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Kapitel 1 - Abfuhr


Es soll der perfekte Abend werden, besser gesagt: die perfekte Nacht. Das perfekte erste Mal eben!
Ich habe mich bis ins kleinste Detail vorbereitet, natürlich mit Majas Hilfe. Meine beste Freundin ist nämlich die Expertin in Liebesdingen, zumindest theoretisch.
„Niki, du brauchst ein sexy Outfit“, hat sie mir erklärt, als ich ihr von meinem Plan erzählt habe, und ist mit mir Shoppen gegangen. Einige Stunden später hielt ich ein rotes Nichts in meinen Händen, für das ein halbes Monatstaschengeld draufgegangen ist, in dem ich aber – laut meiner besten Freundin – „unwiderstehlich“ wirken würde. Maja hat mir auch gezeigt, wie ich mich schminken muss: wasserfeste Wimperntusche – „sonst siehst du morgens aus wie eine Eule“ - und knallroten Lippenstift, passend zu den Dessous.
Nun räkele ich mich also nur in einem Spitzenhöschen und einer Corsage mit Push-Up für meinen zu klein geratenen Busen auf Simons Bett und fühle mich eher unangenehm unbekleidet als unwiderstehlich. Stumm verfluche ich Maja für ihre etwas übertriebene Styling-Beratung und schiele nervös zu dem Digitalwecker auf dem Bücherregal. Schon kurz vor zehn. Simon muss jeden Augenblick kommen.
Mario, einer von Simons fünf Mitbewohnern, hat mich vorhin in die Wohnung gelassen. Mit Simon bin ich um zehn hier verabredet, wenn er von seiner Band-Probe kommt, aber ich brauchte noch ein bisschen Zeit für die Vorbereitungen. Auf dem Bett habe ich Rosenblätter verteilt und im ganzen Zimmer stehen Kerzen, die ein schummriges Licht verbreiten und den Raum aufheizen. Ich zittere trotzdem. Liegt das bloß an der vielen nackten Haut, oder habe ich etwa Angst?
Nein, unmöglich! Ich will es wirklich, wiederhole ich mein Mantra für diesen Abend. Ich will endlich mit Simon schlafen. Immerhin sind wir schon seit fast sechs Monaten zusammen und er ist meine große Liebe. Meine erste große Liebe.
Ginge es nach Simon, hätten wir es schon längst getan. Nicht dass er mich gedrängt hätte, jedenfalls hat er nichts gesagt. Aber seine Annäherungsversuche, wenn wir rumknutschen oder kuscheln, sind immer eindeutiger geworden. Ich hingegen wollte mir erst sicher sein, dass er der Richtige ist und warten. Auf den perfekten Zeitpunkt. Und der ist jetzt gekommen, denke ich. Heute, an seinem einundzwanzigsten Geburtstag.
Noch ein Blick zum Wecker. Schon viertel nach zehn. Wo bleibt Simon bloß? Vermutlich trinkt er mit seinen Kumpels noch ein Bier nach der Probe, wie so häufig am Freitagabend. Und gerade an seinem Geburtstag kann er sich wohl kaum sofort verabschieden. Andererseits haben wir ausgemacht, dass wir noch etwas zusammen unternehmen und zu zweit ein wenig feiern. Was das sein wird, davon hat Simon natürlich keine Ahnung.
Mein rechtes Bein fängt an zu kribbeln. Bei dem Versuch, möglichst lasziv auf dem Bett zu liegen, ist es eingeschlafen. Ich ändere meine Position, Blut schießt zurück in das Bein und das Kribbeln wird schmerzhaft. Hektisch wippe ich mit dem Fuß.
In meinem Kopf entsteht ein Bild von mir selbst auf dem Bett voll Rosenblüten. Manchmal sehe ich eine Situation als Zeichnung oder Gemälde vor mir, das müssen die Künstlergene sein, die ich von meinen Eltern geerbt habe. Ob ich wohl einen schön kitschigen Ölschinken abgäbe? Nein, wohl doch eher eine Karikatur!
Halb elf. Dass Simon sich mal verspätet, ist ja nichts Neues. Aber ausgerechnet heute? Ich angele neben dem Bett nach meiner Tasche und krame mein Handy heraus. Simon hat mir vielleicht getextet, wo er steckt und wann er kommt. Nein. Keine neuen Nachrichten. Kurz überlege ich, ihm eine SMS zu schicken, lasse es dann aber lieber bleiben, um ihn nicht zu nerven. Er mag es nicht besonders, wenn ich ihm hinterhertelefoniere oder ihn mit Nachrichten bombardiere. Ich lasse das Handy zurück in die Tasche gleiten und warte weiter.
Viertel vor elf. Ich habe Durst. Am liebsten würde ich in die Küche gehen, um mir ein Glas Wasser zu holen. Aber als ich bereits an der Tür stehe, fällt mir ein, dass es keine gute Idee ist, in diesem Outfit in Simons WG herumzulaufen. Wäre ja möglich, dass einer seiner Mitbewohner auch gerade in die Küche will. Bleibt nur der Sekt übrig, den ich meiner Mom aus der Vorratskammer stibitzt und zusammen mit zwei stilvollen Kelchen auf dem Tisch neben Simons Schlagzeug drapiert habe. Beherzt greife ich nach der Flasche und lasse den Korken knallen.
Eigentlich wollte ich den Schampus zusammen mit Simon trinken. Nachdem wir … ! Aber wenn Simon sich derart verspätet, muss ich halt schon mal alleine anfangen. Ich schenke mir einen der Kelche voll und trinke einen großen Schluck. Jetzt ist mir wenigstens nicht mehr kalt.
Elf Uhr! Ich nehme den Sektkelch mit hinüber zum Bett und lasse mich in die Kissen fallen. Die Pose, die ich nun einnehme, fällt deutlich weniger elegant aus als vorher. Dafür ist sie bequemer. Ich nippe an dem Sektglas und stelle mir vor, wie Simon endlich durch die Tür kommt, mich sieht und mir ein hinreißendes Lächeln schenkt. Wir fallen uns verliebt in die Arme und mit einem innigen Kuss sinken wir auf die Matratze. Und dann? Blende ich ab. Das wird im Film schließlich auch so gemacht. Nächste Einstellung: Ein glückliches Paar wacht in zerwühlten Decken nebeneinander auf. So ungefähr stelle ich mir das morgen früh vor.
Viertel nach elf. Mein Glas ist inzwischen leer. Ich stehe auf und fülle noch mal nach. Mit dem Kelch in der Hand drehe ich mich langsam um meine eigene Achse, bis mein Blick an einem Plakat hängen bleibt. Newcomer Contest steht in roten Buchstaben über dem verwackelten Foto einer Rockband. Dasselbe Plakat klebt auch in meinem Zimmer an der Wand. Denn das war der Abend, an dem Simon und ich uns kennengelernt haben.
Ich war mies drauf an diesem Tag. Ich hatte zum zweiten Mal eine Fünf in Englisch nach Hause gebracht und meine Mutter war stinksauer auf mich. Nur unter der Bedingung, dass ich gleich am nächsten Tag mit dem Büffeln anfinge, ließ sie mich mit Maja ausgehen. So läuft das immer bei meiner Mom: Ich darf eine Menge, solange ich die Schule nicht schleifen lasse. Vertrauen, lautet ihre Erziehungsmaxime. Aber das Vertrauen endet da, wo die schlechten Noten anfangen. Wahrscheinlich hätte ich mich tags drauf sogar tatsächlich mit Vokabellernen abgemüht, wenn ich nicht an besagtem Abend Simon getroffen hätte. Stattdessen habe ich, während ich über meinem Englischbuch saß, nur von dem süßen Simon geträumt.
