin unbeschreiblich dankbar dafür. So ungewöhnlich es für eine Dame auch ist, mit Pfeil und Bogen umgehen zu können, so praktisch war es heute für uns, vor allem für mich."
"Sie hat dir damit das Leben gerettet, das stimmt."
Er nickte zustimmend. Doch das Nicken war gedankenverloren. Er schien mir gar nicht richtig zuzuhören. So entstand eine Pause. Schweigen legte sich über Nicolas und mich. Denn auch ich sagte kein weiteres Wort.
Seit wann war mein bester Freund so schweigsam? So ruhig? Skeptisch bedachte ich ihn. Er hatte sich verändert, seit er Klara kannte. Man konnte deutlich sehen, dass er ernster geworden war und sich gegenüber mir und seinen Männern verschloss. Er war nicht mehr so offen wie früher. Oder war er zuvor auch so verschwiegen gewesen und mir wurde das erst durch Klaras Anwesenheit bewusst?
Sie schien das Gegenteil von ihm zu sein. Quirlig und offen.
"Nico?" Mit einem Mal galt mir all seine Aufmerksamkeit. Er sah mich an und ich seufzte, bevor ich sprach: "Klara kann trotzdem nicht hier bleibend. In der Morgendämmerung erreichen wir Friesland. Dann muss sie von Bord." Es tat mir in der Seele leid ihm das zu sagen. Aber der Unmut über die Frau an Bord wurde von Stunde zu Stunde größer. Es interessierte die Männer nicht, ob Klara ihrem Kapitän das Leben gerettet hatte. Der Aberglaube war stärker: Frauen an Bord brachten Unglück. Wenn es sein musste, würden sie die Schuld an Nicolas misslicher Lage von vorhin sogar dem Mädchen mit den Sommersprossen zuschieben.
"Das ist ja wohl immer noch meine Entscheidung, oder?" Er geriet in Rage. Etwas sanfter fügte er jedoch hinzu: "Ascan, ich will sie auf dem Schiff haben, wenn sie das möchte."
"Aber, Nicolas, willst du wirklich alles für dieses Mädchen riskieren. Ich meine, was machst du, wenn deine Männer eine Meuterei anzetteln? Du kannst es nicht mit allen auf einmal aufnehmen."
"Keine Ahnung", er hörte mir anscheinend nicht richtig zu, "ich schaffe das schon. Ich bin stark."
"Nico", meinte ich gelinde. "Ich bezweifle nicht, dass du stark bist. Ich zweifle auch nicht an die Loyalität unserer Männer, aber... Der Zweifel der Männer ist des Feuers entzündender Funken."
"Ascan!" Empörung mischte sich in Nicolas Stimme. "Jetzt übertreibst du aber."
"Nein, tue ich nicht..." Ich atmete einmal tief durch. "Nico,–", fing ich an, doch weiter kam ich nicht. Die Geduld meines besten Freundes war am Ende.
"Nichts mit Nico! Jetzt reicht es, Ascan. Ich weiß schon, was ich tue", herrschte er mich an.
Ich schüttelte nur mit dem Kopf. Ich war nicht der Meinung, dass er wusste, was er da tat. Eher schien er blind vor Liebe zu sein. Aber mehr als ihn zu warnen, ihn zu bitten und zu betteln, konnte ich nicht tun. "Wenn du meinst", sagte ich deshalb wenig überzeugt und verdrückte mich.
Manchmal sollte man auf seine Freunde hören, anstatt stur auf seiner eigenen Ansicht zu beruhen. Einsicht war der erste Schritt zur Besserung. Aber diesen Schritt schien Nicolas nicht gehen zu wollen. Dabei verlangte ja niemand von ihm, dass er Klara nie wieder sah. Ich riet im lediglich dazu, sie nicht mit an Bord zu haben. Abstand konnte eine Probe für die Liebe sein. Das sah ich wohl. Doch dieser Abstand konnte die Liebe wachsen und stärker werden lassen. Unerschütterlich.
Ich stellte mich hinter das Steuerruder und achtete darauf, dass wir den Kurs beibehielten. Doch mein Gespräch mit Nicolas ließ mich nicht los. Seine Reaktion war für mich einfach unverständlich.
* * *
Ich erwachte aus einem erholsamen Schlaf. Ich fühlte mich frisch und munter. Das Gefühl der Erschöpfung war restlos verschwunden. Gähnend strich ich mir meine wirr abstehenden Haare aus dem Gesicht. Wie spät war es eigentlich? Wie lange hatte ich geschlafen? Ich blickte zum Fenster. Draußen war es bereits dämmrig. Die Sonne ging in diesem Augenblick untern und die Welt wurde in goldenes Licht getaucht.
Ich stand auf und blickte an mir herunter. Ich war noch immer komplett angezogen. Nur meine Füße waren nackt. Doch meine Schuhe standen ordentlich aufgeräumt neben der Tür. Ich schlurfte zu ihnen und schlüpfte hinein.
Als ich die Kajüte verließ, stand ich in der kühlen, salzigen Abendluft. Am Horizont, wo das Meer und der Himmel sich trafen, färbte die untergehende Sonne das Blau des Meers orange und das Blau des Himmels zartrosa. Es war ein himmlischer Anblick. Doch so ungern ich es auch tat, ich riss mich los und hielt nach Nicolas Ausschau.
Ich konnte ihn jedoch nirgendwo entdecken. Also musste er unter Deck sein. Ich schlurfte die Treppe nach unten und wie ich es bereits vermutet hatte, fand ich dort meinen Pirat mit den blonden Haaren. Er saß zusammen mit ein paar anderen Freibeutern am großen Tisch und trank Bier. Die Männer waren in ausgelassener Stimmung und hatten sichtlich Spaß.
Als sie mich bemerkten, winkte Nicolas mich zu sich und klopfte auf den freien Platz neben sich. Er war schon sichtlich angetrunken, denn er lallte seinen Freunden irgendetwas zu, was für mich unverständlich war.
Freundlich setzte ich mich zu den Seeräubern an den Holztisch und bekam sogleich einen vollen Bierkrug zugeschoben. Doch ich winkte ab und schob ihn von mir weg. Dafür erntete ich einen entsetzten Blick von den Freibeutern. Sie konnten nicht verstehen, wie jemand jemals ein Bier verschmähen konnte. Für sie war der Alkohol so etwas wie das Lebenselixier.
Achselzuckend schnappte sich der Pirat mit dem narbigen Gesicht, der sonst immer im Krähennest hockte, meinen Bierkrug. Er trank ihn rastlos aus, in einem Zug.
Eigentlich könnte man ihnen allen den Namen Störtebeker geben. Denn dem Ausspruch Stürz den Becher wurden sie alle mehr als gerecht. In Sachen Saufgelage konnte niemand den Piraten das Wasser, besser gesagt das Bier reichen.
Nicolas schlang seinen Arm um mich und zog mich an sich. Er stank nach Bier. Igitt! Angewidert schob ich seinen Arm von meiner Schulter.
"Mach doch nicht so ein Gesicht, Kleine", meinte da der Pirat mit dem Narbengesicht. Gilmar. "Das ist nun mal so bei Seeräubern. Wir trinken von morgens bis abends." Seine Freunde grölten und hoben zustimmend ihre Krüge, um sie anschließend an die Lippen zu setzten und das Bier hinterzustürzen. "Genieß lieber die Zeit mit dem Kapitän, Kleine, solange du noch welche hast."
Was sollte das denn bedeuten? Ich fühlte mich am falschen Ort.
Fragend blickte ich zu Nicolas. Doch der zuckte nur mit den Achseln und trank seinen Krug in einem Zug leer. "Nico?", versuchte ich erneut, eine Antwort von ihm zu bekommen.
"Nischts, worüba du dir deen hübschäs Köpleeen zerbrüten solltest", meinte er und tätschelte mir den Kopf. Er tätschelte mir den Kopf! Jetzt reichte es!
Schlagartig stand ich auf und knallte meine Hände flach auf den Tisch. "Was wird das hier, Jungs?", geiferte ich.
"Nüschts, meen Engelschen", lallte Nicolas und setzte erneut einen vollen Bierkrug an die Lippen. Ich entriss ihn ihm.
"Hey", meckerte er und griff nach dem Krug. Doch daneben. "Gibsch mir wieda..."
"Tja, mein Lieber, ich glaube, du hattest für heute genug davon!"
"Was ist denn hier los?" Ascan kam die Treppe herunter. Na wenigstens noch ein nüchterner Pirat hier an Bord. "Nico? Was machst du da?"
Der Piratenkapitän hatte sich den Krug seines Tischnachbarn gegriffen und trank ihn leer. "Isch trinke een bissscheen mit meen Männa. Siehst do!"
Kopfschüttelnd kam Ascan zu mir und klopfte mir beschwichtigend auf die Schulter, denn ich hatte just in diesem Moment wieder loswettern wollen. Doch Ascans große, warme Hand stoppte mich. Es war ein Zeichen dafür, dass er sich nun dieser Angelegenheit annehmen würde.
"Nicolas", sagte er in wesentlich ruhigerem Ton, als ich es getan hätte, "hör auf zu trinken. Kümmere dich lieber um das Schiff."
"Neee, isch mag lieba trinkeen. Das is viel schöna."
"Nicolas, du bist der Kapitän. Du bist mittlerweile alt genug und solltest wissen, wo deine Grenzen sind."
"Wees isch do..."
"Nein, scheinbar nicht." Kopfschüttelnd griff Ascan Nicolas unter die Achseln und trug ihn in seine Kajüte.
"Tut mir leid", entschuldigte Ascan sich für seinen Freund, als er verschwitzt zurückkam.
"Ach, nicht so schlimm. Dafür kannst du ja nichts", winkte ich ab.
Er schenkte mir dafür ein offenes Lächeln.
"Zurück an die Arbeit mit euch anderen! Aber flott!", kommandiert er die anderen Freibeuter am Holztisch herum. Sofort eilten sie davon. "Und was machen wir zwei hübschen jetzt?", fragte mich der Piraten mit den meergrünen Augen.
"Keine Ahnung", meinte ich. Doch da fiel mir ein, dass ich Ascan noch etwas fragen wollte. Denn ich hatte vorhin nicht verstanden, was Nicolas und Gilmar mit ihrer Andeutung gemeint hatten. "Ach, Ascan?"
"Mh?"
"Gilmar meinte vorhin so: Genieß lieber die Zeit mit dem Kapitän, Kleine, solange du noch welche hast. Und Nicolas meinte, als ich ihn darauf ansprach, nur: Ich solle mir darüber nicht mein hübsches, kleines Köpflein", angewidert verzog ich das Gesicht, "zerbrüten."
"Ist nicht so wichtig, Klara." Ascan hatte vor, mich damit abzuspeisen. Er drehte sich schon weg, um davonzugehen.
"Doch", beharrte ich sturköpfig, "sag schon."
"Es ist wirklich nichts von großer Bedeutung."
Nicht überzeugt zog ich eine Augenbraue hoch. "Ach wirklich?"
Seufzend erläuterte mir Ascan schließlich, was die beiden Piraten damit gemeint hatten. Denn er wusste, dass ich nicht eher nachgegeben hätte. "Du gehst morgen früh von Bord. Ich fürchte, sonst zetteln die Männer eine Meuterei an. Sie dulden keine Frauen an Bord. Sie glauben, das bringt Unglück... Nicolas hat sich dagegen gesträubt. Doch er wusste ganz genau, dass ich recht hatte, als ich warnte. Gerne würde Nicolas dich hier behalten und ich habe dich auch gerne dabei. Aber die Männer... Nun ja, Seeräuber sind da etwas eigen. Vielleicht wollte er sich gerade seinen Ärger wegtrinken..."
"Und wieso sagt er das nicht einfach zu mir? Glaubt er, ich reiße ihm den Kopf ab? Und er wird mich nicht verlieren. Wieso glaubt er das?" Ich war fassungslos enttäuscht. "Ich verstehe die Männer doch..." Ich wendete Ascan den Rücken zu. "Danke, Ascan", flüsterte ich leise.
"Wofür?"
"Dafür, dass du so ehrlich zu mir warst und mir gesagt hast, was hier läuft." Noch immer sprach ich gedämpft.
"Kein Problem, Klara. Aber kann ich dich um etwas bitten?" Ich drehte mich wieder zu ihm um und nickte. "Nimm es dir nicht zu sehr zu Herzen." Wieder nickte ich und Ascan ging zurück an Deck.
Ich ließ mich auf einen Hocker fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Ich war ehrlich verletzt von Nicolas Schweigen. Doch schließlich schob ich meinen Unmut beiseite und nahm mir vor, den letzten Abend an Bord des Sturmvogels zu genießen. In vollen Zügen.
* * *
Wir legten an und die Männer vertäuten das Schiff. Sie hatten sich dazu entschlossen noch ein paar Sachen auf dem Markt zu verkaufen, um etwas Geld einzutreiben.
Mit skeptischem Blick hatten die Piraten und ich bemerkt, dass sich ihr Biervorrat dem Ende neigte. Sie mussten dringend neues besorgen. Denn ohne Bier waren Freibeuter keine Freibeuter. Es musste also so schnell wie möglich Nachschub beschafft werden.
Während ich mir Pfeil und Bogen schnappte und noch einmal einen prüfenden Blick durch die Kajüte von Nicolas warf, gingen die ersten Piraten schon von Bord in Richtung Markt. Ich hatte nichts vergessen. Zumindest konnte ich nichts mehr entdecken, das mir gehörte.
Ein letztes Mal sog ich den Geruch nach Bier, Männern, Schweiß und Meer in meine Lungen. Ich hatte mich an diesen Geruch gewöhnt, seit ich hier war. Niemals würde ich diesen Geruch wieder vergessen. Niemals würde ich die Piraten vergessen, die mich trotz ihres Aberglaubens mitgenommen hatten. Niemals würde ich Nicolas vergessen. Meinen Seeräuber. Meinen Störtebeker.
Traurig wendete ich mich ab und stapfte von Bord.
Am Ende des Stegs erwarteten mich Nicolas und Ascan. Ascan hatte die Zügel eines Fuchses in der Hand, der wiehernd den Kopf in den Nacken warf. Ich musste lächeln. Es war ein schönes Pferd.
Ich näherte mich den beiden Piratenbrüdern und mir kullerte eine einzelne Träne über die Wangen. Wie sehr würde ich die beiden und vor allem Nicolas vermissen. Verständnisvoll schlossen sich die starken, muskulösen Arme von Störtebekers Sohn um mich. Er legte sein Kinn auf meinen Kopf, während ich mich an seine Brust drückte. Er roch so gut. Nach dem Salz des Meeres, nach Schweiß und harter Arbeit und nach einer dezenten Note von Nelken, die gerade frisch erblühten. Er roch einfach nach Nicolas.
"Ich werde dich vermissen, Klara", wisperte er mir mit liebevoller Stimme zu. "Es war schön dich dabei zu haben."
"Ich werde dich auch vermissen, Nicolas. Ich werde immer an dich denken." Ich war ein wenig unglücklich über den gekommenen Abschied und hätte die Zeit am liebsten so weit zurückgedreht, dass ich die ganze Zeit auf dem Schiff noch ein weiteres Mal durchleben könnte.
"Ich liebe dich, mein Engel." Es waren ganz einfache Worte, die da aus Nicolas Mund an mein Ohr drangen. Doch in ihnen lag eine solch tiefe Bedeutung, solch starke Gefühle, dass sie etwas ganz Besonderes waren.
"Ich liebe dich auch, Nico. Für immer und ewig", erwiderte ich seinen Liebesschwur.
"Pass auf dich auf, Kleine."
Ich musste schmunzeln. "Mach ich." Ich zog die Nase hoch. "Pass du aber auch gut auf dich auf – und auf Ascan – und auf deine Mannschaft."
Er nickte und drückte mich sanft von sich. "Versprochen." Er schenkte mir noch in letztes Mal sein schiefes Lächeln, das ich so sehr liebte.
Wir blickten uns tief in die Augen, schienen uns gegenseitig in die Seele zu blicken und dann trafen unsere Lippen auf einander. Nicolas Lippen waren weich und warm. Gierig vergrub ich meine Hände in seinen blonden Haaren und gab ihm keine Möglichkeit sich von mir zu lösen. Sanft aber drängend schob er mir seine Zunge in den Mund und spielte mit meiner. Er schmeckte süß mit einer herzhaften Note. Als er sich um Luft zu holen zurückziehen wollte, drückte ich mich enger an ihn und spürte sein steifes Glied an meinem Bauch. Er lächelte über meine stürmische Reaktion, drückte mir noch einen kurzen Moment seine Lippen auf meinen Mund und schob mich dann endgültig von sich weg.
Ich wollte noch nicht aufhören! Ich wollte noch mehr. Wie ein trotziges Kind, das nicht den Wunsch erfüllt bekam, den es sich am sehnlichsten wünschte, blickte ich ihn an.
Er lachte kehlig. Ich schien ihn zu amüsieren. "Komm schon." Er schmunzelte noch immer. "Du musst langsam los, Klara."
Ich stöhnte. Ich wollte mich noch nicht von ihm trennen. Doch ich wusste, dass ich keine Chance hatte. Widerwillig nickte ich und trat zu Ascan. Er schloss mich in die Arme. "Mach's gut, Klara." Er zog etwas aus seiner Hosentasche und reichte es mir. "Würdest du das bitte Freya geben", bat er mich.
Ich nickte. "Natürlich, Ascan. Sie wird bestimmt Luftsprünge machen, wenn ich ihr diesen Brief von dir gebe." Sie würde nicht bestimmt Luftsprünge machen, nein, sie würde sie mit Sicherheit machen, selbst wenn sie ein gebrochenes Bein hätte. Ich verstaute den Brief sicher in der Tasche, die ich von Nicolas bekommen hatte. Er hatte darauf bestanden mir Proviant für die Reise mitzugeben. Denn es würde ein langer Ritt werden. Fürsorglich war er ja, dass musste man ihm zugestehen.
Ich schwang mich gekonnt auf den Rücken des Pferdes und nahm Ascan die Zügel ab. "Danke für alles, Jungs. Es war wirklich schön", verabschiedete ich mich.
"Gerne, Klara", erwiderte Ascan. Auch er hatte ein Fünkchen Trauer in der Stimme, als er das sagte.
"Bis bald, mein Engel", meinte Nicolas liebevoll. "Ich liebe dich."
"Ich dich auch, mein Pirat." Ich schmunzelte. "Auf Wiedersehen!" Ich trieb das Pferd an und ritt schnell davon. Die Wiesen flogen an mir vorbei. Das Meer wurde kleiner.
Plötzlich hörte ich ein anderes Pferd näherkommen. Die Hufe klapperten auf die Steine des Weges.
"Klara, warte!" Nicolas. Seine Stimme hätte ich unter Tausenden erkannt.
Ich blinzelte schnell die Tränen weg, die mir gekommen waren. Er wollte mich nicht gehen lassen. Vielleicht wollte er mich zurückholen, zurück auf den Sturmvogel.
"Warte, Klara." Nico war ein wenig außer Atem. "Ich habe noch etwas vergessen." Er kam an meine Seite.
Erwartungsvoll blickte ich ihm in die himmelblauen Augen.
"Hast du schon einmal davon gehört, dass Kapitäne zwei Menschen vermählen dürfen, die sich aufrichtig lieben?"
Ich schüttelte mit dem Kopf.
"Dû bist mîn, ich bin dîn:
des solt dû gewis sîn.
Dû bist beslozzen
in mînem Herzen:
verlorn ist das slüzzelîn:
dû muost immer drinne sîn.
Klara, du sollst mein Weib sein, das ich liebe und ehre, bis Gott es zu sich nimmt. Ich will dir die Treue halten in Krankheit wie Wohlergehen, in Reichtum wie Betteltagen, in guten wie in schlechten Zeiten, bei Ebbe und Flut. Klara, wenn du es so willst, nehme ich dich an als meine Braut. Denn ich liebe dich und möchte dies vor allen verkünden."
Mir blieb der Mund offen stehen. Nicolas wollte sich mit mir vermählen, hier, einfach so.
"Klara, willst du mein Weibe sein, das mich liebt und ehrt. Willst auch du mir die Treue halten vor Gott und aller Welt?"
Ich nickte, noch immer unfähig zu sprechen. Ich fühlte mich überrumpelt und dennoch war die Freude größer – es war eine große Ehre, dass Nicolas mich heiraten wollte.
Nicolas fing an zu Strahlen und zog etwas auf seiner Tasche. Meine Hand nehmend sagte er, um die Vermählung zu vollenden: "Dann nehme ich, Nicolas Störtebeker, dich, Klara, hier und jetzt vor Gott und aller Welt zu meinem angetrauten Weibe." Er steckte mir einen Ring an den Finger und sah mir dann noch einmal eindringlich in die Augen. "Von nun an gehören wir zusammen. Egal, welch Meilen uns auch trennen, mein Herz ist allzeit bei dir. Ich liebe dich, mein Engel." Er beugte sich zu mir und küsste mich ein letztes Mal. Seine Lippen weich und warm auf meinen. Ich griff ihm ein letztes Mal in die blonden Haare, wie ich es immer tat, wenn wir uns küssten.
Tränen rannen mir nun übers Gesicht. Es waren Freudentränen. Ich war gerührt. "Ich liebe dich und nehme dich zum Manne vor Gott und der Welt. Ich trage dich allzeit in meinem Herzen und werde dir auf ewig die Treue halten", brachte ich endlich heraus, unter Schluchzen. Es klang ehrfürchtig trotz meiner stumpfen Lippen. Denn meine Lippen waren taub von seinem Kuss.
"Nun muss ich aber wirklich los", sagte ich voller Trauer des Abschieds.
Nicolas stimmte mir zu. Auch er schien voller Kummer.
Ich trieb neuerlich den Fuchs an und ritt davon.
Aus dem Augenwinkel erkannte ich, dass Nicolas mir nachwinkte. Doch ich achtete nicht darauf, drehte mich nicht um und winkte nicht zurück. Denn ich zitterte am ganzen Leib, spürte wie mir die Tränen ein weiteres Mal kamen. Sie bahnten sich unaufhaltsam ihren Weg an die Oberfläche, während ich verzweifelt versuchte das Wasser wegzublinzeln. Doch ich schaffte es nicht. Nicolas sollte meine Tränen nicht sehen, nicht entdecken, wie sehr mich der Abschied schmerzte, nun erst recht...
Ich trieb das Pferd weiter an, ritt im Galopp davon. Ich erkannte kaum noch etwas durch den Tränenschleier. Doch das war mir egal. Ich wollte hier einfach nur weg. Nach Hause. Denn zurück zu Nicolas konnte ich nicht. Es tat weh, das zu wissen. Doch ich konnte nichts daran ändern.
Und so ritt ich davon, in den Tag hinein. Ich ritt ohne Pause, unermüdlich, bis das Pferd erschöpft schnaufte und mich zu einer Pause zwang. Ich stieg ab, band den Fuchs an einen Baum und ließ mich ins Gras fallen, wo ich das Gesicht in den Händen vergrub. Noch immer fanden meine Tränen kein Ende. Ich verlor mich in meinem Schmerz und den salzigen Tränen, die dieser mit sich brachte.
Erschöpft und mit einem wunden Gesäß erreichte ich den Hof meiner Familie. Seufzend schwang ich mich vom Pferd und sogleich kam einer unserer Knechte herangeeilt, um den Fuchs in den Stall zu bringen. Ich ging derweil auf die große Eingangspforte zu. Doch noch ehe ich auch nur eine Hand auf die Klinke gelegt hatte, wurde die Tür abrupt aufgerissen.
"Klara!", quiekte ein Energiebündel mit braunen, langen Haaren freudig und fiel mir um den Hals. "Da bist du ja wieder! Ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht. Ich dachte, vielleicht haben dir irgendwelche Straßendiebe etwas angetan." Die Worte sprudelten nur so aus Freya heraus. "Aber jetzt bist du ja hier, und es geht dir gut, wie ich sehe. Wie war es? Was hast du erlebt? Hast du Nicolas und Ascan gefunden? Was haben sie gesagt? Und wieso kommst du erst jetzt Heim?"
"Ganz ruhig, Freya", versuchte ich meine beste Freundin mit den Händen zu beruhigen. "Mir geht es gut. Den Rest erzähl ich dir drinnen."
Vorfreude zeichnete sich auf Freya Gesicht ab und ihre rehbraunen Augen glitzerten neugierig. "Na dann los!" Schon stürmte sie hinein.
