Die Menschen glauben viel leichter eine Lüge, die sie schon hundertmal gehört haben, als eine Wahrheit, die ihnen völlig neu ist.
Alfred Polgar
„Es ist besser, ein einziges kleines Licht anzuzünden, als die Dunkelheit zu verfluchen.“
Konfuzius
Nun waren wir hier, in diesem dunklen, modrigen Keller irgendeiner unscheinbaren Kneipe. Und in irgendeiner Ecke dieses Kellers tropfte Wein aus einem der Holzfässer auf den kalten Steinboden. Das leise Geräusch, wenn ein Tropfen in die bereits entstandene Pfütze perlte, und das Schluchzen des Mädchens in meinen Armen vermischten sich zu einer trostlosen Melodie.
Wir hatten alles verloren. Denn wir hatten alles hinter uns lassen müssen und nun saß ich hier und hielt sie in meinen Armen. Während ich sanft ihr seidiges Haar streichelte, ein vergeblicher Versuch sie zu beruhigen, fühlte ich mich mehr und mehr hilflos. Denn ich konnte nichts tun, um sie aus ihrer Traumwelt zurückzuholen.
Sie hatte sich in sich selbst zurückgezogen und schien unendlich weit weg zu sein. In diesem Moment drang nichts zu ihr durch, selbst ich nicht. Der Mann, der sie über alles liebte. Ich musste hilflos zusehen, wie sie sich in einer Welt verlor, die nicht einmal wirklich existierte. Aber was sollte sie auch anderes tun?
Es war zu grausam der Wahrheit ins Gesicht zu blicken. Denn wir lebten in einer gefährlichen und unbarmherzigen Zeit des Krieges und die zerbrechliche Kreatur, die sich Hilfe suchend an mich schmiegte, und ich selbst waren unwiderruflich in diese Schlacht verwickelt.
Ein nasser Film auf meiner Haut riss mich kurzzeitig aus meinen Gedanken. Mein T-Shirt war nun völlig durchnässt, weil es alle ihre salzigen Tränen aufgesaugt hatte. Ihr Wimmern schien kein Ende zu nehmen, denn sie weinte jetzt schon seit, ja seit wie vielen Stunden? Ich hatte in diesem Keller, in den kein Tageslicht sich verirrte, völlig das Zeitgefühl verloren. War es Morgen oder war es schon wieder tiefste Nacht?
Aber auf irgendeine Weise interessierte es mich auch gar nicht. Der Grund dafür war, dass ich mich die ganze Zeit nur fragte, wie ich mein Ein und Alles zurückholen konnte, wie ich sie ihrer Traumwelt entreißen konnte. Denn ich wollte sie nicht verlieren.
Sie war alles für mich. Sie war die Frau, der ich mein Herz zu Füßen gelegt hatte und die nicht wie andere darauf herumgetreten war. Nein, sie hatte sich hingehockt und es vorsichtig aufgehoben, um es für immer sicher aufzubewahren. Sie war die Frau, mit der ich bis in alle Ewigkeit zusammen sein wollte. Ich wollte mit ihr durch dick und dünn gehen, egal, was die andere sagten. Ich besaß sie und einzig und allein das zählte für mich. Sie war zu der wichtigsten Person in meinem Leben geworden und ich wollte – nein, ich konnte – sie niemals verlieren, weil ihr Verlust mich in den Wahnsinn und schließlich in den sicheren Tod treiben würde.
Mir war es egal, was die anderen sagten. Denn ich vertraute auf meine Gefühle. Meine Gefühle für sie waren aufrichtig und sie empfand dasselbe für mich, da war ich mir hundertprozentig sicher. In meinen Augen spielte es keine Rolle, woher wir beide kamen. Es zählte nur, wie sehr wir uns liebten.
Doch gerade wegen unserer Liebe wurden wir nun verfolgt und gejagt. Überall waren wir Ausgestoßene, denn wir sollten eigentlich die schlimmsten Feinde sein. Aber mein Engel und ich würden auf ewig zusammen halten und niemand würde es jemals schaffen uns zu trennen. Das würde ich nämlich niemals zulassen. Ich würde für meine Gefühle kämpfen und wenn ich dabei sterben würde.
Denn wieso mussten Engel und Dämonen Feinde sein? Wir waren schließlich alle nur Wesen, die in Ruhe leben wollten. Und ich wollte das nun mal mit einem Engel, auch wenn ich ein Dämon war. In meinen dunkelbraunen Augen zumindest war es möglich, dass aus erbitterten Gegnern Freunde wurden. Denn eine untrügliche Vorahnung ließ mich vermuten, dass bald eine neue Ära anbrechen würde. Doch ich hatte große Zweifel, dass ich diese noch in Fleisch und Blut miterleben würde.
Plötzlich wurde jedoch die Tür am Ende der Kellertreppe aufgerissen und ein dünner Lichtstrahl fiel an die gegenüberliegende Wand. Völlig panisch versuchte ich meinen Engel, mit meinem Rücken zu verdecken, als schwere Schritte die Treppe herunter stapften und immer näher kamen.
„Wenn alle Menschen immer die Wahrheit sagten, wäre das die Hölle auf Erden.“
Jean Gabin
„Du musst wirklich besser auf dein Äußeres achten, Damian! Deine Haare sehen ja schrecklich aus…“ Meine Mutter zupfte überall an mir herum – an meinen Haaren, meine Klamotten, sie überprüfte sogar meine Bauchmuskeln. „…und du musst unbedingt wieder mehr trainieren! Deine Muskeln sind schon ganz schlaff! Hörst du, mein Schatz?“
„Ja, Mutter!“, entgegnete ich genervt. Schon seit mehreren öden Stunden betrachtete sie mich von allen Seiten und aus jedem erdenklichen Blickwinkel und das nur, weil ich morgen Geburtstag hatte und dann alt genug sein würde, um wie meine beiden älteren Brüder in den Krieg gegen die Engel zu ziehen.
Mich beschlich jedoch von Sekunde zu Sekunde mehr das Gefühl, dass der morgige Tag für meine Familie einen größeren Nutzen haben würde als für mich, die eigentliche Hauptperson des Abends. Aber das war mir irgendwie auch ganz lieb. Denn ich stand nicht gern im Rampenlicht, zumindest nicht bei so hohen Gästen.
Es würden nämlich hauptsächlich Adlige und ihre Familien anwesend sein und vielleicht noch ein paar wichtige Geschäftsmänner, mehr aber auch nicht. Und ich hatte überhaupt keine Lust darauf mich den ganzen Abend von politischem Geschwätz erdrücken zu lassen. Deshalb hatte ich vor, mich so schnell wie möglich, unauffällig von dem Ball, der zu meinem Wiegenfest ausgerichtet wurde, zu verdrücken.
Es würde zwar nicht einfach sein, aber ich würde das schon irgendwie hinbekommen. Denn ich war schließlich Damian Ifrit, Prinz der Dämonen.
Als ich endlich aus dem Ankleidezimmer herauskam, wanderte mein Blick als erstes zur Uhr an der Wand. Geschlagene vier Stunden hatte ich an mir herummäkeln und herumzupfen lassen und das schlug mir nun gewaltig auf den Magen. So viel Stress vertrug ich einfach nicht.
Deshalb machte ich mich schleunigst auf den Weg in die Küche. Aber ich kam nicht einmal bis zur prächtigen Treppe in der Eingangshalle, denn eine der Zofen kam mir hinterher. Ich stöhnte genervt, als ich sie angerannt kommen hörte.
„Warten Sie, gnädiger Herr! Warten Sie, bitte!“ Sie schnappte nach Luft, da sie bereits nach diesem kurzen Sprint völlig außer Atem war.
Genau deshalb ziehen nicht die Frauen in den Krieg sondern wir Männer, sonst wäre der Krieg bereits kampflos verloren... Die Frauen gehören nun mal an den Herd, dachte ich mir trotzig. Dennoch drehte ich mich zu ihr herum.
„Warten Sie, junger Herr… Ihre Frau Mutter… Sie… Sie lässt ihnen noch ausrichten, dass…dass Ihr heute pünktlich und in Eurer besten Kleidung beim Abendtisch erscheinen sollt. Sie… Sie erwarten heute wohl hohen Besuch…“ Die junge Frau mit den eisgrauen Augen schnaufte immer noch, als sie sich leicht vor mir verbeugte. Dabei fielen ihr ihre kurzen braunen Haare ins Gesicht, die ihr beim Rennen aus dem locker gebundenen Zopf gerutscht waren. Als sie sich wieder aufrichtete, blickte sie mich aus ängstlichen Augen an.
„Geht klar…“, erwiderte ich lässig. Dabei drehte ich mich wieder um und machte bereits einige weitere Schritte den Gang entlang, um meinen Weg zur Küche fortzusetzen. Doch die junge Frau war noch nicht fertig: „Eure… Eure Hoheit…“ Anscheinend fand sie nicht die richtigen Worte für das, was sie zu sagen hatte. Denn es schien ihr sichtlich unangenehm das Folgende auszusprechen. „Heute Abend wird Ihre… nun ja, Ihre zukünftige Gefährtin anwesend sein. Sie sollen sich kennen lernen, bevor Ihre Verlobung bekannt gegeben wird. Und…und ich soll Ihnen heute Abend helfen…die richtige Kleidung anzu…anzuziehen…“
Natürlich. Jetzt verstand ich auch warum, es der Frau mit den eisgrauen Augen so peinlich war. Denn normalerweise halfen mir männliche Bedienstete beim Ankleiden und keine Mädchen. Aber meine Frau Mutter wollte offenbar sicher gehen, dass ich auch wirklich angemessen angezogen war und meine Kleidung für das feine Abendessen auch tatsächlich meiner zukünftigen Braut gefiel.
Innerlich stöhnte ich völlig entnervt auf, trotzdem setzte ich ein dankendes Lächeln auf, nickte dem Dienstmädchen zu und meinte: „Gut, ich lasse Sie dann rufen, wenn ich mich für das Abendessen fertig mache.“
Mit diesen Worten beschritt ich meinen weiteren Weg zur Küche, um meinen knurrenden Magen endlich mit etwas zum Verdauen ruhig zu stellen.
Auf meinem Weg begegnete mir die Frau meines großen Bruders Daomir. Die groß gewachsene Quilla sah so aus, als hätte sie heute nicht gerade ihren besten Tag. Denn irgendetwas schien sie zu bedrücken.
Selbstbewusst, wie ich war, legte ich ihr eine Hand auf die Schulter und fragte: „Was ist denn los, Rehauge?“ Ich lächelte ihr aufmunternd zu und hoffte inständig, dass meine kleine Neckerei auch diesmal wieder Erfolg hatte und sie fröhlich stimmen würde.
Doch sie zeigte mir nicht ihre perlweißen Zähne wie normalerweise, wenn ich sie Rehauge nannte. Stattdessen blickte sie betreten zu Boden und zog ein Taschentuch aus ihrem Ausschnitt. Nachdem sie sich einmal kräftig die Nase geputzt hatte, erzählte die Frau mit den rehbraunen Augen mir, was ihr auf der Seele brannte: „Du weißt ja, dass Dao mittlerweile schon wieder mehrere Mondzyklen auf dem Schlachtfeld ist, und normalerweise schreibt er mir regelmäßig oder lässt mir von einem Boten etwas ausrichten. Aber diesmal habe ich noch nicht eine einzige Nachricht bekommen. Vielleicht ist ihm etwas passiert! Oh Gott, ich könnte es nicht ertragen ohne ihn zu leben. Damian, weißt du irgendetwas von deinem Bruder? Bitte, sag mir, was du weißt!“ Zum Ende hin wurde ihre Stimme immer schriller und drängender. Sie war ehrlich besorgt um ihren geliebten Mann.
Doch ich konnte nur mit dem Kopf schütteln und ihr offenbaren: „Entschuldige Quilla, aber ich weiß genauso wenig wie du. Auch ich habe nichts von meinem Bruder gehört… Aber es geht ihm bestimmt gut. Er ist schließlich einer der besten Kämpfer von uns!“
Mitfühlend klopfte ich Quilla auf die Schulter und lächelte ihr aufmunternd zu. „Mach dir nicht so viele Sorgen! Dao ist schließlich mein Bruder und deshalb weiß ich auch mit Bestimmtheit, dass er gesund und munter wiederkommen wird. Er ist doch schließlich der Kronprinz!“, sagte ich dann noch zu ihr. Und ich meinte das, was ich in den Mund nahm, todernst.
Die lange Frau mit den rehbraunen Augen zog noch einmal die Nase hoch, bevor sie mir mit einem unglaublichen Glitzern tief in die Augen schaute. In ihrem Blick lag eine unbeschreibliche Dankbarkeit. Meine Worte hatten sie ein wenig Hoffnung schöpfen lassen und ihr Halt gegeben. Denn sie wusste nun wieder, dass es immer noch jemanden gab, der für sie da war.
Doch nun gingen wir beide wieder unserer Wege. Ich schlug weiter den Weg in die Küche ein, während Quilla sich in Richtung Garten wandte.
In der Küche angelangt, begab ich mich als erstes zur Vorratskammer und suchte mir dort irgendetwas Handliches zum Essen. Ich entschied mich für eine Vojka. Das ist eine süße Frucht, die ungefähr die Größe einer Faust hat und deren gelbe Schale im Licht einen rosenfarbenen Schimmer bekam. Diese Frucht ist weit verbreitet, da sie unglaublich köstlich und zudem noch sehr gesund ist.
Ich trat aus der düsteren Vorratskammer, in die nur durch ein winziges Fenster Licht drang, und biss herzhaft in meine Vojka. Genüsslich kaute ich auf der lieblichen Frucht und schloss die Tür des Lebensmittelspeichers. Doch als ich mich umdrehte, um mich zu meinem Lieblingsort zu begeben, stand plötzlich Zarif mit den lavendelfarbenen Augen und den schwarzen, lockigen Haaren vor mir und beäugte mich missbilligend. Allmählich bekam ich ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Sein Blick war ein wenig unangenehm, da er mich zu durchbohren schien. Doch er konnte nicht lange ernst beleiben und so plärrte er bereits nach ein paar Sekunden lautstark los. Er lachte sich einen Ast ab und ich dachte mir nur so: Typisch Zarif…der Bursche ist einfach verrückt!
Doch auch ich musste lachen, denn Zarif hatte mich erst ein wenig erschreckt, wenn man das so sagen konnte. Normalerweise schickte es sich nämlich nicht für einen der Königsfamilie sich etwas zu Essen selbst aus der Vorratskammer zu holen. Aber meistens gingen mir die strengen Etiketten am Hof sowieso am Gesäß vorbei. Ich war schon, seit ich ein junger Bursche gewesen war, ein kleiner, frecher Rebell. Und daran hatten sich auch beinahe alle gewöhnt. Nur meine Frau Mama versuchte immer noch vergeblich mich zu einem geziemten Mann zu erziehen, wie es Daomir nun war. Ich sollte ein perfekter Gentleman sein, damit die Mädchen nur so um meine Gunst buhlten.
Ich jedoch wollte anders sein und deshalb gefiel mir auch keines der Mädchen, die meine Mutter für mich aussuchte. Sie waren mir einfach zu brav und zu durchschaubar – sie waren in meinen Augen berechenbar. Für mich waren alle nur kleine Marionetten im Puppentheater unserer Eltern; sie zogen die Fäden und nicht wir. Allerdings war es extrem schwer, wenn nicht gar unmögliche, diese Fäden zu durchtrennen. So oft ich es auch schon versucht hatte, jedes einzelne Mal war ich kläglich gescheitert und musste mich wieder dem Willen meiner Eltern beugen. Ich gehorchte jedes Mal nach meinen Niederlagen, nur um beim nächsten Versuch noch stärker für meine Freiheit zu kämpfen. Ungeachtete dessen schien es nirgendwo einen Ausweg zu geben – meine Versuche waren immer und immer wieder erfolglos; es war sinnlos sich zu wehren.
Zarif jedenfalls war das egal. Er lebte sein eintöniges Leben als Küchenjunge ohne jeglichen Protest. Er hatte sich mit seinem Gefängnis abgefunden und versuchte seine Zeit so lustig wie möglich zu überstehen. Seine amüsante Art versüßte auch mir mein trostloses Leben im Palast ein kleines bisschen. Zarif war nun einmal ein lebenslustiger Dämon.
„Du bist also noch genauso hungrig, wie eh und je. Und anscheinend kannst du weiterhin essen ohne dick zu werden.“, lächelte mir der Junge mit dem Lockenschopf zu und bedachte mich dabei skeptisch.
„Kann schon sein…“, meinte ich gleichgültig, als mir plötzlich ein Gedanke kam, den ich auch sofort laut aussprechen musste, „warte mal! Wo warst du eigentlich die letzten Wochen? Ich hab dich hier gar nicht gesehen.“
Auf Zarifs Gesicht zeichnete sich ein verschmitztes Grinsen, als ich das aussprach. „Ich musste mich melden, um an die Front zu gehen. Aber da ich hier im Palast arbeite, wurde es mir freigestellt, ob ich in den Krieg ziehen möchte oder nicht.“ Sein Grinsen wurde nun noch breiter, als er mir erklärte, warum er vorerst abgelehnt hatte: „Denn ich gehe erst, wenn du auch in die Schlacht ziehst. Wir sind ja schließlich Freunde!“ Mit diesen Worten reckte er seinen Daumen nach oben.