Seine Band war die letzte, die auftrat, und mit Abstand die beste. Bis dahin hatte ich grummelnd an der Bar gehockt, weil ich die Musik nicht mochte, gelangweilt an einer Cola genippt und Majas Versuche abgewehrt, mich auf die Tanzfläche zu zerren. Doch in dem Moment, als Simon auf die Bühne kam und sich hinter sein Schlagzeug setzte, machte etwas in mir „Klick“ und ich konnte nicht mehr aufhören, ihn anzustarren. Er sah aber auch einfach toll aus mit seinen hochgestylten schwarzen Haaren, den durchdringenden blauen Augen und dem engen Shirt mit Bandlogo, das über seinen Muskeln spannte, während er die Drums bearbeitete.
Simons Band Vision gewann den Wettbewerb, den der Club ausgeschrieben hatte, und plötzlich stand Simon neben mir an der Bar und drückte mir mit den Worten „Zeit mit den Groupies zu feiern“ ein Glas in die Hand. Wie peinlich! Ihm musste aufgefallen sein, dass ich meine Augen nicht von ihm abwenden konnte. Doch Simon schien das nicht zu stören. Im Gegenteil.
Den Rest des Abends wich dieser Wahnsinnstyp nicht von meiner Seite. Er stellte mich all seinen Kumpels vor und wirkte dabei so stolz, als hätte er einen Sechser im Lotto gewonnen. Und so wie er mich aus seinen knallblauen Augen anschaute, kam ich mir wirklich vor wie ein Hauptgewinn. Als er mich schließlich küsste und sein cooler Dreitagebart über mein Kinn kratzte, fuhr das Blut in meinen Adern Achterbahn und ich wünschte mir, dass der Kuss niemals enden würde.
So fing das alles an mit uns. Und seither hatte ich nicht erst einmal das Gefühl, in einer superschnellen Achterbahn mit mindestens drei Loopings zu sitzen. Mit Simon zusammen zu sein, ist aufregend und immer wieder überraschend. Er ist der spontanste Mensch, den ich kenne. Ich finde das spannend, obwohl ich normalerweise eine richtige Planungsfetischistin bin.
„Niki, mach dich locker“, sagt Simon oft zu mir. Eine solche Aktion wie heute Abend ist normalerweise gar nicht mein Ding. (Und um ehrlich zu sein, stammt das Gesamtkonzept eigentlich von Maja!) Aber ich glaube, Simon wird es gefallen. Und für ihn mache ich das gern!
Es ist kurz vor Mitternacht. Ich wanke ein wenig, als ich zum Bett zurückkehre. Alkohol vertrage ich nicht so gut, was vermutlich daran liegt, dass ich fast nie etwas trinke. Und jetzt gleich zwei Gläser hintereinander, noch dazu auf leeren Magen … Mein Kopf fühlt sich schon ganz watteweich an. Müde falle ich auf die Matratze, greife nach der Decke und ziehe sie bis zum Kinn hoch. Hmm, die riecht nach Simon. Ich schließe die Augen. Nur für ein paar Sekunden. Simon muss jetzt jeden Moment kommen. Ich stelle mir vor, wie er seine Lippen auf meine drückt, seine Zunge mit meiner spielt, seine Hand über meinen Rücken streicht, über meinen Bauch …
„Hier stinkt es ja erbärmlich!“
Ich fahre hoch, als mich eine laute Stimme aus dem Schlaf reißt. Das Deckenlicht flammt grell auf. Ich muss die Augen zusammenkneifen.
„Niki, was ist denn hier los?“, höre ich Simons Stimme. Er klingt wütend. Warum klingt er wütend? Er sollte überrascht klingen. Freudig überrascht!
Ich öffne die Augen, doch etwas versperrt mir die Sicht. Ich fuchtele mir mit der Hand in meinem Gesicht herum, bis ich das rote Samtband zu fassen bekomme, das ich mir früher am Abend in meine braunen Locken geschlungen habe. Mit einem Schleifchen. Ein Geschenkbändchen um Simons Geburtstagsgeschenk – also mich.
Mit einem Ruck ziehe ich mir das Band über den Kopf und versuche dann, die Situation zu erfassen. Simon steht noch immer im Türrahmen und betrachtet sein Zimmer mit einem verwirrten Ausdruck: die offene, halb leere Flasche Sekt, die heruntergebrannten Kerzen. Die Luft ist tatsächlich zum Schneiden, das muss vom Rauch kommen.
„Ich …“, stottere ich. „Ich wollte … Aber dann …“
„Echt, Niki, was soll der Scheiß?“ Mit langen Schritten kommt Simon auf mich zu. Gerade noch rechtzeitig fällt mir ein, was ich für diesen Abend geplant habe. Mit einer – wie ich hoffe – eleganten Bewegung werfe ich die Decke zur Seite und versuche mich an einem verführerischen Blick.
„Überraschung!“, nuschele ich.
Wie angewurzelt bleibt Simon stehen und starrt mich an. Leider sieht er noch immer eher erstaunt als erfreut aus.
„Also, Niki …“ Jetzt stammelt er auch. Müde setzt er sich neben mich auf die Bettkante. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Nein, wirklich nicht.
Mein Blick fällt auf den Digitalwecker. Was? Schon nach drei!
„Wo hast du so lange gesteckt?“, frage ich anklagend. „Wir waren doch verabredet. Schon vor Stunden.“ Sofort geht Simon in die Defensive.
„Sorry, Kleines, aber wir haben noch was zusammen getrunken und ich habe die Zeit vergessen. Heute ist ja schließlich mein Geburtstag.“
„Natürlich“, rudere ich zurück. Jetzt bloß nicht streiten. „Aber ich dachte, wir wollten miteinander feiern“, starte ich einen neuen Anlauf.
„Ja, schon.“ Simon druckst herum. „Aber es ist was dazwischengekommen. Etwas ziemlich Geniales!“ Zum ersten Mal seit er das Zimmer betreten hat, breitet sich ein Lächeln auf Simons Gesicht aus. Nur hat das offensichtlich nichts mit mir zu tun.
„Aha“, murmele ich. Ich setze mich hin und ziehe mir die Decke bis zum Bauchnabel hoch. Plötzlich komme ich mir wieder furchtbar nackt vor.
„Ja, stell dir vor: Wir werden einen Gig in New York haben!“ Simon strahlt mich an, als würde er mir vom achten Weltwunder berichten.
„Aha“, bringe ich nur wieder hervor.
„Heute war ein Agent bei unserer Probe, der Nachwuchstalente castet. Er hat unsere Demos im Netz gehört und war total begeistert. Der Typ will uns groß rausbringen. Er hat einen Kumpel, dem gehört ein Club in Manhattan, und da verschafft er uns einen Auftritt. Als Vorband für die Kings. Das ist unsere Chance, Niki. New York, stell dir das mal vor! Das ist unser Sprungbrett. Wir werden berühmt!“
„Aha.“ Irgendwie fällt es mir schwer, Simons Begeisterung zu teilen.
„Der Agent hat die Flugtickets bereits besorgt. Unfassbar, oder? Ich kann sofort mit dem Packen anfangen. Wir fliegen schon morgen!“
Morgen? Ich glaube, ich habe mich verhört.