Amüsiert belächelte ich Freyas Verhalten und folgte ihr wesentlich gemächlicher. Freya saß bereits in einem der großen Sessel und erwartete mich. Vor ihr auf dem kleinen Beistelltisch dampfte frischer Tee. Ich ließ mich mit einem tiefen Seufzer in einen der freien Sessel fallen. Er war wesentlich bequemer als der Pferderücken, auf dem ich die letzten Stunden verbracht hatte.
"Nun erzähl schon", drängelte Freya ungeduldig. Sie war ganz hibbelig, denn sie schaffte es nicht einmal für einen Augenblick stillzusitzen. Entweder wippte sie vor und zurück, trommelte mit ihren Fingern auf ihren Oberschenkeln herum oder klopfte mit dem Fuß auf den Fußboden.
"Na gut", gab ich schließlich nach, denn plötzlich fiel mir Ascans Brief ein. "Also, ich bin Nicolas und Ascan nachgerannt und habe schließlich auch ihr Schiff im Hafen gefunden. Sie wollten gerade ablegen und ich konnte nicht ungesehen an Bord gelangen, wenn ich über den Steg gegangen wäre. Aber zu meinem Glück kam in diesem Moment ein Mann mit Pfeil und Bogen vorbei. Ich kaufte ihm diese ab und schnappte mir eines der Seile, die überall im Hafen herumliegen. Ich schoss einen Pfeil mit dem Seil nach oben, der sich um die Reling wickelte, und kletterte hoch. Das ging eigentlich ganz einfach und schnell. Dann wollte ich Nico suchen, doch wegen dem großen Getümmel an Deck ging ich nach unten. So landete ich in einer der hinteren Ecken des Schiffes, wo ein riesiger Haufen Stroh lagerte und mitten im weichen Heu schlief ich ein."
Ich räusperte mich. "Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war das Schiff aus dem Hafen von Hamburg ausgelaufen. Anfangs wusste ich nicht, wo ich mich befand und verhielt mich so wie hier auch, aus Gewohnheit. Und dann stand ich plötzlich inmitten einer Meute Piraten. Ich stand Ascan und Nicolas gegenüber. Anfangs–"
"Und was haben sie gesagt?", unterbrach Freya mich.
Seufzend gab ich ihr ihre ersehnte Antwort. "Sie mussten so schnell weg, weil ihr Schiff im Hafen aufgefallen war."
"Aha", nickte Freya verständnisvoll.
Wieso war sie immer so einsichtig?
Na gut, ist jetzt auch nicht so wichtig. Fahren wir lieber fort: "Auf jeden Fall war es dann noch ziemlich spannend an Bord des Schiffes. Wir hatten eine Verfolgungsjagd mit einem Schiff der Hanse und haben ein niederländisches Schiff gekapert."
"Wahnsinn..." Freya war beeindruckt und gleichzeitig malte sich leichter Neid in ihren Augen ab.
"Doch da ich nicht wollte, dass du vor Sorge um mich in Ohnmacht fällst und den Löffel abgibst, haben mich die Piraten auf Friesland abgesetzt und mir ein Pferd zur Verfügung gestellt. Der Abschied fiel allen sehr schwer, aber ich musste nach Hause. Und dann bin ich heim geritten", beendete ich meine Ausführungen. Das stimmte zwar alles nicht ganz und einiges ließ ich lieber aus, aber es würde Freya garantiert nicht auffallen.
"Aha", quittierte sie meinen Erzählungen. Sie beäugte mich von oben bis unten, ehe sie fragte: "Und ist zwischen dir und Nicolas noch irgendetwas vorgefallen, was ich wissen sollte?"
Wieso war sie nur immer so verdammt neugierig? Und wieso traf sie mit ihren achtlos geäußerten Vermutungen immer den Nagel auf den Kopf?
"Nun ja", druckste ich herum und wurde prompt rot. Verzweifelt suchte ich nach einer Lösung, um ihr nicht alles erzählen zu müssen. Auch wenn sie meine beste Freundin war, ein paar Dinge behielt man doch lieber für sich. "Ähm... Also eigentlich nichts Besonderes", versuchte ich sie abzuwimmeln.
Doch sie ließ nicht locker: "Komm schon. Mir kannst du es doch erzählen!"
Ja klar, dachte ich sarkastisch, du behältst immer alles für dich.
"Nein, da war wirklich nichts, Freya", beharrte ich hartnäckig. Da kam mir ein Geistesblitz. "Aber bevor ich es vergesse: Ich habe noch etwas für dich. Von Ascan." Ich betonte die letzten beiden Worte besonders.
Damit war ich um das Verhör herumgekommen, denn urplötzlich hatte Freya etwas Anderes gefunden, das sie interessant fand. Zum Glück fand sie mein Mitbringsel faszinierender als meine Beziehung zu Nicolas. Das erleichterte mir die Situation.
"Was ist es? Was ist es? Zeig es mir, bitte, bitte, bitte", drängelte sie wie ein kleines Kind und hüpfte auf dem Sessel auf und ab.
Amüsiert zog ich den Brief aus der Tasche und fächerte mir damit ganz entspannt Luft zu. Das war zu viel für Freya.
Sie versuchte mir den Brief aus der Hand zu reißen, doch ich war schneller und entzog ihn ihrer Reichweite.
"Gib ihn mir, Klara! Er gehört mir", nörgelte sie beleidigt.
Ich schüttelte verneinend mit dem Kopf, fragte sie herausfordernd: "Wieso sollte ich?"
"Weil Ascan ihn dir für mich mitgegeben hat."
Oh mein Gott, sie konnte wirklich wie ein kleines Kind sein.
"Nein, das reicht mir nicht. Ich gebe dir den Brief nicht." Es war einfach zu komisch Freya zappeln zu lassen.
"Klara!", schrie sie entrüstet.
Ich konnte nicht mehr an mir halten und prustete los. "Hier hast du." Ich reichte ihr den Brief, den sie sofort fest an ihre Brust drückte. Ich musste erneut lachen. Dann betrachtete sie den Brief aus jedem erdenklichen Blickwinkel und riss ihn schließlich auf.
Ihre Augen flogen über die Worte ihres Freiers und ihr Lächeln wurde immer größer. Sie wirkte wie ein Kind am Heiligen Abend. Glücklich und zufrieden. Selig.
"Und, was steht drinnen?"
"Das sag ich dir nicht", meinte Freya frech und rümpfte die Nase. Argwöhnisch sah ich sie an und zog eine Augenbraue nach oben. Meine beste Freundin konnte nichts lange für sich behalten und wollte, so kam es mir zumindest immer vor, alles mit der ganzen Welt teilen. "Gut. Er schreibt, wie sehr er mich vermisst und dass er sich wünschte, ich hätte dich begleitet. Er schreibt auch, dass er ständig an mich denkt und mich so schnell wie möglich wieder sehen möchte. Ist das nicht niedlich? Wenn er das Holz des Steuerruders sieht, muss er an mich denken, weil es dieselbe Farbe hat, wie meine Augen, meint er. Er ist so süß. Ein wahrer Schatz."
Ich rollte mit den Augen, denn Freyas Geschmachte musste ich mir, möge Gott mir beistehen, nicht antun.
Ich nahm stattdessen meine Tasse und trank dankbar einen Schluck des wärmenden Tees. Während Freya weiter von ihrem Ascan schwärmte, genoss ich in aller Seelenruhe meinen Tee und ließ die letzten Tage noch einmal vor meinem inneren Auge ablaufen.
Es war so viel passiert. Ich hatte so viel erlebt und ich war unbeschreiblich dankbar dafür. Nie würde ich vergessen, was ich an Bord des Sturmvogels erlebt hatte.
* * *
"Es ist ein wunderschöner Frühlingstag heute, findest du nicht? Die Sonne lacht. Wir haben keinerlei Pflichten." Ein zufriedener Seufzer drang aus Freyas Kehle. "Ich wünschte, wir könnten die Zeit anhalten."
"Ich weiß, was du meinst." Ich nahm einen tiefen Atemzug und schnupperte die duftende Frühlingsluft ein. Es roch nach frischen Blumen, nach neu erwachtem Leben und sanft trug die leichte Brise den salzigen Geruch des Meeres herauf. Die Bienen summten um uns herum und die Vögel, die über die Wiese flogen, sangen fröhlich ihre Lieder. Der Himmel war wolkenlos blau und bereits jetzt spürte man, wie warm der Sommer werden würde.
Still lagen Freya und ich auf der Blumenwiese hinter dem Grundstück meiner Familie und genossen im hohen Gras liegend die Ruhe und den Frieden. Wir genossen den warmen Frühling in vollen Zügen.
Ich hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und blickte gedankenversunken in den Himmel.
Es waren mittlerweile viele Wochen vergangen, seit ich Nicolas und seine Meute in Friesland das letzte Mal gesehen hatte. Seit ich Nicolas zum Manne genommen hatte.
Seither hatten weder Freya noch ich irgendeine Nachricht von ihnen erhalten. Auch Frederick und mein Vater hatten sich nicht gemeldet. Stattdessen hörte ich nur durch die Kaufleute in der Stadt, wo sie zuletzt angelegt hatten. Ein Kaufmann aus Kopenhagen berichtete mir gestern, dass Frederick und mein Vater bei König Erik VII zu Gast seien. Sie sollten dort wohl laut Gerüchten über einen möglichen Frieden zwischen Dänemark und den Hansestädten verhandeln.
Was sie wohl erreichten? Würden Dänemark und die Hanse endlich gemeinsam gegen die Piraterie vorgehen? Noch war ich davon nicht überzeugt und stellte fest, dass es mich auch nicht störte, wenn sich die Parteien nicht einig wurden.
Ich setzte mich auf und wendete meinen Kopf zu Freya. Sie hatte die Augen geschlossen und atmetet gleichmäßig ein und aus. Scheinbar war sie in dem weichen Blumenbett eingeschlafen. Ich entschied mich, sie ruhen zu lassen.
Auf meinen angezogenen Knien stützte ich meine Unterarme ab. Wann würden Frederick und mein Vater wohl zurückkehren? Und wenn sie heim kämen, hätten sie dann einen Frieden im Gepäck? Würden endlich alle Piraten gefangen werden? Ich hoffte es. Die Piraten wurden laut Gerüchten immer dreister.
Noch im selben Moment, in dem ich diesen Gedanken hatte, fiel mir etwas ein.
Nicolas. Ascan. Die Mannschaft des Sturmvogels. Ich wollte nicht, dass ihnen etwas zustieß. Auch wenn sie ebenfalls Piraten waren. Sie waren anders. Man konnte sie nicht mit dem gemeinen Piratenvolk vergleichen. Sie waren ehrbar.
Manchmal hatte ich Nicolas schon aus meinem Gedächtnis gestrichen. Doch wenn ich abends nicht in den Schlaf sinken wollte, stellte ich mich auf den Erker und blickte dem Himmel entgegen. Meist hatte ich Glück und konnte die Sterne ohne Probleme sehen. Wenn ich in den tausenden Sternen ein Bild zu erkennen glaubte, überrollte mich die Erinnerung wie eine Walze. Die Erinnerung an meine Nacht mit Nicolas, als er mir die Sternenbilder gezeigt hatte und wir die Sternschnuppen fallen sehen hatten. Eine unvergessliche Nacht. Eine Nacht, in der ich mich hätte verlieren können. Ich wurde ganz sentimental, wenn ich daran dachte. Oft holte ich dann auch den Ring heraus und bedachte ihn. Erinnerungen, die ich sorgsam bewahrte.
Den Ring hatte ich an ein Stück Schnur gebunden und ihn hinter meinen Büchern versteckt. Außer mir schaute dort niemand nach.
Freya hatte ich natürlich nichts davon erzählt. Es war für mich etwas Persönliches. Nicolas hatte mir die Sterne gezeigt und er hatte mich geheiratet... Und darum behütete ich das Wissen von ihm wie einen kostbaren Schatz. Ich vergrub ihn in meinen Erinnerungen und nur ich kannte den Aufenthaltsort dieses Schatzes.
Abrupt wurde es schwarz vor meinen Augen. Irgendetwas versperrte mir die Sicht, legte sich auf meine Augen. Was war hier los? Was sollte das? Ich hasste es, wenn ich blind war. Blind war man allem schutzlos ausgeliefert.
Ich wurde nervös, schüttelte den Kopf schnell hin und her. Doch ich war noch immer blind.
Ganz ruhig, Klara, redete ich mir aufmunternd zu. Doch es half nur wenig. Mist! Dann blitzte durch einen kleinen Schlitz Sonnenlicht auf.
Hoffnung schöpfend griff ich mir ins Gesicht und fühlte. Es waren Hände, die mir die Sicht nahmen. Männerhände, um genau zu sein. Rau von der Arbeit.
Mit aller Kraft riss ich sie mir von den Augen und drehte mich schlagartig um. Doch anstatt mich lautstark aufzuregen, verstummte ich.
"Überraschung!", rief es plötzlich aus dem Mund der Person, die direkt vor mir stand.
"Was? Wo? Wie?" Freya war durch den Ausruf aus dem Schlaf hoch geschreckt und nun völlig orientierungslos. Ruhelos wanderte ihr Blick von einer Seite zur anderen und blieb schließlich an mir hängen. Dann sah sie mein Gegenüber an.
"Schön euch wieder zu sehen, Dirnen!"
Auch Freya war sprachlos. Doch dann veränderte sich ihre Miene und ein böser Ausdruck tauchte auf.
Sie stand auf, stemmte die Hände in die Hüften und kam auf uns zu. Sie holte aus und mit einem lauten Klatschgeräusch schlug sie unserem unerwarteten Besuch auf die Wange. "Mach das nie wieder! Nie! Verstanden?", regte sie sich auf. "Man erschreckt eine Dame nicht so, besonders nicht, wenn sie schläft. Und nenn' uns nicht Dirnen! Wir sind Damen und nicht irgendwelche Mägde."
Die rote Wange reibend nickte das Opfer. "Tut mir leid, Freya", murmelte der junge Mann mit den zerzausten, braunen Haaren und der Zahnlücke kleinlaut.
"Gut so." Freya war zufrieden.
Grinsend sah ich zu meinem Bruder. Noch immer rieb er sich die Wange, auf der sich ein deutlicher Abdruck von Freyas Handfläche abzeichnete. "Das geschieht dir recht, Frederick", meinte ich ohne Mitleid, "ich hoffe, das ist dir eine Lehre, uns so zu erschrecken."
Er nickte schuldbewusst.
"Na gut..." Ich kam mit ausgebreiteten Armen auf meinen Bruder zu und umarmte ihn. "Schön dich wieder hier zu haben, Frederick."
"Ich freue mich auch, dich wieder zu haben, Kleine." Er lächelte und erwiderte meine Umarmung herzlich.
Als wir einander wieder losließen, begrüßten sich Freya und Frederick ebenso herzlich wie wir gerade.
Frederick kannte Freya beinahe genauso lange wie mich. Für ihn war sie ebenso seine kleine Schwester wie ich, auch wenn sie nicht direkt verwandt waren.
* * *
Ich war froh meine kleine Schwester und Freya wieder zu sehen. Ich hatte die beiden ehrlich vermisst. Auch wenn sie mich auf eine bestimmte Art und Weise ständig begleitet hatten. Beide hatten einen festen Platz in meinem Herzen und so tauchten sie hin und wieder in meinen Gedanken auf, wenn mir auf der Maria langweilig wurde. Besonders Freyas Gesicht sah ich gerne. Ihre braunen Rehaugen und ihren Reiterzopf. Oft vermisste ich ihre freche, unverfrorene Art.
"Lasst uns doch hinein gehen." Mit dem Daumen deutete ich über meine Schulter hinweg in Richtung Haus. "Vater wartet bestimmt schon."
Ohne mir eine Antwort zu geben, stiefelten die beiden Mädchen auch schon los. Ich fiel zurück. Lächelnd betrachtete ich sie, während ich ihnen eilig folgte und sie kurz vor dem Haus schließlich einholte: Sie sind wirklich einmalig. Ohne sie wäre mein Leben wohl deutlich langweiliger.
Vater wartete tatsächlich bereits auf uns. Er sprach mit einem der Knechte vor der Eingangspforte und machte einen ernsten Eindruck.
Sein schütteres, kurzgeschorenes Haar färbte sich allmählich grau. Doch trotz seinen fortschreitenden Alters ließ er es sich niemals nehmen auf seinem Schiff auf Piratenjagd zu gehen.
Als er uns bemerkte, winkte er den Knecht fort und wendete sich in unsere Richtung.
Klara empfing ihren Vater mit einem leicht gehauchten Kuss auf die Wange. "Schön, dass Ihr wieder da seid, Vater", hieß sie den älter werdenden Mann willkommen.
"Danke, mein Kind."
"Schön, Sie wieder zu sehen, Sir." Freya begrüßte meinen Vater ebenfalls.
"Ich freue mich auch, Freya", erwiderte er.
Es entstand eine Pause. Stille kehrte ein. Keiner sagte mehr etwas.
"Gut", durchbrach ich das Schweigen, "wollen wir dann vielleicht hineingehen?"
Alle nickten einvernehmlich und folgten mir ins Haus.
* * *
Mein Vater und ich nahmen in je einem der Sessel Platz, während sich Freya und meine Schwester gemeinsam auf das Sofa setzten.
"Wie ist es euch eigentlich ergangen? Was habt ihr alles erlebt? Ich habe gehört, ihr seid bei König Erik VII gewesen." Meine Schwester war wie immer überaus neugierig und bestens informiert.
Seufzend berichtete mein Vater von unserem Besuch in Kopenhagen: "Nicht besonders erfolgreich. Er ist wie Königin Margarethe der Meinung, solange die Dänen keinen freien Zugang zu unseren Märkten haben, wären die Piraten nicht sein Problem. Er unterstützt sie dagegen, in Gedenken an Margarethe I."
"Und was macht ihr nun?", wollte Freya wissen. Ihre helle Stimme war sanft und klang ehrlich interessiert.
Wie hübsch sie heute wieder aussieht, dachte ich.
"Das wissen wir nicht genau", erklärte mein Vater, "wahrscheinlich genau so weitermachen, wie bisher. Wir jagen die Piraten und versuchen sie zur Strecke zu bringen. Aber das ist gar nicht so einfach."
"Wieso? Ich dachte, die Maria wäre das wendigste und schnellste Schiff auf Ost- und Westsee."
Ich schüttelte den Kopf. "Das dachten wir auch, Klara. Vor etwas mehr als einem Moment waren wir hinter Störtebeker und seiner Mannschaft her. Beinahe hätten wir ihn auch gefangen. Beinahe. Aber dann ist er uns doch entkommen. Sein Sturmvogel ist nicht zu unterschätzen. Er war so schnell, dass wir nicht hinterherkamen und ihn verloren. Außerdem scheinen die Freibeuter genau zu wissen, wie sie mit uns umgehen müssen. Ihr Ausweichmanöver war exzellent."
Merkwürdig, dachte ich, als ich bemerkte, wie Klara sich kaum merklich versteifte, während ich von jener Verfolgungsjagd berichtete.
"Nun ja, hätten wir Störtebeker an diesem Tag gefangen, hätten sie am nächsten Tag nicht eine niederländische Kogge kapern und den Kapitän töten können. Ich kannte den Kap'tän persönlich und er ist nicht so leicht unterzukriegen. Störtebeker scheint kein Mitleid zu haben. Er ist ein Drecksschwein."
"Das tut mir leid", meinte Freya.
"Ach, mein Kind, du kannst doch gar nichts dafür", antwortete mein Vater, "nicht wahr, Frederick?"
Verwirrt schaute ich auf. "Wie bitte?" Ich war völlig in Gedanken gewesen. Klara verhielt sich auf eine unerklärliche Weise anders als sonst. Sie war resigniert und beteiligte sich viel zu wenig an unserem Gespräch. Normalerweise fachsimpelte sie mit Vater und mir um die Wette.
Was war mit ihr los? Wieso fingerte sie so nervös an ihrem Rock herum? War sie nervös? Aber warum?
"Nicht, nichts, mein Sohn."
Freya und mein Vater schienen amüsiert.
Meine Schwester wollte ebenfalls erheitert wirken, doch es misslang ihr. Ihre Fassade bröckelte. Sie verbarg irgendetwas vor uns. Nur was?
"Und was habt ihr sonst noch erlebt?", wollte Freya wissen.
"Nicht viel. Die Piraten schienen uns zu meiden. Wir haben bis auf Störtebeker nur ein einziges Piratenschiff gesehen und das war so weit entfernt, dass es keinen Sinn gemacht hätte, es zu verfolgen", berichtete ich. Mein Blick ruhte noch immer auf Klara.
Sie schien abwesend.
Was war nur mit ihr los? Ich konnte mir ihr ungewöhnliches Verhalten nicht erklären.
Wir saßen noch eine ganze Weile zusammen und redeten schlicht weg. Solche Gespräche waren normal, wenn Vater und ich für einige Zeit nicht da gewesen waren. Doch dieses Mal war es anders. Klara war anders.
Ich nahm mir fest vor, herauszufinden, was sie beschäftigte. Vielleicht konnte ich ihr helfen. Aber da ich meine kleine Schwester gut kannte, wusste ich, dass sie sich mir nicht so einfach anvertrauen würde. Geheimnisse hütete sie und vergrub sie tief in ihren Gedanken. Selten drängten sie sich an die Oberfläche und dann kämpfte Klara sie wieder in die Tiefe. Doch diesmal schien sie den Kampf nicht gewinnen zu können. Es beschäftigte sie einfach zu sehr, ging ihr vielleicht zu nahe.
Bereits auf der Wiese hatte Klara in Gedanken versunken dagesessen. Sie beschäftigte etwas Wichtiges. Das konnte man deutlich sehen, wenn man genau hinsah. Aber was sie beschäftigte, darüber konnte ich nur mutmaßen.
* * *
Frederick hatte bemerkt, dass mich etwas beschäftigte. Genaustens hatte er mich beobachtet, während sie über die Piraten gesprochen hatten. Freya war das völlig egal gewesen.
In diesem Punkt verstand ich sie nicht. Sie wusste schließlich, dass Ascan und Nicolas Piraten waren. Gut, sie wusste nicht, dass sie auf dem Sturmvogel segelten. Störtebekers zweites Schiff, das nun seinem Sohn gehörte. Dennoch...
Nach dem Essen hatte mich Frederick zur Seite genommen und mich gefragt, was mit mir los sei. Meine Antwort, es wäre nichts, überzeugte ihn wenig. Er ließ nicht locker. Ich auch nicht. Ich blieb stur. Und nun lag ich im Bett und starrte an die Decke.
Ich überlegte fieberhaft, was ich tun könnte. Doch außer so zu tun, als ob nichts wäre, fiel mir nichts ein. Da mein Bruder jedoch bereits mitbekommen hatte, dass ich gar nicht so ruhig war, wie ich vorgab zu sein, würden es bald auch mein Vater, Freya und alle anderen bemerken. Ich wusste nicht, was ich dagegen unternehmen sollte.
Ich drehte Nicos Ring in den Finger. Wenn ich das kühle Metall und den edlen Stein in meinen Fingern spürte, beruhigte mich das. Doch meine Probleme verschwanden dadurch nicht.
Wieso musste ich auch ausgerechnet dann auf dem Sturmvogel gewesen sein, als mein Vater und mein Bruder ihn beinahe mit der gesamten Mannschaft an Bord geschnappt hätten? Zu meinem Glück war es nicht dazu gekommen und Nicolas und seine Männer hatten es geschafft meinem Vater und meinem Bruder zu entkommen. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn Frederick oder noch schlimmer mein Vater mich bei den Piraten gefunden hätte. Es schüttelte mich bei dem bloßen Gedanken daran. Das Theater wäre unermesslich groß gewesen.
Während ich noch lange über etwaige möglich gewesene Situationen und mögliche Szenarien nachdachte, dämmerte es draußen bereits. Langsam wollte die Sonne wieder ihren Platz am Horizont einnehmen und den Mond vertreiben, der in dieser Nacht kreisrund zwischen den Sternen geleuchtet hatte.
Als die ersten Vögel anfingen ihre frühen Lieder zu zwitschern, fielen mir die Augen zu. Ich war erschöpft und hatte meinen Schlaf bitter nötig. Trotzdem würden sich am anbrechenden Tag dunkle Ringe unter meinen Augen abzeichnen. Denn eine solche Nacht hinterließ immer ihre Spuren. Sorgen zeichneten sich immer auf meinem Gesicht ab.