„Und warum warst du dann dennoch so viele Wochen weg?“
„Weil ich trotzdem erst einmal meine Kampfausbildung überstehen musste. Ich bin zwar noch nicht ganz fertig, aber den restlichen Teil darf ich mit dir zusammen absolvieren.“
Jetzt musste ich auch grinsen. Denn ich war wahnsinnig froh darüber, dass mein guter Freund Zarif mich im Kampf gegen die Engel unterstützen würde. „Das ist ja großartig! Also bist du jetzt nicht mehr der unbedeutende Küchenjunge, oder?“
„Könnte man so sagen…“ Zarif kratzte sich am Kopf. „Aber da ist noch etwas: Ich werde auf dem Schlachtfeld so etwas wie dein persönlicher Leibwächter sein… Du musst das natürlich noch einmal offiziell bestätigen, aber…“
„Kein Problem, mein Freund. Das mache ich gleich morgen Abend auf dem Ball. Also putz dich fein raus!“
Damit hatte ich ihn voll erwischt, denn er hasste öffentliche Auftritte, die zukünftig jedoch nicht zu vermeiden sein würden. Aber dass er bereits morgen Abend zu meinem persönlichen Beschützer werden sollte, verunsicherte ihn. Es schien so, als würde er sich und seine neu erlernten Fähigkeiten mal wieder maßlos unterschätzen.
„Ich weiß nicht, ob… ob das morgen Abend so eine gute Idee ist…“, verlegen druckste der Junge mit den schwarzen Locker herum.
Doch ich winkte ab: „Und ob! Wieso warten, wenn morgen Abend die perfekte Gelegenheit ist?“
Dagegen hatte der pfiffige Zarif nichts in der Tasche. Er wusste keinen aufsässigen Spruch. Und damit hatte ich gewonnen und Zarif würde morgen offiziell zu meinem Leibwächter werden.
Aufmunternd legte ich Zarif eine Hand auf die Schulter, als ich an ihm vorbei ging, um mich nun endlich an meinen Lieblingsort zu begeben. „Kopf hoch! Das wird bestimmt nicht schlimmer als die Kampfausbildung…“ Als ich das äußerte, konnte ich mir ein winziges Grinsen nicht unterdrücken. „Also, bis dann!“
Ich verließ die Küche und hörte gerade noch wie Zarif fluchte: „Und ob es schlimmer sein wird…“ Erneut musste ich grinsen, während ich den Weg in den Garten einschlug.
Der Kies knirschte unter meinen Füßen. Doch gerade dieses Geräusch vermittelte mir jedes Mal das Gefühl von Sicherheit. Wenn ich diesen Weg entlang schritt, fühlte ich mich Zuhause. Denn auf diesem Weg und den umliegenden Wiesen war ich groß geworden. Hier hatte ich laufen gelernt und hier hatte ich meine erste Unterrichtsstunde in Kampftechniken bekommen, um mich im Notfall wenigstens etwas verteidigen zu können. Dieser Ort war mir vertraut, hier war meine Heimat.
„Immer wieder behauptete Unwahrheiten werden nicht zu Wahrheiten, sondern was schlimmer ist, zu Gewohnheiten.“
Oliver Hassencamp
Gierig sog ich die reine Luft in meine Lungen und ergötzte mich an dem mir dargebotenen Anblick. Die weiten Kornfelder auf der einen Seite und der dichte, grüne Wald auf der anderen. Überall summte und surrte es und das leise Gezwitscher der Vögel verschmolz mit dem Rauschen der Blätter. Es war ein wundervoller Nachmittag, an dem die Sonne sich geradezu verausgabte.
Begierig darauf so viel Sonnenlicht wie möglich abzubekommen, reckte ich mein Gesicht dem Himmel entgegen und genoss den leichten Wind, der durch mein Haar wehte.
Hier war es einsam, aber ich fühlte mich hier oben wohl. Hier war ich dem Himmel und somit der Freiheit so nah und doch war sie schier endlos weit weg. An diesem Ort konnte ich mich einfach treiben lassen, meine Gedanken konnten frei herumschweifen und ich musste mich nicht verstellen, mich nach keinerlei Etiketten richten. Hier zählten einzig und allein meine Wünsche und Träume.
Meine Eltern kannten diesen Ort nicht. Die einzigen, die wussten wie man hierher kam, waren mein älterer Bruder Damal und ich. Mir wurde ganz flau im Magen, als ich an Damal dachte. Es war nun schon zwei Sonnenzyklen her, dass er seine Kriegsausbildung begonnen hatte. Er war jünger gewesen als Daomir und hatte es zu spüren bekommen, dass er nicht der erste Thronfolger gewesen war. Man hatte es ihm noch nie leicht gemacht. Aber während seiner Kriegsausbildung sickerte die Information an die Engel, wo sich unser Ausbildungslager befand. Und so wurde das Lager eines Nachts angegriffen. Damal schlief tief und fest und keiner warnte ihn. Deshalb wurde er kaltblütig im Schlaf ermordet.
Wenn ich mich daran erinnerte, stieg eine unbändige Wut in mir auf. Wären die anderen Dämonen damals nicht so rücksichtslos egoistisch gewesen, dann würde mein Bruder jetzt noch leben und ich könnte eventuell mit ihm zusammen hier sitzen.
Ich seufzte, wie sehr ich mir wünschte die Zeit zurückdrehen zu können, um Damal zu warnen. Aber das war nun mal leider nicht möglich.
Und nun war ich an der Reihe meine Kriegsausbildung zu absolvieren. Bereits in zwei Tagen würde ich mich zum Ausbildungsort begeben, zusammen mit Zarif. Ein kleiner Trost. Denn es könnte sonst ziemlich langweilig werden. Aber der aufgeweckte Küchenjunge war jederzeit für einen Streich zu haben, dass wusste ich aus Erfahrung. Ich grinste. Zarif und ich hatten schon so einiges angestellt und doch nie eine harte Strafe bekommen.
Meine Gedanken schweiften nun weiter durch meine Zukunftsvorstellung, als mir bewusst wurde, dass meine Zukunft sich schon heute Abend entscheidend ändern konnte. Ich erinnerte mich wieder daran, dass meine zukünftige Gefährtin heute gemeinsam mit ihrer und meiner Familie speisen würde.
Die Aussicht auf den Verlauf des Abends war trist, denn meine Frau Mutter hatte die Angewohnheit nur Mädchen für mich in Betracht zu ziehen, die absolut gesittet, brav und besonnen waren. Die Mädchen waren mir einfach zu regeltreu, man konnte mit ihnen nichts Verrücktes und Aufmüpfiges anstellen. Es wurde schnell langweilig mit ihnen.
Deshalb wollte ich mir meine zukünftige Gefährtin am liebsten selbst aussuchen. Doch das gefiel meiner Mutter ganz und gar nicht.
Da hörte ich unter mir auf dem Kies schwere Schritte und eine vertraute Stimme, die nach mir verlangte. Ich seufzte wehleidig. Denn ich wäre gerne noch länger hier geblieben, aber man erwartete mich bestimmt schon.
„Damian…“, ertönte erneut die dunkle Stimme meines Vaters, bevor er sich wieder entfernte, da er mich hier nicht erwartete. Ich wartete noch kurz ab, damit er wirklich außer Sichtweite war. Denn mir war es wirklich lieber, wenn dieser Ort geheim blieb.
In der Einganshalle wurde ich schon sehnsüchtig erwartet. Meine Mutter war schon ganz aufgeregt, weil ich nicht beim ersten ihrer Rufe zur Stelle gewesen war. Aber das war mir herzlich egal. Ich kam ganz gemütlich angetrottet und sah meine Eltern mit einem fragenden Blick an. Ich tat einfach so, als würde ich nicht wissen, was man gerade von mir wollte.
Völlig verärgert tadelte mich meine Mutter deswegen: „Du weißt doch, dass wir heute Abend Gäste begrüßen! Und du kommst einfach…“
„…wie immer zu spät… Du enttäuschst mich, mein Sohn. Ich hätte wirklich mehr von dir erwartet… und so weiter und so weiter….“, unterbrach ich sie jäh. Ich kannte dieses Spiel nur zu gut: Man redete dem Kind Schuldgefühle ein, damit man von seinen eigenen Fehlern ablenkte und diese so vertuschte. Doch mit der Zeit hatte ich gelernt nichts auf die Vorwürfe, die meine Mutter mir während dieses Spiels machte, zu geben.
Meine Mutter war völlig perplex und erschrocken riss sie ihre meergrünen Augen auf. Denn sie hatte sich noch immer nicht eingesehen, dass ich einen Dreck auf ihre Meinung, ihre Vorwürfe und ihre diversen Ratschläge gab – meistens zumindest, manchmal gab es auch Ausnahmen; das kam aber eher selten vor. Ich war ein kleiner Rebell und umging, so oft es mir möglich war, die strengen Regeln und uralten Etikette.
Weil meine Frau Mama nach wie vor völlig erschüttert über meine Reaktion auf ihre Standpredigt war, ergriff mein Vater nun das Wort: „Damian, hör zu! Du weißt, wie wichtig deine Vermählung für unser Reich ist, und dass wir damit unsere Verteidigung stärken… Du willst doch auch, dass schnellstmöglich wieder Frieden einkehrt und deshalb brauchen wir Unterstützung. Eine Vermählung ist unsere beste Chance auf den Sieg und ich bin der festen Überzeugung, dass du einen Hochzeit nicht bereuen wirst…“ Er legte seine große Hand auf meine Schulter und drückte kurz aufmunternd zu.
Ich hatte Achtung vor meinem Vater, und das nicht nur, weil er der König war, nein für mich war er mehr als das. Für mich war er eine Art Vorbild, wie er regierte, wie er mit den anderen Dämonen umging und wie er mit seinen Söhnen umging. Mein Vater war mit seinen dunkelbraunen Augen, die ich von ihm geerbt hatte, ein wahrhaft aufrichtiger Mann, der sich nicht verstellte und seinen Weg ging. Und dafür bewunderte ich ihn. Ich nickte, mir meine Niederlage eingestehend.
Gut, seufzte ich dann noch innerlich. Ich würde mir das Mädchen wenigstens anschauen und versuchen sie ein bisschen kennen zu lernen, bevor ich mir ein Urteil bildete. Aber ich glaubte nicht, dass sie anders war als die bisherigen, die meine Mutter für mich ausgesucht hatte.
„Dann geh jetzt auf dein Zimmer, mein Sohn. Eine Zofe wartet bereits auf deinem Zimmer, um dir bei der Auswahl deiner Abendgarderobe zu helfen.“ Die Augen meines Vaters hatten einen leicht mitleidigen Blick als er das sagte. Dennoch versuchte er mir aufmunternd zu zulächeln. Es war ein ehrliches Lächeln, aufrichtig.
Und so schlug ich den Weg zu meinem Zimmer ein. Vorbei an gefühlten fünfzig Türen, den langen Gang entlang. Auf meinem Weg erinnerte ich mich an die Zofe von heute Nachmittag. Sie würde mir heute helfen und ich rief mir wieder ins Gedächtnis, wie unwohl sie sich bereits dabei gefühlt hatte, mir einzig und allein mitzuteilen, dass sie mir helfen würde. Ich musste breit grinsen. Natürlich war es für mich auch nicht gerade alltäglich, dass mir ein weiblicher Dämon beim Ankleiden half, aber deswegen musste ich doch nicht vor Scham im Boden versinken. Ich war schließlich der Prinz und konnte mir deshalb schon einiges erlauben.
Endlich kam meine Zimmertür in Sichtweite.
Und wer lümmelte vor meinem Zimmer herum? Natürlich Zarif, der lehnte entspannt an der Wand und kaute auf einem Grashalm herum. Als er meine Schritte hörte, blickte er auf und rief freudig: „Na, auch wieder aufgetaucht?“
Ich klatschte ihn ab. „Ja…ich brauchte mal wieder etwas Zeit für mich, weißt du? Manchmal ist mir das alles hier einfach zu viel, es scheint mich zu erdrücken.“
Zarif stimmte mir zu: „Ich weiß, was du meinst…“
„Aber was machst du eigentlich hier? Ich wollte doch erst morgen Abend bekannt geben, dass du mein offizieller Leibwächter wirst…“
„Sania hat mich darum gebeten…“ Als er meinen fragenden Blick bemerkte, erklärte er mir: „Die Zofe, die dir heute eigentlich beim Ankleiden helfen sollte. Sie ist nicht allzu groß, hat eisgraue Augen und ihre kurzen, braunen Haare fallen wir häufig ins Gesicht…“
„Achso, die meinst du….“
„Genau, und sie hat mich halt darum gebeten dir heute zu helfen, weil ihre Tochter krank geworden ist und sie deshalb schnell Heim musste… Also, rann ans Werk!“ Zarifs Enthusiasmus war mal wieder unwahrscheinlich groß. Er war sich absolut sicher, dass er mich ebenso gut wie Sania für das Bankett herrichten könnte. Deshalb stürmte er, zu meiner freudigen Erleichterung, ohne auf irgendwelche Etiketten zu achten durch die Tür in mein Zimmer. Ich folgte ihm.
Das aller erste, was Zarif tat, war sich aus vollem Lauf auf mein erst frisch bezogenes und aufgeschütteltes, beigefarbene Himmelbett zu werfen. Ich musste grinsen. Denn in diesem Augenblick erinnerte er mich an mich selbst. Er erinnerte mich daran, wie ich mich, als ich vielleicht zehn, höchstens zwölf, Sonnenzyklen alt gewesen war, immer genau dann auf mein Bett geschmissen hatte, wenn die Zofen es vor einer Sekunde erst fertig zu recht gemacht hatten. Doch sie hatten nie irgendetwas verlauten lassen – das war ihnen schließlich auch nicht erlaubt – und ich mich deshalb abermals in die Kissen fallen ließ.
In dieser Zeit war mein Leben noch unbekümmert gewesen. Damals hatte ich mir einzig und allein darüber Sorgen gemacht, was ich als nächstes spielen könnte und mit wem. Ich war durch und durch ein unbeschwert lebendes Kind gewesen.
Ich seufzte, weil ich wusste, dass ich nun den Spielverderber spielen musste. Die Zeit drängte und ich musste mich noch komplett fertig machen. „Zarif? Könnten wir uns jetzt bitte meiner Garderobe widmen?“
„Du hast es wohl eilig unter die Haube zu kommen, was, D?“, neckte mich der Junge mit den lavendelfarbenen Augen.
Ich schüttelte lachend den Kopf. „Nein…nein, überhaupt nicht! Aber meine Frau Mama wäre ganz schön wütend, wenn ich heute zu spät kommen würde. Ich soll doch schließlich einen guten Eindruck hinterlassen…“ Ich reckte den Kopf und die Nase so weit nach oben, dass es schon wieder übertrieben war, und stolzierte wie ein eleganter Kranich durch mein Zimmer.
Das war zu viel für Zarif, er prustete lautstark los und bekam sich kaum wieder zusammen. Und auch ich musste herzhaft lachen.
Dann waren wir endlich wieder bei Atem und gingen auf meinen Kleiderschrank zu – na ja, ein Kleiderschrank ist es wohl nicht gerade, eher ein Kleiderzimmer.
Sprachlos sah ich Zarif um, er war nun seit einiger Zeit nicht mehr hier gewesen. Denn wie es für meine Mutter typisch war, fand sie, dass es sich nicht besonders schickte, dass ich mit einem unserer Küchenjungen, einem der Bediensten, befreundet war und andauernd mit ihm Zeit verbringen wollte. So hatte sie es fast allen unserer Bediensteten, und vor allen Zarif, untersagt, hierher zu kommen. Als ich jünger war, hatte ich ihr das übel genommen. Doch schließlich hatte ich einen Weg gefunden, trotzdem mit dem Küchenjungen zu spielen – ich war einfach selber in die Küche gegangen oder wir hatten uns außerhalb des Gebäudes von Bäumen getarnt getroffen.
Nachdem sich Zarif nach dem Anblick meines übermächtigen Kleiderarsenals wieder beruhigt hatte, ging er durch den Raum. Er zog hier und da ein Kleidungsstück heraus, um es genauer zu betrachten. Doch er schien kein geeignetes Stück gefunden zu haben, als er einmal komplett an den zahlreichen Kleiderstangen vorbeigegangen war.
Mit grüblerischer Miene rieb er sich das Kinn und dachte angestrengt nach. Ich bedachte ihn schweigend.
Als er seine Eingebung bekommen zu haben schien, schnippte er mit den Fingern und rief erfreut: „Ich hab’s!“
Schnurstracks lief er zu der Kleiderwand neben dem Fenster, welches helle Frühlingsstrahlen den Raum durchfluten ließ, und griff zielsicher nach einem Kostüm. Als er es hervorzog und mir präsentierte, prustete ich lautstark los. „Das ist wirklich die perfekte Garderobe für heute…da wird meine Zukünftige völlig hin und weg sein…“, brachte ich gerade so zwischen zwei Lachanfällen hervor.
„Okay, okay…“ Zarif gluckste immer noch, dennoch versuchte ein ernstes Gesicht zu machen. Auch ich atmete tief durch und blickte ihn erwartungsvoll an.
Nachdenklich durchschritt der Junge mit den lockigen, schwarzen Haaren erneut durch den Raum, ließ seine Finger durch die gefüllten Kleiderstangen gleiten. Dann zog er wieder ein Kleidungsstück heraus und grinste: „Du könntest heute Abend doch ganz elegant als Sandmännchen gehen.“
Ich schüttelte lachend mit dem Kopf, denn der Schlafanzug den Zarif in den Händen hielt, war mir schon einige Sonnenzyklen zu klein.
So ging das noch eine ganze Weile: Zarif griff irgendein schrilles, merkwürdiges oder unanständiges Kostüm und führte es mir vor, als wäre dieses die einzig mögliche Garderobe. Er zog eine sommerliche Tierhauthose mit einem blütenbestickten Hemd hervor und dann einen pompösen Gehrock. Sachen, die einmal meinem Vater und davor dessen Vater gehört hatten und die ich selbst niemals tragen würde.
Doch zum Schluss reichte Zarif mir doch etwas Anständiges: Eine royalrote Hose aus Samt mit einem blütenweißen Hemd und passendem Jackett. An den Ärmeln des Jacketts und den Beinen der Samthose baumelten kleine, goldene Kordeln hin und her. Und dann kramte er noch dazu eine samtene schwarze Fliege aus einer Schublade und elegante schwarze Schuhe aus einer anderen hervor.