„Und wann kommst du zurück?“
„Ach, Niki.“ Simon streicht mir abwesend mit der Hand über den Kopf. Egal, die Frisur, die ich nach Majas Anleitung in mühevoller Kleinarbeit mithilfe von literweise Haarspray fabriziert habe, ist wahrscheinlich sowieso längst zerstört. „Ach, Niki“, wiederholt Simon, als würde er mit einer Geistesgestörten sprechen. „Wenn alles so läuft, wie wir uns das vorstellen, dann kommen wir nicht mehr zurück.“
Sprachlos starre ich ihn an, zu perplex für einen klaren Gedanken.
„Und was wird aus uns?“, bringe ich schließlich mühsam heraus.
Simon nimmt mein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger, hält mein Gesicht fest und schaut mir tief in die Augen.
„Niki“, sagt er. „Das mit uns war schön. Aber du musst doch verstehen, dass das hier meine große Chance ist. Meine ganz große Chance. Die bekommt man nur einmal im Leben.“
War? Hat er gerade wirklich war gesagt? Was soll das heißen?
„Soll das heißen …?“
„Mit uns ist es aus.“ Simon lässt mein Kinn los und mein Kopf sackt Richtung Brust. Mein Bauch krampft sich zusammen, der Sekt in meinem Magen fängt plötzlich an, nach oben zu drängen. Ich presse mir die Hand auf den Mund, stürze aus dem Bett und schaffe es gerade noch ins gegenüberliegende Badezimmer.
„Niki?“ Ein zaghaftes Klopfen an der Tür. Ich würge noch einmal, aber es kommt nichts mehr.
„Niki, alles okay?“
Nein! Nichts ist okay! Gar nichts!
Ich hangele mich am Badewannenrand hoch und schleppe mich zur Tür. Simon steht davor, meine Klamotten in der einen Hand, meine Tasche in der anderen.
„Kann ich irgendwas für dich tun?“
Nein! Lass mich in Ruhe! Lass mich bloß in Ruhe!
Ich reiße ihm die Sachen aus den Händen und versuche, gleichzeitig in meine Jeans und mein T-Shirt zu schlüpfen. Ich stolpere dabei, doch Simon fängt mich auf.
„Soll ich dich nach Hause fahren?“
Nein! Nein! Nein!
Endlich habe ich meine Jeans an, streife das Shirt über den Kopf, steige in meine Chucks und gewinne auch den Kampf gegen die Schnürsenkel. Ich stürze zur Wohnungstür.
Als ich mich auf der Treppe noch einmal umdrehe, lehnt Simon im Rahmen. Er sieht mir mit diesem durchdringenden Blick hinterher, der meine Knie zu Gummi werden lässt. Ich reiße meine Augen von ihm los, drehe mich um und hetze die Treppe hinunter.
Die Haustür fällt hinter mir ins Schloss. Ich stehe mitten in der Nacht auf einer menschenleeren Straße in Kreuzberg, mein Herz klopft bis zum Hals und ich bin nur zu einem einzigen Gedanken fähig: Das kann er nicht ernst meinen!

Kapitel 3 - Überraschung


Aus unserer Küche weht mir der Duft von frischem Kaffee und aufgebackenen Croissants entgegen. Verblüfft bleibe ich in unserem schwarz-weiß gefliesten Hausflur stehen. Seit wann macht meine Mom sich ein derart aufwändiges Frühstück? Sogar am Samstag hat sie es normalerweise morgens so eilig, dass die Zeit kaum für ein Glas Wasser reicht. Meine Mutter ist nämlich eine notorische Langschläferin und deshalb immer zu spät dran. Eigentlich müsste sie auch jetzt bereits auf dem Weg zum Auto hektisch um mich herumwuseln und ihre Schlüssel suchen. Stattdessen höre ich Geschirr klappern und Mom leise vor sich hinsummen. Wie bitte? Meine Mutter summt frühmorgens ein Lied? Irgendetwas läuft hier grundfalsch!
Langsam nähere ich mich der angelehnten Küchentür und versuche, meine Mutter durch den Türspalt zu beobachten. Dummerweise stoße ich dabei gegen die alte Holztür, mit einem vernehmlichen Knarren schwingt sie auf und macht meine Spionageversuche zunichte. Mom, die sich gerade mit dem Rücken zu mir an der Kaffeemaschine zu schaffen gemacht hat, dreht sich um und mustert mich mit einem Blick, der irgendwo zwischen Erstaunen und Erschrecken angesiedelt ist. Eilig rafft sie mit einer Hand ihren bunt gemusterten Seidenkimono vor ihrem üppigen Busen zusammen und fährt sich mit der anderen durch ihre zersauste hennarote Kurzhaarfrisur.
„Niki, was machst du denn hier?“
Komisch, dass ich ihr gerade genau dieselbe Frage stellen wollte!
„Ich wohne hier“, gebe ich etwas patzig zur Antwort. Mist, das ist kein guter Einstieg für unser „Mom, ich muss unbedingt nach New York“-Gespräch. Aber meine Mutter hat offensichtlich unerschütterlich gute Laune und setzt sofort eine versöhnliche Miene auf.
„Natürlich tust du das, mein Schatz. Ich war nur überrascht, dich zu sehen. Ich dachte, du übernachtest bei Simon.“
Autsch, Volltreffer in den wunden Punkt. Ich ringe die Tränen nieder, damit meine Mutter nichts bemerkt. Wenn ich ihr als erstes die ganze Simon-Misere auftische, wird sie wissen, was es mit meinen Sprachschulplänen in Wahrheit auf sich hat – und das darf auf keinen Fall passieren. Meine Mutter muss glauben, dass es mir einzig und allein um die Verbesserung meiner Englischkenntnisse geht, ansonsten heißt es garantiert: „Bye-bye, New York!“
„Simon hat heute Morgen einen Termin mit seiner Band.“ Immerhin ist das noch nicht einmal gelogen.
„Schade.“ Mom ist genau wie ich daran gewöhnt, dass meinem Freund öfter mal etwas dazwischen kommt, also hakt sie zum Glück nicht nach. Stattdessen deutet sie einladend zum Frühstückstisch und holt zwei Teller aus dem Schrank. Ich setze mich auf meinen Lieblingsplatz, einen Korbstuhl mit Armlehnen und einem dicken karierten Kissen, und bestaune den reich gedeckten Tisch: Croissants und Brötchen, eine Wurstplatte, Rühreier, Marmelade, Quark … Dieses Bild ist in unserer Küche eine Seltenheit, um nicht zu sagen: eine Premiere!
„Erwartest du jemanden?“, frage ich vorsichtig.
„Kaffee?“, erwidert meine Mutter.
„Fragst du mich das im Ernst?“
Mom weiß genau, dass sie einen Koffein-Junkie großgezogen hat und stellt bereits einen großen Becher Kaffee mit geschäumter Milch vor mich hin. Gierig trinke ich den ersten Schluck und verbrenne mir prompt die Zunge. Ich fluche und meine Mutter lacht.
„Gierschlund“, neckt sie mich, während sie sich elegant, einen nackten Fuß untergeschlagen, auf den Stuhl neben mir setzt. Sie pustet auf ihren eigenen Kaffee und betrachtet mich über den Rand ihrer Tasse hinweg mit einem undefinierbaren Ausdruck. Wieder einmal staune ich darüber, wie gut meine Mom mit ihren vierundvierzig Jahren selbst ungeschminkt noch aussieht. Um ihre dunkelbraunen Augen kräuseln sich winzige Falten, denn sie lacht viel, ansonsten ist ihre Haut glatt. Den etwas zu großen Mund habe ich von ihr geerbt, doch während er bei mir unter meiner kleinen Nase deplaziert wirkt, macht er ihr Gesicht erst richtig interessant.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wie soll ich meiner Mutter beibringen, dass sie mir ein Flugticket nach New York kaufen und mir eine teure Sprachschule bezahlen muss? Nervös greife ich nach einem Croissant, reiße ein Stück ab und fange an, es zu zerbröseln.