* * *
"Die Zeit verging. Von Nicolas und Ascan war nichts mehr zu hören. Es kam kein Brief und kein Bote. Nur von den Gerüchten, die durch das Land gingen, hörte man, wo sie zuletzt Angst und Schrecken verbreitet hatten, und welches Schiff sie zuletzt ausgeraubt hatten. Freya vergaß bald ihren Freier Ascan. Doch Nicolas ging nicht aus Klaras Kopf und vor allem nicht aus ihrem Herzen. Stillschweigend hütete sie ihr Geheimnis, verriet niemandem, wie stark ihre Gefühle für Nico waren. Wie sehr sie ihn liebte und dass sie mit ihm vermählt war... Die Jahreszeiten gingen einher. Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Frühling, Sommer, Herbst und neuerlich Winter. Es tat sich nichts. Und schließlich stand erneut der Sommer vor der Tür." Die alte Frau in ihrem Schaukelstuhl endete an diesem Punkt.
Doch die Kinder wollten sich scheinbar noch nicht zufrieden geben.
"Und dann?"
"Ja, was geschah dann, Amalia?"
"Haben sich Nicolas und Klara wieder gesehen?"
"Erzähl weiter, bitte."
"Weitererzählen!"
Müde schüttelte die alte Dame den Kopf. "Nein, für heute ist es genug. Aber wenn ihr morgen wiederkommt, erzähle ich euch die Geschichte weiter."
Eifrig nickten die Kinder. Es war spät und über dem Erzählen und dem Zuhören hatten alle die Zeit aus den Augen verloren.
Ohne Umschweife erhob sich die Kinderschar brav, ging zu ihren Eltern und verließ mit diesen die Kneipe Zum Wikinger. Zurück blieben Amalia in ihrem Schaukelstuhl und die Wirtsleute hinter dem Tresen. Die Kneipe war leer. Stille legte sich über den Raum.
Die alte Dame wippte in ihrem Schaukelstuhl vor und zurück, da trat der Wirt auf sie zu, einen Becher Wasser in der Hand. "Hier, Amalia", sagte er ihr den Becher reichend.
Dankbar nahm die Alte das Gefäß entgegen, trank es gemächlich aus und verließ dann ebenfalls die Taverne Zum Wikinger.
Der nächste Tag neigte sich dem Ende und erneut versammelten sich die Leute in der Kneipe Zum Wikinger in Ralswiek. Dort hatte die alte Dame Amalia bereits in ihrem Schaukelstuhl Platz genommen. Alle waren gespannt, was sie heute von Klara und Nicolas zu berichten wusste.
"Also", begann die alte Frau, "die Zeit verging. Von Nicolas und Ascan war nichts mehr zu verlauten. Es kam kein Brief und kein Bote. Nur von den Gerüchten, die durch das Land gingen, hörte man, wo sie zuletzt Angst und Schrecken verbreitet hatten – welches Schiff sie zuletzt ausgeraubt hatten. Freya vergaß bald ihren Freier Ascan. Doch Nicolas ging nicht aus Klaras Kopf und vor allem nicht aus ihrem Herzen. Stillschweigend hütete sie ihr Geheimnis, verriet niemandem, wie stark ihre Gefühle für Nico waren. Wie sehr sie ihn liebte und dass sie mit ihm vermählt war... Die Jahreszeiten gingen einher. Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Frühling, Sommer, Herbst und neuerlich Winter. Es tat sich nichts. Schließlich stand erneut der Sommer vor der Tür. Frederick war wieder einmal heimgekehrt und bat seine Schwester, dass ich ihn doch zu einem wichtigen gesellschaftlichen Ereignis nach Hamburg begleiten sollte. Doch ich hatte eigentlich keine Lust."
Interessiert blickten alle zu Amalia und verloren sich in der Welt ihrer Geschichte.
* * *
"Und? Wirst du dabei sein?"
"Ich weiß es noch nicht, Frederick", meinte ich unsicher. Gerne würde ich für meinen Bruder an diesem riesigen Ereignis teilnehmen. Doch seit ein paar Jahren reizten mich solche Spektakel wie das anstehende nicht mehr so stark. Statt mich am Schmerz, Leid und Tod dieser Verbrecher zu erfreuen, zuzusehen, wie sie zur Hölle fuhren – stattdessen sah ich ihre verlorenen Seelen in das ewige Nichts treiben. Ich sah, wie die Piraten mit jeder Hinrichtung stärker zu werden schienen. Mit jedem weiten verlorenen Bruder wuchs ihr Zorn. Immer größer und mächtiger wurde die Wut der Freibeuter auf die Hanse, je mehr von ihnen in das Jenseits entglitten.
Es war einfach ein sinnloses Unterfangen sie auf dem Grasbrook in Hamburg hinzurichten – sinnlos und grausam.
"Komm schon", drängelte mein Bruder und holte mich damit zurück in die Realität. "Klara, es wäre wirklich wichtig, dass du anwesend bist."
"Wieso?", wollte ich wissen. Ich konnte dem Gedankengang meines Bruders gerade nicht folgen. Ich konnte nicht nachvollziehen, worauf er hinaus wollte. Wieso war es von solch großer Bedeutung, dass ich anwesend war?
„Ach nur so...“
Mit prüfendem Blick bedachte ich meinen Bruder und forderte: „Sag schon.“
„Weil Vater im Anschluss etwas verkünden will.“
„Und das wäre?“, fragte ich. Ein gutes Gefühl beschlich mich.
"Ähm", unwohl kratzte sich mein Bruder am Kopf und zerwuschelte dabei seine schwarzen Haare, "also... Wie soll ich dir das jetzt sagen?" Er druckste herum.
"Spuck es einfach aus, Frederick!" Aufgeregt stemmte ich die Fäuste in die Hüften.
"Also..." Wütend funkelte ich ihn an. "Ist ja gut, Schwesterchen! Er will deine Verlobung verkünden."
Die Worte trafen mich wie ein Faustschlag ins Gesicht. "Was?" Wieso wollte mein Vater meine Verlobung bekannt geben? Ich hatte doch gar nicht zugestimmt. Und wer war überhaupt mein Verlobter? Ich hatte mir keinen Mann ausgesucht. Was hatte Vater da nur schon wieder vor? Wieso tat er mir das an, ohne mich zu fragen? Sonst fragte er mich doch immer um meine Meinung. Ich war doch schon verheiratet. Ich brauchte keinen Verlobten.
"Klara", wendete mein Bruder ein, "Vater meint es bestimmt nicht böse."
Scheinbar wirkte ich verstört und Stocksauer. Und das war ich in der Tat. Ich verstand es nicht.
"Dann komme ich trotzdem nicht mit", beharrte ich, "er soll sehen, dass ich sein Verhalten nicht akzeptiere."
"Klara, bitte", versuchte es mein Bruder erneut. "Du brauchst endlich einen Mann an deiner Seite, da stimme ich Vater vollkommen zu. Außerdem hast du gar keine Wahl, deine Sachen werden schon gepackt. Ich habe dich aus reiner Höflichkeit gefragt."
"Was?!", gab ich empört von mir. "Das ist nicht dein Ernst, Bruderherz, oder?"
"Doch", meinte er kaltherzig.
"Aber... Aber", stammelte ich. "Ich.. Ich habe doch schon einen Mann an meiner Seite." Fragend zog Frederick eine buschige Augenbraue nach oben. "Dich!", rettete ich mich in letzter Sekunde aus der Brandung. Doch ich bezweifelte, dass ich noch irgendetwas an Vaters Entscheidung ändern konnte.
Mein Bruder schüttelte geschmeichelt mit dem Kopf. Er lenkte trotzdem nicht ein. "Klara, du brauchst einen Ehemann. Außerdem kann ich mich nicht um meine Schwester und meine eigene Frau gleichzeitig kümmern. Ich bin auch nur ein Mensch. Ich habe eine Partnerin an meiner Seite und du brauchst einen Partner an deiner Seite."
"Pfffff", gab ich missbilligend von mir, "ja, du hast ja Freya. Ich kann es noch immer nicht glauben, dass ihr verlobt ward und mir nichts, rein gar nichts davon gesagt habt. Ich bin deine Schwester und ihre beste Freundin. Da hätte ich das Recht dazu gehabt, es zu wissen. Aber ihr verschweigt es mir, bis zur allerletzten Sekunde."
"Ich habe es dir doch schon mehrmals erklärt, Schwesterchen", wollte mein Bruder mich besänftigen. "Freya hatte mich darum gebeten, dass sie es dir erklären darf. Deshalb haben Vater und ich keinen Ton davon gesagt. Ich konnte ja schlecht ahnen, dass sie es vergisst."
"Aber du hättest wenigstens andeutungsweise fragen können, ob ich es weiß. Dann hättest du es gewusst, dass sie es mir verschwiegen hat. Aber das hast du nicht."
"Klara", meinte Frederick gutmütig, "bitte..."
"Nein", meinte ich widerspenstig, "das werde ich euch nicht so schnell verzeihen. Und um auf die Reise nach Hamburg zurückzukommen: Ich komme zwar mit, aber glaubt mir, am Ende werdet ihr euch wünschen, ihr hättet mich hier gelassen. Aber da ich keine andere Wahl habe, muss ich ja mitkommen."
Ich war sauer und stapfte wütend zurück in Richtung Haus. Ich ließ meinen Bruder einfach links liegen und ging weg, ließ ihn allein stehen.
Sollte er doch sein verdammtes Leben leben und mich in Ruhe lassen. Ich würde nicht heiraten; ich war verheiratet. Und ich konnte gut auf mich selbst aufpassen. Ich würde auch alleine zurechtkommen, solange Nicolas nicht an meiner Seite sein konnte.
* * *
Die Kutsche ruckelte hin und her. Man spürte jeden Stein, über den die Kutsche fuhr. Mittlerweile schmerzten mir der Rücken und das Hinterteil. Auch der Kopf brummte mir und da half es wenig, dass mein herzallerliebster Bruder und meine beste Freundin eng aneinander geschmiegt gegenüber von mir saßen und sich gegenseitig hunderte von Schmeicheleinen, Kosenamen und Komplimenten um die Ohren warfen. Zwischendurch gönnten sie sich immer mal wieder einen leidenschaftlichen Kuss.
Es war zum Erbrechen. Mir wurde von diesem Getue übel.
Sobald ich mir dieses Liebesgeplänkel mehr als ein paar Augenblicke anschaute, wurde mir schlecht. Wie konnte man nur so verliebt sein? Dabei kannten sich die beiden seit jeher. Aus Bruder und Schwester war Mann und Frau geworden. Ekelig.
Nie hatte einer von beiden mehr für den anderen empfunden, als Geschwisterliebe. Zumindest hatte ich das immer geglaubt – und mich geirrt.
Frederick war seit ewigen Zeiten in Freya verliebt gewesen und als sie Ascan vergessen hatte, hatte sie sich in meinen Bruder verliebt, weil der sie umworben hatte wie ein Tier. Ich war die Einzige gewesen, die nichts davon gewusst oder geahnt hatte. Ich war mir vorgekommen wie ein blinder Dummkopf.
Noch immer verstand ich nicht, wie die beiden es schafften zu ignorieren, welches Verhältnis sie früher zueinander gehabt hatten. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie ich den Bruder meiner besten Freundin, der für mich selbst wie ein Bruder war, heiraten und lieben könnte. Ich könnte so niemals im Leben eine Familie gründen. Es wollte einfach nicht in meinen Kopf hineingehen, wie Frederick und Freya das schafften.
"Ich liebe dich, meine Maus", säuselte Frederick.
"Und ich liebe dich, mein Hase", erwiderte Freya in einem ebenso schleimigen Tonfall.
"Ich liebe dich aber viel mehr..."
Bäh, war das ekelig!
"Könntet ihr zwei Turteltäubchen vielleicht aussteigen und eurer Geplänkel irgendwo im Nirgendwo machen", fragte ich ironisch.
Ein böser Blick schlug mir dafür von Frederick entgegen und seine Frau erwiderte frech: "Du bist noch nicht reif genug, um das zu verstehen. Vielleicht wenn du einen Ehemann hast, aber sicher bin ich mir da nicht." Freya kuschelte sich noch enger an meinen Bruder, so dass kein Millimeter Platz mehr zwischen den beiden war.
Ich rollte mit den Augen. Verliebte konnten einem echt auf die Nerven gehen.
"Da hat mein kleines Reh aber vollkommen recht, Klara."
Jetzt hintergeh' du mich auch noch, Brüderchen, dachte ich drohend.
Wieso ich? Wieso musste ich das alles ertragen? Wieso konnten nicht die beste Freundin und der große Bruder eines anderen heiraten und der Schwester auf die Nerven gehen? Wieso musste es mich treffen? Wieso?!
Ich flehte Gott an, mich zu erlösen. Doch er schien meine Bitte entweder nicht gehört zu haben, oder sie nicht erfüllen zu wollen.
So blieb ich in der Kutsche sitzen, zusammen mit einem Liebespaar, dass keine Rücksicht auf meinen Geisteszustand zu nehmen schien.
Stundenlang saß ich mit ihnen in dieser Kutsche und selbst im Schlaf gaben sie noch gelallte Schmeicheleien von sich. Es war zum Verrücktwerden... Ich war kurz vorm Durchdrehen. Zumal mir meine Liebe nicht vergönnt zu sein schien. Noch immer hatte ich nichts von meinem Mann gehört und so langsam fing ich an, mir Sorgen zu machen, ob er eine andere gefunden hatte.
* * *
Da standen sie und gafften uns an, wie wir dem Scharfrichter vorgeführt wurden. Diese Meute an Schaulustigen. Das Volk erfreute sich stets an solchen Hinrichtungen. Es war grausam und für mich und viele meiner Brüder unverständlich. Wie konnten sich Menschen am Leid anderer erfreuen? Wie konnten sie sich amüsieren, während andere starben?
Ich konnte es beim besten Willen nicht verstehen und ich wollte es auch nicht verstehen. Es war einfach unmenschlich.
Manchmal fragte ich mich, ob die Hanse und alle ihre Verbündeten nicht die eigentlichen Verbrecher waren und nicht wir. Während die Hanse nur um das eigene Wohl bemüht war, kümmerten wir uns auch um andere. Raubten wir ein Schiff aus, gaben wir einen Teil der Beute an verschiedene Städte ab. Wir halfen denen, denen es nicht so gut ging, so weit es uns möglich war.
Und dafür sollten ich und zwei meiner Brüder nun mit dem Leben bezahlen? Nein, das war nicht gerecht! Die Vertreter der Hanse sollten jetzt an unserer Stelle sein. Das wäre gerecht. Sie sollten den Tod finden, nicht wir.
Doch leider war das Leben allgemein nur sehr selten gerecht. Deshalb standen wir nun auf dem Grasbrook in Hamburg, angeklagt und für schuldig befunden in den Punkten Piraterie und Totschlag. Aus diesem Grund drohte uns jetzt der Tod durch den Strick.
Ich gab die Hoffnung nicht auf. Ich hoffte inständig auf ein Wunder. Am besten ein sehr, sehr schnelles Wunder. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass meine Hoffnungen erfüllt würden und ich und meine Brüder gerettet würden, war gering. Schwindend gering um ehrlich zu sein. Geradezu winzig.
Aber wie sagte man so schön? Die Hoffnung stirbt zuletzt!
Ein letztes Mal reckte ich mein vernarbtes Gesicht der Sonne entgegen, nahm die Wärme in mich auf.
In diesem Moment war eines für mich glasklar: Ich würde die Hoffnung nicht aufgeben und dem Tod erhobenen Hauptes begegnen.
* * *
"Die Piraten werden heute ihr gerechtes Urteil bekommen. Piraterie, Kaperei, Totschlag und vielem mehr haben sie sich schuldig gemacht. Heute werden sie deshalb hängen!" Jubel schlug meinem Vater entgegen.
Ich saß nur teilnahmslos auf meinem Stuhl und war lediglich körperlich anwesend, geistig war ich anderswo.
"Scharfrichter", forderte mein Vater, "vollstrecken sie das Urteil Tod durch den Strick."
Erneuter Jubel. Das Volk freute sich auf dieses Spektakel, das in meinen Augen überhaupt nicht amüsant war. Ich fand es schlichtweg grausam.
Die Piraten traten auf das Holzpodest in der Mitte des Hamburger Grasbrook. Die Köpfe gesenkt.
Der Scharfrichter, der wie üblich sein Gesicht unter einer schwarzen Haube versteckte, legte ihnen, nachdem sie auf kleinen Holzhockern standen, die Seilschlingen um den Hals. Die Männer waren gefesselt, die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden, und nahmen ihr Schicksal scheinbar ehrenhaft hin. Doch in den Augen des ganz rechten sah ich noch etwas anderes aufblitzen.
Er trauerte nicht um sein Leben, das er gleich verlieren würde. Er wünschte stattdessen allen Anwesenden die Pest an den Hals.
Es schüttelte mich.
Dieser Pirat musste viel Hass auf die Hanse angestaut haben. Aber das war trotzdem nicht alles, was ich entdecken konnte. Es funkelte auch noch ein Funken... Hoffnung, ja, Hoffnung in seinen Augen. Er hoffte, dass sein Leben doch noch irgendwie verschont blieb. Doch so sehr er sich auch daran zu klammern schien, es würde ihm nichts mehr bringen. Sein Tod war beschlossene Sache. Eine abgemachte Sache mit dem Teufel.
Die Hand meines Vaters, die er in die Luft hob, streifte mein Blickfeld. Wenn seine Hand nach unten sauste, würde man den Piraten die Hocker unter den Füßen wegstoßen. Sie würden hängen. Ihnen würde die Luft abgeschnürt werden.
Ich warf den Verurteilten einen letzten, mitleidigen Blick zu. Sie hatten mein Beileid und meine Anerkennung verdient, dass sie diesen Tumult um ihre Hinrichtung einfach so hinnahmen.
Mein Blick blieb an dem ganz rechts befindlichen Piraten hängen. Sein vernarbtes Gesicht kam mir bekannt vor. Wo hatte ich dieses Gesicht schon einmal gesehen... Nein, ich hatte es nicht nur ein einziges Mal gesehen, der Piraten war mir schon öfters über den Weg gelaufen. Nur wo?
Gerade als es mir einfiel, ließ mein Vater seine Hand nach unten fallen und der Scharfrichter trat gegen die Hocker. Sie fielen um und die Piraten baumelten zappelnd an den Stricken.
Erschrocken stand ich auf. Ich schlug mir die Hände vor den Mund. Verwirrt sahen mich meine Begleiter an – mein Vater, der Bürgermeister Hamburgs, mein Bruder und Freya.
"Was ist los, Klara?" Freya war besorgt.
Ich schüttelte entsetzt mit dem Kopf. Ich brachte keinen Ton heraus. Stattdessen starrte ich auf den Piraten mit dem narbigen Gesicht. Gurgelnd und zappelnd hing er an seinem Todesstrick.
Ja, ich war mir sicher. Ich kannte diesen Piraten. Es war einer von Nicolas Männern. Aber was machte er hier?
Erstmals schaute ich mir auch die Gesichter der anderen beiden Freibeuter näher an. Auch sie gehörten zu Nicolas Mannschaft. Sie gehörten zur Mannschaft des Sturmvogels. Aber Nicolas war nicht unter den zappelnden Körpern.
Suchend blickte ich mich um. Wenn seine Männer hier waren, war auch Nico nicht weit. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er keinen Mann zurückließ. Jedoch konnte ich ihn nicht ausmachen. Vielleicht täuschte ich mich ja doch nur?
In diesem Moment durchtrennten plötzlich Pfeile die Schlingen der Piraten. Sie knallten zu Boden und rangen röchelnd nach Luft.
Nicolas.
Erleichterung durchströmte meinen Körper und hinterließ ein angenehm warmes Gefühl. Ich sah ihn zwar nicht. Doch ich wusste, dass er hinter dieser Rettungsaktion steckte. Mein Herz schien einen Sprung zu machen.
Überrascht hatten sich mein Bruder, der Bürgermeister und mein Vater erhoben und schauten über die Menge. Ihre Blicke durchkämmten die Masse, doch sie schienen keinen einzigen Bogenschützen entdecken zu können.
Ich hatte dagegen bereits alle drei gefunden. Ich kannte die Tricks nur allzu gut, mit denen man einen Pfeil abschießen konnte und er trotzdem aus einer ganz anderen Richtung zu kommen schien.
Die Bogenschützen standen hinter drei Bäumen an einem nahe gelegenen, kleinen Waldstück. Sie waren dunkel gekleidet und trotzdem erkannte ich sie sofort. Nicolas, Ascan und ein dritter Pirat.
"Wo seid ihr verfluchten Piraten?", schrie mein Vater und spukte dabei leicht. Wütend drehte er sich hin und her, suchte verzweifelt nach den Übeltätern.
Ich musste lächeln. Hätte mein Vater mir auch nur ein einziges Mal beim Bogenschießen zugesehen, wüsste er jetzt, wo die Piraten standen. Doch er hatte sich nie für meine Zielsicherheit interessiert. Bücher hatten ihn von jeher mehr bei mir interessiert. Bildung einer Frau war für ihn mehr wert, als ihre eigene Sicherheit.
"Kommt heraus!", forderte mein Vater erneut lautstark. Er schäumte über vor Wut, wie ein Topf, den man zu lange auf dem Feuer ließ. Es war für ihn eine Beleidigung, dass man seine Hinrichtung störte. Er hatte diese Piraten gefasst und freute sich über seinen Ruhm dafür.
"Vater", beruhigte Frederick ihn, "keine Sorge, wir finden sie." Suchend blickte mein Bruder über den Platz.
Auch die drei Piraten, die eben noch an Stricken gebaumelt hatten, blickten sich suchend um.
Wie dumm sie doch alle waren.
Da entdeckte ich, dass einer der Wachen ebenfalls einen Bogen über der Schulter hatte und einen Köcher voller Pfeile.
Ich sprang von der kleinen Tribüne mit den Stühlen und kam auf ihn zu. "Dürfte ich mir ihren Bogen kurz ausleihen?", bat ich höflich.
Er nickte erstaunt.
Es war nicht üblich, dass Frauen mit Pfeil und Bogen umgehen konnten. Nein, es schickte sich nicht.
Dankend nahm ich die Waffe entgegen, legte einen Pfeil an die Sehne und spannt den Bogen bis auf das Äußerste. Ich drehte mich um und schien für alle anderen auf den gerade aufgestanden Gilmar, den Piraten mit dem vernarbten Gesicht zu zielen – die Menge hielt gespannt den Atem an. Doch ich visierte den Balken seines Galgens an.
Ich schoss. Der Pfeil durchschnitt die Luft und flog direkt auf den Piraten zu, der sich erschrocken duckte. Mein Pfeil prallte, wie geplant, von seinem Galgen ab und flog nun in die entgegengesezte Richtung.
Alle Blicken folgten meinem Pfeil, der schließlich in einem der Bäume landete, hinter denen die gesuchten Bogenschützen standen.
Erschrocken sprang einer von ihnen – der unbekannte Pirat – hinter seinem Versteck heraus und fiel damit jedem Anwesendem auf. Seufzend zeigten sich auch die anderen beiden.
"Klara", mein Vater war sprachlos.
Doch die Bogenschützen wunderten ihn noch mehr.
Auch ich fragte mich, seit wann die Piraten des Sturmvogels mit Pfeil und Bogen umgehen konnten.
"Nicolas Störtebeker", kam es kaum hörbar von meinem Bruder.
Jeder auf dem Grasbrook schien völlig fassungslos. Niemals zuvor hatte ein Pirat den Grasbrook in Hamburg freiwillig betreten und noch nie hatte es einer geschafft ihn lebend wieder zu verlassen.
Doch ich traute es Nicolas und seinen Männern zu, das zu schaffen. Seine Männer tauchten nach und nach aus der Menge auf und zogen ihre Schwerter.
Nicolas zögerte nicht lange und nahm einen weiteren Pfeil. Doch anstatt auf die herannahenden Soldaten zu schießen, nahm er meinen Vater ins Visier, der wie erstarrt war. Er wirkte wie ein riesiger Eisblock. Ascan und der andere Piraten zogen derweil ihre Schwerter und rannten auf die Soldaten zu. Nicolas schoss seinen Pfeil ab.
