Ich habe unter Wasser gelernt
zu atmen.
Da sind mir Flügel gewachsen.
So habe ich Vögel zu Brüdern
und Fische zu Schwestern bekommen.
Dorothea Reinecke
Ich war fünf, als ich fliegen lernte.
Ich schlüpfte aus den Armen meiner Mutter, die im hüfthohen Wasser stand, wand mich unter dem Seil hindurch und flatterte davon wie ein kleiner Vogel. Kein Boden mehr unter den Füßen und keine Hände mehr, die mich umklammerten. Über mir der Himmel und unter mir nichts als Wasser.
Erst als meine Mutter schrie, ich solle sofort zurückkommen, wurde mir klar, dass ich frei war. Meine Mutter konnte nicht schwimmen.
Und sie kann es bis heute nicht …
Montag, 25. Januar
Wenn ich hier fertig bin, bringe ich sie um. Eigenhändig. Noch vierundzwanzig Runden.
I came to win, to fight …
Rihanna in meinen Ohren gibt mir den Takt
vor. Noch dreiundzwanzig Runden. »He, Jana. Viel Spaß noch!«
Ich beiße die Zähne zusammen. Drehe die Lautstärke höher.
I came to fly …
Halt dich da raus, Nora. Sonst bring ich dich
gleich mit um.
Noch zweiundzwanzig Runden.
Ich schaue den anderen nach. Meine Finger sind steif vor Kälte. So gut es geht, ziehe ich die Ärmel meines Sweatshirts über die geballten Fäuste. Meine Handschuhe sind spurlos verschwunden. Wieder mal.
»Heute gibt’s Rührei. Soll ich deine Portion gleich mitessen?«
Bea. Die frisst doch sowieso schon für drei. Nur nicht reagieren. Laufen. Einfach weiterlaufen. Die anderen interessieren mich nicht. Mir geht es nur um Melanie. Melanie Wieland.
Noch einundzwanzig Runden.
Sie hatte versprochen zu kommen. Hatte versprochen, mir zuzuhören. Die halbe Nacht habe ich wach gelegen, mir die Worte zurechtgelegt, einen Ausweg gesucht. Aber es gibt nur diese eine Möglichkeit.
Noch zwanzig Runden.
Wir hatten nicht miteinander gesprochen, aber ihre SMS war eindeutig. Okay, lass uns reden. Ich komme zur Bushaltestelle. Mel
Die anderen trafen sich auf dem Schulhof. Die Haltestelle war eine gute Idee. Dort in dem Wartehäuschen würde uns niemand sehen.
Ich war bereit gewesen. Hatte meine Entscheidung getroffen. Fragte mich inzwischen sogar, warum ich so lange dafür gebraucht hatte.
Ich hasse dieses Stadion. Es ist stockdunkel. Flutlicht gibt es nicht. Und der Untergrund ist vereist vom festgetretenen Schnee. Zehn Kilometer hat Drexler mir aufgebrummt. Zehn Kilometer, hübsch aufgeteilt in 400-Meter-Run-den. Sechs Runden habe ich schon hinter mir. Fehlen nur noch neunzehn Runden auf dieser verdammten Bahn.
Mein Atem malt weiße Wolken in die Luft. Der Schnee knirscht unter meinen Füßen. Es ist immer noch dunkel, und ich muss höllisch aufpassen, dass ich nicht ausrutsche.
Noch achtzehn Runden.
»Geht’s ein bisschen flotter? Was soll das werden? Ein Winterspaziergang?«
Drexler. Der Duft von frischem Kaffee steigt mir in die Nase. Verdammt. Wo hat der Kerl jetzt einen Kaffee her? Ich ziehe das Tempo ein wenig an.
Noch siebzehn Runden.
Es fängt an zu dämmern. Die Ersten kommen aus dem Wohntrakt, frisch geduscht, die Klamotten gewechselt. In der Mensa brennt Licht.
»Ich gehe jetzt frühstücken. Du läufst die zehn zu Ende. Und pass auf, dass du nicht einschläfst dabei.«
Ich schlucke meine Antwort hinunter. Mit dir lege ich mich nicht an. Noch nicht. Erst will ich mit Melanie reden.
»Nächstes Mal kommst du pünktlich zum Morgentraining. Dafür sorge ich schon, Jana Schwarzer.«
Ich erreiche die Kurve und höre Drexlers Stimme nur noch im Rücken. Sie berührt mich nicht. Soll er toben. Wenn er erfährt, was ich Melanie sagen will, wird er noch viel mehr toben. In meinem MP3-Player hat Nicki Minaj übernommen. Singt gegen Rihanna an.
I wish today it will rain all day …
Noch sechzehn Runden.