Normalerweise kann ich mit Mom über alles reden. Sie ist mehr wie eine Freundin als wie eine Mutter für mich. Ich war drei, als sie sich von meinem Vater getrennt hat, weil er das Geld, das sie als Angestellte in einer Kunstgalerie verdiente, lieber mit seinen Künstlerfreunden in irgendwelchen Bars ausgab, anstatt uns den Kühlschrank zu füllen. Mein Dad verschwand kurz danach mit einer neuen Frau nach Südfrankreich und meine Mom hat mich allein großgezogen. Natürlich ging sie weiter arbeiten und machte ihren Job wohl auch ziemlich gut. Vor sechs Jahren wurde sie Geschäftsführerin der Galerie und verdiente genug, um das alte Schulhaus zu kaufen und zu renovieren, in dem wir heute leben. Viel Zeit, um mich zu beglucken blieb ihr nebenbei allerdings nicht. Trotzdem hat sie mir immer gut zugehört und ich habe ihr alles erzählt, was mich beschäftigt hat. Nur im Moment fällt mir einfach nicht ein, wie ich loslegen soll …
„Niki, das Croissant ist schon tot“, reißt Mom mich aus meinen Gedanken. Schuldbewusst schaue ich auf meine Hände, die das Hörnchen beinah in seine Moleküle zerlegt haben.
Ich hole tief Luft, doch wieder kommt mir meine Mutter zuvor.
„Schatz, ich muss etwas mit dir besprechen“, eröffnet sie mir. „Eigentlich dachte ich, wir klären das morgen beim Abendessen …“ (Unser Sonntagspizzaessen beim Italiener ist ein heiliges Ritual.) „… aber wo du schon mal hier bist, können wir auch gleich darüber reden.“
Jetzt bin ich baff. Eigentlich war doch ich diejenige, die etwas zu besprechen hat.
„Äh, ja …“, steuere ich wenig gewandt zu unserem Gespräch bei.
„Ich weiß, es ist nicht gerade dein Lieblingsthema“, fängt meine Mutter wenig verheißungsvoll an. „Aber ich habe noch mal nachgedacht, was wir bezüglich deiner schlechten Englischnoten unternehmen können. Ich meine: Englisch zu können ist doch heutzutage so wichtig. Ich sehe das täglich in der Galerie. Künstler und Kunden aus aller Welt kommen zu uns und Englisch ist die allgemeine Verständigungssprache. Ohne gutes Englisch bist du später im Studium oder im Job aufgeschmissen!“
Mom macht eine Pause und sieht aus, als würde sie von mir lautstarken Protest erwarten. Mir hingegen ist gerade nach Jubeln zumute. Wahnsinn, dass meine Mutter mir eine derart gute Steilvorlage für meinen New-York-Plan bietet!
„Tja, Mom, vielleicht hast du recht“, starte ich meinen strategischen Überzeugungsfeldzug. Erstmal zustimmen, denke ich mir, damit meine Mutter das Gefühl hat, die Initiative gehe von ihr aus, und als zweites Fakten auf den Tisch legen. „Ich hätte hier …“, fahre ich fort und taste nach meiner Tasche, die ich vorhin neben dem Stuhl habe fallen lassen. Aber meine Mutter lässt mich gar nicht weiterreden.
„Das ist ja schön, dass du endlich zu derselben Einsicht gelangt bist“, fällt sie mir ins Wort. „Und stell dir vor: Ich habe eine großartige Überraschung für dich!“
Eine Überraschung? Was soll das heißen? Ich will keine Überraschung. Ich habe einen eigenen Plan, einen richtig guten sogar!
„Ich habe auch …“, mache ich einen erneuten Versuch, aber auch dieses Mal unterbricht Mom mich.
„Ich habe gestern mit meiner Freundin Madeleine telefoniert.“
„Madeleine? Deine Freundin?“, echoe ich irritiert. Den Namen habe ich von meiner Mutter noch nie gehört.
„Naja, Freundin ist zu viel gesagt. Sie ist eine Bekannte aus Studienzeiten. Amerikanerin. Ihre Eltern waren stinkreich, sind es vermutlich immer noch, und ihre Tochter Madeleine sollte damals in Europa die alten Künstler studieren. Wir haben uns in einem Kurs über Michelangelos Wirkung in der europäischen Kunst kennengelernt. Ich weiß das deshalb noch so genau, weil ich Madeleines schockierten Gesichtausdruck nie vergessen werde, als die Dozentin von den zu klein geratenen Geschlechtsteilen der David-Statue sprach!“
Meine Mutter gackert vor sich hin und ich spüre, wie mir das Blut in die Wangen schießt. Ich finde, manche Themen sollten zwischen Müttern und Töchtern einfach tabu sein!
Unbeirrt von meiner roten Gesichtfarbe fährt Mom fort: „Madeleine war richtig nett, gar nicht so versnobt wie man bei dem Elternhaus erwartet hätte. Allerdings war die Partykultur das Einzige, was sie in Europa wirklich mit viel Enthusiasmus studiert hat. Ein halbes Jahr lang hatten wir eine Menge Spaß zusammen, doch dann reiste sie urplötzlich zurück in die Staaten. Erst knapp ein Jahr später habe ich wieder von ihr gehört. Da schickte sie mir ein Foto von sich mit einem kleinen Baby auf dem Arm …“
Versonnen starrt meine Mutter in ihren Becher, schüttelt den Kopf und trinkt einen Schluck.
Ich räuspere mich. Langsam frage ich mich, warum ich mir die Lebensgeschichte von irgendeiner alten Bekannten meiner Mom anhören muss. Wohin soll dieses Gespräch führen? Und gibt es vielleicht auch eine Kurzversion?
„Es ist so“, kehrt meine Mutter zurück ins Hier und Jetzt. „Madeleine hat nicht nur diesen mittlerweile erwachsenen Sohn, sondern auch noch Zwillinge bekommen. Sie sind sieben Jahre alt. Und wie es der Zufall will, sucht sie für die beiden in diesem Sommer dringend ein Au-Pair-Mädchen. Als sie mir das erzählte, habe ich sofort an dich gedacht. Und Madeleine war begeistert. Sie freut sich schon darauf, dass du in den Sommerferien ihr Gast sein wirst! Also, was meinst du?“
Halt! Stopp! Hat meine Mutter gerade wirklich vorgeschlagen, dass ich meine Sommerferien als Kindermädchen für zwei kleine amerikanische Gören vergeuden soll, anstatt nach New York zu fliegen und Simon zu finden? Meint sie das ernst?
„Mom“, antworte ich und hoffe, dass sie dem Tonfall nicht meine Zweifel an ihrem gesunden Menschenverstand anhört. „Bist du sicher, dass du wirklich an deine Tochter gedacht hast, als auf die Idee kamst, sie den Zwillingen dieser Madeleine auf den Hals zu hetzen? An deine Tochter, die noch nie in ihrem Leben eine einzige Stunde als Babysitter gejobbt hat? Die einen großen Bogen um Kinderwägen macht und sabbernde, zahnlose Wesen nur nervig und keineswegs niedlich findet. Deine Tochter, die wie du weißt, nicht einmal Geschwister hat. Mom, bist du wirklich sicher, dass du dabei an mich gedacht hast?“
Mom lacht, steht auf und geht zur Kaffeemaschine, um sich ihren Becher vollzuschenken. Dann dreht sie sich wieder zu mir um und bleibt mit dem Po an die Arbeitsplatte gelehnt stehen. Sie hebt ein Bein und drückt ihren Fuß gegen das Knie des anderen Beins. Das ist garantiert eine ihrer Yoga-Übungen. Der sterbende Storch, oder so.