Ich reagierte instinktiv, rannte zu meinem Vater und schrie. Doch es kam mir alles zu langsam vor. Ich war zu langsam und kam zu spät.
Der Pfeil bohrte sich in das Herz meines Vaters, noch bevor ich die Tribüne mit den Stühlen überhaupt erreicht hatte.
Ich schrie, weinte und rannte. Nein, nein, nein! Das konnte nicht wahr sein.
Die restlichen Menschen auf dem Grasbrook gerieten in Panik und rannten ziellos umher. Sie wollte einfach nur weg.
Auf der Tribüne wurde es ebenfalls hektisch. Soldaten drängten heran und stellten sich schützend vor die anderen.
"Vater", beklagte ich weinend den alten Mann mit dem schütteren Haar.
Frederick nahm mich in den Arm und mein Vater ergriff in letzter Kraft meine Hand. Er drückte sie und flüsterte: "Meine kleine Klara Hood..."
So etwas Ähnliches hatte ich schon einmal gehört... Damals hatte ich Nicolas das Leben gerettet. Heute hatte ich niemanden retten können, hatte meinen Vater nicht beschützt.
Dann wendete er sich an meinen Bruder. Mit letzter Kraft beauftragte er ihn: "Bring Störtebeker ein für alle mal zur Strecke, mein Sohn! Versprich mir das. Ich verlasse mich auf dich."
Frederick nickte, doch der letzte Funken Leben war bereits aus dem Körper meines Vaters gewichen. Seine Augen wurden leblos, leer, starr, kalt. Sein ganzer Körper wurde zentnerschwer. Er war tot.
Eine einzelne Träne rollte über die Wange meines Bruders. "Versprochen, Vater", meinte er ehrenhaft.
Er wischte sich die Tränen weg und stand auf.
Flehend sah ich zu meinem Bruder hoch, der sich wütend in die schwarzen Haare griff. "Das wird er bereuen", schwor er, "dafür wird Störtebeker büßen!"
Es jagte mir Angst ein, wie Frederick das sagte. So kaltblütig und drohend. Er trauerte um unseren Verlust wie ich. Doch ich konnte seine At und Weise zu trauern nicht verstehen.
Wieso waren Männer immer auf Blut und Rache aus? Es gab doch auch einen anderen Weg.
Frederick war nicht mehr aufzuhalten. Er eilte davon, schnappte sich auf dem Weg ein Schwert von einem Soldaten und stürmte brüllend auf Nicolas zu. Er war regelrecht blind vor Wut.
"Nein, Frederick!", schrie ich, wollte ihn aufhalten. Doch ich konnte mich nicht von der Stelle rühren. Mein Körper gehorchte mir nicht. Kein einziger Muskel wollte sich regen.
Derweil stürmte ein Pirat auf die Tribüne und erschlug beinahe jeden Soldaten. Ich bekam es kaum mit. Ich weinte um meinen Vater, beklagte meinen großen Verlust. Der Pirat störte mich jedoch in meiner Trauer und griff mich an den Armen. "Du kommst mit, Kleine", sagte er schroff und wollte mich hochziehen.
Ich versuchte ihn wegzuschieben. Der Versuch schlug fehl.
Ich wehrte mich, um den toten Leib meines Vaters nicht verlassen zu müssen. Doch der Pirat warf mich über seine Schulter.
Wütend schlug ich ihn mit den Fäusten. Doch es nützte nichts. Er trug mich mühelos davon. Ich hatte keine Wahl, als seinem Weg zu folgen.
Irgendwann gab ich meinen Widerstand auf und schlug die Hände vor das Gesicht.
Ich weinte, ließ meinen Tränen freien Lauf, beklagte ungeniert meinen Verlust. Mein Vater war tot.
* * *
Der Pirat trug mich davon, keiner achtete darauf. Er trug mich zum Wasser, wo ein großes Schiff vor Anker lag.
Ich hätte den Namen des Schiffes gar nicht sehen brauchen, um zu wissen, auf welches Schiff ich gebracht wurde. Ich hätte dieses Schiff unter tausenden mit verbundenen Augen erkannt. Selbst durch den Träneschleier erkannte ich es ohne jeden Zweifel. Der Sturmvogel. Das Schiff von Nicolas Störtebeker.
Der Pirat passierte mit mir über seiner Schulter die Reling und einer seiner Brüder fragte ihn, was er mit mir wolle. Er antwortete: "Das ist soweit ich mitbekommen habe die Tochter dieses Utrechts. Wir können seinen Sohn, sprich ihren Bruder, also mit ihr erpressen."
Ein dümmliches Grinsen erschien auf den Gesichtszügen des anderen Piraten, der mir frech auf das Hinterteil klopfte. "Hübsch", kommentierte er, "wir werden bestimmt viel Spaß mit der Kleinen haben. Aber irgendetwas an ihr kommt mir bekannt vor."
Ich wehrte mich nicht, beschwerte Mich nicht. Ich hatte aufgegeben. Ich war zu sehr um meinen Bruder besorgt und trauerte um meinen Vater. Hoffentlich ging es Frederick gut.
Die Tränen waren auf dem Weg einfach versiegt. Es hatte keine einzige Träne mehr kommen wollen, obwohl ich mich noch immer so fühlte, als könnte ich ein ganzes Meer von Tränen erschaffen.
Irgendwann landete ich auf dem weichen Stroh in einer der hinteren Ecken unter Deck. In dem Stroh, in dem ich mich vor ein paar Jahren versteckt hatte, bevor ich Nicolas und Ascan zur Rede stellen wollte. In dem Stroh, in dem ich vor einigen Jahren geschlafen hatte. Es war merkwürdig, aber irgendwie fühlte ich mich auf diesem Strohhaufen wohl. Es erinnerte mich an frühere Zeiten. Zeiten, die glücklicher und so viel einfacher gewesen waren. Jetzt war das Leben kompliziert.
"Du bleibst hier und rührst dich nicht von der Stelle, verstanden", wies mich der Pirat an.
Ich nickte noch immer wimmernd.
Ich hatte meinen Vater nicht beschützen können. Ich war nicht schnell genug gewesen. Er war gestorben, wegen mir. Ich war Schuld. Ich allein. Ich hätte ihn retten können, wenn ich den Pfeil in die Brust des dritten Bogenschützen und nicht nur in seinen Baum, hinter dem er sich versteckt hielt, geschossen hätte. Ich hätte ihn sicher getroffen. Aber das hatte ich nicht getan und deshalb war mein Vater nun tot. Er weilte nicht mehr unter den Lebenden, weil ich gezögert hatte, weil ich Skrupel gehabt hatte. Skrupel, die die Piraten nicht kannten. Mein Vater weilte nicht mehr unter den Lebenden, weil mein Herz dem falschen Mann gehörte.
In diesem Moment realisierte ich zum ersten Mal, in welcher Situation ich mich gerade befand.
Ich war entführt wurden.
Panik stieg in mir auf und verdrängte die Trauer.
Ich musste hier heraus, so schnell wie möglich.
Was würde wohl geschehen, wenn Nicolas mich hier entdeckte? Hatte er mich auf dem Grasbrook erkannt? Ahnte er, wer ich in Wirklichkeit war? Würde er verstehen, warum ich es ihm damals nicht gesagt hatte? Aber, Moment: Wieso hatte er sich seit Jahren nicht mehr bei mir oder Freya gemeldet? Wieso hatte er keine Nachricht geschickt? War ich am Schluss doch nur ein flüchtiges Tächtelmächtel, eine ersetzbare Vergnüglichkeit gewesen?
So viele Fragen aber keine Antwort greifbar. Dabei waren Antworten gerade so unglaublich wichtig.
Ich hatte auf eine merkwürdige Art Angst, ich empfand Furcht vor der Realität. Ich wollte flüchten. Mich in eine Traumwelt retten. Das Leben war mir gerade zu kompliziert, zu gefährlich.
Da kamen mir erneut die Tränen, deren Quelle bis vor einen Augenblick noch versiegt gewesen war. Nun sprudelte sie wieder und ich ließ die Tränen ungehindert laufen.
Es war mir egal, einfach alles. Ich wünschte nur, dass der Tag heute anders verlaufen wäre. Dass mein Leben an manchen Stellen anders verlaufen wäre. Dass Freya und Frederick nicht geheiratet hätten. Dass ich nicht mit ihnen nach Hamburg gereist wäre. Dass ich heute nicht auf dem Grasbrook gewesen wäre. Dass mein Vater nicht gestorben wäre. Dass ich nicht entführt worden wäre. Dass ich diese Piraten niemals kennen gelernt hätte. Dass ich mich nicht in Nicolas verliebt hätte. Dass ich ihn nicht geheiratet hätte. Dass ich ihm nicht egal gewesen wäre. Ich wünsche mir so viel...
Aber das schlechte an Wünschen ist, dass sie nur äußert selten in Erfüllung gehen. Leider...
"Wir haben es geschafft, mein Freund!", freute ich mich, während ich mich über die Reling auf die Planken des Sturmvogels schwang.
"Ja, ich weiß", meinte auch Ascan glücklich, "und dazu hast du uns noch ein großes Problem aus dem Leben geschafft. Du hast Utrecht getötet! Ein Problem weniger, um das wir uns sorgen müssen!"
"Naja, wenn ich Klara nicht begegnet wäre, wäre ich nie auf die Idee gekommen, wie nützlich Pfeil und Bogen sein können. Wo sie wohl gerade ist?"
"Sag nicht, dass du sie noch immer nicht vergessen kannst?", wollte Ascan skeptisch wissen. "Ich meine, das alles ist Jahre her."
"Nein", gab ich traurig zu, "sie hat sich einfach in meinem Kopf eingenistet und begleitet mich überall hin. Selbst in meinen Träumen sucht sie mich heim. Wir sind schließlich vermählt. Aber es war besser, dass ich ihr nicht mehr geschrieben habe. Ich bin ein Pirat, ein Verbrecher, zumindest in den Augen der Hanse und sie hat ohne mich ein besseres Leben."
"Da hast du vollkommen recht, Nico", ermunterte mich mein bester Freund. "Aber hast du einen Blick auf diesen Bogenschützen werfen können, der uns entlarvt hat?"
Ich schüttelte mit dem Kopf. "Du?"
"Nein. Aber er muss begnadet sein. So wie er geschossen hat."
Ich nickte.
In diesem Moment kamen die drei Piraten angerannt, die wir soeben vor dem Galgen gerettet hatten. Gilmar an ihrer Spitze. "Kapitän", meinte der Pirat mit dem narbigen Gesicht ehrfürchtig, "wir danken dir, dass du uns gerettet hast."
"Kein Problem, Männer! Ihr wisst doch: Kein Mann wird zurückgelassen", meinte ich strahlend.
"Wir wollen uns dafür bedanken und haben dir deshalb etwas mitgebracht."
Ich war überrascht. "Und was?"
"Es ist unter Deck", erklärte mir einer der anderen zwei Piraten.
"Gut. Ascan, kannst du dich vielleicht darum kümmern? Ich habe noch etwas zu erledigen." Als Ascan zustimmend nickte, ging ich zum Steuerruder. Irgendwer musste ja den Kurs nach Helgoland einschlagen.
Ich legte die Hände auf das abgenutzte Holz des Steuerruders und sah Ascan und Gilmar hinterher, wie sie nach unten gingen. Ich war ehrlich gespannt, was mein bester Freund mir anschließend erzählen würde. Ich war gespannt, was mir meine drei Männer als Dank mitgebracht hatten. Denn ich hatte absolut keine Idee, was es sein könnte.
* * *
Ich hörte Schritte, die mich aufschrecken ließen. Irgendjemand kam zu mir herüber. Es waren schwere Schritte von zwei Männern.
Als ich einen Blick auf meinen kommenden Besuch erhaschen konnte, stockte mir der Atem.
Die meergrünen Augen gehörten zu Ascan und wo Ascan war, war auch Nicolas nicht weit. Ich bekam Angst, wenn sie mich sahen und herausfanden, wessen Tochter ich von Anfang an gewesen war... Es würde für mich auf jeden Fall kein gutes Ende nehmen.
"Es wird dir gefallen", hörte ich Gilmar erklären, "sie ist ein wahrer Augenschmaus und ein guter taktischer Zug noch dazu." Stolz sprach aus der Stimme des narbigen Piraten.
"Sie?" Ascan war überrascht.
"Ja, sie. Utrechts Tochter. Einer der Männer hat sie mitgenommen, weil wir damit einen Vorteil gegenüber ihrem Bruder, diesem Frederick, haben." Er sagte den Namen meines Bruders abwertend, spuckte ihn beinahe aus und ich hätte ihm dafür gerne eine Ohrfeige verpasst.
"Das ist schlau von euch gewesen, Gilmar", lobte Ascan, kaum hörbare Skepsis in seinen Worten.
"Ja, sie hat sich zwar anfangs gewehrt. Aber weil sie so geheult hat, hatte sie keine Chance."
"Ich bin gespannt auf sie, mein Freund", anerkennend klopfte Ascan dem Freibeuter auf die Schulter.
Wenig später standen sie vor mir. Ich hatte den Kopf gesenkt und blickte zu Boden.
"Das ist die Kleine", präsentierte Gilmar voller Stolz.
Kleine? Hatte er mich gerade wirklich Kleine genannt? So durfte mich niemand nennen. Niemand.
Zornig sah ich auf, blickte ihn direkt an. "Ich habe einen Namen, Gilmar." Erschrocken wich der Pirat zurück, weil ich ihn angiftete. "Und keiner nennt mich Kleine, verstanden?" Er nickte verängstigt und wich noch einen weiteren Schritt nach hinten aus.
Ascan riss erschrocken die Augen auf. "Das... d-das k-ka-kann nicht s-sein", stammelte er völlig perplex. "Klara?" Er konnte es nicht glauben.
Immer noch sauer richtete ich mich auf und strich meinen Rock glatt. "Ja", erwiderte ich aufmüpfig, "ich bin es wahrhaftig." Mut brachte mein Blut in Wallungen und befreite mich aus meiner Starre.
"Aber, das kann nicht–" Noch immer war der Pirat mit den meergrünen Augen mit der Situation überfordert.
"Doch, das siehst du doch", sagte ich zickig. "Und ja, ich bin Simon van Utrechts einzige Tochter. Ich bin Klara Amalia van Utrecht."
"Ascan?", kam es fragen aus dem vorderen Teil des Schiffes. Ascan war unfähig auch nur irgendetwas zu erwidern. Deshalb nahm ich ihm diese Aufgabe ab. Ich wusste nicht, was in diesem Moment in mich gefahren war.
"Hier", schrie ich, so laut ich konnte. Jetzt würde es ein für alle mal auffliegen. Und wenn ich ehrlich war, war es auch endlich an der Zeit dafür. Doch als Nicolas um die Ecke bog und ich ihm in die göttlichen, himmelblauen Augen sah, wankte mein Entschluss reinen Tisch zu machen. Sollte ich es wirklich tun? Doch Nicolas nahm mir die Entscheidung ab.
"Klara, was machst du denn hier?" Er schien erstaunt, freute sich aber dennoch mich zu sehen.
Das würde sich bald ändern, wusste ich.
"Ihr kennt sie?", wollte Gilmar, der sich endlich wieder gefasst hatte, entgeistert wissen.
Nicolas nickte und wies den Piraten zurück: "Und du solltest das auch. Schließlich war sie mehrere Tage an Bord und ich verdanke ihr mein Leben. Aber was machst du denn überhaupt hier, Klara?"
Wütend blickte ich zu Gilmar. "Er hat mich entführt. Ich sollte eure Geisel sein."
Grimmig blickte Nicolas zu dem Pirat mit dem narbigen Gesicht. "Klara ist keine Geisel! Sie ist immer herzlich willkommen bei mir", stellte er unumstößlich fest.
"Aber sie... Wie kannst du, wenn sie..." Gilmar schien mit der Situation nicht zurecht zu kommen.
"Heraus mit der Sprache, Gilmar!", meinte Nico herrisch.
Der Pirat presste die Lippen fest aufeinander und schüttelte mit dem Kopf. Dann suchte er schnell das Weite. Er ahnte scheinbar, was sich hier anbahnte.
Erstaunt blickte Nicolas seinem Mann nach und sah mich und Ascan danach fragend an: "Könnte mir einer bitte erklären, was hier läuft?"
Auch Ascan schüttelte mit dem Kopf und machte sich davon. Hier wollte er nicht dabei sein. Es war ihm zu gefährlich.
So schaute mir der Pirat mit den blonden Haaren und den himmelblauen Augen wartend in die Augen und zog eine Augenbraue nach oben.
Ich seufzte, bevor ich mich meinem Schicksal hingab und Nicolas erklärte: "Deine Männer haben mich entführt, weil sie ein Druckmittel gegen meinen Bruder in der Hand haben wollte. Sie haben gesehen, wie ich um meinen Vater geweint habe..."
"Was? Ich verstehe nicht ganz", sagte Nicolas stutzend.
"Ich bin Simon van Utrechts Tochter und du hast meinen Vater mit einem Pfeil erschossen, nachdem ich deinen dritten Mann aus dem Versteck gelockt hatte. Ich war die Bogenschützin."
"Du warst die Bogenschützin?", fragte er ungläubig. Ich nickte. Nicolas war sprachlos. Damit hatte er beim besten Willen nicht gerechnet. Er wusste nicht, ob ich scherzte oder die Wahrheit sprach. Die Grenzen zwischen Realität und Alptraum schienen für Nico zu verwischen.
* * *
"Ich bin Simon van Utrechts Tochter und du hast meinen Vater mit einem Pfeil erschossen, nachdem ich deinen dritten Mann aus dem Versteck gelockt hatte. Ich war die Bogenschützin", erläuterte Klara.
"Du warst die Bogenschützin?", fragte ich ungläubig, tonlos. Sie nickte. Ich war sprachlos. Damit hatte ich beim besten Willen nicht gerechnet. Was bedeutete das alles? Welche Bögenschützin? Nur eine Person außer meinen Männern und mir hatte mit Pfeil und Bogen geschossen. Ich dachte, es sei ein Mann gewesen, ein Soldat. Aber Klara...?
"Nein, das kann nicht sein. Du kannst nicht seine Tochter sein. Du bist so ganz anders als er. Du hast mich akzeptiert, so wie ich bin, hast mich nicht einfach in irgendeine Schublade gesteckt. Nein, das ist einfach nicht möglich, dass du seine Tochter bist!" Ich konnte es einfach nicht glauben. Es war für mich unbegreiflich, wie dieses Mädchen die Tochter meines größten Feindes sein konnte.
"Aber es ist wahr, Nicolas", beharrte Klara rücksichtslos. "Eigentlich hätte es dir schon lange in den Sinn kommen müssen. Denk nach."
Ich kam mir dumm vor, dass ich es nicht gleich mitbekommen hatte. Denn sie hatte recht, ich hätte es mir längst denken können. Es gab genügend Anzeichen für ihre Herkunft, wenn man im Nachhinein darüber nachdachte. Sie war gebildet gewesen und augenscheinlich aus gutem Hause. Sie konnte mit Pfeil und Bogen umgehen wie niemand sonst. Sie hatte das Schiff von Ütrecht sofort erkannt und Angst gehabt – Angst, von ihrem Vater auf meinem Schiff entdeckt zu werden. Sie hatte mir stets nur ihren Vornamen offenbart, während ich ihr gegenüber vollkommen ehrlich gewesen war und ihr gesagt hatte, dass ich Störtebekers Sohn war. Eigentlich kannte ich dieses Mädchen mit den unzähligen Sommersprossen und den blaugrauen Augen gar nicht. Eigentlich war sie eine Fremde für mich und doch wurde ich von dem Gefühl beherrscht, dass ich ihr bedingungslos vertrauen konnte.
"Nicolas, es tut mir leid. Aber ich sage die Wahrheit. Wenn ich könnte... Nein, ich würde es nicht ändern wollen. Aber es tut mir leid, Nico..." Sie schien das ehrlich zu meinen, flehte mich um Verzeihung an. Aber konnte ich ihr verzeihen? Konnte ich sie einfach wieder in die Arme schließen und vergessen, was geschehen war? Konnte ich sie zurücknehmen, als meine Braut? Nein... Ich konnte es nicht, ich sollte es nicht! Zumindest jetzt konnte ich es nicht. Ich brauchte Zeit. Zeit zum Nachdenken. Zeit zum Vergeben und Vergessen. Zeit, um meinen Männern alles zu erklären.
"Du hast mich die ganze Zeit angelogen", hauchte ich tonlos. Es klang wie eine Frage, aber es war mehr eine Feststellung. Dennoch sprach ich zum aller ersten Mal die Tatsachen deutlich aus.
Ihr Nicken war mir Antwort genug.
Wut brandete in mir auf, schlug hohe Wellen, die über den Rand meiner Selbstbeherrschung hinüberschwappten. "Verschwinde, Klara! Tritt mir nie wieder unter die Augen! Scher’ dich zum Teufel oder sonst wohin, wo ich dir nie mehr begegnen kann! Du hast mich betrogen, obwohl ich dir mein Herz geöffnet habe. Du bist Dreck.“
* * *
"Aber... Nicolas?" Hatte ich mich gerade verhört oder hatte er mich gerade wirklich abgewiesen, mich weggeschickt? Spielten mir meine Ohren vielleicht einen Streich?
"Geh, Klara! Verschwinde", schrie er mich erneut an. "Wenn du mir noch einmal unter die Augen trittst, dann – möge Gott dich bewahren!"
Ich starrte den blonden Piraten mit der kleinen Narbe auf der linken Wange mit offenem Mund an und machte große Kulleraugen. Vielleicht würde es ihn ja doch noch umstimmen. Doch da hatte ich falsch gelegen.
Sturköpfig drehte Nico mir den Rücken zu und verschränkte die Arme vor der Brust.
Ich hatte keine Chance mehr. Ich hatte es vermasselt. Ich war hier nicht mehr erwünscht. Es machte mich krank. Wieso? Wieso war ich nur so dumm gewesen? Ich bereute es nicht, endlich ehrlich gewesen zu sein. Jetzt wusste wenigstens jeder, woran er war.
Mit hängenden Schultern und tränennassen Augen trottete ich langsam die Treppe hoch an Deck. Meine Glieder fühlten sich schwer wie Blei an und jeder Schritt kostete mich Unmengen an Energie. Traurigkeit konnte einen erdrücken. Schuldgefühle ebenfalls. Doch zusammen brachten sie einen an den Rand eines Abgrunds, der bodenlos war. Man konnte sich kaum noch rühren, konnte nicht mehr atmen. Es war unerträglich.
Ich schlurfte zur Reling hinüber und legte meine Hände auf das abgegriffene Holz. Meine feinen Hände krallten sich in das glatte Holz und an einer brüchigen Stelle fielen kleine Späne an der Bordwand herunter ins Meer.
Das Meer war dunkeltürkis. Eine traurige Farbe. Eine graue Farbe. Schmutzig. Trist. Sie spiegelt meine Gefühle wider. Ich war unglücklich. Die Welt erschien mir gemein, gefährlich, ebenso grau wie mein Inneres.
Ich war froh, dass ich reinen Tisch gemacht hatte, doch die Konsequenzen walzten mich platt. Ich wollte Nicolas nicht verlieren. Ich liebte ihn und ich wünschte mir, er würde ebenso für mich empfinden. Doch daran zweifelte ich im Augenblick stark.
Es war ein Akt der Verzweiflung, ein Akt der Verwirrung, als ich mich auf meine Hände stütze und ein Bein über die Reling schwang. Ich saß im Reitersitz auf dem dünnen Holzgeländer.
"Was um Gottes Willen machst du da?!" Erschrocken kam einer der Piraten angerannt und packte mich am Arm. Er wollte mich von der Reling ziehen, wollte nicht, dass ich in Gefahr kam. Doch das war mir egal. Egal wie schockiert sein Gesichtsausdruck auch war, ich wehrte mich vehement gegen seinen festen Griff. Ich versuchte ihn wegzustoßen, seine Finger, die sich wie ein Schraubstock um meinen Oberarm gelegt hatten, zu lösen. Doch weder er noch ich schafften es den Kampf für sich zu entscheiden.
Mit letzter Kraft stieß ich ihn weg und er taumelte tatsächlich nach hinten. Das Problem war jedoch, dass ich das Gleichgewicht verlor und hilflos mit den Amen ruderte. Ich neigte mich bedenklich weit nach hinten, schaffte es nicht, mich wieder gerade hinzusetzen.