Melanie. Vermutlich liegt sie noch zu Hause im Federbett und träumt von Pokalen. Es kommt häufiger vor, dass sie das Morgentraining schwänzt. Die Externen nehmen es mit dem Frühsport nicht so genau. Melanie musste noch nie Strafrunden laufen. Dafür sorgt ihr Vater schon.
Noch fünfzehn Runden.
Ich habe kein Problem damit, vor dem Frühstück zu trainieren. Meistens bin ich sowieso schon wach und die Waldläufe machen mir Spaß. Im Wald ist es anders als auf der Bahn. Vor allem im Winter. Die Stämme der grauen Bäume glitzern jetzt silbern in der Dunkelheit. Der Frost der letzten Nacht hat alles mit einer schützenden Haut überzogen. Ich stelle mir vor, einer von ihnen zu sein. Stark und unbeweglich …
Auch heute war ich früh wach, stand wie vereinbart pünktlich am Bushäuschen und habe gewartet. Wer nicht kam, war Mel. Bis mir endlich klar wurde, dass sie mich einfach versetzt hat, war Drexler mit den anderen längst weg. Ich hab noch versucht, Mel auf dem Handy zu erreichen. Ohne Erfolg. Schließlich hab ich nichts mehr gemacht. Nur gewartet. Als Drexler mit der Gruppe aus dem Wald zurückkam und mich mit Kopfhörern im Ohr an der Bushaltestelle sitzen sah, ist er explodiert. Hat total die Kontrolle verloren und rumgeschrien. Die anderen standen dabei und grinsten. Dann hat mich Drexler auf die Bahn geschickt.
Noch vierzehn Runden.
Der Schweiß läuft mir übers Gesicht, meine Kopfhaut juckt unter der Mütze. Ich wische mir mit dem Ärmel über die Augen. Mit jedem Atemzug strömt eisige Luft in meine Lungen.
Noch dreizehn Runden.
Das Erste, was ich sehe, ist ein blaues Leuchten. Der Schnee unter meinen Füßen flackert rhythmisch auf.
Blau – weiß – blau – weiß.
Ich passe mein Lauftempo dem Farbwechsel an.
Links – rechts – links – rechts.
Dann sehe ich den Krankenwagen. Er steht auf dem Schulhof und sein Blaulicht spiegelt sich in den Fenstern. Neben dem Krankenwagen hält ein weiteres Auto. Ich werde langsamer.
Noch zwölf Runden.
Zwei Männer steigen aus dem Auto. Erste Gesichter tauchen hinter den Scheiben der Mensa auf. Kurz darauf verschwinden sie wieder und die Jalousien werden zugezogen. Die Männer laufen zum Hallenbad. Die Sanitäter holen eine Trage aus dem Krankenwagen.
Noch elf Runden.
Drexler sprintet aus der Mensa. Ich fange an zu gehen. Bernges erscheint jetzt auch auf dem Schulhof, will ebenfalls zum Hallenbad. Ich bleibe stehen. Was hat er dort zu suchen?
Ich warte darauf, dass mein Atem sich beruhigt.
Immer noch elf Runden.
Im Hallenbad wird es hell. Jemand hat Licht gemacht. Die Putzfrau. So früh am Morgen kann höchstens die Putzfrau in der Halle sein. Vielleicht ist sie ausgerutscht. Deshalb der Krankenwagen. So muss es sein.
Ich verlasse die Bahn und gehe langsam zum Schulhof hinüber. Niemand sagt etwas dagegen. Keiner hält mich auf und schickt mich zurück. Hinter den Jalousien ist es still. Eine Putzfrau ist uninteressant.
Ich könnte jetzt auch frühstücken gehen.
Drexler hat mich längst vergessen. Ich sollte beruhigt sein, dass es nur um eine Putzfrau geht, die zu unvorsichtig war und auf dem nassen Hallenfußboden ausgerutscht ist. Aber was wollen Drexler und Bernges in der Halle? Und was sind das für Männer? Der eine könnte ein Notarzt sein? Und der andere?
Ich wiederhole mein Mantra: nur eine Putzfrau, nur eine Putzfrau. Gleich werden die Sanitäter mit der Trage herauskommen, die Putzfrau in den Krankenwagen schieben und ich kann endlich frühstücken.
Mein Kopf sagt mir, ich soll rübergehen und die Reste vom Rührei essen. Meine Beine bleiben einfach stehen. Die Sanitäter kommen mit der Trage aus dem Hallenbad, schieben sie mit kräftigen Stößen über den Schnee. Warum atmet mein Brustkorb nicht erleichtert aus? Ich halte die Luft an.
Die Trage ist leer. Unbenutzt. Die Männer
schieben sie zurück in den Krankenwagen. Blau – weiß – blau – weiß – blau – weiß. »Macht endlich das Scheißlicht aus, ver
dammt!«
Ein Schrei zerreißt die Stille des frühen Wintermorgens. Ich zucke zusammen. Die Sanitäter fahren herum und starren mich an. Erst jetzt wird mir klar, dass ich es war, die geschrien hat. Einer der beiden geht auf mich zu und packt mich am Arm.