„Nikilein“, sagt sie mit ihrer schmeichelnden Überredungsstimme. „Natürlich habe ich dabei nur an dich gedacht. Du magst vielleicht keine Erfahrungen mit kleinen Kindern haben, aber du bist der verantwortungsvollste Mensch, den ich kenne. Jede Mutter würde dir ihre Kinder ohne Bedenken anvertrauen. Und vergiss nicht: Die Zwillinge sind keine Babys mehr, sondern schon sieben Jahre alt, du musst also weder Windeln wechseln noch sie mit Brei füttern.“
Ich stöhne vernehmlich. Sieben Monate oder sieben Jahre – wo ist da der Unterschied? In meinem Kopf entsteht bereits ein Horrorszenario: Ich werde den ganzen Sommer auf Spielplätzen herumhängen, Sandkuchen backen, Schniefnasen putzen, Trinkpäckchen reichen … Womöglich in einer dieser ausgestorbenen amerikanischen Vorstädte, die man aus dem Fernsehen kennt, wo sich Reihenhaus an Reihenhaus reiht und das nächste Kino und die nächste Kaffeebar eine halbe Weltreise entfernt liegen.
Ahhhhh! Das darf auf keinen Fall passieren. Ich muss doch nach New York. Ich muss Simon suchen! Aber wie soll ich meiner Mutter meine Sprachschulpläne jetzt noch schmackhaft machen, nachdem sie selbst eine so perfekte Lösung gefunden zu haben meint?
„Mom …“, werfe ich ein. Ich rutsche auf der Stuhlkante ganz weit nach vorne und verschränke meine Hände auf dem Tisch ineinander. Ich muss jetzt ruhig bleiben, damit ich meine Argumente geordnet und überzeugend vortragen kann. Aber ich komme schon wieder nicht zu Wort.
„Hör zu, Niki“, erklärt meine Mutter bestimmt und stellt ihre Tasse schwungvoll hinter sich auf die Arbeitsplatte, sodass ein wenig Kaffee herausschwappt. „Du wirst einen fantastischen Sommer bei Madeleine und ihrer Familie verbringen. Das bisschen Babysitten erledigst du mit links, lernst quasi ohne Anstrengung nebenbei besser Englisch zu sprechen und in deiner Freizeit kannst du die spannendste Stadt der Welt erkunden. Ich selbst war ja noch nie in New York …“
„Aber, Mom …“, versuche ich es noch einmal, klappe meinen Mund aber ganz schnell wieder zu.
Moment. Hat meine Mutter gerade wirklich New York gesagt? „Ich darf nach New York fliegen?“, frage ich verdutzt, erhalte jedoch keine Antwort. Mom starrt über mich hinweg auf die Tür und als ich ihrem Blick folge, sehe ich, was ihre momentane Sprachlosigkeit verursacht hat. Im Türrahmen lehnt, einen Arm lässig in die Hüfte gestützt, braun gebrannt und nur mit einer scheußlichen kotzgrünen Boxershorts bekleidet: Pedro.
„Guten Morgen, ihr Hübschen“, sagt der Latino-Adonis mit einem Lächeln, das in ein breites Gähnen übergeht, wobei er sich räkelt und seinen muskulösen sowie unbekleideten Oberkörper zur Schau stellt.
„Du bist schon wach“, kommentiert meine Mutter erstaunt eine unübersehbare Tatsache. Pedros Anwesenheit in unserem Türrahmen ist ihr offensichtlich unangenehm. Ihr Blick flattert von ihm zu mir und sie seufzt. „Entschuldige, Niki.“
In unserer Mutter-Tochter-Beziehung gab es bislang eine unumstößliche Regel und die lautete: keine Männerbesuche! Zumindest galt das für die Männer meiner Mutter, Simon durfte ich natürlich mit nach Hause bringen, aber so häufig war er eh nicht bei uns. Mom hingegen hat keinen Kerl mehr angeschleppt, seit mein Vater ausgezogen ist. Natürlich hat sie nicht dreizehn Jahre lang enthaltsam gelebt, aber sie fand es wichtig, dass unser Mädelhaushalt nicht von irgendwelchen fremden Männern durcheinandergebracht wurde. Und vermutlich wollte sie nicht, dass ich mich an einen von ihnen zu sehr gewöhne, denn das Mindesthaltbarkeitsdatum ihrer Beziehungen war meist nach kurzer Zeit abgelaufen.
Und jetzt also Pedro! Ich kenne Pedro schon aus der Galerie, wo er seit ein paar Monaten als Aushilfe arbeitet. Pedro kommt aus Mexiko und ist Künstler – er stellt riesige Skulpturen aus Holz her, die er in einer alten Fabrikhalle lagert und die, soweit ich weiß, niemand kauft, weil sie gar nicht in ein normales Wohnzimmer passen würden. Nebenbei studiert Pedro Kunst an der Uni und das bringt uns zum eigentlichen Knackpunkt: Pedro ist fünfzehn Jahre jünger als meine Mutter!
„Mom …?“ Mehr bringe ich nicht raus. Und meine Stimme hört sich an wie von einem kleinen Mädchen, das gerade seine Eltern dabei erwischt hat, wie sie die Geschenke unter den Weihnachtsbaum legen und dem von einer Sekunde auf die andere der Glaube an den Weihnachtsmann genommen wurde. Es ist nicht so, dass ich Pedro nicht mag. Er ist immer freundlich zu mir, witzig und sieht auch fantastisch aus. Aber in unserer Küche hat er, finde ich, nichts zu suchen. Schon gar nicht in kotzgrünen Boxershorts!
Pedro jedoch scheint von den negativen Schwingungen nichts zu spüren. Er stößt sich vom Türrahmen ab, kommt mit drei katzenhaften Schritten zum Tisch und lässt sich neben mir auf den Stuhl fallen, auf dem vorher meine Mutter gesessen hat.
„Du siehst müde aus, Niki. Zu viel gefeiert?“, fragt er mit diesem Latino-Vibrato, das mich immer an Enrique Iglesias erinnert, obwohl der ja eigentlich Spanier ist.
Ich ignoriere Enrique-Pedro und werfe meiner Mutter einen vernichtenden Blick zu. Aber Mom schaut geflissentlich weg.
Pedro greift an mir vorbei nach einem Croissant, beißt ein Riesenstück ab und setzt mit vollem Mund zu einem weiteren Konversationsversuch an.
„Oder bist du erledigt von der vielen Lernerei? Freust du dich auf die Ferien? Uscha hat mir schon so von Italien vorgeschwärmt.“ Er schenkt meiner Mutter ein liebevolles Lächeln, das sie ziemlich angestrengt erwidert.
Uscha? Was soll das denn für ein bescheuerter Kosename für meine Mom sein? Sie heißt Ursula! Ist das so schwierig auszusprechen?
„Pizza, Pasta und Amore“, erklärt Pedro schwärmerisch und ich muss fast lachen, weil er die italienischen Wörter so witzig betont. Im letzten Moment kann ich es mir verkneifen.
„Du wirst sehen, Italien wird dir gut tun“, fährt Pedro unbeirrt fort, ohne sich von Moms und meinem Schweigen im Geringsten beeindrucken zu lassen. Offensichtlich hat meine Mutter ihren neuen Lover noch nicht über meine von ihr geänderten Sommerpläne informiert.