Ich fiel.
Ich stürzte auf das dunkeltürkise Salzwasser zu und fand keinen Halt, als ich verzweifelt in die Luft griff, suchend. Ich ruderte aussichtslos mit den Armen. Doch mein Sturz war unaufhaltsam. Ich fiel in die Tiefe und dachte daran, dass man doch sagte: In den letzten Sekunden vor dem Tod sieht man sein ganzes Leben in Schnelllauf vorbeiziehen. Ich sah mein Leben nicht noch einmal von vorne, sah nicht meine schönsten und auch nicht meine schrecklichsten Erlebnisse. Stattdessen stürzte ich einfach hinab.
Die Kälte des Salzwassers umfing mich, dämpfte den Aufprall. Doch es war nass. Nass und kalt. Die Westsee war definitiv nichts für mich, stellte ich in diesem Moment fest. Das Wasser schloss mich wie ein Bergwerk ein, nur damit ich kurz darauf mit den Armen schlagen an die Oberfläche zurückkam und panisch nach Luft schnappte.
Verdammt, ich konnte doch gar nicht schwimmen. Was hatte ich da nur wieder für eine Idee gehabt?
Immer wieder tauchte ich unter und rudernd und röchelnd wieder auf. Ich schluckte eine Menge Wasser. Es war eklig, Salzwasser. Ich hatte das Gefühl den halben Ozean auszutrinken und trotzdem durstig zu sein. Als die Wassermassen ein weiteres Mal über mir zusammenschlugen und mich unter Wasser drückten, hörte ich, wie ein Pirat entsetzt schrie: "Mann über Bord!"
Das Wasser schien mich diesmal jedoch nicht wieder an die Oberfläche lassen zu wollen. Es drückte mich nach unten in die Tiefe. Die Wellen wirbelten mich umher. Mir wurde allmählich die Luft knapp. Verdammt, wieso machte nicht jemand endlich etwas? Wieso half mir niemand? War das die Strafe für mein Geheimnis? Sollte ich nun mit meinem Leben dafür bezahlen, dass ich Nico nicht ehrlich gegenüber getreten war? Würde er um mich trauern? Oder würde er froh sein mich los zu sein, mich nicht mehr wieder sehen zu müssen, so wie er es sich gewünscht hatte?
Verzweifelt paddelte ich mit den Händen. Doch ich kam dem hellen Licht an der Wasseroberfläche kein Stück näher.
Ich versuchte es trotzdem weiter.
Langsam verließen mich meine Kräfte, ich hatte keine Luft mehr, verlor allmählich das Bewusstsein. Zur Ruhe besinnend schloss ich die Augen.
Wenigstens ist Ertrinken ein friedlicher Tod, dachte ich mir und sank in das dunkle Schwarz des Nichts.
* * *
"Komm schon... Atme. Atme, Klara. Komm schon. Tu mir das nicht an! Atme! Oh bei Gott, atme doch endlich!", flehte ich. Aber es schien nichts zu helfen. Sie nahm weder einen einzigen Atemzug, noch schlug sie die Augen auf. Mist, egal was zwischen ihr und meinem besten Freund vorgefallen war, Nico würde mich umbringen, wenn sie jetzt starb.
Verzweifelt versuchte ich ihr Herz wieder zum Schlagen und sie zum Atmen zu bekommen. Ununterbrochen drückte ich auf ihren Brustkorb und blies ihr Luft in ihre Lungen. Atme endlich, Mädchen, bettelte ich in Gedanken.
Doch sie atmete nicht, schnappte nicht nach Luft, öffnete ihre Augen nicht, rührte sich nicht.
Um Gottes Willen, sie durfte einfach nicht tot sein, egal, wer sie war. Wieso konnte sie auch nicht schwimmen? Jeder normale Mensch bei der Seefahrt konnte schwimmen.
Aber da lag genau der Punkt, sie gehörte nicht zu den Seeleuten. Sie war das Meer nicht gewöhnt, sie kannte das salzige Wasser nicht, das uns umgab. Doch eins blieb im Unklaren für mich: Wieso war sie auf die Reling geklettert in dem Wissen nicht schwimmen zu können aber jederzeit stürzen zu können? Sollte man nicht vorsichtig auf dem Meer sein, wenn man nicht schwimmen konnte? Ich verstand es einfach nicht.
Verzweifelt drängte ich ihr Herz weiterhin dazu, wieder zu schlagen anzufangen. Fieberhaft blies ich ihr Luft in die Lungen, um sie zum Atmen zu drängen. Doch es half alles nichts. Leblos und kalt lag Klara vor mir auf den Planken des Sturmvogels. Ihre Lippen waren blau angelaufen. Ihr Gesicht wirkte porzellanartig – blass und kalt.
"Verdammt!", fluchte ich lauthals und schlug mit meiner geballten Faust auf die hölzernen Planken des Schiffes. Dabei landete mein Schlag nur knapp neben Klaras Gesicht. Ich ließ den Kopf hängen.
Ein leises Husten weckte mich aus meiner Verzweiflung. Es erschien mir wie ein Wunder, als Klara nach Luft rang und nur wenige Sekunden nach meinem Wutanfall wieder Leben in den Körper des Mädchens fuhr. Es war wahrlich ein Wunder.
Sie atmete, stellte ich erleichtert fest. Als sie hustend und röchelnd die Augen aufschlug. Sie setzte sich auf und ich half ihr dabei, stützte sie am Rücken. Sie hustete und rang nach Luft.
Die Erleichterung in mir war groß. Sie lebte. Klara lebte noch. Sie wandelte nicht unter den Toten, ungreifbar für uns. Sie war hier.
Damit war auch mein Kopf gerettet, den es mich sicher gekostet hätte, wenn sie ertrunken wäre. Nur leider wusste ich noch immer nicht, was zwischen Nicolas und ihr vorgefallen war. Es musste ein Akt der Verzweiflung gewesen sein, als sie über die Reling geklettert war. Denn niemand setzte sein Leben aufs Spiel, einfach so, ohne Grund. Kein Mensch bei Verstand tat so etwas.
* * *
Hustend und röchelnd schlug ich meine Augen auf. Ich setzte mich auf, hustete weiter und rang nach Luft.
"Jag' mir nie wieder so einen Schrecken ein, Klara! Hörst du?", kam es von meiner Seite. Die Stimme war mir durchaus vertraut, doch ich konnte sie nicht sofort einem konkreten Gesicht zuordnen. Dafür war ich viel zu durch den Wind. In meinem Kopf...
* * *
Die Uhr schlug die elfte Stunde am Abend und die alte Frau in ihrem Schaukelstuhl stoppte ihre Erzählung ohne Vorwarnung. Sie hörte einfach auf. "Für heute ist es genug. Ich erzähle ein anderes Mal weiter. Zeit sich zur Ruhe zu betten", äußerte sie, statt ihre Geschichte weiterzuerzählen.
"Och nein", kam es beschwerend von den Kindern.
"Es ist wirklich spät, Kinder, und ich bin müde", meinte die Alte, "morgen erzähle ich weiter."
"Aber, wie geht es Klara denn nun?"
"Werden Nicolas und Klara sich wieder versöhnen?"
"Morgen", vertröstete die Alte.
"Versprochen?" Eines der Kinder war skeptisch.
Die Alte nickte aufrichtig, erhob sich schwerfällig und verließ in gebücktem Gang die Taverne. Alle anderen taten es ihr gleich, machten sich ebenfalls auf den Heimweg. So leerte sie die Taverne Zum Wikinger zusehends, bis der Raum vollends leer war und nur die Wirtsleute zurückblieben.
Hustend und röchelnd schlug ich meine Augen auf. Ich setzte mich auf, hustete weiter und rang nach Luft.
"Jag' mir nie wieder so einen Schrecken ein, Klara! Hörst du?", kam es von meiner rechten Seite. Die Stimme war mir durchaus vertraut, doch ich konnte sie nicht sofort einem konkreten Gesicht zuordnen. Dafür war ich viel zu durch den Wind. In meinem Kopf drehte sich alles. Oben war unten, unten war links, rechts war hinten, links war rechts...
Was war passiert? Wieso brannte meine Kehle wie Feuer? Wieso hatte ich so einen großen Durst, als könnte ich einen ganzen See austrinken, und wieso wurde mir gleichzeitig übel, wenn in meinen Gedanken nur das Wort Wasser auftauchte?
Ich erinnerte mich an nichts. Mein Gedächtnis war von einer dicken, undurchsichtigen Suppe umgeben. Von einer Suppe, die sich nicht wegschieben ließ.
"Was... Was ist denn überhaupt – passiert?", hustete ich mit rauer Kehle.
Etwas fuhr mir den Rücken hinauf und hinunter. Es beruhigte mich ein wenig.
"Du bist von der Reling ins Meer gefallen und dabei beinahe ertrunken", antwortete mir die vertraute Stimme, zu der sich Stück für Stück ein Gesicht zusammensetzte. Wie ein Mosaik war nach und nach – mit jedem Stück, das dazu kam – das gesamte Bild zu erahnen. Etwas braunerer Teint, meergrüne Augen, wirr abstehende Stoppelhaare in einem dunklen Braunton, ein leichter Bartschatten um das spitze Kinn herum. Ascan... Ein Name, den ich schon einmal gehört zu haben glaubte.
"Wie fühlst du dich?", wollte er von mir wissen und riss mich zurück in die Wirklichkeit, "ist dir kalt? Du zitterst ja."
Plötzlich schien sich mein Kopf zu lichten. Ich begriff, was passiert war, dass Ascan mich gerettet hatte und sah wie zum ersten Mal wirklich den Piraten vor mir. Ich konnte ihm einen Namen zuordnen, eine dunkle Stimme und ein Gesicht.
"Warte, ich hole dir eine Decke. Bleib’ am besten sitzen!"
Erst jetzt fiel mir auf, dass mir tatsächlich kalt war, eiskalt, und es war nass. Meine Kleider klebten durchweicht an meiner Haut. Von meinen Haaren perlten runde Wassertropfen. Schützend schlang ich die Arme um meinen Oberkörper und zog die Knie an die Brust. Doch wärmer wurde mir deshalb nicht.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Ascan endlich wieder auftauchte. Er hatte sich eine dicke Wolldecke über den linken Unterarm gehangen und trug in der rechten Hand eine kleine Schüssel, aus der Dampf aufstieg.
Wärme, schrie mein Gehirn. Suppe, riet mein Verstand. Trinken, freute sich meine brennende Kehle. Etwas gegen den Hunger, jubelte mein Magen.
Dankbar nahm ich dem Piraten mit den schwarzen Stoppelhaaren die Suppenschüssel ab und legte meine Finger um das warme Metall. Die Wärme ging von der Schüssel über meine Finger in meinen Bauch und breitete sich im Schneckentempo von dort in meinem gesamten Körper aus.
Vorsichtig nippte ich an der heißen Suppe. Es war nichts Besonderes aber es war dennoch mehr, als ich gehofft hatte. Denn die warme Flüssigkeit tat ihren Zweck und wärmte mich von innen heraus auf.
* * *
Auch wenn die Suppe wieder ein wenig Leben in Klara hauchte, sah sie noch immer aus wie der Tod in seiner menschlichen Gestalt.
Ihre Lippen waren blau. Ihre Haut wirkte blass und durchscheinend. Unter ihren Augen prangten dunkle Ringe und ihre blaugrauen Augen hatten jeglichen Glanz verloren. Sie erschienen stumpf und leblos, wie Glas.
Vorsichtig nippte Klara an der heißen Suppe. Es war nichts Besonderes aber es war dennoch mehr, als sie gehofft zu haben schien. Denn die warme Flüssigkeit tat ihren Zweck und wärmte sie von innen heraus auf.
Als die Schüssel geleert war, sah sie mich an und schenkte mir ein Lächeln. Doch an diesem Lächeln war nichts Einnehmendes, nichts Herzliches. Es war einfach ein stupides Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte. "Kann ich noch eine Schüssel bekommen? Bitte", bat sie mich und hielt mir die leere Metallschüssel entgegen.
Ich nickte, nahm die Schüssel und erhob mich.
"Ich komme gleich zurück", sagte ich deutlich besorgt. Ich hatte den Eindruck, dass Klara noch immer nicht voll zurück ins Leben gekehrt war. Sie war anders.
Die Begegnung mit dem Tod verändert die Menschen nun einmal, warf eine Stimme in meinem Kopf ein.
Ich befasste mich jedoch nicht weiter damit, sondern ging unter Deck in die Küche. Ich schöpfte einen großen Löffel der heißen Suppe aus dem großen Kessel und füllte ihn in die Schüssel.
Meine Gedanken drehten sich weiter um Klara. Noch immer verstand ich nicht, warum sie auf die Reling geklettert war, wenn sie doch nicht schwimmen konnte. Aber mittlerweile schob sich noch eine andere Frage in den Vordergrund meiner Gedanken: Warum war Nicolas noch nicht an Deck gekommen, dabei war der Tumult über den Mann über Bord riesig gewesen? Egal, wie groß der Streit zwischen meinem besten Freund und der Wasserleiche an Deck auch gewesen sein musste, wie tief die Enttäuschung auch saß, Nicolas – er war der Kapitän des Schiffes – musste sich doch für den Aufruhr an Deck interessieren. Und ein Mann, nein besser, eine Frau über Bord hatte ihn zu interessieren, egal was vorgefallen war!
Ich kehrte zu Klara zurück und erneut leerte sie die Suppenschüssel äußerst rasch. "Danke, dass du mich gerettet hast, Ascan", meinte sie zwischen zwei Schlucken Suppe. Ihre Stimme war nicht besonders fest und sicher war sie auch nicht. Klara klang eher so, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen.
Hoffentlich bleibt sie bei Bewusstsein, wünschte ich mir still und leise.
Tatsächlich blieb Klara wach.
* * *
"Klara wäre folglich beinahe ertrunken. Doch Ascan hatte sie gerettet. Und nun?" Die Alte machte eine kurze Pause, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, befeuchtete sie. "Wie sollte es anders kommen? Nicolas entdeckte die Szene und war vollkommen erzürnt über Klaras Dummheit." Die alte Amalia verzog ihr faltiges Gesicht zu einem liebevollen Lächeln. Sie mochte ihre Figuren sehr, sah sie fast schon als reale Personen an.
"Und was geschah dann?", fragte ein Junge, der eine dreckige Augenbinde trug.
Er ist bestimmt blind, schloss Amalia mitleidig. Sie fragte sich, ob der dunkelhaarige Junge wohl jemals den orangeroten Sonnenuntergang zu Gesicht bekommen hatte. Sie selbst liebte die Sonnenuntergänge auf der Insel Rügen. Wenn sie nicht gerade hier in diesem Gasthaus saß und ihre Geschichten zu erzählen wusste, spazierte sie am Strand den Sonnenuntergang betrachtend.
"Nun..." Amalia räusperte sich. "Nicolas war zu aller erst besorgt um Klara, schließlich war ich über die Reling gestürzt und beinahe ertrunken. Doch als er von einem seiner Männer erzählt bekam, dass ich leichtsinnig auf die Reling geklettert war, wurde er von Sekunde zu Sekunde, von Wort zu Wort wütender. Sein Kopf nahm eine dunkelrote Farbe an, wie ein reifer Apfel im Sommer. Er war wirklich böse und ließ den Sturmvogel auf Helgoland zusteuern. Warum steuerte er zu dieser kleinen Insel mitten im blauen Nichts? Wieso steuerte er nicht stattdessen auf das Festland zu? Ich konnte es mir nicht erklären. Wollte er mich dort einfach aussetzen und mich mir selbst und den wilden Tieren überlassen? Inständig betete ich dafür, dass es nicht so war. Aber allmählich bekam ich ein ziemlich mulmiges Gefühl."
Der Junge mit der Augenbinde warf ein: "Wieso hat Klara nicht einfach nachgefragt?"
"Weil... Weil..." Die Alte in ihrem Schaukelstuhl stotterte. "Ich glaube, auf diese Idee ist sie gar nicht gekommen. Sie war eingeschüchtert, denn Nico hatte mich vor seiner versammelten Mannschaft angefahren. Er hatte lauthals mit mir geschimpft. Es war mir unangenehm gewesen, dass alle mitbekommen hatten, wie Nicolas mich ausgeschimpft hatte. Schließlich war ich eine erwachsene Frau und kein kleines Kind mehr. Demütigend war es mir erschienen–"
"Und was wollte Nicolas nun auf Helgoland?", unterbrach ein Mädchen mit roten Haaren sie neugierig.
Amalia zuckte ratlos mit den Achseln und meinte: "Ich weiß es nicht. Nicolas übergab mich einem hansischen Schiff, das wir vor Helgoland trafen. Das Schiff war auf dem Weg nach Hamburg und sollte mich bis dorthin mitnehmen. Von Hamburg aus hatte ich mich allein zu kümmern..."
* * *
Meine Kleider klebten an mir, fühlten sich an wie eine zweite Haut. Sie waren durch den Regen völlig durchnässt. Meine Haare hingen mir strähnig, tropfend ins Gesicht.
Mir war kalt. Es regnete in Strömen und der Mond hatte sich hinter dicken, grauen Wolken versteckt. Ein eisiger Wind wanderte durch die Nacht und ließ mich frösteln. Deshalb schlang ich die Decke enger um mich.
Ich hatte die kratzige Wolldecke aus einem Gasthaus am Rande der Stadt. Denn ich war bereits seit Stunden durch den peitschenden Regen geritten, als ich in der Ferne die ersten Lichter von Stralsund erblickte. Der Regen hatte mich auf meinem Weg in die Heimat verfolgt, war mir hinterhergelaufen.
Am äußeren Stadtrand befand sich ein altes, heruntergekommenes Gasthaus, in dem ich mich kurz ausruhen wollte. Ich hatte vor mich ein wenig aufzuwärmen. Nicht lange hatte ich bleiben wollen. Doch als die korpulente Wirtin sah, wie durchnässt ich war und wie ich fror, gab sie mir die kratzige Decke und überredete mich zu einem heißen Tee. Ich hatte ablehnen wollen, aber die Wirtin hatte keinen Widerspruch zugelassen. Selbst als ich ihr erklärte, dass ich es nicht mehr weit bis nach Hause hatte. Sie hatte mich erst weiterreiten lassen, als ich den Tee getrunken hatte. Ich hatte ihn hinuntergeschüttet, was sie mit einem skeptischen Blick quittierte.
Nun stand ich vor unserer großen Eingangstür. Ich schlotterte am ganzen Körper und eine heftige Erkältung machte sich bemerkbar. Morgen würde ich mit Fieber im Bett liegen. Ich spürte es bereits in meinen Knochen.
Ich griff mit Eisfingern nach dem Türknauf. Abgeschlossen. "Mist", fluchte ich und blickte nach oben. Im Haus brannte kein Licht mehr. Es schliefen bestimmt schon alle. Mein Klopfen würde demnach unbemerkt bleiben. Ich würde im Regen stehen bleiben und mir hier draußen den Tod holen.
Dennoch wagte ich den Versuch. Mutig klopfte ich mit meiner Faust an das Holz der Tür. Danach wartete ich. Ich wartete und lauschte. Nichts. Es waren weder Schritte von drinnen zu hören, noch ging im Haus irgendwo das Licht an. Alles blieb still im Dunklen.
Sollte ich es ein weiteres Mal probieren? Sollte ich noch einmal anklopfen? Ja.
Diesmal war mein Klopfen kräftiger, lauter, drängender. Erneut wartete ich. Erneut lauschte ich. Erneut: Nichts. Sie schliefen also tatsächlich und hörten mich nicht. Denn zu dieser späten Stunde war kaum noch ein Mensch unterwegs. Außerdem kannte ich Freya und meinen Bruder so gut, dass ich wusste, welch festen Schlaf die beiden hatten.
Aber was sollte ich jetzt tun? Hier draußen konnte ich schlecht bleiben. Der Tod würde mich sonst mit sich nehmen.
Überlegend sah ich mich auf dem Hof um. Mein Blick blieb an den Stallungen hängen. Seufzend ging ich darauf zu.
Besser als nichts, sprach ich mir in Gedanken zu.
Ich war gerade dabei die Tür zur Seite zu schieben, da hörte ich jemanden fragen: "Wo kann Klara nur sein?"
Es war Frederick. Ich erkannte seine Stimme. Wie ein Lichtblick in tiefster Dunkelheit erschien mir seine Frage, auch wenn darin Angst mitschwang.
Ich lief Frederick entgegen. Er erkannte mich sofort und kam ebenfalls eilig auf mich zu. "Klara", rief er aufrichtig glücklich, "wo hast du nur gesteckt?"
Überschwänglich umarmte ich ihn und ließ mich von meinem Bruder trösten, während meine Tränen über meine Wangen rannen. Alle Anspannung fiel mit einem Schlag von mir ab. Ich war Zuhause. Ich war in Sicherheit. Zwar war ich niemals wirklich in Gefahr gewesen, dennoch konnte nichts die Geborgenheit der Heimat ersetzen.
Auch Frederick schien ein Stein vom Herzen zu fallen, als er mich in seine Arme schloss. "Ich habe mir Sorgen gemacht, Schwester. Tu mir das nie wieder an. Ich dachte, dir wäre sonst etwas Schlimmes zugestoßen. Ach, wo warst du nur?" Sanft streichelte er mir über den Rücken.
Eine zierliche Hand fasste Frederick an der Schulter und das erste Mal bemerkte ich, dass Freya hinter ihrem Ehemann, meinem Bruder, stand. Ihre braunen Augen sahen mich mitleidig aber überaus erleichtert an. Auch sie wollte mich in die Arme schließen.
Sanft schob Frederick mich von sich und trat zur Seite.
Meine beste Freundin umarmte mich und küsste mich auf die Wange. "Ich habe mir wahnsinnige Sorgen um dich gemacht, Klara." Ihre Stimme war brüchig. Sie war besorgt gewesen.
"Mir geht es gut, Freya", schniefte ich schlotternd. Noch immer war mir eiskalt und ich sehnte mich trotz der Wiedersehensfreude nach warmen und trockenen Kleidern.
"Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist. Ich hätte es nicht ausgehalten zu wissen, dass du einfach nicht mehr da bist. Du bist doch meine beste Freundin, Klara", murmelte Freya und drückte mich noch ein wenig fester an sich.
"Jetzt lass sie aber los, Schatz. Sie braucht dringend trockene Kleidung und sollte zudem ein heißes Bad nehmen. Sieh sie dir nur an: Meine Schwester ist halb erfroren."
Ich folgte meinem Bruder von Freya gestützt ins Haus und ging die ausladende Treppe hinauf zum Badezimmer.
Zufrieden seufzend schloss ich die Tür hinter mir und lehnte mich mit dem Rücken dagegen.
Endlich Zuhause. Ich war erleichtert. "Am schönsten ist es doch daheim", gab ich leise flüsternd dem altbekannten Sprichwort recht.
Ich hätte nie im Leben damit gerechnet, mich zu freuen daheim zu sein, nach dem Tod meines Vaters. Denn hier war er allgegenwärtig und es kam mir so vor, als wäre er nur auf einer seiner zahlreichen Piratenjagden.
Auch jetzt stiegen mir wieder die Tränen in die Augen, wenn ich daran dachte, dass ich meinen Vater nicht hatte retten können. Meine kleine Klara Hood, hatte er mich genannt und das mit einem Stolz in seiner Stimme, die ich niemals erwartet hatte. Aber nun war mein Vater tot.
Leise schluchzte ich und wischte mir mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht.
"Klara?", kam es zaghaft von der anderen Seite der Tür. "Kommst du zurecht oder brauchst du Hilfe?"
"Mir geht es gut, Freya", schniefte ich.
"Wenn du etwas brauchst, sag' einfach Bescheid." Sie stockte kurz. "Klara, ich bin für dich da. Wenn du mit jemandem reden möchtest..."
"Keine Sorge. Ich sage schon Bescheid, wenn ich etwas brauche." Ich wollte, dass sie ging und mich allein ließ. Denn die Einsamkeit fuhr ihre Krallen aus, griff nach mir.
Mein Vater war aus dem Leben gewichen, Nicolas hatte mich verstoßen, mein Bruder und meine beste Freundin lebten ihr Leben. Und dann war da noch ich. Ich, einsam und allein. Eine unter vielen. Für niemanden von Bedeutung.
Ich rutschte mit dem Rücken an der Tür herunter und schlang die Arme um die Knie. Ich wollte nicht, dass mich jemand so erblickte. Ich war einfach nur jämmerlich.