»Fass mich nicht an, Mann!«
»Du gehst jetzt besser ins Haus.«
»Ich hab gesagt, du sollst mich nicht anfas
sen!« Ich reiße mich los.
Aus der Halle kommt eine Frau. Sie wird von einem der anderen Männer geführt. Die Putzfrau. Also doch ein Unfall. Zum Glück scheint ihr nicht viel passiert zu sein. Sie setzen sie in das Auto und bringen ihr eine Decke. Wo bleiben Drexler und Bernges? Seit wann interessiert sich Drexler für die Putzfrauen an unserer Schule?
Der Sanitäter zuckt mit den Schultern und geht zurück zu seinem Krankenwagen. Ich schaue hinüber zur Halle. Obwohl sie jetzt hell erleuchtet ist, kann ich nichts erkennen. Das Blaulicht flackert weiter in den großen Scheiben. Langsam nähere ich mich der Längsseite. Das Glas ist beschlagen, die warme, feuchte Schwimmbadluft bricht sich an den kalten Fensterfronten und perlt in dünnen Rinnsalen an ihnen hinunter. Schweißtropfen laufen mir über die Stirn und brennen in den Augen. Ich presse erst meine Hände, dann das Gesicht gegen das Glas. Ich versuche, das Brennen wegzublinzeln. Die Mütze auf meinem Kopf kratzt. Warum war die Trage leer? Und was ist mit Drexler und Bernges? Was geht da drin vor sich?
Ich öffne die Augen wieder und langsam gewöhnen sie sich an das Licht. Irgendetwas zieht mich in das Innere der Halle. Ich stemme mich gegen die Scheibe, will dem Sog nicht nachgeben, aber mein Blick gleitet schon suchend über das Becken. Auch das Wasser leuchtet im Rhythmus. Einen Moment betrachte ich die Wasseroberfläche, dann taste ich die Konturen des Beckens ab. Ich sehe die Startblöcke, den Beckenrand, sehe Drexler, der auf dem Boden kniet. Neben ihm Bernges und ein weiterer Mann. Ich presse mich fester gegen die Scheibe. Der Mann läuft jetzt auf und ab, gestikuliert wild und schreit in sein Handy. Drexler steht auf, stopft die zu Fäusten geballten Hände in die Taschen seiner ausgebeulten Trainingshose. Auf einmal hebt Bernges den Blick und wendet sich mir zu. Ich starre ihm ins Gesicht. Er starrt zurück. Dann schüttelt er den Kopf und schaut wieder dahin, wo Drexler eben noch gekniet hat. Meine Augen folgen seinem Blick, mein Herz schlägt bis zum Hals. Die Scheibe scheint unter dem Druck meiner Hände und meiner Stirn nachzugeben. Ich spüre, wie sich all meine Gedanken, meine Fragen und meine Wut in mir zu einem einzigen Klumpen zusammenballen. Einem dicken eiskalten Klumpen, der immer größer wird, erst meinen Hals ausfüllt, dann meinen Magen, dann meinen ganzen Bauch.
Alles fühlt sich falsch an. Ganz falsch. Ich werde keine Silberhaut bekommen wie meine Bäume im Wald. Die Kälte muss von außen kommen, um zu schützen. Nicht von innen.
Und während sich dieser eisige Klumpen in mir ausbreitet, wandert mein Blick zu dem Körper auf dem Hallenboden. Hält sich an den Füßen fest, will nicht über die nackten Beine nach oben wandern, über den schwarzen Schwimmanzug, den flachen Bauch, und wird doch von diesem eisigen Klumpen immer weiter gezogen, über den Brustkorb, der vollkommen bewegungslos ist, bis zu dem Gesicht, das mir zugewandt am Boden liegt, eingerahmt von nassen Locken.
Ein Engel mit gebrochenen Flügeln.
Der Klumpen in mir zerspringt und tausend kleine Eissplitter durchbohren mein Herz, als ich kurz in die starren Augen sehe, bevor einer der Männer eine Decke darüberlegt.
Melanie. Melanie Wieland.
»Du blöde Kuh! Du gottverdammte elende blöde Kuh!«
Diesmal weiß ich, dass ich es bin, die schreit. Die Starre fällt von mir ab, meine Hände lösen sich, meine Fäuste trommeln gegen die Scheibe, als müsste ich nur fest genug auf sie einschlagen und laut genug schreien, damit Mel wach wird, die Decke von sich wirft und aufsteht.
Blau – weiß – blau – weiß.