„Ach, was rede ich?“ Pedro beißt erneut in das Croissant. „Italien wird uns gut tun“, nuschelt er an den Teigmassen in seinem Mund vorbei. „Florenz! Am meisten freue ich mich auf Florenz. Ein wahres Mekka für meine Künstlerseele …“
Den Rest seiner Ausführungen höre ich nicht mehr, denn in meinem Kopf wird ein klitzekleines Wort plötzlich riesengroß: Uns! Pedro hat uns gesagt. Soll das etwa bedeuten, dass dieser Pseudo-Iglesias vorhat, mit meiner Mom und mir in unser italienisches Idyll zu fahren? Oder vielmehr: nur mit meiner Mom? Denn für mich hat meine Mutter ja andere Pläne!
Mit einem Mal wird mir klar, was hier läuft.
„Du schiebst mich nach New York ab, um mit deinem Loverboy einen ungestörten Liebesurlaub verbringen zu können!“ Ich klinge gar nicht mehr wie ein kleines Mädchen, sondern ehrlich gesagt ziemlich laut und schrill. Dass ich ohnehin nicht vorhatte, mit meiner Mutter nach Italien zu fahren, sondern unbedingt nach New York wollte, um Simon zu finden, ist in diesem Moment vergessen. Ich spüre nur ihren Verrat heiß in meinem Bauch brennen. „Du willst mit Pedro nach Italien fahren. Allein! Bitte schön! Ich habe eh keine Lust auf langweiliges Rumgammeln mit dir bei Clara! Ich mache lieber New York unsicher. Auch allein!“
Ich springe auf, wobei das karierte Kissen zu Boden fällt. Fast wäre ich darauf ausgerutscht, als ich wutschnaubend unsere Küche verlasse. Hinter mir höre ich meine Mutter.
„Bitte, Niki, lass mich erklären …“
Aber ich drehe mich nicht um.

Kapitel 4 - Champagnerdusche


Wer konstruiert eigentlich die Sitze in Flugzeugen? Werden die irgendwo hinter den Sieben Bergen in Zwergenfabriken hergestellt?
Ich habe ja nun wirklich keine außergewöhnlich langen Beine, eher das Gegenteil ist der Fall. Doch als ich nach neun Stunden und elf Minuten in der Luft am JFK Airport aus der Maschine torkele, fühle ich mich wie eine zusammengefaltete Ziehharmonika. Und nicht nur das: Ich bin auch noch hundemüde. Auf meiner inneren Uhr stehen die Zeiger inzwischen auf zwei Uhr nachts, in New York ist es jedoch erst Abend und sechs Stunden früher als in Deutschland, um genau zu sein. Vor Müdigkeit beginne ich bereits zu frösteln, aber auch, weil im Flughafen dank Klimaanlage beinahe arktische Temperaturen herrschen. Ich ziehe meine Strickjacke fester um mich und rücke meinen vollgestopften Rucksack zurecht.
Ich trotte hinter den anderen Passagieren her, bis wir in eine fensterlose Halle gelangen, die für die internationalen Flüge reserviert ist. Es ist brechend voll, an der Passkontrolle haben sich lange Schlangen gebildet. Orientierungslos flackert mein Blick hin und her. Wo muss ich hin? Dort drüben sind die Schalter für US-Citizens reserviert, also reihe ich mich auf der anderen Seite, bei den Non-US Citizens, ein. Erwartungsgemäß geht es hier noch langsamer voran. Während sich die Wartenden millimeterweise vorwärts schieben, fallen mir immer wieder die Augen zu.
Kurz überlege ich, ob ich Mom eine SMS schicken soll, dass ich angekommen bin, entscheide mich dann aber dagegen. Soll sie sich ruhig noch etwas länger Sorgen machen. Meine Mutter leidet nämlich unter panischer Flugangst, die sie auch auf mich überträgt. Normalerweise würde ich ihr also sofort Bescheid geben, dass wir gut gelandet sind. Aber verglichen mit dem Klima, das in der vergangenen Woche bei uns zu Hause geherrscht hat, könnte man die Minusgrade hier im Flughafen als tropisch bezeichnen. Soweit wie möglich bin ich Mom aus dem Weg gegangen, und unsere wenigen Wortwechsel beschränkten sich aufs Allernötigste. Kurz vor dem Abflug hat Mom noch mal versucht, mit mir zu reden, aber ich habe sie wieder einfach stehen lassen und bin durch die Sicherheitskontrolle verschwunden. Da konnte sie mir nicht mehr folgen.
„Your passport, ma‘am?“ Ein junger Schwarzer – Afroamerikaner heißt das politisch korrekt – in der dunkelblauen Uniform der amerikanischen Zoll- und Grenzschutzbehörde schaut mich mit ausdruckslosem Gesicht an. Ich strecke ihm die Kopie mit der Einreisegenehmigung und meinen Reisepass entgegen, den er eingehend prüft, einen Stempel hineindrückt und mir schließlich zurückgibt. Ich werde fotografiert und nach dem Zweck und der Dauer meines Aufenthalts gefragt – mit flatterndem Herzen behaupte ich, Touristin zu sein, denn ein Arbeitsvisum habe ich auf die Schnelle nicht mehr bekommen.
Dann muss ich noch meine Finger auf eine Art Scanner legen. Ich starre auf meine kurzgeschnittenen Nägel und hoffe, dass der Grenzbeamte nicht bemerkt, dass unter dem rechten Daumennagel etwas schwarze Kohle hängt, weil ich mir die Zeit im Flieger mit meinem Skizzenblock und dem Kohlestift vertrieben habe.
„Welcome to the United States“, erklärt der Uniformierte jedoch nur mit immer noch unbewegter Miene und wendet sich dem nächsten Wartenden zu.
Willkommen in Amerika! Da bin ich also. Und jetzt?
Als ich eine halbe Stunde später endlich meinen zentnerschweren Koffer vom Gepäckband gehievt habe und das knallrote Monstrum hinter mir herziehend die automatischen Türen zur Ankunftshalle durchschreite, ist die bleierne Müdigkeit einer kribbeligen Aufregung gewichen. Mir wird ganz flau im Magen, wenn ich versuche, mir vorzustellen, was mich hier in New York erwartet.
In der Woche, die seit dem Frühstücksdesaster mit meiner Mutter und Pedro vergangen ist, hatte ich viel zu viel mit den praktischen Reisevorbereitungen zu tun, um mir Gedanken über die kommenden sechs Wochen zu machen: Biometrische Fotos schießen lassen (scheußlich!), einen Expressreisepass beantragen und abholen (sauteuer, zum Glück hat Mom bezahlt!), die elektronische Einreisegenehmigung ausfüllen und natürlich Reiseführer und Reisekosmetikkram besorgen, Koffer packen etcetera, etcetera … Ehrlich: Eine Englischgrammatikarbeit ist nichts dagegen!
Aber jetzt trennen mich nur noch wenige Schritte von meiner ersten Begegnung mit den Menschen, bei denen ich diesen Sommer verbringen werde: Madeleine und ihrer Familie. Gwyneth und Gwendolyn heißen die Zwillinge, das hat meine Mom herausgefunden. Furchtbare Namen, wenn man mich fragt. Aber immerhin heißen die beiden nicht wie irgendein Obst, eine europäische Großstadt oder eine Automarke – das soll bei amerikanischen Eltern ja auch sehr beliebt sein.
Ich zwinge mich, meine Augen vom Boden zu heben und mich in der schmucklosen Halle umzuschauen. Überall sind Menschen. Kinder hüpfen aufgeregt auf und ab. Pärchen begrüßen sich mit innigen Küssen, als hätten sie sich seit hundert Jahren nicht mehr gesehen. Alte und Junge fallen sich freudig in die Arme. Wartende mustern mich mit erwartungsvollen Augen und lassen ihre Blicke dann weitergleiten. Sie halten Blumen und Luftballons in den Händen. Überall sind Schilder, auf denen Namen stehen. Nur meinen kann ich nirgendwo finden.