"Klara?"
War sie denn noch nicht gegangen? Ich hatte sie doch weggeschickt, weil ich meine Ruhe haben wollte.
"Klara? Ist wirklich alles in Ordnung bei dir?"
"Ja", erwiderte ich mit schwacher Stimme, "du kannst ruhig hinuntergehen. Ich komme schon zurecht. Mir geht es ausgezeichnet." Das letzte war eine Lüge und das wusste nicht nur ich. Doch Freya bemerkte, wie sehr ich mich nach Ruhe und Frieden sehnte, dass es keinen Sinn machte, jetzt auf mich einreden zu wollen.
Sie ließ von mir ab und ich hörte gerade noch, wie sie die Treppe hinunterging, bevor mich mein Schmerz wie eine Walze überrollte.
* * *
Ich hörte es ganz deutlich, Klara weinte. Ihr Schluchzen drang selbst durch das dicke Holz der Tür.
Ich machte mir ehrliche Sorgen um meine beste Freundin. Aber anstatt sich helfen zu lassen, wies sie mich ab.
Es war eine Lüge gewesen, als sie gesagt hatte, es ginge ihr ausgezeichnet. Es ging ihr ganz und gar nicht gut. Ich wollte ihr so gerne helfen. Aber sie ließ es nicht zu.
Schließlich entschied ich mich zu gehen, ihr ihren Freiraum zu geben, den sie sich wünschte. Es versetzte mir jedoch einen Stich ins Herz zu wissen, dass sie meine Hilfe nicht wollte.
Mitten auf der Treppe nahmen meine Ohren jedoch wahr, wie Klara mit dem Rücken an der Tür herabsank – es war ein leichtes Schaben – und völlig zusammenbrach. Sie war völlig aufgelöst. Aber ich wusste, dass sie jetzt allein sein wollte. Also ging ich weiter, auch wenn es mir undenkbar schwer fiel. Ich nahm mir vor Frederick Bescheid zu sagen. Vielleicht erreichte er ja etwas bei seiner Schwester.
"Und wie geht es Klara?"
Ich schüttelte mit dem Kopf. "Sie weint."
Fredericks Augen strahlten Verzweiflung aus. "Hast du mit ihr gesprochen? Hat sie dir gesagt, was passiert ist?"
Erneut schüttelte ich mit dem Kopf. "Nein... Sie will mich nicht zu sich ins Badezimmer lassen..."
"Dummer Sturkopf", wetterte mein Ehemann, "manche Dinge schafft man nicht ohne Hilfe. Wann lernt sie das endlich? Hilfe anzunehmen ist kein Zeichen von Schwäche..."
Ich zuckte mit den Achseln. Ich wusste es nicht.
Klara war schon von klein auf emanzipiert gewesen und hatte sich ihre Freiheit und Selbstständigkeit niemals nehmen lassen. Dafür war sie zu stolz. Jeden Kummer, jeden Schmerz, jede Qual – alles hatte sie mit sich selbst ausgetragen. Gut, sie hatte früh lernen müssen allein zurecht zu kommen. Als Frederick gerade einmal vierzehn Jahre gewesen war, segelte er schon mit seinem Vater auf dem Meer umher. Klara bekam unzählige Lehrer für alles mögliche – nützliche Dinge und unsinnige Dinge. Sie blieb stets daheim zurück. Ohne Mutter musste das schwer gewesen sein und ich mochte es mir nicht einmal vorstellen.
"Ich frage mich, wo sie war", meinte ich gedankenverloren.
Die Frage, wo Klara gewesen war, ging mir einfach nicht aus dem Sinn, stattdessen geisterte sie ununterbrochen in meinem Kopf herum.
"Wer?"
"Na, deine Schwester."
"Ach so. Keine Ahnung."
"Ich meine ja nur. Sie war wie vom Erdboden verschluckt. Ich habe sie gerade noch gesehen, wie sie um euren Vater trauert und im nächsten Moment ist sie plötzlich verschwunden gewesen. Was da wohl passiert ist?"
"Ich weiß es nicht, mein Schatz." Frederick zog mich an sich und gab mir einen liebevollen Kuss. "Aber ich denke, Klara wird uns morgen bestimmt alles erklären. Sie braucht jetzt einfach nur ein wenig Zeit für sich. Das ist nichts Ungewöhnliches." In Fredericks Stimme lag trotz der festen Wort Unsicherheit.
"Aber dass sie sich nicht meldet schon", beharrte ich. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte.
Doch vorerst ließ ich mich von meinem Ehemann verwöhnen und genoss seine Liebe, seine Nähe, seine Wärme.
Ich würde schon noch dahinter kommen, was Klara erlebt hatte und warum es sie so verstört hatte.
Die Wahrheit suchte sich immer ihren Weg.
"Frederick! Frederick!" Eilig rannte ich zu meinem Ehemann.
"Was ist denn los, Schatz?" Der junge Mann mit der Zahnlücke empfing mich bereits am Treppenende.
"Klara. Sie hat hohes Fieber und ständig ist ihr kalt und dann plötzlich wieder warm und wieder kalt... Frederick, sie braucht einen Arzt. Schnell!" Ich war völlig außer mir. Meiner besten Freundin ging es schlecht und ich machte mir große Sorgen um sie.
"Ganz ruhig, Schatz! Ich schicke sofort jemanden los, damit der Doktor kommt. Alles wird gut." Ich nickte und versuchte meinen Puls ein wenig zu beruhigen, während mein Ehemann mir einen liebevollen Kuss auf die Stirn gab. "Es wird alles gut", flüsterte er mit tröstlicher Stimme. Aber ich hörte einen Unterton heraus, der mich erkennen ließ, auch Frederick machte sich große Sorgen um seine kleine Schwester.
Anschließend wendete ich mich ab und schritt die Treppe hoch, um mich wieder um Klara zu kümmern. Ich fühlte mich nicht wohl damit, sie allein zu lassen, und wenn es nur für wenige Minuten war.
Ich betrat das Zimmer.
Klara wühlte sich im Bett von einer Seite auf die andere. Ihr Bettzeug war völlig verdreht.
"Schhhh", machte ich und versuchte Klara zu beruhigen. Sanft drückte ich sie in die Laken, deckte sie wieder ordentlich zu und flüsterte auf sie ein: "Es wird alles gut, Klara. Der Doktor ist unterwegs. Bald geht es dir wieder besser. Das verspreche ich dir. Und ich lasse dich nicht allein. Ich passe auf dich auf. Klara, alles wird gut."
Allmählich entkrampfte sich das blonde Mädchen und ihr Atem ging ruhiger, gleichmäßiger. Doch sie schwitzte. Ich hatte das Bettlaken schon einmal wechseln müssen, weil es so durchnässt gewesen war.
Ich griff in die Wasserschüssel auf dem Nachttisch und nahm den kalten Lappen heraus. Leicht wand ich ihn aus, bevor ich ihn Klara auf die Stirn legte und ihr die blonden Haare aus dem Gesicht strich.
Ich hatte die ganze Nacht bei Klara verweilt, nachdem Frederick und ich sie zusammengebrochen auf dem Boden im Badezimmer gefunden hatten. Sie hatte geglüht. Wie lange sie auch durch den Regen geritten sein mochte, es hatte ihr nicht gut getan. Was auch immer sie erlebt hatte und sie so verstört hatte, dass sie nicht einmal wegen des Regens irgendwo einkehren wollte, ich war wütend darauf. Auf ihn. Denn mit einem Mal war mir sonnenklar, was geschehen sein musste. Es konnte nur so sein. Denn es gab nur wenige Dinge, die Klara so sehr verletzen konnten. Nur ein paar wenige Menschen konnten sie so schwer treffen. Ich, Frederick, ihr verstorbener Vater. Und... Er.
Wie blind war ich eigentlich gewesen? Ich war Klaras beste Freundin und hatte es völlig übersehen. Sie hatte Nicolas nicht vergessen, nicht über diese lange Zeit, und er hatte sie verletzt. Nur ein Mann, den man aufrichtig liebte, konnte einen so verletzen, dass man seine eigene Gesundheit, sein eigenes Leben, aufs Spiel setzte.
Er war Schuld. Nicolas. Störtebekers Sohn.
Vor ungefähr einem Jahr hatte Frederick mir einen Steckbrief von Störtebekers Sohn gezeigt. Ich hatte sein Gesicht sofort erkannt und mir war klar geworden, mit wem Klara und ich uns einst begnügt hatten. Aber ich hatte nicht geahnt, dass ihre Liebe gegenüber diesem Bastard so groß gewesen war, nein, immer noch war. Damals war mir ein eisiger Schauer über den Rücken gelaufen. Ascan und Nicolas, gesuchte Verbrecher, rücksichtslose Piraten. Doch ich hatte es Frederick nie gesagt. Mein liebenswürdiger Ehemann wusste nichts von meiner kleinen Schwärmerei für Störtebekers ersten Mann und auch nicht von Klaras Liebschaft zu Nicolas. Nun fragte ich mich, warum ich es für mich behalten hatte. Ach ja, aus Scham.
Wut kroch in mir hoch. Nicolas war Schuld an Klaras derzeitigem Zustand und dieser war mehr als nur kritisch. Dafür würde er büßen. Er hatte meine beste Freundin, meine Schwägerin, verletzt. Ich wusste es mit einer solchen Sicherheit, dass es mir beinahe unheimlich vorkam.
"Nico", stöhnte Klara im Fieberwahn.
Es war wie eine Bestätigung meiner Überlegungen. Ich hatte recht. Nicolas war Schuld.
Erbittert biss ich die Zähne zusammen. Rache. Ein Wort. Ein Versprechen. Eine Drohung, die in meinem Kopf aufblitzte.
"Das wird er bereuen, Klara", flüsterte ich, "niemand verletzt meine beste Freundin und kommt ungeschoren damit davon." Es war ein Schwur an das blonde Mädchen, das fiebrig in ihrem Bett lag. Es war eine Drohung an den elenden Seeräuber, der sie verletzt hatte. Es war–
"Freya?", riss mich die tiefe Stimme von Fredrick aus meinen Gedanken.
Ruckartig drehte ich mich zu ihm um.
Er stand in der Tür und hinter ihm entdeckte ich einen älteren Mann mit grauem Spitzbart und einer ledernen Tasche in der Hand. Der Arzt. Na endlich. Erleichterung machte sich in mir breit.
Höflich erhob ich mich, während Frederick mit dem Doktor eintrat. "Vielen Dank, dass sie so schnell kommen konnten." Ich streckte ihm meine Hand entgegen.
Er drückte sie kurz und nickte. "Gerne. Dann schau ich mir die junge Dame mal an." Er trat an Klaras Bett, nahm den Lappen von ihrer Stirn und warf ihn in die Wasserschüssel. Dabei schwappte ein wenig Wasser über den Rand.
Ich ärgerte mich darüber, denn ich würde das aufwischen müssen. Denn die Mägde ließ ich momentan nicht ins Zimmer.
Geschäftig hantierte der Doktor nun herum: Er legte Klara die Hand auf die Stirn, fühlte ihre Temperatur. Er drückte ihr zwei Finger auf das Handgelenk, kontrollierte ihren Puls. Er untersuchte ihren Bauch, drückte scheinbar unsinnig auf dem Bauch meiner besten Freundin herum. Er lauschte auf ihren Atem.
Schließlich zog er die Stirn in Falten, beugte sich zu seiner Tasche, die er auf den Boden gestellt hatte, und wühlte darin. Mit einer kleinen, dunklen Flasche tauchte er wieder auf.
Der Arzt gab auf einen großen Löffel, den er ebenfalls aus seiner Tasche herausholte, die bräunliche, dicke Flüssigkeit aus der kleinen Flasche und steckte ihn Klara kurzerhand in den Mund.
Sie schluckte, hustete kurz und entspannte sich dann sichtbar.
"Das ist ein Extrakt aus Kamille, Lindenblüten, Eisenkraut, Anis und Himbeeren. Es schmeckt nicht besonders gut, aber es tut seinen Zweck. Geben Sie ihr jeweils einen Löffel früh und abends." Ich nickte. "Und behalten Sie es bei, ihr kalte Wickel zu machen. Dann sollte es ihr bald besser gehen." Wieder nickte ich und er hielt mir die kleine Flasche entgegen. Ich nahm sie ihm ab, drückte sie an meine Brust, so als müsste ich sie vor allem und jedem beschützen.
"Vielen Dank, Herr Doktor", meinte Frederick mit rauer Stimme, "ich bringe Sie noch hinaus." Dankend willigte der Arzt ein, bevor er meinem Ehemann hinausfolgte.
Langsam ging ich auf Klara zu, setzte mich auf die Bettkante. Ich hatte die ganze Zeit während der Untersuchung neben der Tür gestanden, still, schweigend. Nun fand ich meine Sprache wieder.
Sie tat mir leid. Denn was er ihr auch immer angetan hatte, sie hatte es nicht verdient. Sie war freundlich, hilfsbereit, nett.
"Bitte, werd schnell wieder gesund, Klara", bat ich sie leise. Ich holte tief Luft. "Und bitte, Klara, hilf mir, dir zu helfen. Denn was passiert ist, hast du definitiv nicht verdient", flüsterte ich ihr so leise zu, dass nur sie es hören konnte, trotz dass ich wusste, dass mich niemand hören würde. Denn ich war mit dem sommersprossigen Mädchen allein im Zimmer. "Niemand verletzt meine beste Freundin und kommt ungeschoren davon", drohte ich ebenso tonlos und was ich sagte, das meinte ich auch so.
* * *
Klara war noch immer ans Bett gefesselt. Ihr Zustand hatte sich zwar deutlich verbessert, dennoch war sie noch nicht wieder ganz auf dem Damm.
Freya und ich hatten eine Überraschung für meine kleine Schwester geplant. Beinahe alle hatten uns dabei geholfen: Die Köchin war so lieb gewesen und hatte einen kleinen Kuchen gebacken, auf den wir eine Kerze gesteckt hatten. Einer der Stallknechte hatte von der Sommerwiese hinter dem Haus Blumen gepflückt. Ein bunter, duftender Strauß war entstanden. Freya hatte beim Goldschmied eine Kleinigkeit für mich abgeholt und die Magd hatte diese in ein Stück Seidentuch gewickelt. Mit einer Schleife hatte sie das kleine Päckchen zusammengebunden.
Singend und lachend betraten die halbe Dienerschaft, Freya und ich das Zimmer meiner Schwester an diesem Morgen. Am Morgen ihres neunundzwanzigsten Geburtstages.
Klara strahlte, als sie sich noch immer ein wenig schwächelnd aufsetzte und uns ansah, wie wir uns um ihr Bett aufstellten.
"Dankeschön", krächzte das Mädchen mit den unzähligen Sommersprossen und grinste uns frech an. "Das ist wirklich lieb von euch." Ihre Augen wanderten von einem zum anderen und jedem dankte sie mit einem gutmütigen Blick.
"Alles Gute zum Geburtstag, Klara!"
Freya ging lächelnd auf Klara zu und überreichte ihr den üppigen Blumenstrauß, nachdem sie ihre beste Freundin umarmte und auf die Wange geküsst hatte.
Klara staunte nicht schlecht über das riesige Bukett. Augenblicklich vergrub sie die Nase zwischen den Blüten und schnupperte.
"Mhh", machte sie mit geschlossenen Augen, "die riechen aber gut." Freyas Gesicht erhellte sich noch ein Stückchen mehr, auch wenn sie die Blumen nicht selbst gepflückt hatte. Sie war froh, dass sie Klara gefielen. Denn Klara lächeln zu sehen, war selten geworden. Ihre Gelassenheit und ihr Frohsinn bahnten sich nur noch selten einen Weg nach außen. Stattdessen wirkte sie eher zurückgezogen und abwartend.
Nun trat auch ich zu meiner Schwester ans Bett und nahm sie in die Arme. "Viel Glück für deinen weiteren Lebensweg, Schwesterherz", sagte ich liebevoll. Eine Magd reichte mir den Kuchen mit der Kerze darauf. "Hier, blas sie aus und wünsch dir etwas."
Klara wirkte wie ein kleines Kind, als sie die Augen schloss, tief Luft holte und die Flamme der Kerze auspustete.
"Danke", sagte sie beeindruckt.
Mein Herz schien einen Sprung zu machen, weil sie sich so ehrlich freute.
Ich nickte, stellte den Kuchen auf den kleinen Tisch neben ihrem Bett und nahm nun das Päckchen entgegen, dessen Inhalt Freya abgeholt hatte. "Das ist noch nicht alles. Ich wünsche dir, dass du schnell wieder gesund wirst und du ein erfülltes Leben hast. Möge Gott dich allzeit beschützen und über dich wachen." Damit gab ich Klara ihr Geschenk.
Neugierig fingerte das blonde Mädchen an der Schleife herum, öffnete sie schließlich. Mit den Fingerspitzen faltete sie das Seidentuch auseinander und dann hielt sie ihn in der Hand. Mit großen Augen starrte sie mich an.
Ungläubig fragte sie: "Ist das wirklich für mich, Frederick?"
Ich nickte.
Begriffsstutzig drehte sie ihn in der Hand hin und her, betrachtete ihn von allen erdenklichen Seiten. Sie war sprachlos. "Danke..." Ihre Stimme war tonlos, so beeindruckt war meine Schwester.
"Der gehörte einst Vater. Ich habe ihn ein wenig aufpolieren lassen. Nun gehört er dir."
"Wahnsinn..." Sie konnte es noch immer nicht begreifen. Ihre feinen Hände drehten und wendeten unser Geschenk hin und her. Das Licht brach sich in den Steinen am Griff. In allen erdenklichen Farben streute das Licht im Zimmer. Rot, gelb, grün, blau, violett, orange. Ein bunter Regenbogen. Sie sah sich selbst an, betrachtete ihr Spiegelbild in der Klinge des schneidigen Dolches.
"Er ist wunderschön", staunte Klara sprachlos, "ich danke euch."
Der Dolch war eine edle und dennoch Furcht einflößende Waffe. Seinen Griff hatte ich mit Edelsteinen besetzen und Klaras Namen in das Gold des Griffes eingravieren lassen. Der Schmied hatte die Schneide geschärft und aufpoliert. Der Dolch erstrahlte in seiner alten Pracht.
Klara breitete ihre Arme aus und umarmte mich noch einmal dankbar. Auch Freya schloss sie liebevoll in ihre Arme. "Ich danke euch. Er ist wunderschön", wiederholte sie noch einmal. Zur Dienerschaft gewand meinte sie: "Auch euch danke ich. Es ist lieb von jedem von euch mit mir meinen Geburtstag zu feiern."
Den Großteil des Tages verbrachten Freya und ich bei meiner Schwester, der die Aufmerksamkeit gut zu tun schien.
Ihr Gesicht bekam endlich ein wenig Farbe. Ihre Wangen nahmen einen rosigen Schimmer an. Ihre Augen funkelten. Ihre Lippen wirkten voll und kräftig. Sie sah gesund aus, lebendig. Und – das freute mich am meisten – unbeschwert.
* * *
"Ich bin noch gar nicht wieder richtig auf der Höhe!"
"Red nicht so einen Schmarren, Klara", widersprach mir Freya. "Es geht dir wunderbar. Außerdem wirst du deinen Bruder doch wohl nicht im Stich lassen, oder?"
Ich rollte mit den Augen, mir durchaus bewusst, dass ich diese Diskussion nicht gewinnen konnte. Freya hatte die Meinung des Doktors auf ihrer Seite, der nichts gegen diese Reise einzuwenden hatte.
"Ich meine, Frederick verlässt sich auf dich. Es ist sein Geburtstag und sein Ehrentag. Schließlich bekommt er nur einmal in seinem Leben den Stadtschlüssel von Hamburg überreicht. Da kannst du doch nicht nur an dich denken. Du und ich sind seine Familie und wir müssen ihn an diesem Tag einfach zur Seite stehen."
"Ich denke gar nicht nur an mich."
"Ach ja?" Freya lüftete eine Augenbraue und faltete unbeeindruckt einige Anziehsachen zusammen, um sie in einer der Reisetruhen zu verstauen.
"Nein. Ich denke daran, wie viele hungrige Mäuler man mit dem Essen stopfen könnte, das zu Ehren meines Bruders aufgetischt wird." Störrisch verschränkte ich die Arme vor der Brust.
Ich dachte gar nicht daran nachzugeben. Ich wollte nicht zu dieser Veranstaltung, wo mich alles an meinen Fehltritt, an meinen Irrglauben, erinnern würde. Ich wollte mich viel lieber in meinem Zimmer verkriechen und nie wieder herauskommen.
"Klara!" Freyas Stimme hatte einen scharfen Ton angenommen. Doch als sie fortfuhr, sprach sie sanfter: "Klara, so kenne ich dich gar nicht. Das ist doch alles nur ein Vorwand. Weißt du? Du hast dich verändert. Seit du im strömenden Regen standest und sonst woher kamst, bist du ein völlig anderer Mensch. Was ist da nur passiert?"
Freya wartete auf eine Antwort meinerseits. Ich schwieg jedoch und reckte trotzig das Kinn nach vorne.
Bisher hatte ich niemandem – nicht einmal meiner besten Freundin – erzählt, was da vor einigen Wochen vorgefallen war. Dieses eine Mal musste ich das alleine durchstehen. Schließlich hatte ich mir das Süppchen selbst gekocht. Ich hatte gegenüber Nicolas und seiner Mannschaft über meine wahre Herkunft geschwiegen. Ich hatte ihnen nie meinen vollen Namen verraten. Ich hatte nicht den Mut finden können, offen und ehrlich zu sein. Und ich hatte diesen Piraten einen Platz in meinem Herzen geöffnet.
Nun musste ich mit den Konsequenzen zurecht kommen, musste mit den Folgen – vor allem aber mit der Zurückweisung von Nicolas – leben.
Daran konnte auch Freyas ständiges Nachfragen nichts ändern.
"Klara, lass dir doch helfen!"
Ich schüttelte mit dem Kopf. Ich war an allem Schuld.
"Was hat Nico nur mit dir gemacht? Ich bin deine beste Freundin und selbst mir willst du dich nicht anvertrauen." Freya wurde zusehends lauter, flehender.
"Nichts. Er hat gar nichts gemacht. Er hat gar nichts damit zu tun", antwortete ich ihr.
"Lüg mich nicht an", schrie Freya die Geduld verlierend.
"Ich lüge dich nicht an!"
"Doch, tust du. Denn ich weiß, dass Nicolas für dein merkwürdiges Verhalten verantwortlich ist. Du hast seinen Namen im Fieberwahn gesagt. Du hast alles dahingebabbelt."
Mir blieb die Spucke weg. Damit hatte ich nicht gerechnet.
Bisher hatte ich geglaubt, Freya hätte es sich zusammengereimt, dass Nico seinen Anteil an meinem Zustand hatte. Aber dass ich es ihr selbst verraten hatte...
"Und wenn schon. Ich bin selbst Schuld."
"Klara..."
Ich wartete nicht darauf, dass Freya mir eine Tirade darüber hielt, was für ein niederträchtiges Schwein Nicolas Störtebeker sei, sondern ging einfach aus dem Zimmer. Es gab nur einen einzigen Ort, an dem ich mich jetzt beruhigen konnte.
Ich ging zum Stall, sattelte und zäumte meine schwarze Stute und galoppierte vom Hof in Richtung Stadt.
Stralsund lag ruhig am glitzernden Meer. Der Tag neigte sich dem Ende und die Menschen verriegelten ihre Läden. Mit der Nacht begann die Zeit der Landstreicher, Diebe und Verbrecher.
Ich ritt durch die Stadt und sattelte schließlich vor einer schäbigen Holztür ab.
Meine Stute band ich an einen Holzpfahl fest und rieb sie noch ein wenig trocken. Ich hatte sie ganz schön getrieben, sie hatte geschwitzt und ich wollte nicht, dass sie krank wurde. Ich nutzte das Stroh, das um den Pfahl war und lobte mein Pferd anschließend.
Dann betrat ich die tröstliche Atmosphäre der Taverne Störtebekers Kopf. Hier hatte alles angefangen und ich wünschte, ich könnte zurück zu diesem Augenblick und alles ganz anders machen.
* * *
"Also, an diesem Tag werden sämtlich hohe Tiere der Hanse anwesend sein. Das ist unsere Chance. Wir machen der Hanse ein für alle Mal einen Strich durch die Rechnung."