Und Nicki in meinem Kopf singt:
But I think I’m still an angel away …
Nein! Nein! Nein! Nein! Warum hast du das gemacht? Warum? Ich reiße mir die Kopfhörer runter. Meine Stirn schlägt im gleichen Rhythmus wie meine Fäuste gegen das Glas. In der Halle geraten sie in Bewegung, Drexler, die beiden Männer, Bernges, alle rühren sich, nur Melanie nicht. Die liegt weiter unter ihrer Decke wie Dornröschen, träumt meine Träume, lacht im Schlaf über mich und verhöhnt meinen Ehrgeiz.
Ich rutsche an der Glasscheibe hinunter in den Schnee. Die Eissplitter in mir haben keinen Platz mehr und endlich finden sie ihren Weg nach draußen.
Ich kotze mir meine ganze beschissene Seele aus dem Leib.
Melanie Wieland ist tot. Und ich –
habe sie umgebracht.
Drei Wochen zuvor
»Nein, nein, NEIN!« Drexlers Faust donnerte auf den Startblock. »Verdammt noch mal, Uhland, was war DAS? Beweg deinen Hintern aus dem Wasser! Sofort! Schwarzer! Komm her! Zeig uns, wie man eine ordentliche Rollwende macht!«
Ich stöhnte. Nicht schon wieder. Nora kletterte aus dem Becken und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie sah mich mit diesem Blick an, der sagte: Du blödes Arschloch, was hast
du eigentlich hier zu suchen? Verschwinde wieder dahin, wo du hergekommen bist!
Ich sah den Mittelfinger, den sie hinter Drexlers Rücken hob, und tauchte ab. Unter Wasser war Drexlers Gebrüll nur noch ein Dröhnen. Ich versuchte, Noras Blick aus meinem Kopf zu kriegen. Schwimmen. Linker Arm, rechter Arm, atmen. Links. Rechts. Atmen. Unter mir nur das Wasser und die Markierung. Kopf senken. Kinn zur Brust. Leichter Delfinbeinschlag. In der Drehung Nase zu den Knien, Ferse zum Hintern. Beine nicht durchstrecken. Obwohl ich ihn nicht hörte, kannte ich Drexlers Kommentare. Nicht auf dem Bauch abstoßen. Auf dem Rücken.
Vor der Wende nicht nach vorne gucken. Kein Blick nach vorne. Nach dem Abstoßen mindestens einen Armzug nicht atmen. Und wieder. Nicht nach vorne gucken. Denk an die Gleitphase. Ich schwamm. Links, rechts, atmen. Links, rechts, atmen. Und Wende. Meine Grenze war der Beckenrand. Dazwischen war ich frei.
Drexler pfiff. Das war’s für heute. Mittagspause. Die anderen waren schon auf dem Weg zu den Duschen, als ich aus dem Wasser stieg.
»Beweg deinen Hintern aus dem Wasser, beweg deinen Hintern aus dem Wasser!«, hörte ich Bea grölen.
»Halt’s Maul!« Nasse Handtücher klatschten auf nackte Haut. Klatsch, klatsch. Eine brüllte. Bea vermutlich. Jemand anders lachte. Am liebsten wäre ich im Wasser geblieben, weitergeschwommen. Im Wasser konnte ich atmen, draußen war die Luft so dünn. Aber während der Mittagspause war die Halle geschlossen. Keine Ahnung, warum. Hunger hatte ich sowieso keinen.
Endlich wurde es ruhiger. Die anderen waren schon in der Umkleide, als ich duschen ging.
»Ach, da bist du ja.« Jemand kam noch mal zurück. Es war Melanie. »Ich habe mich schon gefragt, wo du bleibst.«
Ich tat so, als ob ich sie nicht gehört hätte. Hielt den Kopf weiter unter den heißen Wasserstrahl.
»Mach dir nichts draus«, sagte sie, bevor sie ging, »die meinen es nicht so.«
Ich antwortete nicht. Was hätte ich auch sagen sollen?
Klar meinten die das so. Trotzdem versuchte ich, mir nichts daraus zu machen. Sollten sie reden. Ich wusste, dass ich ohne das Stipendium nicht hier wäre. Aber ich war hier. Ich war nicht hier, weil ich Geld hatte. Ich war hier, weil ich schwimmen konnte. Und das allein zählte. Für mich jedenfalls.
Ich kann nichts – außer Schlafen, Essen und Schwimmen. Das soll Michael Phelps einmal gesagt haben. Über meinem Schreibtisch hängt ein Foto von dem amerikanischen Superschwimmer, den Spruch habe ich druntergeschrieben.
Ich trocknete mich ab, ging in die Umkleide und öffnete meinen Spind. Verdammte Scheiße. Meine Sachen waren weg. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Sicherheitshalber schaute ich in die anderen Fächer. Obwohl ich wusste, dass ich da nichts finden würde. Kroch zwischen den Bänken rum. Kleine Steinchen bohrten sich in meine nackten Knie. Nichts. Meine Sachen waren weg. Und draußen fünf Grad minus.