Trotz anfänglicher Skepsis zog ich die Sachen an und war überaus erstaunt, wie gut sie mir standen. Perplex betrachtete ich mich im Spiegel und durchaus zufrieden gesellte sich der Junge mit den lavendelfarbenen Augen dazu. „Sieht gut aus, oder?“, fragte er stolz.
„Ja… Das hätte ich wirklich nicht erwartet.“, meinte ich sprachlos.
Im Spiegel starrte mich ein junger, attraktiver Dämon mit dunkelbraunen Augen und ein wenig zerzausten, schwarzen Haaren an. Die wirr abstehenden Haare machten den Dämon noch gut aussehender und umrahmten seine perfekten Gesichtszüge.
Als ich mich endlich von meinem Spiegelbild losreißen konnte, drehte ich mich zu Zarif um und meinte: „Du kannst mir öfter dabei helfen, mich standesgemäß anzukleiden.“ Bei dem Wort standesgemäß mussten sowohl mein bester Freund als auch ich grinsen. Denn wir dachten beide an die ersten Kostüme, die Zarif mir angeboten hatte.
„Kann ich machen…“, murmelte Zarif.
„Danke noch mal!“ Anerkennend schlug ich ihm auf die Schultern.
„Eine anständige Frau: eine Dame, die weiß, was sie nicht wissen darf, obwohl sie es weiß.“
Jean-Paul Belmondo
Ich blickte erwartungsvoll aus dem Fenster, schaute hinauf zum Tor. Doch es geschah nichts. Es regte sich kein einziges Lüftchen mehr, kein einziger Vogel flog mehr herum oder sang sein freudiges Liedchen.
Alles schien wie erstarrt zu sein und ich fragte mich, ob es sich nach Tod genauso anfühlte; dort, wo man dann war. So still, starr und kalt. Denn in jenem Moment war mir bitterkalt. Ich bemerkte, wie mir eine heimtückische Angst den Rücken hinaufkletterte und wie ich mich nach der Sonne verzerrte, die sich nun hinter den dichten, grauen Wolken versteckte, die nun den Himmel lückenlos bedeckten.
Ich seufzte und musste einsehen, dass die Stunde näher rückte, in der ich meine eventuelle Braut kennen lernen würde. Die Stunde, die mein Leben verändern könnte. Und ich hatte das dumpfe Gefühl, dass diese Stunde dunkler sein würde, als alles, was ich bisher erlebt hatte. Es würde die Stunde der absoluten Finsternis sein.
Ich drehte mich gerade vom Fenster weg, während ein dicker erster Regentropfen an mein Fenster prallte. Regen, das hatte mir gerade noch gefehlt und verbesserte meine Laune rein gar nicht. Ganz im Gegenteil, es ließ meine Laune noch weiter in Richtung Keller sinken. Der Tag war einfach nur zum Verzweifeln.
Stöhnend drehte ich mich zurück zum Fenster, um noch einen Blick hinauszuwerfen, bevor ich hinuntergehen und zusammen mit meinen Eltern in der Empfangshalle warten würde. Da entdeckte ich zwei stolze Pferde, die vor eine pechschwarze Kutsche gespannt waren. Die Kutsche schlug den ausgefahrenen Weg zu unserem Schloss ein und ich wusste, dass das meine Zukunft sein könnte.
In der Eingangshalle des Schlosses wartete bereits der halbe Hofstaat – meine Eltern, Zarif, jede Menge unserer Diener und Quilla, die sich überraschender Weise eng an ihren geliebten Daomir schmiegte. Erleichterung stieg in mir auf, denn wenn Dao hier war, würde meine Mutter nicht ganz so penibel sein, was mein Äußeres oder meine Gespräche betraf.
Meine gesamte Familie starrte zu mir herauf, ihre Blicke bohrten Löcher in mich und in allen Blicken, außer der von meiner Mutter, lag ein mitleidiger Ausdruck. Die Frau mit den meergrünen Augen, die stetig versuchte mich zu einem gesitteten erwachsenen Dämon zu erziehen, sah mich stattdessen ein wenig selbstzufrieden an. Sie sah so aus, als freute sie sich bereits auf meine Reaktion, die meine neue Brautanwärterin auslösen würde. Und ich fragte mich nur verwirrt: Was hat denn das bitte schon wieder zu bedeuten? Was hat meine Mutter jetzt schon wieder angerichtet?
Am Ende der Treppe angekommen schloss Daomir mich erst einmal in die Arme und klopfte mir auf die Schulter. Dabei flüsterte er mir so leise, dass nur ich es hören konnte, ins Ohr: „Du tust mir wirklich leid, Damian! Ich glaube Mutter will dir eine Lektion erteilen, deshalb sei tapfer und versuch dir nicht anmerken zu lassen...“ Dann löste er sich wieder von mir und bedachte mich noch einmal ausgiebig, bis er sein Kompliment ein bisschen lauter äußerte: „Du siehst wirklich schick aus! Etwas altmodisch aber dennoch sehr elegant!“ Er zwinkerte mir noch einmal kurz zu, bevor Quilla ihre Arme wieder fest um ihn schlingen durfte. Und es sah ganz so aus, als würde sie ihren Mann nie wieder loslassen wollen.
Irgendwie machte mich dieser Anblick – mein Bruder, der sich mit seiner Geliebten fest umschlang – ein bisschen neidisch. In den tiefsten Tiefen meines Inneren sehnte ich mich danach auch so geliebt zu werden wie Dao.
Widerwillig gesellte ich mich zu meiner Familie, um auf die neue Brautanwärterin zu warten.
Als der Kies des Weges vor dem Schloss knirschte und sich nach etlichen Sekunden immer noch keiner anschickte unseren Gast zu begrüßen, setzte sich meine Mutter in Bewegung. Die Diener öffneten ihr selbstverständlich die große Eingangspforte. Am Fuße der Außentreppe wurde nun von einem völlig schwarz gekleideten Diener mit schwarzen, kinnlangen Haaren die Kutschentür geöffnet und eine junge Dämonin stieg aus.
Mir stockte der Atem und wie es schien auch allen anderen, außer natürlich meiner Mutter.
„Herzlich Willkommen, Fräulein Pamäti! Hattet Ihr eine gute Reise?“, fragte meine Muter mit zuckersüßer, blumiger Stimme.
Die Antwort kam prompt und die Stimme, die sie äußerte, passte so gar nicht zu der zierlichen Gestalt. „Es war auszuhalten: der Sitz war zwar ein wenig zu hart und ihre Zufahrt ist ein Kraus, aber wie sie sehen, habe ich es überlebt! Auch wenn ich ein paar blaue Flecken davontragen werde...“ Ihre Stimme war schrill und krächzte an den Enden der Sätze ein wenig, so als würde der Dämonin die Stimme fast versagen. Aber das geschah nicht.
Stattdessen kam sie mit meiner Mutter die Außentreppe hinaus und Stufe für Stufe konnte ich mehr von der Dämonin erkennen. Sie war klein und wehrlos und doch hatte man nicht das Gefühl sie beschützen zu müssen. Ihre langen Haare wallten ihr feuerrot über den Rücken und ihre apfelgrünen Augen verliehen ihrem kantigen Gesicht nur noch mehr Härte. Ihr Anblick ließ mich erschaudern und an den Reaktionen meiner restlichen Familien konnte ich erkennen, dass es ihnen ebenfalls so erging. Denn ihnen stockte hörbar der Atem und sie wendeten alle kurzzeitig den Blick ab, wenn auch nur für einen winzigen Augenblick.
„Damian, darf ich dir deine zukünftige Frau vorstellen? Das ist Qitura Pamäti. Sie stammt aus gutem Hause und ist gerade einmal einen Sonnenzyklus jünger als du.“ Meine Mutter strahlte wie ein Honigkuchenpferd und war sichtlich stolz auf ihre Wahl.
Doch ich konnte das nicht ganz so sehen wie sie. Die junge Dame war mir schon jetzt unsympathisch und machte einen hochnäsigen Eindruck auf mich. Dennoch machte ich gute Miene zu bösem Spiel. Charmant nahm ich ihre blasse Hand und hauchte einen federleichten Kuss auf sie. Als ich Qitura in ihre apfelgrünen Augen sah, sagte ich wohl erzogen: „Freut mich sehr Sie kennen lernen zu dürfen, gnädiges Fräulein!“
Aber sie nahm mein ihr kokett zugeworfenes Strahlen gar nicht zur Kenntnis. Stattdessen wandte sie sich wieder meiner Mutter zu und antwortete nur kurz: „Ganz meinerseits, junger Herr... Vielen Dank für die Einladung aber ich würde mich nach dieser holprigen Fahrt gerne noch ein wenig frisch machen!“ Als sie das Wort holprig sagte, verzog sie wehleidig ihr Gesicht und rieb sich gespielt das empfindliche Hinterteil.
Ungeachtete dessen war meine Frau Mama überfreundlich zu unserem Gast und bot augenblicklich an: „Ich zeige Ihnen sofort Ihr Zimmer!“
Um Himmels Willen, dachte ich, jetzt dreht meine Mutter völlig durch! Und tief in meiner Magengrube wusste ich bereits, dass die Sache mit Qitura noch ein schlimmes Ende nehmen würde.
Als sich die Gemüter verstreuten, zogen mich Quilla und Daomir zur Seite und fragten mich besorgt: „Ist das wirklich Mutters Ernst? Diese Dämonin?“
Ich zuckte seufzend mit den Schultern. „Ich fürchte, ja...“
„Die ist mit total unsympathisch und ich habe das dumpfe Gefühl, die wird noch für richtig Ärger sorgen...“, meinte die Gefährtin meines Bruders Stirn runzelnd.
Ich nickte: „Ja, das Gefühl habe ich auch...“
„Dann sind wir ja schon zu dritt!“, warf Dao ein und zögerlich fügte er hinzu, „Und ich habe auch irgendwie den Verdacht, dass ich den Namen Pamäti schon einmal zuvor gehört habe. Und glaubt mir, ich weiß noch, dass es in keinem guten Zusammenhang war!“ Sorgenfalten breiteten sich auf der Stirn meines Bruders aus und wurden immer tiefer, je länger er grübelte.
„Rehauge? Darf ich dich mal etwas fragen?“, mir schoss urplötzlich eine wichtige Frage durch den Kopf.
Herzerwärmend lächelte sie mich an. „Natürlich!“
„Das Haus Pamäti, wo steht es in der Thronfolge?“ Quilla war gut in Fragen über Politik und Ständeordnung, deshalb war ich mir ziemlich sicher, dass sie mir die Frage mühelos beantworten konnte.
Nachdenklich legte sich die große Frau mit den perlweisen Zähnen einen Finger an das Kinn. „Ich glaube... ziemlich weit oben sogar... siebenundzwanzigste Stelle. Aber hundertprozentig weiß ich es nicht...“
„Ach so...“, entgegnete ich gedankenverloren.
„Wieso fragst du?“
„Nur so. Hätte ja –“ Jäh wurde ich unterbrochen.
„Ich hab’s! Ich weiß wieder woher ich den Namen Qitura Pamäti kenne!“
Erwartungsvoll richteten sich Quillas und meine Blicke auf Daomir und warteten auf die gerade wieder gewonnene Erkenntnis. „Qitura Pamäti ist im Kriegslager, zu dem ich gehöre, als die Schlächterin des guten Benehmens bekannt. Man sagt über sie, dass sie zwar strick nach den Etiketten handelt aber alles, was nicht fest aufgeschrieben ist, alles das tut und sagt sie. Es ist ihr egal, was als ungeschriebenes Gesetz bekannt ist...“
Ich erstarrte. Was hatte das denn jetzt zu bedeuten?
„Was heißt das jetzt, Schatz?“, fragte Rehauge meinen Gedanken aussprechend.
„Mehr weiß ich auch nicht. Aber ich vermute, sie verhält sich in bestimmten Situationen nicht so, wie wir es normalerweise tun würden.“ Die Stimme meine Bruders klang besorgt.
Auch Quilla machte ein betretenes Gesicht und ich – ich atmete mehrmals tief durch und dachte: „Augen zu und durch!“
„Wie bitte? Was hast du gerade gesagt, Brüderchen?“
Oh, anscheinend habe ich gerade laut gedacht, wie peinlich. „Ich hab nur laut gedacht...“, sagte ich mit leicht geröteten Wangen. „Ich meinte nur so zu mir: Augen zu und durch!“
„Ach so...“, murmelte Quilla. Anschließend sah sie ihren Mann drängend an. Sie wollte endlich etwas Zeit mit ihm alleine verbringen. Denn sie hatte ja seit mehreren Mondzyklen nichts mehr von ihm gehört und sich solche Sorgen gemacht, dass sie jetzt einfach seine Nähe brauchte.
Deshalb sah mir Daomir nur noch einmal aufmunternd in die Augen, um mir zu signalisieren, dass er mein Leid verstehen konnte und mir eine hilfreiche Stütze in jeder Lebenslage sein würde. Und dafür war ich unendlich dankbar. Dann gingen die zwei Turteltäubchen in Richtung ihrer Gemächer.
Als ich den mit Spiegeln ausgekleideten Speisesaal betrat, traute ich meinen Augen kaum. Qitura trug nun einen champagnerfarbenen Anzug, einen Männeranzug. Ihre Kleidung betonte zwar ausgezeichnet ihre schlanke Figur aber die Farbe ließ ihre Augen noch beißender scheinen, als sie sowieso schon wirkten.
Als ich den Raum betrat und standesgemäß von einem Diener angekündigt wurde, wandte sie sich zu mir und lächelte. Augenscheinlich freute sie sich auf meine Gesellschaft. Doch das würde sich bald ändern, ahnte ich bereits, während ich mir selbst die Frage stellte: Wieso ist sie plötzlich so... so freundlich? Nicht höflich, sondern freundlich. Das war für mich nämlich ein Unterschied, und zwar ein gewaltiger.
Auch meine Eltern hatten eine fröhliche Miene aufgesetzt und darum setzte ich mich steif an den riesigen Tisch aus Albonholz – ein sehr kostspieliges Holz, was aber natürlich für die Königsfamilie keinerlei Rolle spielte.
Etwas irritiert setzte ich mich auf einen der großen mit rotem Samt ausgepolsterten Sessel, ebenfalls aus Albonholz. Der Stuhl war weich und fühlte sich vertraut an, ganz im Gegenteil zu der Stimmung, die den Raum ausfüllte...
„Wollen wir vielleicht anfangen?“, fragte meine Mutter und ohne auf eine Antwort zu warten, schrie sie einem der Bediensteten zu: „Lasst den ersten Gang auftragen!“ Dabei klatschte sie in die Hände und reckte ihre Nase so in die Höhe, dass es so aussah, als würde sie damit Höhenluft schnuppern wollen.
Belustigt kicherte Qitura hinter einer ihrer papiernen Hände. Anscheinend empfand sie die Haltung meiner Mutter ebenfalls so amüsant wie ich. In diesem Moment entwickelte ich erstaunlicherweise das allererste Mal Sympathie für die junge rothaarige Dämonin.
Das Abendmahl ging seinen mehr oder weniger gewohnten Gang. Meine Mutter, mein Vater, Qitura und ich saßen am Tisch, während sich Daomir und Quilla ihr Essen, wie immer nach einem von Daos längeren Fronteinsatz, auf ihr Zimmer bringen ließen. Gang für Gang wurde verzerrt und man hörte lediglich das Geräusch von genüsslichem Kauen und das Klimpern, wenn Geschirr aneinander stieß.
Ich wunderte mich bereits, weil mein Vater normalerweise sehr gesprächig war, als er sagte: „Und Qitura? Wie geht es Ihrer Frau Mutter und Ihrem Herrn Vater? o sind die beiden denn überhaupt? Wollten sie uns nicht Gesellschaft leisten?“ Mehr fällt meinen Vater wohl nicht ein. Eine Standartfrage... Aber Moment mal! Es stimmte, eigentlich hieß es, Qitura würde zusammen mit ihrer Familie herkommen.
Aber meiner Brautanwärterin war das scheinbar egal. „Sehr gut. Mein Vater hilft gerade im Kriegslager bei der Ausbildung weiterer Soldaten. Und meine Frau Mama kümmert sich derweil um unsere Residenz. Darum sind die beiden zu ihrem Bedauern leider verhindert...“ Eine kurze Pause entstand, bevor mich die Dämonin mit den apfelgrünen Augen anstarrte und äußerte: „Wie ich gehört habe, werdet auch Ihr demnächst Eure Ausbildung beginnen. Dann begegnet Ihr bestimmt auch meinem Herrn Papa. Richtet ihm schöne Grüße von seiner Tochter aus. Schließlich habe ich ihn nun auch schon fast einen ganzen Sonnenzyklus nicht mehr gesehen. Entweder war er an der Front oder im Ausbildungslager oder ich befand mich auf Reisen.“ Mit diesen Worten schenkte sie mir ein strahlendes Lächeln.
„Ich richte ihm Eure Grüße sehr gerne aus...“, meinte ich höflich zwischen zwei Bissen Elanfleisch. Ein zartes, saftiges Fleisch von einem etwa hüftgroßen Tieres mit weißem Fell.
„Vielen Dank!“ Sie nickte und mit einer für mich unverständlich selbstbewussten Art fügte sie noch hinzu: „Ich hoffe nur, dass Euch nicht das gleiche zustößt wie Eurem Bruder. Wie hieß er noch gleich? Ach ja...Damal! Das wäre tragisch, wenn Ihr ebenfalls im Schlaf von den Engeln ermordet würdet, ohne dass Euch Eure Kameraden versuchen zu warnen...“
Mir blieb der Mund offen stehen und ich war so geschockt, dass ich keinen einzigen Ton herausbekam. Meinem Vater ging es scheinbar ähnlich und erstaunlicherweise auch meiner Mutter. Denn ihr fiel der Löffel, mitten auf dem Weg zu ihrem Mund, aus der Hand. Er prallte an den Tellerrand und ein Stückchen des teuren Porzellans sprang ab.
Völlig fassungslos wurde Qitura von allen im Raum angestarrt. Es war so ruhig im Raum, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können.