"Ich werde euch nun erläutern, wie wir vorgehen", nahm Ascan das Wort an sich.
Als er mit seinen Ausführungen begann, entschuldigte ich mich mit einem Nicken und verzog mich in meine Kajüte.
Seit jenem Vorfall mit Klara war etwas in mir zerbrochen und das war deutlich zu erkennen. Natürlich konnte ich nicht vergessen, dass Klara uns die ganze Zeit belogen hatte. Aber ich konnte auch unsere gemeinsamen Momente nicht vergessen, die ich in vollen Zügen genossen hatte und nicht missen wollte. Selbst jetzt glaubte ich noch, dass Klara in diesen intimen Augenblicken einfach sie selbst gewesen war – sie hatte keine Maske getragen und nicht gelogen. In diesen Momenten hatte sie sich nicht verstellt. Das konnte ich mir nicht vorstellen.
Ich blickte durch das Fenster, blickte auf unseren bisherigen Weg zurück. Das Blaugrau des Meeres funkelte an einigen Stellen, wo sich das Sonnenlicht an der Wasseroberfläche brach. Das Bild erinnerte mich an etwas. Es erinnerte mich an ein Augenpaar. Klaras Augen.
Ich schüttelte den Gedanken ab und ging hinaus, um unseren Kurs zu kontrollieren. Es schmerzte zu sehr an Klara zu denken. Doch die Sehnsucht wuchs mit jeder Stunde; ich konnte machen, was ich wollte.
Am Steuerruder stand wie üblich einer meiner Männer. Als er mich kommen sah, trat er beiseite und machte mir Platz.
Ich zog den Kompass aus dem Hemd, den ich an einer Schnur um den Hals trug, nah am Herzen, denn er war unser Fels in der Brandung. Ohne Kompass war man auf See schnell verloren.
Den Kompass ausrichtend griff ich nach dem Steuerruder, um unseren Kurs zu korrigieren. Ich blickte abwechselnd auf die trübe See vor dem Bug des Sturmvogels, die Segel – ich kontrollierte, aus welcher Richtung der Wind kam – und meine Hände.
Der Himmel war grau. Bald würde es zu regnen beginnen.
Ich hielt das Holz fest in den Händen. Es war schon leicht von einem Holzwurm durchlöchert. Dunkle Punkte zeichneten sich auf dem hellen Holz ab. Es sah aus wie Sommersprossen auf bleicher Haut. So wie bei Klara.
"Zum Teufel noch eins", fluchte ich und griff mir dabei in die Haare. "Kannst du dich nicht endlich verziehen. Ich will, dass du aus meinem Kopf, aus meinem Leben verschwindest", schrie ich gen Himmel.
Ich hielt es einfach nicht mehr aus. Unabhängig davon, was ich tat, Klara schlich sich immer wieder in meine Gedanken. Ständig tauchte ihr Bild vor meinen Augen auf und alles erinnerte mich an sie. Allmählich hatte ich das ernsthafte Gefühl, den Verstand zu verlieren.
"Alles in Ordnung, Nico?", fragte mich eine vertraute Stimme.
Als ich den Blick senkte, schaute ich in meergrüne Augen. Ascan. Die Lagebesprechung schien beendet.
Mein Blick wanderte weiter und ich merkte, wie mich die gesamte Mannschaft mit einem merkwürdigen Ausdruck anstarrte.
"Ja, ja", sagte ich schnell.
"Wirklich?", hakte Ascan nach.
"Ja, natürlich. Was sollte denn nicht in Ordnung sein?" Ich versuchte die Situation zu umschiffen, indem ich meine Verzweiflung herunterspielte.
"Nicolas." Ascan schien sich nicht abwimmeln zu lassen.
"Nein, wirklich. Mir geht es gut."
Ascan trat noch einen Schritt näher, legte mir eine Hand auf die Schulter und flüsterte mir ins Ohr: "Nico, nur weil du der Kapitän dieses Schiffes bist, musst du nicht so tun, als würde dich nie etwas verletzten. Du vermisst sie. Lass deine Gefühle doch einfach zu. Das ist nichts Schlimmes."
Ich nickte stumm. Eigentlich hatte er recht. Doch diese Schwäche wollte ich mir nicht eingestehen.
"Und ihr: Ran an die Arbeit!" Zu mir gewand meinte Ascan noch: "Ich bin für dich da. Und egal, wie du dich entscheidest, ich steh' hinter dir."
Wieder nickte ich stumm. Denn Ascan hatte mir Stoff zum Nachdenken gegeben.
Vielleicht musste ich mir meine Schwäche irgendwann eingestehen. Vielleicht musste ich mich allmählich entscheiden, welches Leben ich führen wollte. Vielleicht musste ich meine Gefühle offen zeigen. Vielleicht brauchte ich jemanden, der mich so nahm, wie ich war. Vielleicht sollte jemand ein offenes Ohr für mich haben und vielleicht gab es eine einfache Lösung für alles. Wenn da nur nicht dieses vielleicht wäre...
"Es ist mir eine große Ehre Euch, Frederick van Utrecht, den Stadtschlüssel unseres geliebten Hamburgs zu überreichen. Ihr habt unserer Stadt, der Hanse und unserem Land großartige Dienste erwiesen, im Kampf gegen die ruchlosen Piraten. Ihr und Euer Vater – möge er in Frieden ruhen – seid Helden. Ihr ward, seid und werdet allzeit willkommen sein in unserer Stadt", verkündete der Bürgermeister hochtrabend und überreichte meinem Bruder einen vergoldeten Schlüssel. Er war nur eine Nachbildung und diente symbolischen Zwecken.
Ich verdrehte die Augen. So ein Tam-tam war völlig übertrieben, fand ich. Es hätte auch gereicht, meinem Bruder im kleinen, familiären Kreis durch die Übergabe des Stadtschlüssels zum Beisitzer im Stadtrat zu erheben. Es musste nicht die gesamte Oberschicht von Hamburg anwesend sein.
"Und nun lasset uns speisen!", fuhr der Bürgermeister fort.
Doch statt sich sogleich auf das angerichtete Essen zu stürzen, erhoben sich die Anwesenden und spendeten Beifall, bevor sie sich zu meinem Bruder drängelten – er strahlte, sodass man seine Zahnlücke sah und seine Wangen waren leicht gerötet – und ihn beglückwünschten.
Bockig saß ich auf meinem Stuhl und dachte gar nicht daran, mich zu bewegen. Ich wollte gar nicht hier sein. Ich wollte nicht in Hamburg sein, nicht in diesem Saal, nicht auf diesem Stuhl, nicht in dieser Gesellschaft.
Ich schnappte mir eine Weintraube und steckte sie mir in den Mund. Ich hatte Hunger und diese Gratulationen würden sich noch eine ganze Weile hinziehen.
Kauend entschied ich mich einfach zu gehen. Also erhob ich mich und durchschritt den Saal.
Es würde keinem auffallen, dass ich verschwunden war. Doch da hatte ich die Rechnung ohne das Mädchen mit den Rehaugen gemacht.
"Wo willst du denn hin?", fragte sie spitz.
"An die frische Luft. Mir ist ein wenig übel." Mist, wieso war sie immer dann zur Stelle, wenn man sie absolut nicht brauchte.
"Ich begleite dich", sagte sie und machte Anstalten vorauszugehen.
"Das ist wirklich nicht nötig, Freya. Ich bin in einer Minute wieder hier."
"Ich komme mit." Ihre Antwort war unumstößlich.
Seufzend gab ich mich geschlagen und folgte ihr nach draußen. Es war ein verregneter Tag und Nebel kroch durch die Straßen und Gassen. Ich atmete durch. Im Saal hatte ich mich eingeengt gefühlt. Das Atmen war mir schwer gefallen.
"Was ist mit dir, Klara?" Freya wirkte besorgt.
"Wie meinst du?"
"Wieso sträubst du dich plötzlich gegen das?" Sie zeigte hinter uns auf das Stadthaus. "Ich meine, früher haben dich solche Feierlichkeiten nicht gestört. Du mochtest sie. Was ist passiert?"
Ich zuckte mit den Achseln.
"Was zur Hölle hat dieser Seeräuber mit dir angestellt?"
Nicht dieses Thema schon wieder. Ich verleierte innerlich die Augen. "Wieso kommst du immer wieder darauf zu sprechen? Er hat nichts damit zu tun", geiferte ich. "Lass ihn doch einfach aus dem Spiel!"
"Das kann ich nicht. Er hat irgendetwas damit zu schaffen und ich will wissen, was!"
"Das hat dich nicht zu interessieren und jetzt Schluss damit!" Ich brüllte.
Immer und immer wieder kam Freya auf Nicolas zu sprechen und allmählich fing es an zu nerven, nein, es zerriss mir beinahe den Geduldsfaden. Ich meine, wer spricht ein Thema hundertmal an, obwohl es dem gegenüber unangenehm ist. Das war unsensibel.
"Ich höre nicht auf, bis du mir alles erzählt hast." Freya blieb stur, schlug jedoch einen nachsichtigeren Ton an. "Manchmal hilft es, darüber zu reden. Es bedrückt dich nämlich. Das kann ein Blinder erkennen. Also red endlich mit mir. Ich bin deine beste Freundin. Bitte, Klara!"
Ich drehte ihr den Rücken zu. Nein, damit musste ich selbst fertig werden.
"Klara, was ist zwischen dir und Nico vorgefallen? Im einen Moment schienst du dich noch nach ihm zu verzehren und im nächsten bringt dich selbst sein Name zum Überkochen. Warum?" Sie klang verzweifelt.
"Ich kann nicht, Freya."
"Warum nicht? Dafür sind Freundinnen doch da. Um sich auszuweinen und zu trösten."
Ich stöhnte. "Weil alles meine Schuld ist."
"Das kann ich mir nicht vorstellen."
"Es ist aber so. Als wir Ascan und Nicolas kennen gelernt haben, da war es eine flüchtige Bekanntschaft. Aber ich habe zugelassen, dass daraus mehr wurde. Es ist mein Fehler. Nico war–"
"Ah", kreischte Freya. Sie zeigte auf eine Gasse auf der anderen Seite des Platzes.
Ich folgte ihrem Blick.
Ich erstarrte, unfähig mich zu rühren oder gar zu sprechen. Auch Freya schien wie gelähmt.
Ich schluckte schwer. Was sollten wir jetzt machen? Ich fasste mir ein Herz und kommandierte: "Lauf nach oben, Freya. Warn die anderen! Sag ihnen–"
Ich kam nicht weiter, denn Freya rannte bereits ins Stadthaus. Ihre Augen hatte sie weit aufgerissen.
So etwas war in der Geschichte Hamburgs noch nie zuvor geschehen. Keine Meute traute sich das. Beinahe. Denn eine Schar Piraten stürmte über den Platz direkt auf mich zu. Eine Mannschaft von Freibeutern, die ich nur zu gut kannte.
* * *
"Piraten!", alarmierte ich die Anwesenden.
Frederick wurde als Erster hellhörig und kam zu mir herüber. "Was ist los, Schatz?"
"Piraten!" Ich deutete nach draußen. "Sie stürmen direkt auf uns zu. Sie sind bewaffnet. Piraten, Frederick!"
Egal, wie aufgewühlt ich war, Frederick blieb ruhig. Er war ein Taktiker und plante jeden Schritt. Meist war das der Grund für seine Erfolge. Er war für jedwede Situation bereit, einen Notfallplan in der Hinterhand.
"Ich brauche ein Schwert! Gebt mir ein Schwert!", schrie er über die Schulter, bevor er mich in den Arm nahm und an sich drückte. "Alles wird gut, mein Schatz. Dir passiert nichts", flüsterte er leise und versuchte mich zu beruhigen. "Bleib einfach hier!"
"Das schaffst du nicht. Das ist Störtebeker und–", versuchte ich Frederick die Situation zu erklären.
"Hab keine Angst", meinte er sanft, "ich kann auf mich aufpassen."
"Nein", ich schüttelte heftig mit dem Kopf, "du verstehst mich nicht. Das sind zu viele. Niemand kann sie aufhalten."
"Mach dir keine Sorgen." Er hauchte mir einen Kuss auf die Stirn und schob mich dann von sich weg.
"Aber Frederick", wollte ich erneut protestieren.
Frederick ließ mich nicht ausreden: "Freya, mein Schatz, ich kann auf mich Acht geben und ich kenne die Gefahr und diese Piraten. Ich bin seit Jahren hinter ihnen her. Also, hab keine Bedenken, die hinterlassen nur hässliche Sorgenfalten in deinem hübschen Gesicht." Er schenkte mir ein süffisantes Lächeln und gab mir noch einmal einen Kuss, bevor er sich abwendete und nach draußen ging. Auf seinem Gesicht bildete sich der Ausdruck von Rache ab - zusammengezogenen Augenbrauen über hasserfüllten Augen.
Ich konnte ihn nicht aufhalten. Er hatte seinen Entschluss gefasst.
* * *
Wie eine Welle bei Sturm auf dem Meer preschten die Piraten nach vorne – unaufhaltsam. Aus den umliegenden Straßen und Gassen strömten zunehmend mehr Freibeuter.
Ich stand noch immer stocksteif da.
Erst als der erste Pirat an mir vorbeistürmen wollte – wahrscheinlich sollten sich seine Kameraden um mich kümmern oder er hatte mich tatsächlich für eine lebensechte Statue gehalten –, erwachte ich aus meiner Starre. Blitzschnell griff ich nach dem Hemdkragen des Piraten und hielt ihn fest.
Damit hatte er nicht gerechnet, weshalb er sich zuerst nicht wehrte. Doch dann grinste er spöttisch und drückte mir die Klinge seines Schwertes gegen den Bauch. "Lass mich los, Mäuschen. Dann passiert dir vielleicht nichts."
Es war offensichtlich, mit welcher Reaktion meinerseits er rechnete.
"Ich lasse dich nicht da hinein", sagte ich mit Nachdruck und blickte ernst. Ich war nicht wie jede andere, ich wusste mich zu wehren und würde es darauf ankommen lassen.
Kurze Überraschung zeichnete sich in den Augen des Piraten ab. Dann drückte er mir sein Schwert ein wenig fester in den Bauch und ich bemerkte, wie sich ein Loch in mein Kleid bohrte. Höhnisch zog der Pirat eine Augenbraue nach oben, noch immer grinsend.
"Vergiss es–", entgegnete ich und schielte zu meinen Schuhen. Um meinen Oberschenkel, kurz über dem Knie, trug ich einen Lederriemen mit einer kleinen Tasche. Darin steckte mein Dolch. Wenn es sein musste, würde ich ihn benutzen.
Das Lächeln auf dem Gesicht des Piraten verschwand. Doch er fing sich schneller als gedacht. "So", drohte er, "dann tut es mir leid um dich–"
"Lass sie in Ruhe, Onno!"
Die tiefe Stimme ließ mich zusammenzucken, meine Nackenhaare stellten sich auf und ich verlor das Hemd des Piraten, der mich gerade noch bedroht hatte und nun eilig das Weite suchte. Er rannte ins Stadthaus.
Oh nein...
"Alles in Ordnung, Klara?"
Ich wollte mich nicht umdrehen. Ich wollte ihn nicht ansehen. Eigentlich hatte ich ihm nie wieder begegnen wollen. Eigentlich hatte ich ihn vergessen wollen. Ich wollte mich nicht umdrehen.
Aber was hatte ich jetzt für eine Wahl? Er stand direkt hinter mir und ich spürte selbst durch meine Kleidung seine Wärme und Nähe.
Ich gestand es mir nur ungern ein, aber mein Herz schlug ein wenig schneller und in meinem Bauch kribbelte es verräterisch. Ich liebte ihn noch immer.
"Klara? Ist alles in Ordnung?"
Ich biss mir auf die Lippe und ermahnte mich zur Contenance, bevor ich mich zu Störtebekers Sohn umdrehte...
Mir stockte der Atem. Nicolas stand so dicht vor mir, dass ich nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um seine Bauchmuskeln zu berühren. Sie zeichneten sich unter seinem Leinenhemd deutlich ab. Sein Duft hüllte mich ein, vernebelte mir den Kopf.
"Gut", meinte Nico, ohne eine Antwort von mir erhalten zu haben.
Er blickte sich um. "Du solltest von hier verschwinden. Ich möchte nicht, dass dir etwas passiert. Die Männer rühren dich nicht an. Das habe ich ihnen eingebläut. Niemand rührt ein Mädchen an." Er schmunzelte. "Bitte, geh jetzt." Nicolas sprach ruhig mit mir und in seiner Stimme lag ehrliche Besorgnis.
Ich starrte in seine Augen. Sie waren noch immer himmelblau, wie ein Fensterb und ich konnte durch sie in seine Seele blicken.
"Klara?"
"Ja?"
"Bitte, du solltest wirklich von hier verschwinden. Das wird kein schöner Anblick."
Ich nickte geistesabwesend. Nicos Augen fesselten mich.
Ich erinnerte mich daran, wie ich ihm das allererste Mal gegenübergestanden und das Bedürfnis verspürt hatte, ihn zu berühren. Ich erinnerte mich an unsere gemeinsame Nacht und an die Sternschnuppen. Ich dachte daran zurück, wie er mich getröstet hatte, als ich mir Vorwürfe wegen des niederländischen Kapitäns gemacht hatte. Ich rief mir unsere Hochzeit zurück in Erinnerung.
Es gab so unzählig viele Momente mit Nicolas, die ich nicht missen wollte. Er war für mich dagewesen. Er hatte mich geliebt.
Er liebt dich immer noch. Eine schwache Stimme aus der hintersten Ecke meines Kopfes flüsterte mir das zu und jagte mir einen warmen Schauer über den Rücken. Wie sehr wünschte ich mir, die Stimme hätte recht. Doch ich wusste es besser. Ich hatte keine schöne Erinnerung an mein letztes Treffen mit Störtebekers Sohn.
"Wieso weinst du?"
Schnell wischte ich mir die Träne weg, die mir die Wange hinunterkullerte.
Wenn Nico in meiner Nähe war, spielte mein Körper verrückt. Er machte, was er wollte.
Doch plötzlich kamen mir immer mehr Tränen und ein Schluchzen entfuhr meiner Kehle.
"Wein doch nicht", sagte der blonde Pirat mit der Narbe auf der Wange und zog mich an sich.
Ich drückte mich an ihn. Bei Nicolas fühlte ich mich sicher und geborgen. Nur er war in der Lage mich zu trösten. Nur er ließ mich all meinen Kummer vergessen.
"Klara!"
* * *
Als ich sie da stehen sah, völlig regungslos wie eine Marmorstatue, wankte mein Entschluss. Ich war mir nicht mehr sicher, ob ich ihr wirklich mein Herz ausschütten sollte. Sie schien ihr Leben auch ohne mich zu überstehen.
Dann stürmte einer meiner Männer an Klara vorbei. Ich hatte den Männern eingetrichtert, keine Frau anzurühren. Ich wollte mich um sie kümmern.
Klara erwachte unvermittelt aus ihrer Starre und packte meinen Mann am Hemdkragen. Damit hatte er nicht gerechnet. Er wehrte sich zuerst nicht. Doch dann grinste Onno spöttisch und drückte ihr die Klinge seines Schwertes gegen den Bauch.
Wut ballte sich in mir zusammen.
Onno war es gewöhnt – so wie die meisten Piraten–, dass sein Gegenüber sofort kleinbei gab. Doch ich kannte das Mädchen mit den Sommersprossen gut genug, um zu wissen, dass sie das nicht tun würde.
Die beiden wechselten ein paar Worte, noch immer hielt Klara Onno am Kragen.
Ich schritt auf die beiden zu.
"Vergiss es!", hörte ich Klara zischen, als ich hinter ihr stand. Sie schielte verstohlen zu ihren Schuhen und ich fragte mich, warum.
Onnos Lächeln verschwand. "So", drohte er, "dann tut es mir leid um dich–"
"Lass sie in Ruhe, Onno!", forderte ich ihn unvermittelt auf.
Klara zuckte zusammen, als sie meine Stimme wahrnahm. Sie verlor das Hemd des Piraten, der sie gerade noch bedroht hatte und nun eilig das Weite suchte. Onno rannte ins Stadthaus.
"Alles in Ordnung, Klara?", fragte ich.
Sie wollte sich nicht umdrehen. Vielleicht hatte sie mit mir abgeschlossen, wollte mich nie wieder sehen. Die Vorstellung versetzte mir einen Stich ins Herz.
"Klara?", versuchte ich es zum wiederholten Mal. "Ist alles in Ordnung?"
Sie gab mir keine Antwort und drehte sich nur widerstrebend um. Klara schnappte nach Luft, starrte mich unverwandt an.
Ich würde ihr mein Herz also nicht ausschütten. Es würde sie nur verwirren und das wollte ich nicht. Doch meine Wunschträume zerplatzen mit einem Puff. Ich hatte mir so sehr gewünscht, dass sie sich freuen würde, mich wieder zu treffen. Doch das tat sie nicht. Ich hatte sogar die dümmliche Idee gehegt, sie würde mir entgegenrennen und in die Arme fallen. Mit einem Puff war diese Vorstellung verschwunden.
"Gut", meinte ich, da ich keine Antwort mehr erwartete. Ihr Gesicht sprach Bände – wenn auch in Rätseln.
Ich blickte mich um. Noch schien mich keiner erkannt zu haben und auf mich losgehen zu wollen. Doch sobald mich jemand bemerken würde, wäre auch Klaras Leben in Gefahr. Das wollte ich nicht. Denn diese Aktion war schon riskant genug, für mich und meine Männer. Deshalb sagte ich: "Du solltest von hier verschwinden."
Ich hatte das Gefühl, Klara erklären zu müssen, warum ich das sagte. "Ich möchte nicht, dass dir etwas passiert. Die Männer rühren dich nicht an. Das habe ich ihnen eingebläut. Niemand rührt ein Mädchen an."
Ich musste schmunzeln. Denn meine Mannschaft hatte gehofft, ein wenig Vergnügen zu haben.
"Bitte, geh jetzt", forderte ich Klara auf, weil sie sich nicht in Bewegung setzte.
Klara starrte mir in die Augen, konnte sich nicht losreißen. Obwohl sie sich hatte nicht umdrehen wollen, schien sie jetzt auch nicht gehen zu wollen.
"Klara?", fragte ich sie.
"Ja?"
"Bitte, du solltest wirklich von hier verschwinden. Das wird kein schöner Anblick." Ich hatte die Befürchtung, dass unsere Aktion in einem Blutbad enden würde. Klara sollte das nicht zu Gesicht bekommen. Sie sollte nicht daran zerbrechen, wenn sie den Anblick nicht ertrug.
Klara nickte geistesabwesend. Sie starrte mich noch immer an.
Ihre Augen wirkten einen Moment wie ein Spiegel. Ich sah, woran sich Klara erinnerte und ich sah eine Sekunde lang eine Erkenntnis aufblitzen.
Ja, ich liebe dich noch. Am liebsten hätte ich ihr das zugeschrien, damit sie es mir glaubte. Doch ich traute mich nicht.
Eine einzelne Träne lief Klara die Wange hinunter, als sie meine Gefühle erkannte. Ich empfand immer noch etwas für sie und es war unerträglich von ihr getrennt zu sein. Das war der Grund gewesen, warum ich eine Entscheidung getroffen hatte. Ich wollte mit Klara zusammen sein, gegen alle Regeln der Gesellschaft. Ich hatte vor gehabt, sie zu fragen, ob sie mit mir davonlaufen würde.
"Wieso weinst du?", fragte ich.
Schnell wischte sich Klara die Träne weg. Doch an deren Stelle traten zahlreiche andere. Ein Schluchzen entfuhr ihrer Kehle.
"Wein doch nicht", versuchte ich Klara zu beruhigen. Denn es schmerzte sie unglücklich zu sehen. Das Verlangen, sie in den Arm zu nehmen, wurde übermächtig. Ich zog sie an mich, hielt sie ganz fest.
Ihr schien das gut zu tun. Denn ihr Schluchzen wurde leise und sie presste sich ebenfalls an mich.
Auch mir tat das gut. Ich hatte sie vermisste, weil ich sie unbändig liebte.
"Klara!" Es war ein Schrei der Empörung gemischt mit Angst. Es war ein autoritärer Schrei, der Klara und mich zusammenzucken ließ.
Es war ein Schrei, der nichts Gutes bedeutete.
Der Anblick ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.