Barfuß, mit meinem nassen Handtuch um den Körper, machte ich mich auf den Weg von der Halle zum Wohntrakt. Einmal quer über den Hof. Ein paar Jungs grinsten. In der kahlen Linde flatterten Wäschestücke. Meine Sachen.
Als ich mir endlich was Frisches angezogen hatte und in die Mensa kam, waren die anderen schon fast fertig. Ich nahm mir ein Tablett und suchte mir einen freien Tisch. Es machte mir nichts aus, allein zu essen. Aber es machte mir etwas aus, wenn sie mir dabei zusahen.
Jemand zog einen Stuhl zurück und setzte sich zu mir. Melanie. »Tut mir leid wegen vorhin«, sagte sie. »Aber ich konnte nichts machen. Die anderen haben deine Sachen einfach geschnappt und sind rausgerannt.«
»Schon gut.«
Klar konnte sie nichts machen. Was sollte Melanie auch machen? Melanie, die Queen. Die Vorzeigeathletin. Sie liebten sie. Sie vergötterten sie. Sie wollten nicht, dass sie sich mit mir abgab. Aber das war Mel egal. So ein Blödsinn, sagte sie immer. Du gehörst doch zu uns. Sie kapierte nicht, dass so eine wie ich nie dazugehörte.
Ich hatte Melanie gleich am ersten Schultag nach den Sommerferien kennengelernt. Ich stand damals ziemlich verloren auf dem Schulhof und versuchte, mich zu orientieren. Wo die Schwimmhalle war, war klar, auch die Sporthalle war nicht zu übersehen. Den Wohntrakt und das Schulgebäude konnte ich am Anfang aber kaum auseinanderhalten. Außerdem hat die Schule zwei Eingänge, von denen der eine zu den Klassenräumen und der andere in den naturwissenschaftlichen Trakt führt. Ich hatte in der ersten Stunde Chemie, so stand es zumindest auf meinem Stundenplan, aber ich hatte keinen blassen Schimmer, wohin genau ich gehen musste.
Die Schüler rannten an mir vorbei, und ich überlegte gerade, wen ich ansprechen und um Hilfe bitten könnte, da betrat Melanie den Schulhof. Sie kam nicht aus der Mensa wie die anderen, sondern sie war einem schwarzen Auto entstiegen, das genau vor dem Schulhof gehalten hatte. Dass Melanie eine Externe war und jeden Tag zur Schule gebracht wurde, wusste ich damals noch nicht. Dass sie etwas Besonderes war, sah ich dagegen auf den ersten Blick.
Sie trug eine weiße Jeans und darüber eine Bluse im Shabby-Look. Ihre schulterlangen Locken hatte sie offen und ihre hellen Haare glänzten in der Sonne wie Gold. Ihre Augen verbarg sie hinter einer schwarzen Sonnenbrille, die sie in dem Moment, in dem sie den Schulhof betrat, langsam abnahm. Sofort scharten sich einige Mädchen um sie, und ich konnte nicht damit aufhören, sie anzustarren.
Was macht so eine an einem Internat für Leistungssportler?, fragte ich mich. Ich traute ihr bestenfalls einen Platz in einer Cheerleadergruppe zu.
Melanie musste bemerkt haben, wie ich sie anstarrte. Jedenfalls ließ sie ihre Groupies einfach stehen und schlenderte zu mir herüber.
»Du bist neu hier, oder?«
Ich nickte.
»Du siehst ein bisschen verloren aus. Suchst du was?«
So viel Freundlichkeit auf einmal verunsicherte mich total. Ich schwieg.
»Kann ich dir irgendwie helfen?«
Als ich endlich meine Sprache wiedergefunden hatte, stellte sich heraus, dass wir in die gleiche Klasse gingen. Und nicht nur das, Melanie erzählte mir auch, dass sie ebenfalls der Leistungsgruppe Schwimmen angehörte.
Noch am gleichen Tag, während des Nachmittagstrainings, wurde mir klar, dass ich zum ersten Mal ernsthafte Konkurrenz bekommen hatte. Melanie Wieland hatte nicht nur einen sehr sauberen Stil, sie schwamm auch echt schnell. Ich musste mich richtig anstrengen, um an ihr dranzubleiben.