„Die meisten Menschen haben vor einer Wahrheit mehr Angst als vor einer Lüge.“
Ernst Ferstl
Die zitternde Hand vor den Mund haltend hatte meine Mutter mit den Tränen zu kämpfen gehabt, bevor sie eilig den Speisesaal verlassen hatte. Es hatte sie sehr mitgenommen, denn bis heute war sie nicht über die Todesumstände von Damal hinweggekommen.
Aus diesem Grund wussten auch nicht viele über die genauen Todesumstände meines Bruders Bescheid und Qituras Familie gehörte zu den Dämonen, die es eigentlich nicht wissen dürften. Eigentlich.
Kurz nachdem die Königin der Dämonen mit den kinnlangen, braunen Haaren den Raum verlassen hatte, erhob sich nun auch mein Vater. „Entschuldigt mich bitte!“, sagte er förmlich und sah mir eindringlich in die Augen. Damit gab er mir zu verstehen, was nun meine Aufgabe war, während er meine Mutter versuchte zu beruhigen. Dann verließ auch er den Saal, sein Teller immer noch halbvoll.
Mit seinem eindringlichen Blick hatte mir der Dämon mit den dunkelbraunen Augen zu verstehen gegeben, dass ich mit Qitura zu reden hatte. Und zwar schnellstmöglich. Ihr Fauxpas war größer gewesen, als sie vermutlich dachte, und ich sollte die Situation klären. Eine wahnsinnig tolle Aufgabe, dachte ich und rollte dabei in Gedanken theatralisch mit den Augen.
Dennoch zeterte ich nicht lange und begann: „Qitura? Woher weißt du, dass von meinem Bruder?“
„Na, es weiß doch jeder, dass er tot ist.“ Sie sah mich wie ein unschuldiges Lamm an.
Ich stöhnte. „Nein, das meine ich nicht. Woher weißt du, wie er gestorben ist?“
Sie zuckte mit ihren schmalen Schultern. „Ich hab es irgendwo mal gehört... Wieso?“ Sie machte eine Engelsmiene.
Ich hätte aus der Haut fahren können. Wie kann sie nur so unverschämt sein? Das ist ungeheuerlich! „Das spielt jetzt keine Rolle! Aber wo hast du davon gehört?“
„Irgendwo... Ich weiß es nicht mehr genau.“ Sie fuchtelte gleichgültig mit ihrer papiernen Hand. Doch ihre stechend apfelgrünen Augen verrieten sie. Sie wusste noch ganz genau, wo und von wem sie von den Todesumständen meines Bruders gehört hatte, und das machte mich beinahe rasend vor Wut.
„Komm schon! An irgendetwas musst du dich doch noch erinnern.“ Noch wollte ich wenigstens halbwegs Ruhe bewahren oder es zumindest versuchen. Doch in meinem Inneren brodelte es bereits, wie in einem Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch stand.
„Nein, ich weiß wirklich nicht mehr, woher ich das weiß!“ Langsam fühlte sie sich durch meine forsche, unnachgiebige Art in die Ecke gedrängt, bedroht. Aber was interessierte mich das! Ich hatte ja nur eine einfache Frage an sie.
„Qitura, komm schon!“ Allmählich wurde ich wirklich ungeduldig und vor allen Dingen stinksauer. Meine Wut wollte an die Oberfläche brechen. Aber noch wehrte ich mich angestrengt dagegen.
Jetzt wurde sie jedoch noch nervös. Unruhig verlagerte sie ihr Gewicht von einer Seite des Stuhls auf die andere und spielte dazu noch fieberhaft mit ihren säuberlich manikürten Fingern. „Ich weiß es zur Hölle noch mal nicht...“, nuschelte sie kleinlaut.
„Lüg mich nicht an!“ Ich schlug mit beiden Händen flach auf den Tisch – ein lauter Knall – und stand so ruckartig auf, dass mein Stuhl beinahe umgekippt wäre. Ihre Augen vor Schreck weit aufgerissen sah sie mich erschrocken an. Denn nun war mir endgültig der Kragen geplatzt. „Ich sehe doch, dass du es genau weißt. Du willst es mir nur nicht sagen!“ Ich schnaufte kurz, bevor ich weiter machte: „Sag mir endlich die Wahrheit, sonst...“ Ja, was sonst? „... sonst... sonst hast du nichts mehr in adligen Kreisen zu suchen. Du nicht und deine restliche Familie auch nicht!“
Das war hart, vielleicht sogar etwas zu hart. Denn die zierliche Dämonin war den Tränen nahe. Ihre schmalen Schultern zitterten und ihre stechenden Augen wurden glasig, weil sie versuchte die Tränen zurückzuhalten.
Für die Adligen war es eine Schande, ihre höhere Stellung gegenüber dem normalen Volk zu verlieren. Viele adlige Dämonen waren beinahe abhängig von ihrem Reichtum, dem Luxus und ihren Privilegien.
„Ich weiß es nicht!“ Während sie nun auch mich anschrie, kämpfte sie immer noch gegen das Wasser, das hervorbrechen wollte, an.
Skeptisch zog ich eine Augenbraue hoch und verschränkte die Arme vor der Brust. Unruhig klopfte ich ununterbrochen mit meinem Fuß auf den edlen Steinboden. Das war endgültig zu viel für sie.
„Du bist gemein!“, schrie die rothaarige Dämonin. Sie klang jetzt wie ein trotziges Kind und rannte auch so aus dem Raum, während sie ihre Tränen kaum noch zurückhalten konnte.
Erschöpft stieß ich die Luft aus meinen Lungen. Dieser Streit war mir doch näher gegangen, als ich erwartet hatte. Denn auf irgendeine für mich unerklärliche Weise tat mit Qitura Leid. Ich war ganz schön grob zu ihr gewesen. Aber daran konnte ich jetzt auch nichts mehr ändern. Ich verließ ebenfalls den Bankettsaal.
Wie in Trance schritt ich den langen Gang entlang, der zu meinem Zimmer führte. Es kam mir so vor, als würden meine Beine einfach diesen Weg einschlagen, ohne Anweisung, ohne Befehl. Sie schienen ihr Ziel genau zu kennen und unbedingt dorthin gelangen zu wollen. Und ich konnte mich nicht dagegen wehren. Ich lief und Lief, einen Fuß vor den anderen setzend.
„Damian!“ Zarif. Ich hörte, wie er mir hinterher gerannt kam. Doch meine Beine gehorchten nicht. Ich konnte nicht anhalten und mich zu ihm umdrehen. Es ging einfach nicht. Ich war nicht Herr meiner selbst.
„Hey, Damian! Warte!“
Ich konnte nicht einmal antworten. Mein Mund war staubtrocken und verweigerte mir jeglichen Dienst. Verdammt! Was ist hier nur los?
Dann stand ich vor meinem Zimmer und wie ein Nebelschleier verlor sich die Trance mit einem Schlag. Binnen einer Sekunde war ich wieder Herr meiner selbst. Aber ich fühlte ich mich unglaublich müde. Ich war erschöpft. Mein Geist war erschöpft, meine Glieder waren erschöpft.
„Zarif... Mir geht es nicht gut. Ich möchte jetzt allein sein...“ Damit öffnete ich die schwere Holztür und erhaschte nur noch kurz einen Blick auf das entsetzte Gesicht meines Freundes, der stammelte: „Aber... aber D?!“
Danach fiel die Tür ins Schloss und ich in mein federweiches Bett.
Die Kissen waren weich und entführten mich in einen traumlosen, erholsamen Schlaf, dem ich mich bereitwillig ergab.
Ich hörte Schritte, als ich aufwachte.
Es war stockdunkel im Zimmer, um mich herum hörte ich nur die gedämpften Geräusche vom Flur. Die Dunkelheit umgab mich voll und ganz, verschlang mich. Denn der Himmel war vollkommen von dunklen Regenwolken bedeckt. Das konnte ich zumindest – auch wenn ich immer noch im Bett lag – durch mein Fenster erkennen. Die Vorhänge standen noch offen, da ich sie nicht zugezogen hatte, bevor ich eingeschlafen war. Aber ich war einfach todmüde gewesen.
Doch meine Augenlider waren zentnerschwer und ich hatte Mühe sie offen zu halten. Ein kurzes Rumpeln auf dem Flur. Ich schlug abrupt die Augen wieder auf, die mir erneut langsam zugefallen waren. Eigentlich war ich neugierig, was vor meiner Tür vor sich ging. Doch ich war gleichzeitig auch todmüde und wollte am liebsten in meinem Bett bleiben und wieder einschlafen.
Aber meine Neugier trieb mich trotz wankenden Ganges meiner Zimmertür entgegen. Vorsichtig legte ich eine Hand auf die metallne Klinke und drückte sie sanft nach unten. Dann öffnete ich die Tür einen Spalt breit, lugte in den hell erleuchteten Flur. Kurz blendete mich das grelle Licht im Gang, aber meine Augen gewöhnten sich schnell an die neue Umgebung.
Ein schwarz gekleideter Diener mit den schwarzen, kinnlangen Haaren lief den Gang auf und ab, beladen mit Koffern und Taschen. Er schleppte die Sachen hin und her und ich erkannte kein System darin.
Nach einigen Minuten gab ich meine Spionage auf und öffnete die Tür ganz. In exakt diesem Moment, als die Tür komplett aufschwang, kam der schwarz gekleidete Dämon wieder an mir vorbei und blieb vor Überraschung über mein Erscheinen abrupt stehen.
Langsam drehte er den Kopf zu mir, starrte mich mit seinen pechschwarzen Augen an. Ich schreckte zurück. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Wie kann jemand nur so dunkle Augen haben? So pechschwarz. Schwarz und düster wie der Tod höchstpersönlich...
Ich war völlig unfähig mich zu bewegen, als der Dämon sein Gepäck urplötzlich fallen ließ und in bedrohlicher Haltung auf mich zukam. Mir stockte augenblicklich der Atem.
„Die Zukunft gehört denen, die an die Wahrhaftigkeit ihrer Träume glauben.“
Eleanor Roosevelt
Mit hängenden Schultern trottete ich vor der dunklen Gestalt, die mir auf Schritt und Tritt folgte, her. Die Gestalt war wie ein Schatten, den man nicht loswurde, egal was man auch tat.
Mit weichen Knien setzte ich mich auf einen alten Küchenstuhl, der aufgrund seines offensichtlichen Alters bedenklich klapperte und wackelte, als würde er jeden Moment zusammenbrechen. Fahrig fischte ich mit meinen Fingern nach einem Streichholz, um die Kerze, die vor mir auf der Arbeitsfläche aus grauem, poliertem Stein stand, anzuzünden.
Endlich brannte die Kerze und warf mystische Schatten an die alten Steinmauern des Schlosses. Die Schatten tanzten an den Wänden und an der Einrichtung wild herum, tauchten den Raum in eine dunkle Stimmung. Ich zog die Knie an, rollte mich auf dem wackeligen Stuhl zusammen wie ein Ball. Meine Arme schlang ich um meine zitternden Knie. Verdammt noch mal! Das gefällt mir ganz und gar nicht...
Ängstlich betrachtete ich die Küche zu dieser späten Stunde. Der offene Ofen aus Backstein in der Mitte des riesigen Raumes, in dem noch immer etwas Glut vor sich hin glimmte. An einer Wand hingen zahlreiche Küchengerätschaften. Von einigen wusste ich, für was man sie verwendete, von anderen nicht. Eine weitere Wand war über und über mit Fenstern bestückt, sowie einer großen Tür, durch die alle Lebensmittel und andere Dinge für den Küchengebrauch herein getragen werden konnten. Unter den Fenstern befanden sich Regal mit weiteren Kochutensilien, wie monströsen Töpfen, Spießen und vielem mehr. An der Wand, die der mit den Kochgeräten gegenüberlag, führte eine alte, knarrende Tür in die Vorratskammer und daneben waren große Arbeitsflächen angebracht.
Ich lauschte auf irgendwelche Geräusche. Doch ich hörte nichts. Es war ganz still. Totenstill.
Es schien so, als wäre Arim mittlerweile verschwunden. Erleichterung durchströmte meinen Köper. Eine angenehme Wärme. Dennoch war mir immer noch eiskalt und ich zog meine Beine noch enger an mich heran. Der Schauer, der mir gerade heimtückisch über den Rücken lief, tauchte nämlich normalerweise nur auf, wenn mich jemand heimlich beobachtete. Deshalb sah verstohlen von links nach rechts. Nichts. Geschäftig drehte ich den Kopf noch einmal in alle Richtungen. Immer noch nicht. Nirgendwo konnte ich jemanden entdecken.
Ich lauschte erneut angestrengt. Doch außer meinem eigenen, stoßweise gehenden Atem und dem leisen Flackern der brennenden Kerze vor mir war rein gar nichts zu hören. Und so holte ich mir ein kaltes Glas Wasser und trank es rastlos leer- in einem einzigen Zug –, bevor ich es vor mich auf die steinerne Arbeitfläche stellte und verrenkte mich wieder in meine vorherige Sitzposition.
Und so saß ich da. Sekunden. Minuten. Vielleicht sogar Stunden. Ich wusste es nicht. Denn ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren, während ich der Kerze zusah, wie sie allmählich herunterbrannte.
Irgendwann legte ich meinen Kopf auf meine angewinkelten Knie und schloss die Augen. Wenig später war ich auch schon eingeschlafen.
Ich befinde mich im großen, festlich ausgeschmückten Ballsaal unseres Schlosses. Der Saal ist rappelvoll. Dämonen über Dämonen.
Überall sehe ich teure Stoffe, die leise rascheln, wenn sich jemand bewegt – und es bewegte sich ständig irgendjemand. Federn, Schmuck, Masken. Überall, wo man hinsieht.
Während die männlichen Dämonen eher schlichte, schicke Kostüme in dunklen Farbe und dazu passende schlichte Masken tragen, bekennen die Dämoninnen im wahrsten Sinne des Wortes Farbe. Ihre langen Abendkleider betonen gekonnt ihre weiblichen Konturen und kaschieren eher ungeliebte Stellen. Durch ihren Schmuck wirken sie noch strahlender und funkeln regelrecht, und ihre Masken – eine prunkvoller und extravaganter als die andere – verleihen ihren Kleidern noch mehr Eleganz.
Die zahlreichen weiblichen Gäste tragen jede eine andere Farbe, so wie es scheint. Von einem eleganten Graphitgrau über ein knalliges Nuttenrot bis zu einem strahlenden Schneeweiß kann man jede mögliche Farbe entdecken.
Trotz der eindrucksvollen Atmosphäre durch das Farbenspiel der Stoffe und den unzähligen, adligen und überaus wichtigen Gästen irre ich geistesabwesend umher. Ziellos.
Aus welchem Grund auch immer, meine Füße steuern direkt auf eines der geöffneten, bodenhohen Fenster zu. Auf eines der Fenster, die auf einen prächtigen Balkon hinausführen, von dem aus man einen atemberaubenden Blick über das Anwesen meiner Familie hat.
Gerade als ich das von meinen Füßen angesteuerte Fenster erreiche, erstarrt die Welt um mich herum. Gelächter, Geplauder, Bewegung. Alles steht still, ist wie eingefroren. Und auch ich beende urplötzlich meinen Weg und drehe mich auf dem Absatz um.
Ich blicke der monströsen Freitreppe entgegen und da steht sie. In gleißendem, weißen Licht. Goldblonde Wellen, die ihr perfektes Gesicht umspielen. Elfenhafter Kopfschmuck mit zwei weißen Federn. Ein antikangehauchtes, blütenweißes Kleid, das ihre zierliche Figur betont. Mit einem goldenem Gürtel um die Hüften. Ihre himmelblauen Augen mit ein paar winzigen grauen Sprenkeln funkeln im Licht der pompösen Kronleuchter. Und ihre hohen Wangenknochen sowie das zierliche Kinn verleihen ihrem Antlitz eine graziöse Note.
Ein Traum in Weiß. Ein Traum von einem Mädchen...
Doch etwas ist merkwürdig an diesem zierlichen Mädchen. Irgendetwas stört das nahezu perfekte Bild von ihr auf der weißen Mamortreppe. Nur was? Was stört mich an diesem Bild von einem engelsgleichen Mädchen?
Völlig erschöpft wachte ich auf. Wo bin ich? Und wie bin ich hierher gekommen?
Ach, stimmt ja, dachte ich, als mir schlagartig wieder alles einfiel.
Ich blickte mich um. Alles war noch exakt so, wie vor meinem kleinen Schläfchen. Naja, fast exakt so. Denn die Kerze war nun deutlich heruntergebrannt. Sie war nur noch ein Stummel ihrer selbst und das Wachs war breitflächig auf die Arbeitsplatte getropft. Als ich mich weiter umsah, blieb mein Blick an dem Glas hängen, das nach wie vor auf der Arbeitsfläche stand.
Gierig wanderte meine Zunge über meine Zähne. Mein Mund war staubtrocken. Dann leckte ich mir über die Lippen – erst die Unterlippe, dann die Oberlippe. Auch sie waren ausgetrocknet.
Mann, hab’ ich vielleicht einen Durst. Ich werde mir wohl noch etwas zum Trinken holen müssen, entschied ich.
Doch gerade als ich diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, griff eine weiß behandschuhte Hand von hinter über meine Schulter. Ich unterdrückte den Aufschrei, der mir vor Schreck beinahe entfahren wäre.
Aber als der Dämon hinter mir meine Angst bemerkte, fand urplötzlich seine Hand den Weg zu meinem Mund und hielt ihn mir zu. Nun konnte kein einziger Laut meiner Kehle entrinnen. Ich war stumm wie ein Fisch.
„Schhhhhhh...“, machte der Dämon hinter mir. Arim, Qituras persönlicher Diener. „Keinen Mucks!“
Meine Augen waren vor Schreck geweitet und Panik stieg in mir hoch, bahnte sich einen Weg an die Oberfläche. Verdammt! Was ist hier los?