Unsicher bahne ich mir einen Weg durch die Menge. Murmele hin und wieder „Sorry“, wenn ich mit meinem Riesenkoffer gegen Schienbeine rempele. Ich habe den Ausgang schon beinah erreicht, als ich endlich das erlösende Schild entdecke.
Nicole Klinkert steht darauf in einer weit geschwungenen Handschrift. Das ist zwar nicht mein richtiger Name, aber ich bin daran gewöhnt, dass viele Leute meinen, Niki sei nur eine Abkürzung für Nicole. Ich blicke an dem Arm hoch, der das Schild hält und blinzele verblüfft. Das ist garantiert nicht Madeleine Carter!
Der Typ mit dem Schild sieht aus, wie ein Statist aus Men in Black: Schwarzer Anzug, schwarzer Schlips, schwarze Sonnenbrille. In seinem rechten Ohr entdecke ich sogar einen schwarzen Knopf mit einem gedrehten Kabel, das in seinem Kragen verschwindet. Hilfe! Vorsichtig nähere ich mich diesem Agenten-Verschnitt, der durch mich hindurchzusehen scheint.
„Hi.“ Ich muss mich räuspern. „I’m Nicole, äh, Niki“, stottere ich.
Sein Kopf wendet sich mir zu, doch wegen der dunklen Brillengläser kann ich nicht erkennen, ob er mich überhaupt ansieht.
„Follow me.“ Der Typ klingt auch wie ein Spezialagent.
Ohne ein weiteres Wort greift der schwarze Schrank nach meinem Rollkoffer, hebt ihn ohne erkennbare Mühe hoch und geht mit langen Schritten Richtung Ausgang. Ich weiß nicht so recht, ob ich ihm folgen soll. Was, wenn der Typ ein Profikiller ist, der mich in eine dunkle Ecke von New York verschleppen will?
Stopp, Niki, deine Fantasie geht mit dir durch! Erstens kennt der Kerl meinen Namen, zumindest hat er ein Schild, auf dem mein Name steht! Und zweitens kann ich weit und breit niemanden außer ihm entdecken, der gekommen ist, um mich abzuholen. Also, hinterher.
Mr. MIB passiert gerade die Ausgangstüren, ich haste ihm nach und als ich es draußen endlich schaffe, ihn einzuholen, bugsiert er bereits meinen roten Trolley in den Kofferraum einer fetten schwarzen Limousine. Wow, was für ein Auto!
Noch bevor ich meinen Mund wieder zuklappen kann, reißt der Anzugmann die hintere Wagentür für mich auf und ich falle in glänzende Ledersitze. Dann lässt er sich auf den Fahrersitz gleiten und endlich kapiere ich es: Der Typ ist Chauffeur. Mein Chauffeur!
Als er Gas gibt, sinke ich in den überraschend bequemen Sitz und starre aus dem Fenster, ohne durch die getönten Scheiben viel erkennen zu können. Die Müdigkeit ist zurückgekehrt und pocht gegen meine Schläfen, gleichzeitig kribbelt die Nervosität mein Rückgrat rauf und runter. Schau hin!, ermahne ich mich. Das ist New York! Doch meine Lider werden schwer und nach kurzer Zeit übermannt mich der Schlaf.

Ich wache auf, als der Wagen stehen bleibt und es kommt mir vor, als hätte ich nur wenige Sekunden geschlafen. Ich bin genauso müde wie vorher, wenn nicht sogar noch etwas müder. Mein Kopf fühlt sich matschig an, mein Gesicht glüht und der Geschmack in meinem Mund ist – vorsichtig formuliert – widerlich!
Meine Wagentür wird aufgerissen und ich stolpere hinter dem noch immer schweigenden Anzugmann durch hohe Glastüren in eine hell erleuchtete Eingangshalle. Im ersten Moment bin ich geblendet, meine Eindrücke sind verschwommen: glänzender Marmorboden, holzvertäfelte Wände, rechts eine Theke, hinter der ein Portier steht und dem Anzugmann zunickt. Schon stehen wir in einem ebenso hell erleuchteten Aufzug mit golden verchromten Griffleisten, mein Begleiter drückt auf die neunzehn und der Lift saust beinahe geräuschlos nach oben.
Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Aber ganz sicher nicht das!
Als sich die Aufzugtüren öffnen, der wortkarge Chauffeur mich und meinen Koffer hinausschiebt und die Türen sich wieder schließen, noch bevor ich „Thank you“ murmeln kann, stehe ich mitten in einer Party!
Überall sind Menschen. Menschen in todschicken Kleidern und dunklen Anzügen. Sektgläser in den Händen haltend stehen sie in zahllosen Grüppchen zusammen, reden und lachen. Chillige Musik bietet die Untermalung für ihre Gespräche. Es ist laut und voll. Niemand bemerkt mich.
Suchend blicke ich mich um. Aber wonach suche ich eigentlich? Mr. MIB muss mich an der falschen Adresse abgesetzt haben!
Der Raum ist riesig. Zwischen all den Menschen entdecke ich einzelne Möbelstücke, Ledersofas, geschwungene Glastische, dunkle Holzvitrinen, an den Wänden hängen großformatige Gemälde (garantiert alles Originale, tippe ich), doch am meisten beeindruckt mich der Blick durch die Glasfront, die die komplette gegenüberliegende Seite des Zimmers einnimmt:
Der Himmel färbt sich in der Dämmerung dunkelblau und in die Wolken hinein wachsen die Hochhäuser, eins neben dem anderen, deren unzählige hell erleuchtete Fenster wirken wie ein funkelndes Sternenmeer!
Autsch! Jemand rempelt mich unsanft an.
„Sorry!“
Ein junger Kellner mit einem silbernen Tablett voller Häppchen schaut mich entschuldigend an, wendet sich aber sofort wieder ab und verschwindet zwischen den Gästen.
Während ich noch überlege, ob ich vielleicht unsichtbar geworden bin, kommt eine Frau mit einem breiten Lächeln auf den knallrot geschminkten Lippen auf mich zu. Die blondgesträhnten Haare liegen wie ein kinnlanger Helm um ihren Kopf, ihr durchtrainierter Körper steckt in einer schwarzen Designer-Wurstpelle mit tiefem Dekolleté, aus dem ihre Brüste herauszuhüpfen scheinen.
„Du musst Nicole sein“, sagt sie mit amerikanischem Singsang in der Stimme und das Lächeln wird noch ein bisschen breiter, sodass es eine Reihe makelloser weißer Zähne entblößt.
„Niki“, stottere ich. „Ich heiße nur Niki.“
Das Lächeln wird ein wenig schief, doch schnell rückt sie es wieder gerade. Die Frau – ich schätze, dass es sich um Madeleine Carter handelt – fasst mich am Arm und zieht mich mit.
„Niki, großartig!“, sagt sie mit Begeisterung. „Herzlich willkommen. Wir veranstalten heute eine kleine Soiree für einige Geschäftsfreunde meines Mannes. Ganz formlos, wie du siehst. Fühl dich wie zu Hause. Sicher bist du hungrig nach dem Flug. Setz dich einfach hierher und iss etwas.“ Sie drückt mich auf eines der weißen Ledersofas, das weitaus weniger bequem ist, als die Sitze in der Limousine, und winkt einem Kellner, der augenblicklich mit einem silbernen Tablett angeflogen kommt.