Dieser Bastard, dieser Dreckshund fasste meine Schwester an, gaukelte ihr Sicherheit vor, umarmte sie.
Ich hatte einen Würgereiz, der sich nur schwerlich unterdrücken ließ.
Wusste Klara denn nicht, in wessen Gesellschaft sie sich befand? Sah sie nicht, was um sie herum geschah? War sie so naiv einem Fremden zu vertrauen? Freya hatte Klara doch sicherlich erklärt, wer uns angriff, bevor sie hochgerannt war und uns gewarnt hatte.
"Klara!", brüllte ich.
Es war ein Schrei der Empörung gemischt mit Angst gewesen. Es war ein autoritärer Schrei, der Klara und dieses Schwein zusammenzucken ließ. Es war ein Schrei voller Zorn.
Die Wut brodelte in meinem Körper.
Als sie herauszubrechen drohte, zog ich mein Schwert. Störtebeker würde dafür büßen. Er würde endlich für seine Taten bestraft werden. Für seine Verbrechen an der Hanse, für die Seeräuberei, für die Toten, die den Weg von Störtebeker und seiner Mannschaft säumten, für den Tod an meinem Vater und dafür, dass er Klaras Liebenswürdigkeit ausnutzte.
Ich stürzte auf Nicolas Störtebeker zu, stürmte auf ihn zu. Ich war bereit – bereit zu kämpfen, bereit die Piraten zu zerschlagen. Ich war bereit Störtebekers Sohn zu töten.
Ich umklammerte mein Schwert, holte aus und zielte auf Störtebeker, der mich völlig entsetzt anstarrte, als Metall auf Metall traf.
* * *
Ich hob erst den Kopf, als ich ein Klirren hörte. Zwei Schwerter trafen aufeinander und schrieen unter der Wucht, mit der sie geführt wurden, auf.
Ich starrte zu Nicolas. Doch er hielt mich noch immer fest. Seine Arme lagen um meinen Körper. Er hatte sein Schwert nicht gezogen.
Nico starrte auf eine Szene neben uns. Ich folgte seinem Blick.
Nur einige Meter vor uns kreuzten zwei Männer ihre Schwerter. Verbissenheit zeichnete sich auf ihren Gesichtern ab. Die blaugrauen Augen des einen sprühten vor Wut. Den Mund des anderen umspielte ein Lächeln.
"Verschwinde! Um dich kümmere ich mich später!", zischte Frederick und drängte Ascans Schwert einige Fingerbreiten zurück. Ascan hielt dennoch stand.
"Vergiss es!", erwiderte er. Sein Lächeln wurde ein wenig breiter.
Nun musste mein Bruder einen Schritt zurück machen.
Nicolas und ich beobachteten die Szene sprachlos. Wir wagten kaum zu atmen. Ascan und Frederick schienen sich ebenbürtig.
Die zwei Kämpfer entfernten sich etwas von einander und fassten ihre Schwerter fester. Sie machten sich für den nächsten Angriff bereit. Ascan und Frederick ließen sich nicht aus den Augen.
Frederick ging als erster auf Ascan los, das Schwert wie eine Lanze nach vorn gereckt. Doch der Pirat mit den grünen Augen parierte den Angriff. Die Schwerter schlugen aufeinander. Die Männer versuchten eine Lücke in der Verteidigung des anderen zu finden.
"Klara?" Nicos Stimme war tonlos. Er traute sich kaum zu sprechen.
Ich blickte zu ihm auf. Er betrachtete mich mit sehnsüchtigem Blick.
"Ich... Ähm..." Er druckste herum, schien sich unsicher. "Ich wollte..." Er schluckte schwer. "Klara, ich liebe dich. Es tut mir leid. Aber–"
Ich schüttelte mit dem Kopf. "Hör auf. Ich will keine Lügen mehr hören."
"Aber das ist keine Lüge. Ich liebe dich."
Ungläubig starrte ich ihn an. Meine Augen wurden wässrig. "Hör auf", versuchte ich es noch einmal. Doch meine Stimme war schwach.
"Nein, Klara. Es tut mir ehrlich leid."
Ich schniefte und lächelte zart. "Es tut mir leid. Ich kann ja irgendwie verstehen, dass ihr sauer ward. Es war dumm und egoistisch von mir. Ich habe euch angelogen. Das tut mir leid. Ich wollte dich niemals verletzten oder hintergehen."
Er zog mich noch einmal an sich und drückte mir einen Kuss auf die Stirn, der sich so zart und kribbelnd anfühlte, wie die ersten Sonnenstrahlen im Frühling.
"Deshalb liebe ich dich. Du kannst anstellen, was du möchtest. Das ändert nichts an meinen Gefühlen für dich. Ich liebe dich, Klara Amalia van Utrecht."
Meine Wangen waren nass und auch Nicos Augen glitzerten wie ein See in der Sonne, als ich ihn erneut anschaute.
Da spürte ich schon seine Lippen. Sie waren noch immer weich und zart und warm. Er schmeckte noch immer süß und herzhaft zugleich. Es war sein unverwechselbarer Geruch, der mich einhüllte.
Wie sehr hatte dieses Gefühl vermisst. Das Kribbeln im Bauch. Das Blut in meinen Wangen. Seine Lippen auf meinen. Seine Hände an meinen Seiten. Nicolas und ich gehörten einfach zusammen, der Gesellschaft zum Trotz, das wurde mir klar.
"Komm mit mir!", bat mich mein Pirat, als wir uns voneinander lösten. "Lass uns fort von hier. Irgendwohin, wo uns keiner kennt. Wo wir uns ein Leben aufbauen können. Weit weg von der Hanse."
"Was?" Damit hatte ich nicht gerechnet.
"Lass uns weglaufen, Klara."
Ich blinzelte ungläubig. "Nico..."
"Bitte, mein Engel." Nicolas ergriff meine Hände. Er ging auf die Knie. "Klara, ich liebe dich. Ich habe dir schon einmal geschworen, dass ich dich lieben und ehren werde, bis Gott dich zu sich nimmt. Wenn du willst, dann bezeuge ich das noch einmal. Vor einem Pfarrer, vor meinen Männern, vor aller Welt..."
Ein Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus und ich spürte, wie ich rot wurde. "Das brauchst du nicht. Denn ich liebe dich. Du bist mein Mann, ich dein Weib."
"Du kommst mit?" Nico erhob sich.
Ich nickte.
Stürmisch riss der blonde Pirat mich herum, drehte sich mit mir, gab mir erneut einen Kuss voller Leidenschaft.
Das Klirren eines Schwertes, das zu Boden fiel, schreckte uns auf, zerstörte unsere Freude – unser Glücksmoment hatte sich in Luft aufgelöst.
Ascan fasste sich an die Kehle und sackte zusammen. Seine Knie gaben einfach unter ihm nach.
Frederick atmete schwer. Er wurde von Wut zerfressen. Das konnte man deutlich sehen. Sein Blick wanderte zu Nico und mir.
Eine eisige Hand legte sich um meine Kehle, schloss sich zu einem Todesgriff.
* * *
"Lasst mich los!"
Ich zerrte, versuchte mich zu befreien. Doch es war vergeblich. Ich hatte keine Chance gegen zwei Piraten.
Sie hielten mich fest und schleiften mich nach draußen.
"Lasst mich los!", versuchte ich es neuerlich.
"Halt deinen kleinen Mund!", sagte der mit dem narbigen Gesicht und drehte mein Gesicht mit seinen dreckverkrusteten Finger zu sich. "Spar dir lieber deine Kräfte für etwas Befriedigerendes auf." Sein verdorbenes Lächeln widerte mich an. Er stank aus dem Mund und der Geruch wehte zu mir herüber.
Zwischen zusammengebissenen Zähnen forderte ich: "Nehmt eure schmutzigen Finger von mir!"
"Der Dame gefällt unser Äußeres nicht, Gilmar!" Der andere Pirat grinste. "Vielleicht sollten wir noch schnell ein Bad nehmen."
Der Narbige prustete, bevor er sich zu mir lehnte und fragte: "Würde dir das gefallen?"
Ich schüttelte mit dem Kopf und versuchte nicht zu atmen. Der Gestank ließ mich aufstoßen, ein Würgereiz kratzte in meinem Hals.
"Ohh", meinte er mit gespielter Enttäuschung, "das tut mir leid. Aber mehr können wir dir nicht bieten."
Die beiden Freibeuten stießen mich auf den Boden. Ich fiel hart auf die Knie und verzog das Gesicht.
"Nicolas!", rief der Pirat, dessen Gesicht nicht von Narben gezeichnet war. "Was ist mit der hier? Wir wollen ein bisschen Spaß haben."
Sie warteten keine Antwort, keine Erlaubnis ab, sondern fingen an die Ärmel von meinem Kleid abzureißen. Dann widmeten sie sich meinem Korsett und schnitten die Bänder auf. Ein animalisches Lächeln säumte ihre Handlungen.
Ich schrie und schlang schützend die Arme um meinen Körper.
* * *
Was dann geschah, ging ganz schnell.
Nico rannte zu Ascan, drehte ihn zu sich herum, um ihn auf seinen Knien zu betten. An seiner Kehle lief dickes Blut herunter. Es drang unaufhörlich aus einem breiten Schnitt.
Ascan röchelte. Seine Augen bewegten sich ziellos umher. Dann fanden sie Nicolas, der auf seinen Freund einredete, und dann schloss er die Augen. Es war vorbei.
Eine Träne fiel auf Ascans Wange. Sie stammte von dessen bestem Freund. Auch mir fiel es schwer, das Wasser zurückzuhalten.
Ich musste immer daran denken, dass einer von uns beiden für den anderen stark sein musste. Diesmal war ich diejenige, die kämpfen würde. Diesmal wollte ich eine Stütze für Nicolas sein.
Kämpfen... Da war doch etwas.
Wo war mein Bruder? Eben hatte er noch einen animalischen Todesblick in den Augen und auf einmal war er verschwunden? Ich blickte mich um – eigentlich war ich ganz froh darüber, dass Frederick Nicolas nicht in diesem Zustand, von Trauer überwältigt, angriff.
Frederick stand in der Nähe von Gilmar und einem zweiten Piraten. Sie zerrten an einer Frau herum, rissen ihr die Kleider vom Leib, besudelten sie.
Die zwei Piraten genossen das Gefühl von Freyas Körper unter ihren Händen. Sie begrabschten ihre weiblichen Rundungen, während sie sich wand.
Freya wollte sich den zwei Männern entziehen, doch die hielten sie erbarmungslos fest. Freya schrie, bettelte um Hilfe. Frederick schrie, drohte den Piraten, er würde ihnen ihre Finger einzeln abschneiden, wenn sie von seiner Frau nicht ablassen würden.
Die Piraten ließen sich nicht beirren und so hastete mein Bruder auf sie zu.
Einer der Piraten widmete sich Frederick, der andere zerrte Freya auf die Beine und drückte ihr ein Messer an die Kehle, während sie verzweifelt versuchte mit den Kleiderfetzen das Nötigste zu bedecken. Sie schniefte, ihre Augen rot.
Mein Bruder war wie ein Tier. Er verteidigte sein Revier und sein Eigentum. Er stieß dem einen Piraten sein Schwert in den Bauch und befasste sich schon mit dem zweiten.
Der Pirat wich mit Freya zurück. Schritt für Schritt. Frederick folgte ihnen in doppeltem Tempo und dann passierte es...
Der Pirat, der Freya das Messer an die Kehle drückte, stolperte. Sein Rücken bog sich nach hinten. Er versuchte noch das Gleichgewicht wieder zu finden. Doch da war es bereits zu spät. Es war nur eine winzige Fingerbreite, aber sie bedeutete nichts Gutes.
Der Pirat schnitt Freya die Kehle durch, weil er versuchte wieder sicher auf beiden Beinen zu stehen.
"Nein", kreischte Frederick, ließ sein Schwert fallen und rannte auf Freya zu. Der Pirat suchte erschrocken das Weite. Das hatte er nicht gewollt. Er hatte sich an Freyas Körper laben wollen, aber sie nicht töten wollen.
Nun trauerten schon zwei Männer auf dem Schlachtfeld.
Allmählich verstand ich, dass Nicolas mich hatte wegschicken wollen.
Eine Träne lief meine Wange hinunter, dennoch konnte ich nicht loslassen und zu einem Häufchen Elend werden, um zu trauern. Da war eine Blockade in mir, die mich zur Vorsicht zwang.
Mich beschlich das Gefühl, dass Ascan und Freya nicht die einzigen Verluste des heutigen Tages bleiben würden.
* * *
Die Alte stockte. Sie holte mehrere Male tief Luft. Die Wendung der Geschichte schien ihr nahe zu gehen. Es fiel ihr schwer, darüber zu reden.
Die Kinder blickten sie erwartungsvoll, teilweise auch besorgt und ängstlich, an.
Jeder in der Taverne Zum Wikinger hatte Nicolas, Freya, Frederick, Ascan und Klara mittlerweile ins Herz geschlossen.
Mit zittriger Stimme für Amalia schließlich fort.
* * *
Plötzlich stand Nico auf. Ich bemerkte es nur am Rande meines Blickfeldes.
Die Haare hingen ihm ins Gesicht und er hätte einer Geistergeschichte entstiegen sein können.
Ein Frösteln lief mir über den Körper.
Ich machte einige Schritte auf den Piratensohn zu. Doch er stoppte mich mit einer kargen Handbewegung.
"Halt dich da raus, Klara!", gab er mir zwischen zusammengebissenen Zähnen zu verstehen.
Ich nickte, auch wenn er mich nicht ansah und es nicht bemerkte.
Einen Fuß vor den anderen setzend bewegte er sich auf meinen Bruder zu.
Er drehte sein Schwert und die Sonnenstrahlen brachen sich daran. Einen kurzen Moment blendete mich das Licht.
Dann sah ich, dass mein Bruder wieder auf den Füßen stand und sein Schwert in der Hand hielt.
"Das wirst du bereuen!", brüllte Frederick.
Nicolas stieß ein trockenes Lachen aus. "Was denn?", provozierte er. "Dass du meinem ersten Mann, meinem besten Freund die Kehle aufgeschlitzt hast?"
Die zwei Männer standen einander gegenüber. Sie waren Erzfeinde und die Verluste, die sie beide hatten hinnehmen müssen, steigerten ihre Wut ins Unermessliche.
"Du versteckst dich doch hinter deinen Männern. Du bist feige, Nicolas Störtebeker. Dein schändlicher Freund hat nur für deine Unfähigkeit und Feigheit mit seinem Leben bezahlt. Du vergreifst dich an schutzlosen, gaukelst den Menschen etwas vor."
"Die Hanse ist doch auch nichts Besseres. Oder willst du mir erzählen, dass dank der Hanse alle Menschen genug zu essen und zu trinken haben? Dass sie sich nicht vor der Kälte des Winters fürchten müssen? Euer Reichtum, Utrecht, beruht auf dem Übel des niederen Volkes."
Die Männer warfen sich Beschuldigungen um die Ohren. Mental wollten sie einander zermürben. Die körperliche Niederlage war nur die Krönung.
"Wir sind keine Heiligen. Die Hanse kann auch nicht alles Elend beseitigen."
"Wieso brüstet ihr euch dann damit? Wieso glaubt ihr etwas Besseres zu sein als wir?"
"Weil wir keine Unschuldigen schädigen!"
"Und was ist mit den Schwangeren und den Kindern, die sterben, weil ihr euren Reichtum nicht teilt?"
Frederick schnappte nach Luft. Für so schlagfertig hatte er Nicolas nicht gehalten.
Nicolas zog einen Mundwinkel nach oben, die Andeutung eines Lächelns.
Die zwei bewaffneten Männer umkreisten sich nun. Katzen, die zum Sprung bereit waren, gerüstet für die Begegnung mit der Beute.
Ich blickte mich erstmals um. Die meisten Piraten und Soldaten hatten aufgehört zu kämpfen. Stattdessen beobachteten sie die Szene. Es schien eine stumme Übereinkunft getroffen wurden zu sein. Der Ausgang des Duells der Anführer sollte das Schicksal der Anhänger besiegeln.
Mein Herz ging ein wenig auf. Denn so wurden wenigstens unnötige Opfer verhindert.
Wie durch einen Paukenschlag eröffnet, gingen Frederick und Nico gerade aufeinander los, als ich mich ihnen wieder zuwendete.
Sie hatten ihre Schwerter umklammert und schlugen mit aller Macht aufeinander ein. Hin und wieder musste einer der beiden Kämpfer einen Schritt zurückweichen, nur um anschließend noch kräftiger zurückzuschlagen. Manchmal entfernten sie sich ganz von einander und umkreisten sich erneut. Es erschien fast wie ein einstudierter Tanz. Doch die Leichtigkeit, die Unbeschwertheit fehlte. Der Kampf war bitterer, blutiger Ernst.
Teilweise fügten sich Nico und Frederick kleiner Schnittwunden zu, aus denen Blut austrat. Doch die Wunden schienen nicht weiter tief. Sie störten die Kämpfer nicht. Sie waren völlig auf den Kampf fixiert.
"Nicht schlecht!", stieß Frederick schweratmig aus, als die beiden sich wieder einmal umkreisten. Ich konnte einen Hauch von Anerkennung aus seiner Stimme hören.
"Gleichfalls!", keuchte Nico und grinste.
Kurzzeitig wirkten die zwei wie Brüder, die sich spielerisch miteinander duellierten.
Doch sofort war dieses Spielerische wieder verflogen und Frederick stürzte auf Nico zu.
Der Kampf schien ausgeglichen. Denn Störtebekers Sohn wehrte den Angriff gekonnt ab.
Durch eine geschickte Antäuschung schaffte Nicolas es Frederick am Bein zu verletzen. Es war ein Schnitt, der meinen Bruder in die Knie zwang.
"Es ist vorbei, Frederick van Utrecht!", sagte der blonde Pirat von oben herab. Er hob sein Schwert zum finalen Stoß.
Fredericks Blick war flehenden, kurz wanderte er zu mir, um schließlich zu Nicolas zurückzuschnellen.
Wie ein Dolch sauste Nicolas Schwert auf Fredericks Brust herab und durchbohrte sie.
Ich schnappte nach Luft.
Erschrocken starrte Nicolas auf seinen Bauch.
Frederick hatte mit seinem Schwert zugestoßen. Er grinste herausfordernd. "Ich gehe nicht, bevor ich dich zum Teufel gejagt habe." Ein dünner Rinnsal Blut tropfte aus seinem Mundwinkel.
Nicolas Augen waren vor Schreck geweitet. Er fasste nach dem Griff des Schwertes, das mein Bruder in diesem Moment noch ein Stück tiefer hineinstieß, bevor er zur Seite kippte und liegen blieb.
Auch Nico ging zu Boden, versuchte noch das Schwert herauszuziehen.
Ich handelte im Affekt, rannte zu den zwei Männern, kniete mich neben sie.
Um welchen sollte ich trauern? Ich liebte beide.
"Klara..." Frederick.
Ich rutschte auf Knien zu ihm.
Er lächelte schwach, als er mich sah. "Pass gut auf ich auf, Schwesterchen. Ich habe die Welt von diesem Bastard", er spukte das Wort aus, "befreit."
Ich nickte und die Tränen rannen mir übers Gesicht.
Frederick sackte zusammen und seine Augen wurden auf seltsame Weise grau.
Ich griff nach seiner Hand und drückte sie an mein Herz.
Dann wurde mir bewusst, dass da noch ein zweiter Mann im Todeskampf lag.
Ich robbte zurück zu Nico und lächelte todunglücklich.
Er hob mit letzter Kraft seine Hand und streichelte mir über die Wange. "Ich liebe dich. Es tut mir leid."
"Ich liebe dich auch", flüsterte ich kaum in der Lage zu sprechen. Es zerbrach mir das Herz ihn so zu sehen.
Ich beugte mich nach vorne und küsste Nicolas. Er schloss die Augen und öffnete sie nicht noch einmal. Auf seinem Gesicht lag ein beinahe friedlicher Ausdruck.
Ein Wimmern entfuhr meiner Kehle, wurde zu einem herzzerreißenden Schluchzen und die Tränen liefen und liefen. Die Trauer überwältigte mich ohne Vorwarnung.
Wie in Trance zog ich den Dolch aus seiner Tasche um meinen Oberschenkel. Ich fasste ihn mit beiden Händen. "Ich bin bald bei euch", meinte ich und wollte den Dolch tief in meine Brust stoßen. Mit dieser Trauer konnte und wollte ich nicht leben.
Doch zwei große Hände legten sich auf meine Schultern. Zwei andere raue Hände befreiten den Dolch aus meinem Klammergriff.
"Hör auf", meinte eine mitfühlende Stimme durchaus bestimmt, "das bringt doch nichts."
Doch ich schüttelte nur mit dem Kopf, vergrub ihn in meinen leeren Händen und gab mich dem Schmerz hin.
* * *
In der Taverne herrschte betretenes Schweigen.
Ein kleiner Junge durchbrach die Stille schließlich: "Und was geschah mit Klara?"
Amalia zuckte mit den Achseln. "Der Schmerz zerfraß sie. Die Trauer begleitete sie auf ihrem Weg. Sie blieb allein. Frederick und Freya wurden hochtrabend bestattet. Um Nicolas und Ascans leblose Körper musste sie sich ohne Hilfe kümmern. Klara vergrub sie hinter ihrem Haus. Sie sehnte sich ihr Leben lang nach allen, die sie verloren hatte. Doch ändern konnte sie die Geschehnisse nicht. Stattdessen ist sie für alle Menschen eine Erinnerung daran, wie vergänglich Glück ist."
"Hat sie nicht noch einmal versucht, sich umzubringen?"
"Doch, aber zum Schluss fehlte ihr wahrscheinlich der Mut den letzten Schritt zu gehen." Die alte Dame erhob sich aus ihrem Schaukelstuhl. "So Kinder...", sagte sie, mehr nicht.
Sie verließ die Taverne ohne ein Wort des Abschieds.
15. März 1467
Sie stand am Ufer und blickte über den Bodden, der sich vor ihr erstreckte.
Es war mittlerweile tiefste Nacht und der Bodden wirkte schwarz.
Sie stand gern hier, genoss das leise Rauschen des Wassers.
Wasser. Meer. Wellen. Gischt. Schiffe. Segel. Wie sehr hatte sie diese Dinge lieben gelernt. Auf See, wenn man sanft von den Wellen hin und her gewiegt wurde, war die Freiheit zum Greifen nahe. Auf See konnte man sich treiben lassen und am Bug des Schiffes, den Wind in den Haaren, die Gischt im Gesicht spüren.
Sie sehnte sich zurück auf das Meer, zurück auf das Schiff. Aber sie war in die Jahre gekommen. Falten kerbten sich in ihr Gesicht.
Nicht ihr zunehmendes Alter, nicht ihre schlechter werdende Gesundheit, nicht ihr geringer Besitz waren dafür verantwortlich, dass sie dem Tod dennoch freudig entgegenblickte. Die Einsamkeit des Lebens war es. Zu lange war sie schon allein. Seit einer Ewigkeit. Sie sehnte sich nach den Toten.
Ihre Freunde lagen schon eine Weile im Schoß der Erde und nur sie war übrig geblieben.
Sie wandelte noch immer unter den Lebenden – wie ein Schatten.
Aber noch wollte sich ihr Leben nicht dem Abend zuneigen. Sie blieb. Nur Gott hatte das Recht über ihren Tod zu entscheiden und er nahm sie zu sich, wenn er es wollte. Bis es soweit war, würde sie die Geschichten weiter verbreiten. Die Geschichten mussten erzählt werden. Denn sie sollten die Liebenden nie vergessen lassen, dass ihre gemeinsame Zeit begrenzt war und schneller zu Ende ging, als sie vermuteten.
Sie hatte das am eigenen Leib erfahren und wusste nur zu gut, wie weh es tat einen geliebten Menschen zu verlieren. Sie hatte zu viel verloren und es verengte ihr das Herz an ihre Lieben zu denken.
Irgendwann, bald sogar schon, würden sie sich alle wieder sehen. Dessen war sie sich sicher und dessen freute sie sich!
Auch wenn ihr Herz jetzt krampfte und ein stechender Schmerz in ihre Brust fuhr...
Texte: Cora Harlem Rank
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Tag der Veröffentlichung: 11.12.2013
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For all the participants of NaNoWriMo.
Für die Störtebeker Festspiele: Danke für diese Inspiration!