„Still!“, zischte Arim barsch mit zusammengebissenen Zähnen. Scheinbar hatte ich unabsichtlich irgendein Geräusch oder eine unachtsame Bewegung gemacht, denn Qituras Leibdiener drückte seine behandschuhte Hand noch fester auf mein manchmal etwas loses Mundwerk. Doch als ich mich nun nicht weiter rührte, fragte er herrisch den Druck seiner Hand verringernd: „Keinen einzigen Ton, klar?“
Ich nickte stumm und Arim löste langsam seine Hand von meinen Mund. Was zur Hölle sollte das hier werden? Ich war völlig mit der Situation überfordert.
Und dann setzte Arim dem ganzen noch die Krone auf: Der eben noch so rabiate Dämon mutierte plötzlich wieder zum gehorsamen, zuvorkommenden Bediensteten, indem er mit gedämpfter Stimme fragte: „Möchten Sie noch etwas zu Trinken, gnädiger Herr?“ Verdattert starrte ich ihn an, nickte nur kurz mit dem Kopf und musste mich zusammenreißen meine Mund geschlossen zu lassen. Dennoch griff der Dämon mit den kinnlangen, pechschwarzen Haaren prompt nach dem Wasserglas, das immer noch auf der Arbeitsplatte stand, verschwand kurz und tauchte nach wenigen Sekunden wieder mit einem prallgefüllten Glas auf. An der Außenseite des Glases perlte Kondenswasser ab und versickerte zwischen Arims langgliedrigen Fingern, die das Trinkglas fest umschlossen.
Hab’ ich irgendetwas verpasst? Oder wird mir gerade ein ganz übler Streich gespielt? Nein! Ich bin bestimmt plötzlich in einem Paralleluniversum gelandet. Genau, so muss es sein...
Irgendwann zwischendurch kam mir sogar noch der Gedanke, dass ich einfach nur einen ziemlich schrägen Traum hatte. Auch wenn das die logischste Erklärung für alles war, verwarf ich diese Möglichkeit zusammen mit den anderen.
Denn mittlerweile hatte Qituras Diener die Tür geschlossen, einen ähnlich alten und ebenso gebrechlichen Stuhl herangezogen und angefangen mir mit ruhiger, beherrschter Stimme die Situation zu erklären. Trotzdem schien einiges sinnlos zu sein – zumindest für mich – und alles noch undurchsichtiger und verrückter klingen zu lassen.
Nach gefühlten fünfzig Anläufen, die alle mit einem tiefen Seufzer von Arim endeten, hatte ich endlich – glaubte ich zumindest – den Durchblick:
Qitura war nach dem Streit mit mir so am Boden zerstört gewesen, dass sie unaufhörlich geweint hatte. Arim meinte, die Quelle ihrer salzigen Tränen hätte einfach nicht versiegen wollen. Von den Tränen und dem begleitenden, herzzerreißenden Schluchzen geschüttelt – sie war Arim vorgekommen, als hätte sie den Verstand verloren – hatte sie bösartige, ja geradezu todbringende Flüche ausgestoßen. (Und jetzt kam der verwirrend verrückte Teil!) Da Qitura schon ein paar wenige Male so sauer und enttäuscht gewesen war und ihre unbeabsichtigten Verwünschungen sie wie die vorherigen Male in den Schlaf gewiegt hatten – Qitura war, wie Arim mir erzählte, noch dazu eine Schlafwandlerin, jedoch nur zu Vollmond und jetzt ratet mal, wie der Mond in dieser Nacht aussah: kreisrund und voll; er leuchtete mit all seiner Kraft –, hatte Arim es mit der Angst zu tun bekommen. Schleunigst hatte er alle von Qituras Sachen zusammengeklaubt, diese in die Kutsche verfrachtet und wollte gerade den letzten Koffer verstauen, als er bemerkt hatte, dass ich nicht mehr schlief, sondern ihn beobachtete. Seine Angst war in jenem Moment übermächtig geworden. Denn vorher hatte er gehofft, mein Zimmer wäre abgeschlossen – damit Qitura beim Schlafwandeln nicht hereingekommen wäre – und ich schliefe selig und fest wie ein Murmeltier. Getrieben von seiner Angst mir könnte etwas passieren und er hätte es nicht verhindern können, hatte er mich in die Küche geschleppt. Er hatte die ganze Zeit über mich gewacht.
Bis dahin war ich halbwegs gut mitgekommen, aber bis zu diesem Punkt hatte der Dämon mit den kinnlangen, pechschwarzen Haaren mir noch nicht offenbart, wieso er mir vorhin verboten hatte zu sprechen.
„Und wieso haben Sie mir vorhin verboten etwas zu sagen? Wir hätten doch von Anfang an darüber reden können!“
Arim räusperte sich, seine Stimme eindeutig in Mitleidenschaft gezogen durch die vielen Versuche mir alles zu erklären. „Ich wusste nicht, ob Sie mir zuhören würden... und entschuldigen Sie, dass ich Ihnen vorhin einfach so den Mund zugehalten habe.“
„Entschuldigung angenommen...Aber warum haben Sie das gemacht? Es schien so, als hätten Sie Angst gehabt...“ Meine Stimme zitterte ein wenig, ich stand immer noch unter Schock.
„Ich hatte ein Geräusch gehört und dachte, Qitura würde durch das Schloss wandeln. Ich wollte nicht, dass sie uns findet und Ihnen etwas antut. Beim Schlafwandeln ist sie nicht sie selbst...“ Betreten sah der Dämon mit den dunklen Augen auf seine Schuhe hinab. „Wenn sie schlafwandelt, kann sie nichts und niemand aufhalten... Das weiß ich aus Erfahrung...“ Er spielte mit seinen Fingern, die nach wie vor säuberlich in den weißen Handschuhen eingebettet waren, als er das sagte.
Was? Hatte er denn schon einmal versucht sie aufzuhalten? Was war ihm damals passiert? Was hatte er gesehen? Mir lief ein eiskalter Schauer über den Rücken und ich schauderte, wenn ich mir vorstellte, was sie vielleicht alles schon getan hatte. Was Arim vielleicht schon alles mit ihr erlebt hatte, unfreiwillig. Sein Gesichtsausdruck ließ nichts Gutes vermuten. Qitura war unberechenbar, wenn sie im Schlaf umherstreifte, da war ich mir absolut sicher.
Arim verriet mir nicht, was seine Herrin schon alles im Schlaf angerichtet hatte. Das behielt er als treuer Diener taktvoll für sich. Er war nun einmal durch und durch ein ergebener Bediensteter. Aber neugierig war ich dennoch irgendwie, und hätte gerne mehr gewusst.
„Reue ist der Versuch, in sich zu gehen, nachdem man gerade so schön aus sich herausgegangen ist.“
Hans Clarin
Wir schwiegen die restliche Nacht. Keiner sagte etwas. Wir genossen einfach die trügerische Stille.
Qitura war, als es dämmerte, noch immer nicht aufgetaucht und so entschied Arim, dass es nun sicher genug war. Dankbar entfernte ich mich.
Ich lief den langen Gang entlang, der zu meinen Gemächern führte, zurück zu meinem gemütlichen Bett. Vorbei an gefühlten fünfzig Türen. Ich lief ohne nachzudenken, denn meine Füße, die in teuren Schlappen steckten, wussten genau, wo sie hin mussten.
Vor meiner Tür stehend blickte ich mich noch einmal um. Alles war ruhig. Ein wenig wunderte es mich. Normalerweise waren die Bediensteten schon geschäftig unterwegs, um alles vorbereitet zu haben, wenn die Königsfamilie sich aus den Federn ihrer riesigen Betten quälte. Doch heute lief noch niemand auf Zehenspitzen durch die Gänge. Gut, die Sonne ging gerade erst auf und bevor die Sonne nicht bereits mehrer Stunden am Himmel stand, wachte keiner aus meiner Familie auf.
Ach, was soll’s, dachte ich, öffnete die Tür und zog mich um, zuvor schloss ich noch die dunkelblauen Vorhänge. Erleichtert stöhnend legte ich mich in mein weiches, bequemes Bett. Wenig später war ich erneut in einen Traum versunken.
Ich befinde mich wieder im großen, festlich ausgeschmückten Ballsaal unseres Schlosses. Der Saal ist erneut rappelvoll. Dämonen über Dämonen, wo man nur hinsieht.
Überall sehe ich teure Stoffe, die leise rascheln, wenn sich jemand bewegt. Federn, Schmuck, Masken. Überall, wo man hinsieht.
Die männlichen Dämonen tragen eher schlichte, schicke Kostüme in dunklen, gedeckten Farbe und dazu passende schlichte Masken. Dagegen bekennen die Dämoninnen im wahrsten Sinne des Wortes Farbe. Ihre langen Abendkleider in den außergewöhnlichsten Farben betonen gekonnt ihre weiblichen Konturen und kaschieren eher ungeliebte Stellen. Durch ihren Schmuck wirken sie noch strahlender und überall funkelt es deshalb, und ihre Masken – eine prunkvoller und extravaganter als die andere – verleihen ihren Kleidern noch mehr Eleganz.
Ein Farbenspiel der Extraklasse. Von einem eleganten Graphitgrau über ein knalliges Nuttenrot bis zu einem strahlenden Schneeweiß kann man jede mögliche Farbe entdecken.
Trotz der eindrucksvollen Atmosphäre durch das Farbenspiel der Stoffe und den unzähligen, adligen und überaus wichtigen Gästen irre ich geistesabwesend umher. Ziellos. Rastlos, wie beim letzten Mal.
Aus welchem Grund auch immer, meine Füße steuern direkt auf eines der geöffneten, bodenhohen Fenster zu. Auf eines der Fenster, die auf einen prächtigen Balkon hinausführen, von dem aus man einen atemberaubenden Blick über das Anwesen meiner Familie hat.
Gerade als ich das von meinen Füßen angesteuerte Fenster erreiche, erstarrt die Welt um mich herum. Gelächter, Geplauder, Bewegung. Alles steht still. Und auch ich beende urplötzlich meinen Weg und drehe mich auf dem Absatz um.
Ich blicke de monströsen Freitreppe entgegen – alle anderen ebenfalls – und da steht sie. In gleißendem, weißen Licht. Goldblonde Wellen, die ihr perfektes Gesicht umspielen. Elfenhafter Kopfschmuck mit zwei weißen Federn. Ein antikangehauchtes, blütenweißes Kleid, das ihre zierliche Figur betont. Mit einem goldenem Gürtel um die Hüften. Ihre himmelblauen Augen mit den winzigen grauen Sprenkeln funkeln im Licht der pompösen Kronleuchter.
Doch diesmal trägt auch sie eine Maske, versteckt ihr Gesicht vor den neugierigen Blicken im Saal. Die Maske, mit einer antiken Note wie ihr Kleid, bedeckt ihr Gesicht und ihre langen, dunklen Wimpern versuchen ihre traumhaften Augen abzuschirmen. Ihr Antlitz ist verschleiert. Aber dennoch sticht ihre Schönheit deutlich hervor. Sie ist wunderschön.
Ein Traum in Weiß. Ein Traum von einem Mädchen...
Wie sie so auf der Freitreppe steht und alle Blicke auf sie gerichtet sind, sieht sie aus wie ein Engel. Nichts hat mehr eine Bedeutung. Es dreht sich alles nur noch um sie.
Doch erneut bemerke ich, dass etwas an diesem zierlichen Mädchen merkwürdig ist. Irgendetwas stört das nahezu perfekte Bild von ihr auf der weißen Mamortreppe. Nur was? Was stört an diesem Bild von diesem engelsgleichen Mädchen, das plötzlich direkt auf mich zu kommt und mir ihre zierliche, feingliedrige Hand entgegenstreckt? Wieso scheint sie nicht hierherzupassen?
Langsam verblasste der Traum und ich bewegte mich zurück in die Realität. Ich streckte und reckte mich zu allen Seiten. Mehrmals musste ich herzhaft gähnen und dann schlug ich endlich die Augen auf.
Durch die dunkelblauen Vorhänge vor meinen Fenstern drang abgedunkeltes Licht. Dennoch konnte ich erahnen, dass die Sonne schon hoch am Himmel stehen würde, wenn ich die Gardinen zur Seite ziehen würde.
Langsam setzte ich mich auf und genoss die letzten Reste meines warmen Bettes, bevor ich die Beine über die Bettkante schwang in meine flauschigen, fliederfarbenen Schuhe schlüpfte und gemächlichen Schrittes zu den Fenstern ging, um die Vorhänge zu lüften und frische Luft in das stickig warme Zimmer zu lassen.
Angezogen und herausgeputzt – natürlich hatten mir wie immer ein Haufen Bedienstete zur Seite gestanden, die scheinbar vor der Tür gelauscht hatten und prompt hereingekommen waren, als sie ein Lebenszeichen von mir gehört hatten – machte ich mich auf den Weg zum großen, mit Spiegeln ausgekleideten Speisesaal.
Den Raum betretend, wie immer von einer Ankündigung begleitet, fiel mein erster Blick auf die reich gedeckte Tafel. An der Stirnseite saß etikettengerecht mein Vater und rechts von ihm meine Mutter. Zur linken Seite meines Vaters hatte Daomir mit seiner Gefährtin Quilla an der Seite Platz genommen – damit zeigte er, dass er bald an der Stirnseite sitzen würde, sobald unserer Vater abgedankt oder verstorben wäre – und so thronte neben meiner Mutter Qitura.
In einem kohlrabenschwarzen Kleid, das hier und da von blauen und roten Blumen verziert wurde, saß Qitura – Brust raus, Kinn nach vorne, Bauch rein – neben meiner Mutter. Auf dem mir angestammten Stuhl. Aber ich rief mich zur Ordnung. Denn heute würde ich kein unnötiges Theater heraufbeschwören.
„Guten Morgen, Vater! Guten Morgen, Mutter!“. Ich gab meiner Mutter einen kurzen, freundlich Kuss auf ihre rosige Wange, wodurch ein winziges, freudiges Lächeln ihre Mundwinkel umspielte, und drückte meinem Vater kurz die Schulter. Dann nickte ich Dao zu und zwinkerte Quilla an. „Morgen ihr zwei!“, fügte ich frech hinzu.
Dann wandte ich mich höflich an meine liebenswürdige Brautanwärterin, meinen Gast: „Wunderschöner Morgen, nicht wahr, Qitura?“ Ich zog einen der Albonholz-Sessel, die mit rotem Samt bezogen waren, zurück und setzte mich, genau neben Qitura.
Zwischen zwei Bissen Brot, die sie standesgemäß erst vollständig herunterschluckte, bevor sie antwortete, entgegnete sie weniger freundlich als ich: „Kann schon sein...“ Danach biss sie erneut genussvoll in ein dick beschmiertes Stück Brot mit Duanektar.
Quilla, die wie immer bemerkt hatte, dass die Stimmung nicht ganz ausgelassen war, entspannte die Situation: „Hast du gut geschlafen, Damian?“
Ich schmierte mir gerade angestrengt ein Brot und belegte es mit dünn geschnittenen Vojkastreifen, deshalb nickte ich nur kurz. Quilla kicherte. Ich wusste nur zu gut, warum: Wenn ich mich intensiv auf etwas konzentrierte, streckte ich meine Zunge ein Stück heraus und hielt sie mit meinen Lippen sowie meinen Zähnen fest. Es war ein unliebsames Überbleibsel aus meiner Kindheit, das meine Mutter nie hatte weg bekommen können.
In stilles Schweigen gehüllt mümmelte ich mein Brot hinunter. Alle aßen friedlich ihr Frühstück und jeder genoss die wohltuende Ruhe.
„Habt ihr diese Nacht eigentlich auch etwas gehört? Es klang als würde jemand rastlos durch das Schloss wandeln?“ Ich hatte mir gerade das letzte Stück Brot in den Mund geschoben, als meine Mutter das sagte und verschluckte mich deshalb böse.
Hustend und röchelnd nahm ich einen großen Schluck eiskaltes Wasser, während man mich mit fragenden Blicken strafte. Selbst Qitura sah mich mit erwartungsvollen Augen an. Sie weiß scheinbar gar nicht, dass sie schlafwandelt, überlegte ich.
„Hast du das auch gehört?“, hakte meine Mutter nach und ihre meergrünen Augen fesselten mich an den Stuhl.
„Ja... ähm... nein... ähm...“ Ich wusste absolut nicht, was ich sagen sollte. Ich konnte Qitura ja schlecht ans Messer liefern. Ruhelos überlegte ich, was ich sagen könnte, ich blickte mich im Saal um. Wo ist Arim, wenn man ihn mal braucht? „Also... ähm... ich bin in der Nacht einmal aufgewacht und... ähm in die Küche gelaufen, um mir was zu Trinken zu holen...“, gab ich schließlich mit knirschenden Zähnen Preis.
„Ach so...“, machte meine Mutter nur.
Was? Das war’s schon? Damit gibt sie sich zufrieden? Dabei liegt das Schlafzimmer meiner Eltern gar nicht auf dem Weg zur Küche, sondern im ganz anderen Flügel des Schlosses? Ungläubig sah ich meine Mutter aus den Augenwinkeln heraus an. Aber sie schien sich wirklich damit zufrieden zu geben. So unlogisch meine Antwort auch war. Wie merkwürdig!
Das Frühstück verlief ohne weitere Vorkommnisse und so ging ich gut gelaunt zurück zu meinem Zimmer.
Heute schwirrten die Diener wie Bienen in einem Bienenstock durch das ganze Schloss. Egal, wo man hinkam, überall war jemand damit beschäftigt Staub zu wischen, frische, duftende Blumensträuße in die uralten, handbemalten Vasen zu stecken oder hier und dort eines der unzähligen Gemälde wieder gerade zu rücken. Es war ein kunterbuntes, aber dennoch geordnetes Durcheinander.
Sorglos und ohne mich wirklich um die Dienerschaft zu kümmern, beschritt ich stolzen Schrittes den Gang zu meinem Zimmer. Fröhlich pfiff ich ein altes Kinderlied und steckte meine Hände locker in meine Hosentaschen.