„Enjoy“, flötet Madeleine. In diesem Moment drängt sich eine Frau in einem schreiendbunten Wallekleid und mit den Ausmaßen eines Schlachtschiffs durch die Menge zu Madeleine und flüstert ihr hektisch ins Ohr. Ohne einen weiteren Blick auf mich zu werfen, dreht sich meine Gastmutter um und verschwindet zwischen ihren Gästen.
Ich starre ihr hinterher, bis ich ein vernehmliches Räuspern höre. Ungeduldig streckt mir der Kellner sein Tablett entgegen. Tatsächlich habe ich Hunger, denn das Letzte, was ich gegessen habe, war ein pappiges Sandwich im Flugzeug. Doch beim Anblick der winzigen Kräcker mit weißem Frischkäse und kleinen schwarzen Körnchen obendrauf, zieht sich mein Magen unangenehm zusammen. Kaviar! Ich erinnere mich noch gut daran, dass meine Mutter solche Häppchen bei einer Vernissage angeboten hat. Ich war noch ein Kind und hatte keine Ahnung, was das schwarze Zeug auf den leckeren Kräckern war. Als ich mir einen davon in den Mund steckte, breitete sich ein so ekliger Fischgeschmack aus, dass ich das Ganze am liebsten sofort wieder ausgespuckt hätte. Das ging natürlich nicht mitten in der Galerie vor allen Leuten. Also würgte ich das Teil mit Abscheu hinunter – und bin seither für alle Zeiten von Kaviar kuriert!
Ich schüttele also den Kopf und sehe wie der Kellner fast unmerklich mit den Schultern zuckt, bevor er sich wieder den anderen Gästen zuwendet, die diese Fischeier sicher mehr zu schätzen wissen als ich.
Mein Magen knurrt, die Ankündigung von Essen hat ihn auf den Plan gerufen. Was gäbe ich jetzt für eine Portion Pommes! Oder einen Hamburger! Eine Pizza wäre auch okay. Oder eine Familien-Tüte Gummibärchen! Mein Magen knurrt lauter.
Als eine Kellnerin im schwarzen Minirock ein Tablett mit Gläsern an mir vorbeibalanciert, greife ich nach einem davon. Durst habe ich nämlich auch. Doch schon beim ersten Schluck stelle ich fest, dass das ein Fehler war. In dem Glas befindet sich natürlich Sekt. Staubtrockener Sekt, vermutlich Champagner. Und nach meiner letzten Erfahrung mit diesem Getränk, bin ich nicht scharf auf eine baldige Wiederholung.
Ungemütlich rutsche ich auf der Sofakante hin und her und suche vergeblich nach einer Möglichkeit, mein Sektglas wieder loszuwerden. Doch ein Tischchen kann ich nirgends entdecken, um mich herum sehe ich nichts anderes als Beine. Beine in schwarzen Anzughosen, Beine in Seidenstrümpfen und in mörderisch hochhackigen Schuhen. Madeleine ist spurlos verschwunden. Wie komme ich hier bloß jemals wieder raus? Ich will doch nur ins Bett. Bitte!
„Hi.“
Ein junger Typ lässt sich neben mir auf die Couch fallen und lehnt sich so entspannt zurück, als handele es sich um das bequemste Möbelstück der Welt. Er ist höchstens ein paar Jahre älter als ich, Anfang zwanzig schätze ich, aber er trägt Anzug und Krawatte wie alle anderen Männer. Mir ist sofort klar, was ich vor mir habe: den Sohn reicher Eltern, verwöhnt bis in die fransig geschnittenen dunkelblonden Haarspitzen. Sein kantiges Gesicht trägt eindeutige Züge von an Arroganz grenzender Selbstsicherheit und seine Augen – ein irritierendes Hellgrau – mustern mich so durchdringend, dass es mir unangenehm wird.
Garantiert gebe ich eine grauenhafte Erscheinung ab: völlig unpassend angezogen, ungeschminkt und zerknittert. Meine linke Hand fährt wie von selbst in meine Haare, die ich mit einem Haargummi am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden habe. Nach dem Nickerchen im Auto hat meine Frisur jetzt garantiert Ähnlichkeit mit einem Vogelnest. Als ich das spöttische Grinsen meines Gegenübers bemerke, lasse ich die Hand schnell wieder sinken.
„You must be that German girl“, vermutet der Typ ganz richtig. Ich nicke unsicher. Woher weiß er, wer ich bin? Und wer ist er eigentlich? Doch bevor ich dazu komme, ihn das zu fragen, erklärt er mit einem vielsagenden Blick auf mein Outfit: „Now I get the term German Gemütlichkeit.“
Es dauert einen Moment, bis ich schalte. Zunächst kapiere ich gar nicht, warum er das letzte Wort auf Deutsch ausgesprochen hat. Dann erinnere ich mich, dass Herr Weckmann uns mal eine Liste mit deutschen Wörtern in die Hand gedrückt hat, die die Engländer und Amis von uns übernommen haben. Kindergarten, zum Beispiel. Rucksack. Und noch einige mehr. Gemütlichkeit war wahrscheinlich auch dabei. Aber so, wie dieser Typ das gerade zu mir gesagt hat, mit abschätziger Miene und spöttischem Grinsen, war das garantiert eine Beleidigung.
Ich spüre, wie meine Wangen heiß werden. Er hat ja recht. Meine Klamotten sehen gammelig aus, verglichen mit diesen ganzen Schicki-Micki-Outfits hier. Ich bin nicht gestylt, ich dufte nicht wie eine Parfümerie und ich mag noch nicht mal Kaviar. Aber: Hey! Niemand hat mich vorgewarnt, dass ich an meinem ersten Abend in New York gleich mitten in eine Upper-Class-Party reinstolpern würde. (Nicht dass ich dann etwas Passendes zum Anziehen gehabt hätte, aber das kann dieser arrogante Kerl ja nicht wissen!)
Nur mal fürs Protokoll: Seit ich aus dem Flieger gestiegen bin, scheint irgendjemand ein Spielchen mit mir zu spielen, dessen Regeln ich nicht verstehe. Am Flughafen holt mich ein stummer Spezialagent ab, verfrachtet mich in einen Luxusschlitten und karrt mich in ein Nobelappartement, wo eine Megaparty steigt, auf der es massenweise Fischeier und Champagner, aber nichts Vernünftiges zu Essen gibt. Anscheinend ist hier nicht einmal ein Gästezimmer vorhanden, in dem ich mich endlich hinlegen könnte. Und zu allem Überfluss sitzt mir nun auf einem Zigtausend-Dollar-Sofa, das unbequemer ist als die Pritsche im Sanitätszimmer unserer Schule, ein verwöhntes Millionärssöhnchen gegenüber und macht mich blöd an!
Ich muss einen ziemlich perplexen Gesichtsausdruck gemacht haben, denn nun lacht der Typ auch noch. Und plötzlich brennt bei mir eine Sicherung durch.
Reflexartig hebe ich meinen rechten Arm und kippe dem Typ den Inhalt meines Sektglases über seinen teuren Anzug.
Sein Lachen verstummt augenblicklich, als sich ein riesiger feuchter Fleck von seiner Brust bis hinunter zu seinen Knien ausbreitet.
Ob ich es auch geschafft habe, ihm das spöttische Grinsen aus dem Gesicht zu wischen, kann ich nicht mehr sehen. Denn ich bin schon aufgesprungen, um mir ein stilles Eckchen zu suchen, wo ich vor Scham sterben kann.

Impressum

Texte: Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG, Münster
Bildmaterialien: Stacey Walker/iStockphoto
Tag der Veröffentlichung: 01.08.2012

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