So nah unsere Leistungen im Schwimmen auch beieinanderlagen, so verschieden waren wir sonst. Vermutlich hatte diese Schule kaum zwei unterschiedlichere Menschen zu bieten als uns beide. Melanie, der blonde Rauschgoldengel, trug fast immer weiße oder helle Klamotten. Ich dagegen hatte fast nur dunkle Sachen, so schwarz wie meine raspelkurzen Haare, die meist in alle Richtungen von meinem Kopf abstanden. Wo Mel auftauchte, wurde sie sofort von ihren Fans umringt, die sie umflatterten wie die Motten das Licht. Ich erkannte schnell, dass sie diese Bewunderungen nicht wirklich genoss. Vielleicht war das der Grund, warum ich mich von Anfang an zu ihr hingezogen gefühlt hatte. Melanie nahm es hin, weil es zu ihrem Leben dazugehörte. Mehr nicht. Sie wirkte auf mich manchmal wie ein Wesen von einem fernen Planeten, das nur ganz zufällig mitten in dieses Internat geplumpst war und jetzt eben versuchte, das Beste daraus zu machen. Und wie aus einer fremden Welt fühlte ich mich ja auch oft genug. Nur mit dem Unterschied, dass die anderen mich in der Regel ignorierten.
Manchmal ließ Mel sie einfach stehen und setzte sich zu mir. Dann wurden wir stets argwöhnisch beobachtet. Es gefiel ihnen nicht, wenn Mel mit mir sprach. Auch jetzt folgten ihr wieder die Blicke von Nora und Bea, als sie an meinem Tisch Platz genommen hatte.
»Hast du Mathe schon?«, fragte sie.
Ich nickte. Klar, hatte ich. Ich zog das Heft aus dem Rucksack und schob es ihr rüber.
»Danke!« Sie freute sich wirklich. »Ich hab gleich noch Theater-AG, da schaff ich Mathe nicht mehr. Ist echt nett von dir.«
»Kein Problem. Was spielt ihr in diesem Jahr?«
»Das Leben ein Traum«, sagte Melanie und steckte mein Matheheft ein.
Ich verstand nicht.
»›Das Leben ein Traum‹ – von Calderón de la Barca, das spielen wir.« Sie stand auf. »Handelt von einem Vater, der seinen Sohn in einen Turm sperrt, um ihn von der Welt fernzuhalten. Oder die Welt von ihm. Wie im echten Leben halt. Komm doch mal zu den Proben und schau’s dir an.«
»Wie im echten Leben? Sperrt dich dein Vater auch in einen Turm? Vielleicht bist du Rapunzel?« Ich lachte.
»Okay, der Turm ist ein großes Haus. Aber ich fühle mich trotzdem oft eingesperrt.« Sie klang traurig, als sie das sagte.
»Dann müssen wir dringend einen Prinzen für dich finden, der dich befreit.« Ich zwinkerte Mel zu. Aber sie zuckte nur mit den Schultern. Dann ging sie.
Ich schob die letzten Nudeln auf die Gabel. In einem Turm lebte Melanie sicher nicht. Eher in einer Villa. Draußen am Stadtrand. Ihr Vater war Arzt und als stellvertretender Leiter des Stadtklinikums ein richtig hohes Tier.
»Hey!«, rief Bea. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sie Jonas einen Stoß versetzte. »Hey, zeig uns mal ’ne ordentliche Wende, Mann!« Jonas torkelte gegen meinen Tisch. Riss das Glas um.
»Verdammt!« Ich sprang auf, aber es war zu spät. »Hast du keine Augen im Kopf ?«
»Hey, pass auf, was du da sagst.« Jonas Matthies war einen Kopf größer als ich, und obwohl wir jetzt schon ein halbes Jahr in der gleichen Klasse saßen, wusste ich fast nichts über ihn. Mit seinem breiten Brustkorb und den kurz rasierten dunklen Haaren hätte er gut in eine amerikanische Footballmannschaft gepasst, tatsächlich gehörte er aber ebenfalls zu den Schwimmern. Er stand wie alle hier auf Mel, das war nicht zu übersehen, aber bisher hatte sie seine Annäherungsversuche einfach ignoriert.
Fluchend versuchte ich, den Orangensaftsee mit meiner Serviette vom Tisch zu wischen, machte aber alles nur noch schlimmer. Umziehen konnte ich mich jetzt auch gleich noch einmal.
»Du kannst doch schwimmen, was regst du dich so auf ?«, feixte Nora.
»He, Leute, was soll das?« Tom fummelte ein Päckchen Taschentücher aus seinem Rucksack und reichte es mir. »Lasst sie in Ruhe. Jana kann doch nichts dafür, dass Drexler sich wie ein Idiot benimmt.«
Ich tat so, als hätte ich die Taschentücher nicht gesehen. Nicht, weil ich Tom nicht mochte. Er war in Ordnung. Aber ich wollte nur weg hier. Ich hatte im Moment keinen Bedarf, noch mehr Zeit mit Bea, Nora und Co. zu verbringen. Rasch räumte ich meinen Kram zusammen, schnappte das Tablett und schob mich an den anderen vorbei.
Im Hof sah ich Melanie mit Bernges sprechen. Er unterrichtete Deutsch und Latein. Früher war ich nie besonders gut in Deutsch, aber seit ich Bernges als Lehrer hatte, war es mein Lieblingsfach geworden. Neben Sport natürlich.