Vor meinem Zimmer erwartete mich jedoch eine kleine Überraschung. Auf einem Grashalm kauend, die schwarzen Locken ins Gesicht fallend, erwartete mich der Dämon mit den lavendelfarbenen Augen direkt vor meinem Zimmer. Wie immer stand er lässig an die Wand gelehnt da. Doch als er mich bemerkte, trat er mir mit einen herzlichen Grinsen auf dem Gesicht, das von einem Ohr zum anderen zu reichen schien und seine strahlenden Zähne zeigte, entgegen.
Er breitete die Arme aus und nahm mich in Empfang: „Alles Gute zum Geburtstag, alter Junge!“ Er lachte leise, während er mir in der Umarmung freundschaftlich auf den Rücken klopfte. Mitten in der Bewegung erstarrte ich, als er mir gratulierte.
Auch du meine Güte... stimmt ja: Heute vor achtzehn Sonnenzyklen wurde ich hier im Schloss geboren. Ab dem heutigen Tage war ich offiziell kriegstauglich... Ich schluckte schwer und Zarif ließ mich erstaunten Blickes los. Er bedachte mich genau.
Dann fing er aus vollem Halse an zu lachen: „Du hast nicht wirklich deinen eigenen Geburtstag vergessen! D, das kann doch nicht wahr sein!“
Als ich nicht in sein Gelächter einfiel, sah mein bester Freund mich ernst an: „Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“ Schlagartig hatte er sich wieder unter Kontrolle.
Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Scheinbar doch... Und wie es aussieht, bin ich nicht der einzige Dämon, der es vergessen hat: Meine Eltern, Qitura, nicht einmal Dao und Quilla haben mir gratuliert...“
Entsetzt musterte mich Zarif. „Jetzt echt?“, fragte er ungläubig.
Ich nickte betreten. Es war irgendwie demütigend, wenn man darüber nachdachte, dass selbst die eigene Familie, die einen seit Anfang an kannte, den wichtigsten Geburtstag im Leben des jüngsten Familienmitgliedes vergessen hatte.
Zarif griff sich stöhnend in die Haare. „Das darf nicht wahr sein...“ Er war völlig aus der Fassung. Erstaunlich, denn das kam bei dem Dämon mit den schwarzen Locken nur sehr selten vor.
„Tja kann man nicht ändern.“, erwiderte ich achselzuckend. Ich wollte schon in meinem Zimmer verschwinden, hatte sogar schon die Hand auf der Türklinke, als Zarif mich am Arm packte.
„Doch kann man!“, rief er fest entschlossen. „Komm mit!“
Er zog mich bereits in Richtung Eingangshalle, als ich stöhnend nachgab und ihm folgte. Mich überkam eine böse Vorahnung und ich wollte eigentlich lieber nicht wissen, wo mich Zarif nun hinschleppte.
„Es gibt keine reine Wahrheit, ebenso wenig einen reinen Irrtum.“
Friedrich Hebbel
Ich hatte mich getäuscht. Vorerst zumindest. Denn meine böse Vorahnung war unbegründet gewesen.
Statt mich zu meiner Familie zu schleppen und sie augenblicklich zur Rede zu stellen, machte mein bester Freund mir eine riesige Freude. Zarif ging stattdessen mit mir zu einem Ort, an dem ich schon eine Ewigkeit nicht mehr gewesen war. Zu einem Ort, der mir unbeschreiblich viel bedeutete. Er ging mit mir an den Ort, an dem wir die meiste Zeit unserer gemeinsamen Kindheit verbracht hatten, nachdem meine Mutter mir die Freundschaft zu unserem Küchenjungen verboten hatte.
Der Dämon mit den frechen, schwarzen Locken führte mich tief in den Wald hinein, der an den hinteren Teil des Anwesens meiner Familie grenzte. Ich kannte diesen Wald wie meine Westentasche. In- und auswendig.
Während wir durch den grünen Wald stapften, ließen sich die Tiere nicht stören. Im dichten Blätterdach über uns zwitscherten und trällerten die Vögel ihre Lieder. Hinter einigen Büschen und Sträuchern – die ersten Beeren wurden schon reif – entdeckte ich einen Elanbock, der uns aufmerksam beobachtete – ein seltener Anblick; sein weißes Fell war makellos, sein noch kleines Geweih ließ darauf schließen, dass er noch sehr jung war und seine dunklen Knopfaugen glänzten; er war nicht besonders groß, würde mir wahrscheinlich gerade einmal bis zur Hüfte reichen. Mit jedem Schritt knackte einneuer, dünner Zweig unter meinen Füßen und verlieh mir ein Gefühl von endloser Freiheit. Die Blätter rauschten im leichten Wind, die Käfer und anderes Getier krabbelte munter seiner Wege.
„Ich hatte ganz vergessen, wie schön es hier ist!“, murmelte ich ehrfürchtig. Ich war sichtlich beeindruckt von dieser Naturidylle.
Zarif lächelte. Es ist noch genauso wunderschön, so märchenhaft, wie damals! Er sagte das mit einem Hauch von Stolz in der Stimme. Ich konnte ihn gut verstehen. Schließlich hatte er diesen Spielplatz vor vielen, vielen Sonnenzyklen ganz allein erkundet.
Der Wald war für uns immer eine Zuflucht gewesen, eine Zuflucht in eine Fantasiewelt. Eine Welt der Abenteuer. So wie alle Kinder eine Welt hatten, in die sie sich flüchten konnten. Ein kleines Stück Sicherheit. Ein winziges Stück Freiheit, in einer sonst so einengend perfekten Welt.
Wir traten auf eine Lichtung. Unsere Lichtung. Die Sonnenstrahlen tanzten über das Gras und die Millionen von blühenden Blumen. Rot, weiß, blau. Die bunten Blüten verströmten einen schönen, süßlichen Geruch. Ich atmete tief ein, sog den einmaligen Geruch nach Kindheit in meine Lungen.
Kindheit. Ungebeschwert. Das waren die Worte, die mir in den Sinn kamen, wenn ich diesen Ort betrachtete, und roch. Vielleicht sogar Freiheit. Ja, an diesem Ort füllte mich das warme Gefühl, frei zu sein, aus. Ein Gefühl, das mir schon lange keinen Besuch mehr abgestattet hatte.
„Atemberaubend...“, flüsterte Zarif.
„Ja...“ Ich war völlig sprachlos.
Einen Moment standen mein bester Freund und ich einfach nur so da und nahmen alles in uns auf. Von den leuchtenden Blumen und ihrem Duft, dem satten Grün des Grases und den kleinen Insekten, bis zu den warmen Sonnenstrahlen. Dann liefen wir wie wild geworden auf der Lichtung herum, drehten uns und wirbelten herum.
Meine Finge glitten zwischen dem weichen Gras und den samtenen Blüten hindurch. Ich reckte mein Gesicht der Sonne entgegen, wollte so viel Wärme wie irgend möglich tanken. Ich genoss es in vollen Zügen in meinen schönsten und einprägsamsten Kindheitserinnerungen zu schwelgen.
Einmal – Zarif und ich waren damals vielleicht zehn Sonnenzyklen alt gewesen – hatten wir auf dieser Lichtung Bekanntschaft mit einem Puma gemacht. Sein ockerfarbenes Fell hatte im Sonnenlicht geschimmerte, das hatte uns neugierig gemacht und wir waren damals näher herangeschlichen. Der Puma war beschäftigt gewesen, er hatte wahrscheinlich eine Fährte verfolgt und uns deshalb erst nicht bemerkt. Aber dann war die Situation schlagartig gefährlich geworden. Wir waren mittlerweile auf vielleicht fünf Armlängen herangekommen, als das Tier uns bemerkte und uns mit scharfen Fangzähnen anfauchte. Plötzlich war es aggressiv, angriffslustig geworden. Der Puma war immer noch fauchend in Angriffsstellung gegangen und während wir bedächtig zurück schritten, kam es auf riesigen Tatzen mit Angst einflössend scharfen Krallen direkt auf uns zu. Am liebsten hätten wir um Hilfe geschrieen, aber das wäre dumm von uns gewesen – zum einen, weil meine Mutter uns bereits den Kontakt strengstens verboten hatte und mich zudem noch eindringlich vor dem verwilderten Wald gewarnt hatte, und zum anderen, weil der Puma dann sofort auf uns losgegangen wäre. Und so waren Zarif und ich nur immer weiter zurückgewichen, auf den scheinbar sicheren Schatten der Bäume, als das Raubtier plötzlich etwas, für unsere Ohren zu leises hörte und lieber diesem Geräusch nachrannte – seiner potentiellen Beute entgegen.
Selbst jetzt noch gefror mir das Blut in den Adern, wenn ich an die mörderischen Krallen und Zähne und den tödlichen Blick des Pumas dachte. Aber wir waren damals ja noch einmal davongekommen. Und seither hatte Zarif immer eine Steinschleuder und genug Munition – kleine Steine, Äste, Früchte von den Bäumen und was wir sonst noch so im Wald fanden – dabeigehabt. Wir wollten schließlich wie Männer untergehen, kämpfend, und nicht wie hilflose Kinder. Zarif hatte seine Steinschleuder gehabt und ich einen dicken, abgebrochenen Ast als Schwert. Oft waren wir damit durch die Wälder gezogen, um die Feinde zu vertreiben, die wir in Bäumen und Sträuchern sahen.
Wir waren einfach zwei junge Dämonen gewesen, die ihrer Fantasie freien Lauf lassen konnten und in unserem Wald eine Heldentat nach der anderen zu vollbringen.
Ich grinste, als ich daran dachte. Wir waren schon ein wenig verrückt gewesen, aber vor allem abenteuerlustig.
Glücklich aber völlig erschöpft fielen wir in das weiche Gras auf unserer Lichtung.
Ich atmete tief aus. „Mann, das hat wirklich gut getan...“, sagte ich in die Wolken blickend. „Danke, Zarif! Das hab ich gebraucht... Ablenkung!“
„Gern geschehen“, murmelte Zarif. Ich drehte meinen Kop ein wenig und blickte zu ihm hinüber. Ich sah, dass er die Arme hinter dem Kopf verschränkt und seine Augen geschlossen hatte. Amüsiert musste ich lächeln. Er fühlt sich hier sichtlich wohl, dachte ich und dann kam mir das Wort Zuhause in Gedanken. Ja, hier fühlte sich der Dämon mit den schwarzen Locken Zuhause. Und ich mich ebenfalls, stellte ich fest.
Völlig zufrieden schloss auch ich die Augen und dachte über mein Leben nach – über das, was mir noch bevor stand, und über das, was ich schon hinter mir hatte.
Erneut der große, festlich ausgeschmückte Ballsaal unseres Schlosses. Der Saal rappelvoll. Dämonen über Dämonen.
Ich laufe umher, suche etwas. Aber ich weiß nicht, was ich suche. Kurz vor dem gleichen bodenhohen Fenster, auf das ich auch die letzten Male zugegangen war, blieb ich stehen und drehte mich um. Doch sie steht nicht wie sonst auf der weißen Freitreppe. Nein, ich kann sie nirgends entdecken.
Suchend blicke ich mich im Saal um. Ich kann sie nicht zwischen den vielen Dämonen entdecken. Sie ist nicht da. Enttäuscht blicke ich zu Boden, betrachte meine teuren Schuhe, als vor mir ein Paar golden schimmernde Sandaletten auftauchen. Ich blicke auf und da steht sie, direkt vor mir.
Ihre goldblonden Wellen umspielen ihr perfektes Gesicht. Der elfenhafte Kopfschmuck mit den zwei weißen Federn über die Stirn bis in ihr Haar. Dieses einmalige, antikangehauchte, blütenweiße Kleid, das ihre zierliche Figur betont. Mit einem goldenem Gürtel um die Hüften. Ihre himmelblauen Augen mit den winzigen grauen Sprenkeln funkeln unter ihren langen, dunklen Wimpern.
Diesmal trägt sie wieder keine Maske, versteckt ihr Gesicht nicht vor mir. Sie ist wunderschön.
Schüchtern lächelt sie mich an und zwei kleine Grübchen bilden sich, zeigt mir ihre strahlenden Zähne.
Ich bin sprachlos. Sie ist alles, wovon ein Mann nur träumen kann. Sie ist der Engel, den sich jeder Mann wünscht um der Normalität, dem Alltag zu entfliehen. Sie ist ein Traum.
Doch als sie leise flüstert „Damian...“, meinen Namen flüstert, ihre sinnlichen Lippen meinen Namen formen, ist es vorbei mit mir. Immer wieder flüstert sie: „Damian...Damian...“
Aber auch diesmal bemerke ich, dass etwas an diesem zierlichen Mädchen merkwürdig ist. Irgendetwas stört das traumhafte Bild von ihr, wie sie meinen Namen flüstert... Nur was? Was stört an diesem Bild von diesem engelsgleichen Mädchen, das direkt vor mir steht und jetzt auch noch mit ihrer zierlichen, feingliedrigen Hand nach meiner greift? Wieso scheint sie anders zu sein?
Wieso nur?
Ich schreckte hoch. Verdammt, ich bin eingeschlafen... Ich sehe mich um. Zarif lag zusammengerollt und – ich musste breit grinsen – am Daumen lutschend noch immer neben mir und schlief selig. Er schlief tief und fest.
Mein nächster Blick fiel auf den Himmel übe uns. Die Sonne stand immer noch hoch und am Himmel waren nur ein paar kleine Wolken zu sehen. Trotzdem hatten wir viel Zeit hier verbracht und so Leid es mir auch tat, ich musste Zarif aus seinem kleinen Nickerchen wecken.
Vorsichtig rüttelte ich ihn und er versuchte mich deshalb mit dem Arm zu schlagen. Ich duckte mich unter seinem Arm weg.
So schnell gebe ich nicht auf, Zarif, dachte ich, als er sich wieder seinen Daumen in den Mund steckte. Erneut schüttelte ich ihn. „Zarif! Aufwachen! Wir müssen zurück! Zarif...“
„Mh...“, murrte er schlaftrunken, „nur noch fünf Minuten...“
„Nein, nicht nur noch fünf Minuten Zarif! Los, aufstehen!“
Endlich setzte Zarif sich auf und rieb sich verschlafen die Augen, bevor er einmal herzhaft gähnte und genervt fragte: „Was ist denn?“ Seine Stimme war rau von seinem Schläfchen.
„Wir müssen zurück zum Schloss. Man sucht uns bestimmt schon!“, meinte ich pflichtbewusst. Denn vorhin war mir wieder eingefallen, dass zu Ehren meines achtzehnten Geburtstages ein großer Ball veranstaltet wurde.
„Ach quatsch!“ Zarif winkte ab. „Wenn sie deinen Geburtstag vergessen haben, dann werden sie dich vielleicht auch vergessen habe.“
„Jetzt redest du aber Quatsch, Zarif! Na los, komm jetzt!“
Er wusste, dass ich Recht hatte und erhob sich mit einem Knurren, um mit mir den Heimweg anzutreten.
Und tatsächlich hatte man bereits nach uns gesucht. Zarif wurde dringend in der Küche gebraucht. Ein letztes Mal, wie mir einfiel. Denn heute Abend sollte ich ja offiziell bekannt geben, dass er mein persönlicher Leibwächter werden und morgen zusammen mit mir abreisen würde. Und ich wurde natürlich von meiner Mutter verlangt. Es sei dringend gewesen und sie erwarte mich bereits sehnlichst, berichtete mir eine Kammerzofe meiner Mutter.
Stöhnend machte ich mich auf den Weg zu ihr. Was will sie denn jetzt schon wieder?
Ich traf sie nicht in ihren Gemächern an. Auch nicht in Vaters Arbeitszimmer, wo auch er sich nicht aufhielt. In meinem Zimmer war sie ebenfalls nicht und im Garten auch nicht – sie verbrachte gerne Zeit in dem kleinen Pavillon zwischen den blühenden Pflanzen. Schließlich konnte sie eigentlich nur noch im Speisesaal sein. Doch auch da war sie nicht zu finden.
„Mist...“ Ich wollte sie nicht ewig suchen, denn die Zofe hatte mir nicht gesagt, wo sich meine Frau Mama momentan aufhielt. Aber dann schoss mir der Gedanke durch den Kopf: der Ballsaal.
Schnellen Schrittes machte ich mich auf den Weg in den Flügel, in dem sich der große Festsaal befand und als ich am oberen Ende der Treppe stand, blickten mich etliche Augenpaare an. Sie grinsten alle und riefen: „Herzlichen Glückwunsch, Damian!“
Ich war fassungslos aber glücklich. Ein breites Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus und freudig lief ich auf meine Familie zu, die Treppe hinunter.
Daomir und Quilla, Qitura und ihre Eltern, meine Mutter und mein Vater, Zarif, mein Onkel Dante und meine Tante Tara, und viele, viele mehr standen in einem lockeren Halbkreis um ein riesiges Geschenk herum. Um ein Geschenk, an dem in großen, schwarzen Buchstaben mein Name stand.
Ich war überwältigt. Mir stiegen sogar die Tränen in die Augen. Und es hatte mir vollkommen die Sprache verschlagen, als mir alle noch einmal einzeln gratulierten und mich in die Arme schlossen, angefangen mit meinem Vater und meiner Mutter.
Sie hatten mich erfolgreich reingelegt. Sie hatten alle unter einem Hut gesteckt, um mir eine riesige Überraschung zu bereiten. Und ich war unglaublich glücklich. ich war gerührt.
Meine Familie liebte mich, so viel war klar!
„Die unangenehmsten Reichen sind die, die nicht einsehen wollen, wie arm sie sind.“
Ernst R. Haushka
Der Ballsaal füllte sich allmählich mit Gästen, die sich alle anlässlich meines 18. Geburtstages herausgeputzt hatten. Die Dämoninnen trugen wallende Kleider und jede Menge glitzernden Schmuck, die männlichen Dämonen trugen dagegen Jacketts mit passenden Hosen und weiße Hemden. Die Gäste waren alle hoch angesehen Persönlichkeiten des dämonischen Adels.
Ich hatte mich wie alle Gäste in Schale geworfen, trug eine lange, schwarze Hose und ein passendes schwarzes Nadelstreifenjackett, darunter ein roséfarbenes Hemd und ein Lätzchen – so nannte ich es, weil es mich an ein Lätzchen für ein Baby erinnerte – in einem ebenfalls dunklen Farbton. Auch wenn mir so einiges an meinem Kostüm nicht gefiel, sah ich im Großen und Ganzen ganz attraktiv aus.
Ich stand am Eingang zum großen Saal, um jeden Gast persönlich zu begrüßen und ihnen einen vergnüglichen Abend zu wünschen. Dafür bekam ich einen Haufen Geburtstagswünschen, Küsse und Händeschütteln und exotische Blumensträuße, die meisten fand ich hässlich.
Als sich endlich alle eingeladenen Gäste im Ballsaal befanden, war es Zeit für meine Ansprache. Eine typische Ansprache zur Feier des eigenen achtzehnten Geburtstages. Eine öde, eintönige Rede. Verdammt, ich hasse es, Reden zu halten, dachte ich bevor ich anfing:
„Meine lieben Gäste, meine liebe Familie, meine lieben Freunde!
Ich möchte mich von ganzem Herzen dafür bedanken, dass Sie heute alle hierher gekommen sind um mit mir zu feiern. Um mit mir und meiner Familie meine Volljährigkeit zu feiern. Ich bedanke mich für die vielen Glückwünsche, die bewundernswerten Blumensträuße, die großzügige Geschenke und vor allem für ihr zahlreiches Erscheinen.
Heute vor achtzehn Sonnenzyklen wurde ich geboren, von einer wundervollen Dämonin zu Welt gebracht. Ich wuchs in eine der liebenswertesten Familien hinein. Eine große Familie mit einem noch größeren Herz. Ich muss zugeben, dass ich vielleicht nicht immer ein ganz einfacher Dämon war. Statt mich mit den Etiketten und der Thronfolge zu beschäftigen, erkundete ich lieber den Wald zusammen mit unserem Küchenjungen. Lieber versteckte ich mich zusammen mit meinem großen Bruder Damal in unserem ganz persönlichen Versteck. Doch als ich älter wurde, wurden die Verpflichtungen größer, wichtiger, von wachsender Bedeutung. Damal und Daomir wurden zu starken Kriegern ausgebildet und ich verbrachte meine Zeit weiterhin in diesen Mauern – ich war schließlich der jüngste der Ifrit-Brüder. Während Dao eine wunderschöne, einmalig liebenswerte Frau fand und wir alle mit Damals Tod zu kämpfen hatte, wuchs ich zum jungen Mann heran und sollte auch möglichst bald eine passende Gattin finden. Meine Frau Mama stellte mir duzende von adligen, wohlerzogenen Dämoninnen vor. Doch mir gefiel keine einzige davon, ich wollte lieber die Welt entdecken. Doch nun stehe ich hier und weiß ganz genau, wer ich bin und wer ich sein will. Ich weiß, was ich tun muss, um dieser jemand zu sein; weiß ganz genau, was ich für Pflichten gegenüber meinem Reich habe. Ich bin erwachsen geworden und das nicht nur aufgrund meines Alters. Nein, ich bin gereift...“ Ich machte eine kurze Pause, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen, um zu zeigen, dass ich ernst meinte, was ich sagte. Denn ich wollte endlich als erwachsener Dämon akzeptiert werden.
„Doch bevor ich den Abend ganzoffiziell eröffne habe ich noch eine Sache zu verkünden...“ Als ich in die erwartungsvollen Gesichter am Treppenende sah, stachen mir die Gesichter meiner Eltern und Qituras ins Auge. Sie schauten besonders gespannt und auf dem Gesicht von Qitura breiteten sich bereits ein breites Grinsen und ein Hauch von Rosa aus. Es tut mir leid, Qitura, aber du hast rein gar nichts mit meiner Verkündung zu tun, dachte ich. Irgendwie tat sie mir leid. Mit meiner Neuigkeit würde ich nicht nur ihr das Herz brechen, sondern auch meine Mutter enttäuschen. „Ich möchte Euch die freudige Nachrichtmitteilen, dass mein guter, alter Freund Zarif Demonio“, mit einer ausladenden Geste zeigte ich auf meinen besten Freund, der schräg hinter mir in feiner Abendrobe Posten bezogen hatte, „wird mir ab dem heutigen Tage auf Schritt und Tritt folgen. Er wird mich ständig als mein persönlicher Wachmann begleiten und er hat dafür mein vollstes Vertrauen!“ Aufmunternd lächelte ich dem Dämon mit den lavendellfarbenen Augen zu, der daraufhin einen Schritt nach vorne trat. Sein Lächeln war schüchtern, zurückhalten. So kenne ich dich gar nicht, Junge...? „Gut...“, ich wendete mich wieder meinem Publikum zu und sah, dass das Lächeln von Qitura und meiner Mutter eingefroren war, „wünsche ich Ihnen und mir einen vergnüglichen Abend. Das Buffet ist eröffnet, und wenn Sie etwas brauchen, seien Sie nicht zu scheu zu fragen. Ihr Wohl ist mein größtes Ansehen am heutigen Abend!“
Anerkennender Applaus schlug mir entgegen, als ich mich leicht verbeugte und dann die Treppe herunterstieg, um mich unter meine Gäste zu mischen.
Der Abend verlief nicht weiter besonders – ich tanzte ganz traditionell den ersten Tanz des Abends mit meiner Mutter und wechselte danach ständig meine Partnerin; auch Qitura tanzte mit mir, mehr als einmal.
Für mich war der Abend dennoch eher langweilig, da ich ihn eher als notwendiges Übel ansah statt als amüsante Veranstaltung, wie Zarif es nun scheinbar tat. Immer wenn ich mich nach ihm umsah, war er entweder von einer Schar junger Dämoninnen umringt, die ihn anschmachteten oder er tanzte mit einer seiner Verehrerinnen. Es schien ihm sichtlich zugefallen, so beliebt zu sein. Erst später fiel mir auf, dass alle diese Mädchen einmal Brautanwärterinnen für mich gewesen waren, ich sie jedoch ohne Ausnahme verschmäht hatte.
Sie waren hübsch, keine Frage. Aber sie waren nicht die Dämoninnen, die sie in meine Augen sein sollten. Selbstständig denkend, abenteuerlustig, neugierig, ein wenig rebellisch. Doch gerade so waren sie nicht. Keine von ihnen... Und deshalb interessierte ich mich auch nicht für sie.
Bei Qitura lag die Sache schon ein wenig verzwickter. Sie war definitiv keine etikettentreue Marionette ihrer Eltern oder des Königshauses, sie war rebellisch. Aber sie war unfreundlich, wenn man es denn so ausdrücken konnte. Sie war in meinen Augen einfach nicht liebenswert, so wie Quilla es war...
Es war bereits früher Morgen, als die letzte Kutsche vom Hof fuhr. Die Sonne ging bereits orangerot am Horizont auf. Ich war total erschöpft und wollte nur noch in mein weiches Federbett. So wie es aussah war ich dabei nicht der einzige. Meine gesamte Familie einschließlich Qitura sah ziemlich müde aus und es schien, dass jeder Mühe hatte die Augen noch offen zu halten.
Seufzend wand ich mich zum Gehen, als Zarif putzmunter und gut gelaunt meinte: „Das war doch mal eine Wahnsinnsnacht, oder D?“ Er strahlte von einem Ohr zum anderen auch, wenn er ebenfalls kleine Augenringe unter seinen Lavendellaugen hatte. Seine dunklen Locken hingen ihm ein wenig verschwitzt in der Stirn.
„Komm schon, Zarif... Ich bin todmüde. Können wir nicht morgen in aller Ruhe darüber reden?“, fragte ich kraftlos.
„Aber es ist doch schon morgen!“, rief Zarif freudig aus. Der hat wohl einen geheimen Energiespeicher... Zarif war noch hellwach.
„Nein...“, sagte ich und legte eine Hand an die Stirn. Ich hatte einen leichten Anflug von Kopfschmerzen, der bestimmt von dem Schlafmangel herrührte. „Ich meine, wenn ich ausgeschlafen habe. Für mich ist noch nicht morgen, Zarif. Tut mir leid, Mann...“ Mit diesen Worten drehte ich mich um und marschierte mir den Kopf massierend zu meinen Gemächern.
Achtlos schleuderte ich meine Kleider in irgendeine Zimmerecke, nachdem ich sie mir vom Leib gerissen hatte und schmiss mich ins Bett. Dankbar für die weihen Kissen schloss ich die Augen und war prompt eingeschlafen.
Das Mädchen mit den sonst so strahlend himmelblauen Augen, in den winzige graue Sprenkel funkeln wie flüssiges Silber, sitzt schluchzend auf meinem Bett. Ihre Augen sind tränennass. Ihr weißes, antikes Kleid ist dreckig und zerrissen. Ihre blonden Wellen sind zerzaust und ihr Kopfschmuck mit den Federn hängt schief.
„Es tut mir so leid... Ich wollte das nicht...“, schnieft sie. Mit glasigen Augen sieht sie mich an. „Bitte glaube mir, ich wollte dich nicht belügen. Ich wusste es am Anfang nicht...“ Sie zieht das frische Bettlacken zu sich und schnaubt herzzerreißend, bevor sie mit Nachdruck sagt: „Ich bin keine Lügnerin!“
Sofort wird sie erneut von Schluchzern erschüttert und die Quelle ihrer Tränen scheint nicht versiegen zu wollen. Wie sie so auf meinem Bett hockt und unerschütterlich wimmert, würde ich sie am liebsten in den Arm nehmen, sie trösten. Aber etwas hält mich zurück. Etwas sagt mir, dass ich nicht zu ihr gehen sollte. Auch nicht, da sie wie ein Häufchen Elend weint.
„Damian, bitte, verzeih mir... Ich.. ich...“. Sie schafft es nicht den Satz zu beenden, denn ein neuerlicher Weinanfall lasst ihr die Stimme wegbrechen.
Was ist hier los? Was ist passiert, dass dieser Engel so bitterliche Tränen vergießt?
Ich will ihr helfen, sie beschützen, sie aufheitern. Deshalb mache ich einen Schritt auf sie zu. Doch statt diesem Mädchen näher zu kommen, stürze ich in ein schwarzes, endloses Loch und falle und falle und falle...
Ich schrecke aus dem Schlaf hoch und sitze sofort kerzengerade im Bett. Verdammt, denke ich mir. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Ich wische mir den Schweiß, der sich auf meiner Stirn gebildet hat, ab und lasse mich zurück in die Kissen fallen. Doch an Schlaf ist nicht mehr zu denken. Erstens ist es bereits zu hell im Zimmer, da durch die nur halbgeschlossenen Vorhänge gleißendes Sonnenlicht fällt und zweitens gehen mir zu viele Fragen im Kopf herum.
Wieso taucht dieses Mädchen neuerdings immer wieder in meinen Träumen auf? Was hat das zu bedeuten? Wer ist sie? Wieso träume ich überhaupt von ihr?
Ich blieb im Bett liegen, suchte nach unauffindbaren Antworten auf meine Fragen. Denn ich war noch nicht bereit mich der Realität zu stellen. Nein, erst musste ich wissen, wieso das alles passierte. Doch wer konnte mir helfen? Wer konnte mir meine Fragen beantworten? Wer tat meine Träume nicht einfach als bloße Hirngespinste ab, als unwichtig? Ich wusste es nicht.
Plötzlich hörte ich laute Gespräche und näher kommende Schritte auf dem Flur vor meinem Zimmer. Noch bevor ich mich in meinem Bett ganz aufsetzen konnte, flog auch schon die Tür auf und meine Mutter stand im Türrahmen.
„Jetzt reicht es aber, Damian!“, schrie sie. Ihre Stimme war wutverzerrt. „Raus aus dem Bett! Der Tag hat schon längst begonnen!“
Mist, sie ist richtig sauer... Aber warum eigentlich? Zügig strampelte ich mich aus dem Bettzeug und ging in mein Ankleidezimmer, um mich für den Tag fertig zu machen, während meine Mutter die Arme in die Hüften stemmte und mit wütendem Blick und wippendem Fuß hinter mir herblickte.
In einer schlichten, schwarzen Hose und einem weißen Leinenhemd, das einen Blick auf meine Schlüsselbeine zuließ, kehrte ich zurück in mein Schlafzimmer. Meine Mutter war immer noch wütend, schien sich aber wenigsten etwas beruhigt zu haben.
„Was ist denn los?“, fragte ich, die Ruhe in Person. Lässig hatte ich die Hände in die Hosentaschen gesteckt und gähnte herzhaft.
„Hand vor den Mund, Damian! Hast du deine gute Erziehung völlig vergessen? Nur weil du nun volljährig bist, heißt das nicht, dass du dich an keinerlei Regeln mehr zu halte hast. Ganz im Gegenteil, du...“, geiferte sie los.
„Ja, ja... Ich weiß, Mama. Ich entschuldige mich für mein schlechtes Benehmen...“, unterbrach ich sie unbeeindruckt. Aus welchem Grund auch immer musste ich mich zusammenreiße, um nicht blöd zu grinsen.
„Das ist in keiner Weise amüsant, mein Sohn!“ Oh, jetzt nennt sie mich ihren Sohn. Das ist überhaupt nicht gut... „Du hast mich gestern auf das Äußerste enttäuscht! ich dachte, du willst deine Verlobung mit Qitura bekannt geben. Ich dachte, du hättest dich mit ihr abgefunden, du hättest dich in sie verliebt. Aber nein! Stattdessen ernennst du deinen besten Freund, einen Küchenjungen, zu deinem Leibwächter. Das ist die absolute Höhe! Wir sind jetzt das Gespött der Leute!“
Ach so, darum ging es also... Ich blieb unbeeindruckt. „Mutter, wir sind ganz sicher nicht das Gespött der Leute! Außerdem so demütigend wie du es siehst, ist es überhaupt nicht!“
„Da hat mein Bruderherz recht, Mama!“ Daomir kam ins Zimmer und begrüßte meine Mutter mit einem Kuss auf die Wange. Augenblicklich erscheint ein kleines Lächeln auf ihren Lippen. „Damian hat lediglich gezeigt, dass wir uns für das Wohl unseres gesamten Volks interessieren. Selbst für das Wohl eines ersetzbaren, unwichtigen Küchenjungen.“
„Aber Zarif ist nicht...“, wollte ich widersprechen, doch Dao brachte mich mit einem eindringlich Blick seiner braungrünen Augen zum Verstummen.
„Mein Bruder hat bewiesen, dass wir unseren Untertanen voll und ganz vertrauen. In jeglicher Hinsicht...“
„Aber trotzdem...“, wollte meine Mutter einwerfen. Allerdings schwieg sie ebenfalls, als sie Daomir in die Augen sah und sagte nur: „Na gut, ich gehe dann mal euren Vater suchen...“ Bereits in der Tür stehend drehte sie sich noch einmal um und erinnerte mich: „Denk daran, Damian, dass du morgen zum Ausbildungslager aufbrichst. Also pack deine Sachen, ja?“
Ich nickte und meine Mutter verschwand.
„Danke Dao... Du hast mir den Kopf noch einmal aus der Schlinge gezogen.“, wendete ich mich an meinen großen Bruder.
„Kein Problem, Brüderchen“, gab er zurück und verschwand ebenfalls.
„In Wirklichkeit erkennen wir nichts, denn die Wahrheit liegt in der Tiefe.“
Demokrit
Gierig sog ich die reine Luft noch einmal in meine Lungen und ergötzte mich an dem sich mir bietenden Anblick. Die weiten Kornfelder auf der einen Seite in ein rotes Licht getaucht und der dichte, grüne Wald auf der anderen, der bereits von den Schatten der Nacht verschlungen wurde. Der Wind raschelte leise in den Blättern der Pflanzen. Es war ein wundervoller Sonnenuntergang, an dem die orangerote Sonne ihre letzten Strahlen des Tages großzügig verteilte.
Ein letztes Mal hatte mich die Sehnsucht nach dem Himmel und der Freiheit hierher gedrängt. Denn beides schien an diesem Ort zum Greifen nahe und war doch unerreichbar. Hier konnte ich mich einfach treiben lassen, meine Gedanken schweiften frei umher und alle meine Pflichten waren vergessen. Ich baute mir eine Traumwirklichkeit auf, die ich allein mit einer Person, einem ganzen besonderen Dämon, teilte. Mit meinem Bruder Damal.
Bevor es morgen ins Ausbildungslager ging, genoss ich die Ruhe und den Frieden dieses Ortes. Ich vertraute meinem Bruder meine geheimen Sorgen an, tankte bei ihm Kraft für die Zukunft. Denn an diesem Ort, unserem Ort, fühlte ich mich Damal nahe. Es kam mir so vor, als säße er direkt neben mir und würde mit mir zusammen über die wundervolle Abendlandschaft blicken.
Ich folgte der Sonne mit meinem Blick, wie sie am Horizont verschwand und nahm die letzte Wärme des Tages in mich auf. Die Sonne sank langsam und die Dunkelheit breitete sich heimtückisch aus. Schließlich war das Licht hinter den Feldern verschwunden.
Mit einem wehmütigen Seufzer erhob ich mich vom Dach des Westturmes und kletterte zurück ins Turmzimmer, das seit Jahren unbenutzt war und seit Ewigkeiten nicht mehr geputzt wurde. Die Spinnweben zogen sich daher von einer Seite des kleinen Zimmers über den dunklen, abgenutzten Parkettboden bis zur anderen Seite und Staub lag zentimeterdick auf den antiken Möbeln aus der Zeit meines Ur-ur-ur-Großvaters. Selbst die Farbe an den Wänden schien nur noch durch die klebrigen Spinnenfäden zusammengehalten zu werden.
Mit großen Schritten durchquerte ich den Raum, nachdem ich das kleine Turmfenster hinter mir verschlossen hatte. Meine Füße hinterließen deutliche Spuren im weißlichen Staub.