Langsam näherte ich mich den beiden. Soweit ich wusste, war Bernges erst kurz vor mir an diese Schule gekommen. Manchmal schien es mir, dass er der Außenseiter unter den Lehrern war. Er saß oft allein am Tisch, während die anderen in Grüppchen zusammenstanden. Schon dadurch fühlte ich mich zu ihm hingezogen. Aber ich war nicht die Einzige, die ihn mochte. Obwohl er noch neu hier war, wurde er gleich im ersten Schuljahr von den Schülern zum Vertrauenslehrer gewählt. Seine Art, mit den Leuten zu reden, gefiel allen, nicht nur mir. Ich hätte ihn gern meiner Mutter vorgestellt. Am Tag der offenen Tür vor den Weihnachtsferien wollte ich ihr die Schule zeigen und vor allem sollte sie Bernges kennenlernen. Aber meine Mutter kam nicht.
»Ich denke nicht daran, mich auch noch bei den Leuten zu bedanken, die mir mein Kind weggenommen haben«, sagte sie und damit war das Thema für sie erledigt.
»Soll ich noch mal mit deinen Eltern darüber sprechen?« Fragend blickte Bernges Melanie an.
»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Ich krieg das schon hin.« Melanie stopfte einen Stapel Papier in ihren Rucksack. Sie sah kurz zu mir rüber, um gleich wieder wegzuschauen. Mel sprach nicht gern über ihre Eltern. So viel wusste ich schon. Wenn Bernges mit ihnen reden wollte, ging es sicher um die Theater-AG. Melanie hatte mir einmal anvertraut, dass ihr Vater alles andere als erbaut davon gewesen war, dass sie eine der Hauptrollen bei der nächsten Aufführung spielen sollte. Aber Melanie hatte sich durchgesetzt. Und jetzt gab es offensichtlich wieder Stress.
Ich wollte einen großen Bogen um die beiden machen, doch Bernges winkte mich zu sich heran.
»Hallo, Jana, kein Training mehr heute?«
Ich schüttelte den Kopf. Drexler hatte das Nachmittagstraining abgesetzt und überließ es uns, ob wir noch mal ins Wasser wollten. Normalerweise hielt mich nichts vom Schwimmtraining ab, aber ich hatte mitbekommen, dass Nora und die anderen sich zum Wasserballspielen verabredet hatten, und darauf hatte ich keine Lust.
»Wenn du nichts anderes vorhast, kannst du gern mit Melanie zu den Theaterproben kommen. Wir benötigen immer Helfer.« Bernges lächelte.
»Ich bin keine gute Schauspielerin. Ich kann ja nicht mal meinen Lehrern was vorspielen.« Eigentlich sollte das ein Witz sein. Aber niemand lachte.
»Du brauchst ja keine Rolle zu übernehmen. Die wichtigsten Rollen sind sowieso erst mal verteilt. Aber da ist noch viel anderes zu tun: Bühnentechnik, Beleuchtung, Ton, Kulisse. Solche Sachen halt.«
»Jana kann supergut malen«, mischte Melanie sich ein.
»Wirklich? Solche Leute brauchen wir noch dringend. Für die Bühnenbilder.« Auffordernd sah Bernges mich an.
Ich zuckte mit den Schultern. Es stimmte, ich malte ganz gern. Bisher hatte ich angenommen, dass das niemanden interessieren würde. Schließlich waren wir hier, um zu trainieren, und nicht, um Künstler zu werden. »Ich denke mal darüber nach. In Ordnung?«
Bernges nickte. »Einverstanden. Muss ja nicht gleich sein. So richtig loslegen wollen wir sowieso erst im zweiten Halbjahr, nach den Zeugnissen. Nur die Hauptrollen müssen ein bisschen früher anfangen, schließlich haben sie ziemlich viel Text zu lernen.« Er zwinkerte Melanie zu.
Unsicher trat ich von einem Fuß auf den anderen und schaute weg. Die Vertraulichkeit zwischen den beiden war mir unangenehm. Sie verstärkte mein Gefühl, nicht dazuzugehören.
»Sag deinem Vater einen schönen Gruß. Das nächste Mal brauche ich dich aber wieder bei den Proben.«
Wieder zuckte Melanie zusammen, als Bernges ihren Vater erwähnte. »Ja danke. Werde ich ausrichten. Bis morgen dann.« Sie winkte mir kurz zu, dann drehte sie sich um und ging.
Ich wollte weiter zum Wohntrakt, aber Bernges hielt mich am Arm fest. Erstaunt blieb ich stehen.