Die dicke Holztür quietschte, als ich sie öffnete und wieder hinter mir schloss, nachdem ich hindurchgegangen war. Mit einer Hand an der Tür blieb ich noch einige Sekunden vor dem Turmzimmer stehen und schloss aufatmend die Augen. In diesem Moment genoss ich einfach die letzten Reste der Stille und schwor mir und vor allem Damal leise flüsternd: „Es komme, was wolle! Ich kehre hierher zurück!“ Anschließend machte ich mich auf den Weg zum Abendtisch.
„Mach’s gut, Brüderchen!“, verabschiedete sich Dao von mir und zog mich ein letztes Mal in eine herzliche Umarmung zwischen Brüdern.
Auch Quilla sprach mir Mut für die Zukunft zu und küsste mich leicht auf beide Wangen. „Lass dich nicht unter kriegen, ja?“ Ich nickte.
„Ich bin stolz auf dich, mein Junge!“, sagte mein Vater und klopfte mir auf die Schulter. Auch wenn er es nach außen hin nicht zeigte, seine Augen verrieten ihn. Es fiel ihm sichtlich schwer, mich gehen zu lassen. Er hatte bereits einen seiner Söhne für immer verloren und fürchtete nun, mir könnte dasselbe wie Damal zustoßen. Aber ich hatte einen Vorteil gegenüber meinem Bruder damals.
„Keine Sorge, Vater! Ich kann auf mich aufpassen!“, wollte ich sie aufmuntern. Doch das ging nach hinten los. Statt meinen Eltern mit diesen Worten die Angst zu nehmen, brach meine Mutter erneut in Tränen aus. Sie hatte sich gerade wieder etwas beruhigt und wurde nun schon wieder von einem bitterlichen Weinkrampf erschüttert.
Sie sah jämmerlich aus und ihre Stimme zitterte, als sie verzweifelt hervorzubringen versuchte: „Das...d-das hat-t... das hat d-dein Bru-uder auch ge-ge-... gesagt...“ Sie schniefte und schnaubte lautstark in ihr Seidentaschentuch. Mist, so war das gerade aber nicht geplant, dachte ich zerknirscht.
„Aber... aber...“, stotterte ich und suchte fieberhaft nach tröstenden Worten. „Zarif ist doch auch bei mir! Er passt schon auf mich auf!“ Meine Mutter fing an sich wieder etwas zu beruhigen und schöpfte Hoffnung, nicht auch noch ihren jüngsten Sohn an den Krieg gegen die Engel zu verlieren. Deshalb suchte ich erleichtert den Blickkontakt mit meinem besten Freund.
Der Dämon mit den Lavendelaugen und schwarzen Locken bemerkte es jedoch nicht. Stattdessen konnte ich an seinen funkelnden Augen erkennen, dass er irgendetwas ausheckte. Missbilligend schüttelte ich mit dem Kopf und wandte mich wieder meiner Familie zu. Denn ich empfand es gerade als äußerst unpassend sich in diesem Moment Streiche auszudenken. Dafür hätten wir auf der Reise noch mehr als genug Zeit.
Die Trennung von Qitura fiel vergleichsweise kalt aus. Sie wirkte wie die meiste Zeit etwas überheblich und teilnahmslos. Sie gab mir einen kurzen, gefühlsarmen Kuss auf die Wange und sagte lasch: „Komm heil wieder zurück.“ Das kommentierte ich mit einem stummen Nicken und einem flachen Bis bald. Arim stand hinter Qitura und nickte mir freundlicher als seine Herrin zu.
Als ich mich ihr zuwendete, füllten sich die bereits glasigen Augen meiner Mutter erneut mit dicken Tränen. Eine einzelne Träne rollte ihr über die Wange. Um mich ordentlich von ihr zu verabschieden, trat ich auf sie zu und breitet die Arme aus. In diesem Augenblick brach sie erneut in Tränen aus. Sie tat mir unendlich leid, wie sie wimmernd an meiner Schulter lehnte und verzweifelt versuchte auf Wiedersehen zu sagen. Meine Mutter sah wie ein Häufchen Elend aus. Da half es auch nicht viel, dass ich ihr beruhigend über den Rücken streichelte.
Langsam kamen auch mir die Tränen, denn von Sekunde zu Sekunde viel mir der Abschied schwerer. Fest umschlang ich meine Mutter und zog sie an mich. Leicht wiegte ich sie und mich hin und her und flüsterte ihr leise – so leise, dass nur sie es hören konnte – ins Ohr: „Es komme, was wolle, Mama! Ich kehre zurück... Versprochen!“ Ähnliche Worte habe ich heute schon mal gesagt..., dachte ich traurig.
Es kam mir langsam so vor, als wäre der Abschied von meiner Familie ein endgültiger Abschied. Ode zumindest ein Abschied von meiner Familie, wie ich sie kannte und liebte.
Seufzend löste ich mich von meiner Mutter und wischte mir ungeniert mit dem Ärmel meines blau-rot-weiß karierten Hemdes die Tränen weg. Mist, wieso ging mir der Abschied eigentlich so nahe. Das ist mir noch nie passiert...
Ich stellte mich neben meinen besten Freund und rief noch einmal in die gesamte Runde: „Auf Wiedersehen!“ Danach ging ich zusammen mit dem schwarzen Haarschopf zur bereitstehenden Kutsche, die die Dienerschaft schon mit unseren Sachen beladen hatte.
Ein in schwarz gekleideter Diener öffnete mir die Kutschentür. Ich stieg ein und ließ mich in die weichen Polster der Sitzbank fallen. Zarif folgte mir. Dann knallte die Tür zu.
Mit einem lauten Wiehern fuhr die Kutsche an. Der Dämon mit den lavendelfarbenen Augen teilte als freundschaftliche Geste die Gardinen vor dem Fenster weg, damit ich meiner Familie noch ein letztes Mal winken konnte. Meine Mutter hatte ihr zartrosa Seidentaschentuch, das perfekt zu ihrem zartrosa Sommerkleid passte, gezückt und winkte damit eifrig. Trotzdem liefen ihr die Tränen in Strömen über das Gesicht. Auch mein Vater wischte sich schnell eine Träne aus dem Augenwinkel. Daomir riss sich von allen am meisten zusammen. Denn seine Frau lehnte hilfesuchend an seiner Schulter und weinte kleine, runde Tränen aus ihren rehbraunen Augen. Qitura stand nicht mit auf der großen Treppe. Scheinbar hatte sie sich schon wieder für sie wichtigeren Dingen zugewendet.
Ich winkte meiner Familie solange, bis sie nicht mehr zusehen waren. Erst dann ließ ich mich erneut in den Sitz fallen und schloss erschöpft die Augen. Der Abschied war mir schwerer gefallen, als mir lieb. Schwerer, als ich bereit war zuzugeben.
Zarif schlief bereits tief und fest und schnarchte leise. Das stetige Schaukeln der Kutsche hatte ihn eingeschläfert. Doch ich war zu aufgewühlt, um zu schlafen.
Meine Gedanken schwirrten um den Abschied von meiner Familie, Qituras merkwürdige Verhalten bei dieser emotionalen Prozedur, um das Ausbildungslager und den Krieg, um Damal und seinen Tod, um die Angst meiner Eltern... Ist ihre Angst begründet? Oder sind sie paranoid? Ich war mir nicht ganz sicher.
Wieso hat sich dieser Abschied so anders angefühlt? Wieso hatte ich so ein flaues Gefühl im Magen? Wieso hatte ich die leise Vorahnung, wenn ich nach Hause zurückkehren würde, wäre nichts mehr wie zuvor? Wieso nur?
Ich grübelte noch eine ganze Weile, kam aber doch zu keinerlei Schluss. Stattdessen wurden meine Lider immer schwerer, bis sie auch mir endgültig zufielen.
Ich sitze auf dem Dach des Westturms und schaue in die Ferne. Doch etwas ist anders als die vielen Male, die ich schon hier oben gewesen bin. Denn ich bin nicht allein.
Neben mir sitzt das Mädchen mit den goldblonden Wellen, mit denen der laue Nachtwind spielt. Ihre himmelblauen Augen mit den winzigen, grauen Sprenkeln sind auf die weite nachtschwarze Landschaft zu unseren Füßen gerichtet. Tief atmet sie die kühle Luft der Nacht ein und genießt die Stille, die alles umhüllt. Der Mond leuchtet hell am ultramarinblauen Himmel – es ist Vollmond. Das engelsgleiche Mädchen sieht aus wie eine göttliche Erschienung im Mondlicht. Sie hebt sich deutlich von ihrer Umgebung ab. Sie strahlt wie der Mond am Himmel.
Als sie bemerkt, dass ich sie beobachte, dreht sie sich um und sieht mir in die Augen. „Was ist denn, Damian?“ Mein Name klingt aus ihrem Mund himmlisch. Ihre Stimme ist hell und glockenklar. Sie klingt wie der Gesang einer Lärche. Sie ist einfach wunderschön, alles an ihr ist wunderschön. Ihre zierliche Gestalt, das engelsgleiche Gesicht, ihre Stimme. Aber in ihren Augen könnte ich mich für alle Ewigkeit verlieren.
Als sie ihren Kopf schief legt, fällt mir ein, dass ich ihr noch gar nicht auf ihre Frage geantwortet habe. „Nichts...“, antworte ich.
Sie zieht ihre dünnen Augenbrauen hoch, denn sie kauft mir das nicht ab.
Ich seufze und gebe mich geschlagen. Gegen sie habe ich keine Chance. „Ich habe nur gerade wieder einmal bemerkt, wie schön du bist“, sagte ich verlegen. Auch ihr scheint es ein wenig peinlich zu sein, denn auf ihren hohen Wangeknochen zeichnet sich ein leichter Rosaton ab.
Da fällt mir plötzlich noch etwas ein, was ich sie unbedingt fragen muss. Ich kenne nämlich überhaupt nicht ihren Namen! „Wie heißt du eigentlich?“
Verdutzt sieht sie mich an und beginnt schüchtern aber amüsiert zu lächeln. „Aber das weißt du doch, Damian! Schließlich hast du mich gerettet...“ Ihre Stimme wirkt traurig. „Und es ist eines der wenigen Dinge, die ich nicht vergessen habe...“
Ich sehe sie an und entdecke in ihren Augen Schmerz und Pein. Was ist ihr nur zugestoßen? Und was hatte ich damit zu tun? „Sag mir deinen Namen doch trotzdem noch mal... Bitte!“
„Faith...“ Sie lächelt mich erneut an und schaut verlegen unter ihren dunklen Wimpern zu mir. Faith... Faith... Wie wunderschön, denke ich.
„Faith bedeutet Schicksal oder auch Zuversicht“ Ihre Stimme ist samtweich, leise und ganz nah. Sie selbst scheint jedoch weit weg mit ihren Gedanken zu sein. An einem Ort, der für mich unerreichbar ist.
Langsam kam ich zurück an die Oberfläche, zurück in die Wirklichkeit. Ich rieb mir die verschlafenen Augen und sah zu Zarif hinüber. Der schlief noch immer seelenruhig und hatte sich zu einer Kugel zusammengerollt.
Ich seufzte und lehnte mich zurück in die Sitzpolster aus royalrotem Samt. Diese Träume, was haben sie nur zu bedeuten? Soll ich jemandem davon erzählen? Und wieso kommt in jedem meiner Träume dieses Mädchen vor?
Es war zum Verzweifeln, schier zum Haare raufen! Aber wenigstens kannte ich nun den Namen dieses Mädchens. Faith. Immer noch war ich wie in Trance, wenn ich ihren Namen auf der Zunge hatte. Gefesselt von seiner Bedeutung und seiner Schönheit. Gefesselt von dem Geheimnis, das sich um das Mädchen mit den goldblonden Wellen rankte.
Ich wollte das Geheimnis um Faith lösen. Ich wollte wissen, was alles das zu bedeuten hatte. Woher kommt sie? Wieso taucht sie andauernd in meinem Träumen auf? Immer wieder dieselben Fragen und doch war keine einzige Antwort in greifbarer Nähe.
Vor Verzweiflung zog ich die Knie bis zum Kinn und stützte dieses darauf ab. Ich wiegte mich beruhigend auf dem Sitz vor und zurück. Ein einschläfernder Rhythmus. Ein stetiger Rhythmus, der mich schließlich in einen traumlosen aber rastlosen Schlaf fallen ließ...
„Hey... Aufwachen, D! Steh auf! Damian! Hey...“, hörte ich irgendeine Stimme nach mir rufen. Doch ich konnte sie keinem Gesicht zu ordnen, dafür war ich noch zu benommen, zu schlaftrunken.
Langsam schlug ich die Augen auf, kniff sie jedoch geblendet vom hellen Licht, das mich umgab, sofort weder zu. Ich musste mehrmals blinzeln, bi sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. Dann tauchte ein schwarzer Lockenschopf in meinem Blickfeld auf.
„Na endlich“, stöhnte der Lockenschopf erleichtert.
„Was?“, fragte ich müde und setzte mich vorsichtig gerade hin. Mein Rücken schmerzte von meiner Schlafposition.
Sofort wurde ich aufgeklärt: „Wir sind da! Damian, wir sind angekommen!“
„Wo? Wie? Was?!“ Ich war noch nicht ganz wach. Doch allmählich lichtete sich der Nebel, der meine Gedanken umgeben hatte.
„Na, im Ausbildungslager! Wo denn sonst, D?“ Die Stimme des Lockenschopfes klang neugierig, atemlos und hibbelig. Sie gehörte zu Zarif, der vor Aufregung ohne Punkt und Komma zu reden schien. Das Ausbildungslager, irgendwo ganz hinten in meinem Verstand klingelte irgendetwas.
Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen und ich war plötzlich hellwach. „Das Ausbildungslager!“ Augenblicklich saß ich kerzengerade da.
„Ja, wir sind da“, sagte Zarif. „Na los! Komm, wir sehen uns mal ein wenig um!“ Zarif war kaum zu stoppen, so enthusiastisch war er. Schon war der Dämon mit den schwarzen Locken aus der Kutsche gesprungen und wartete ungeduldig, dass ich ihm folgte. Ich taumelte noch ein wenig schläfrig, kam aber sicher au der Kutsche nach draußen.
Der Boden war matschig und meine Stiefel sanken leicht in dem weichen Boden ein. Die Luft war nicht so sauber und rein wie auf dem Westturm oder im Wald hinter dem Schloss. Stattdessen roch es nach Schweiß, Blut und harter Arbeit. Die Umgebung war trist, hatte jedoch eine schützende, starke Atmosphäre. Ich hätte diesen Ort niemals angegriffen, dafür erschien er mir zu standhaft.
Stoffzelte standen überall herum und bildeten wahrscheinlich die Schlafbereiche der Dämonen, die hier ausgebildet wurden. Eine große Blockhütte befand sich nahe dem angrenzenden Wald – der Waschraum. Ein offenes, hohes Zelt stand in der Mitte des Lagers und drunter waren zahlreiche Tische und Bänke aufgestellt. Das war augenscheinlich der Essbereich. In dessen Nähe entdeckte ich eine ausgebrannte Feuerstelle um die einige Baumstümpfe liegen, die als Sitzmöglichkeiten dienen sollen.
Hier werde ich also die nächsten Mondzyklen verbringen. Sieht doch ganz nett aus, dachte ich sarkastisch, so schön grau und trostlos. Ein Ort, an dem man sich bestimmt wie Zuhause fühlen kann. Ich betrachtete Zarif. Ihm schien das alles egal zu sein, er fühlte sich hier unverkennbar wohl. Aber wieso? Gut, er war schon einmal für einige Zeit hier gewesen. Aber das hieß doch nicht gleich, dass er diesen Ort vermisst hatte und sich freute wieder hier zu sein. Doch diesen Eindruck erweckte sein breites Grinsen, das ihm von einem Ohr zum anderen zu gehen schien.
„Zarif!“, rief plötzlich eine tiefe, rauchige Stimme und ein Dämon mit kurzen, braunen Haaren kam auf meinen besten Freund zu gerannt. Der drehte abrupt den Kopf zur Seite und sein Grinsen wurde noch breiter. Der Dämon mit den braunen Stoppelhaaren rannte Zarif fast um, doch der schien davon unbeeindruckt.
„Schön dich wiederzusehen, Cato!“ Zarif klang wirklich erfreut seinen Freund wiederzutreffen.
„Wie ist es dir ergangen, Kleiner?“ Man sah deutlich, warum Cato Zarif so nannte, wenn sie nebeneinander standen. Denn Cato war mehr als einen Kopf größer als der Dämon mit den frechen, schwarzen Locken.
„Gut, und dir?“
„Auch. Wir haben hier ganz schön geackert, während du dich im Palast ausgeruht hast.“ Cato lachte. Sein Lachen war kehlig und ebenso tief wie seine Stimme.
Plötzlich schlug Zarif sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Mist, das hab’ ich ganz vergessen!“ Er drehte sich zu mir und kam auf mich zu. Anschließend stellte er mich vor: „Cato, darf ich dir meinen besten Freund vorstellen? Das ist Damian Nael Izzet Ifrit!“ In seine Stimme schwang Stolz mit.
Bei meinem Namen blieb dem bärigen Cato der Mund offen stehen und er stammelte verwirrt: „Das ist... das ist doch nicht etwas? Das kann nicht sein... Ist er der...?“
Zarif nickte: „Ja, das ist der Prinz.“
Verlegen trat ich auf Cato zu und streckte ihm die Hand hin. „Freut mich dich kennen zu lernen, Cato!“
Völlig perplex nahm Cato meine Hand und schüttelte sie sprachlos. Na, das wird ein Spaß werden, wenn hier alle so reagieren, dachte ich wehmütig. Denn auf solche Prozeduren stand ich überhaupt nicht.
Texte: Cora Harlem Rank
Tag der Veröffentlichung: 17.03.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle, die auch so verrückt nach Fantasy sind wie ich.
Und in Gedenken an einen alten Mitschüler: Tom, du wirst immer in unseren Herzen und unseren Gedanken bleiben.