»Ich mache mir Sorgen um Melanie. Ihr Vater setzt sie zu sehr unter Druck. Pass ein bisschen auf sie auf, ja?«
Ich starrte Bernges an. Meinte er das ernst? Glaubte er wirklich, ich, Jana Schwarzer, hätte auch nur den Hauch einer Chance, auf Melanie Wieland aufzupassen? Und worauf genau sollte ich überhaupt achten? Bekam Melanie nicht ohnehin schon alles, was sie sich nur wünschen konnte? Sie sah supergut aus. Sie war die talentierteste Schwimmerin an unserer Schule. Melanie konnte mit ein bisschen Ehrgeiz alles schaffen. Sogar Olympia lag für sie in Reichweite. Es war doch klar, dass ihr Vater da ein wenig Druck machte. Schließlich soll er in seiner Jugend selbst ein erfolgreicher Schwimmer gewesen sein. Einige seiner Pokale zierten heute noch die geheiligte Heldengalerie im Flur vor dem Lehrerzimmer.
Einmal habe ich Melanie gefragt, ob sie nicht wahnsinnig stolz sei auf ihren Vater. Da hat sie nur böse gelacht und mich einfach stehen lassen. Seitdem habe ich das Thema ihr gegenüber nie wieder angesprochen. Besonders gut schien das Verhältnis zwischen den beiden jedenfalls nicht zu sein. Aber im Gegensatz zu mir hatte sie immerhin einen Vater.
»Also dann. Schau mal vorbei.« Bernges riss mich aus meinen Gedanken. Bevor ich etwas antworten konnte, wendete er seinen Rollstuhl und fuhr davon.
»Blöde Sache, das mit deinen Klamotten.«
»Mhm.«
»Ist jetzt schon das dritte Mal, oder?«
Ich zuckte mit den Schultern. Tom reichte mir mein Sweatshirt.
Ohne seine Hilfe würde mein Zeug vermutlich immer noch in den Bäumen auf dem Schulhof hängen. Ich hatte versucht, die Sachen mit einem Besen runterzuschlagen, aber ich war einfach zu klein.
»Danke.« Ich stopfte das Shirt in meinen Sportbeutel. Ich wusste, ich sollte noch irgendetwas Nettes zu ihm sagen, aber mir fiel einfach nichts ein.
»Vielleicht versuchst du es mal damit, ein bisschen lockerer zu sein.«
»Lockerer?« Ich starrte Tom an.
»Na ja, nicht so abweisend. Lockerer halt.« Er sah an mir vorbei. »Ich glaub, die haben einfach Angst vor dir.«
Angst. Wenn Tom wüsste, wie viel Angst ich vor den anderen hatte. Nicht als Konkurrenten im Training. Im Wasser waren wir alle gleich. Aber draußen. Draußen war es, als kämen sie aus einer anderen Welt. Einer Welt, die ich bisher nur aus dem Fernsehen kannte. Aber darüber wollte ich nicht mit ihm reden.
»Danke noch mal. Ich bringe jetzt den Besen zurück.«
Tom war nett. Trotzdem ging er mir manchmal auf die Nerven. Ich konnte einfach nicht damit umgehen, dass er immer helfen wollte. Es irritierte mich so, weil es nicht hierher passte. Niemand an dieser Schule interessierte sich doch dafür, wie es dem anderen ging. Im Grunde waren die anderen immer nur die, die es zu besiegen galt. Wer besser war, kam weiter. Das war draußen so. Und das war hier drin nicht anders.
In Gedanken korrigierte ich mich. Melanie war anders. Obwohl sie die einzige ernsthafte Konkurrenz für mich war, hatte sie sich von Anfang an bemüht, mir zu helfen. Nur im Wasser nahm sie keine Rücksicht auf mich, und das war okay so.
Ich hatte mir gerade den Besen geschnappt, als sie über den Schulhof kam. »Hallo, ihr zwei. Hast du deine Sachen wieder, Jana?«
Ich nickte. »Tom hat mir geholfen, sonst wäre ich nie drangekommen.«
Melanie klopfte ihm auf die Schulter. Dann breitete sie die Arme aus und deklamierte:
»Darauf sei dir, Herr, erwidert,
dass das Geben einen Mann
adeln und erhöhen kann!«
Tom grinste und verbeugte sich schwungvoll. Mel zwinkerte mir zu. »Manchmal ist es ganz nützlich, wenn man seine Texte rechtzeitig auswendig lernt.«
»Wolltest du nicht nach Hause fahren?« Jetzt fiel es mir wieder ein. Mel hatte die Thea-ter-AG doch für heute abgesagt.
»Mein Vater steht länger als geplant im OP. Mein Bruder hat mich angerufen. Ich konnte also noch zu den Proben gehen.«
Melanie wirkte glücklich, als sie das sagte. Und ich war neidisch. Einen Bruder hatte ich mir auch oft gewünscht. Einen, der mir ein bisschen den Rücken freihielt, wenn Mama wieder ihre Klammertage hatte. So nannte ich die Tage, an denen meine Mutter sich mit schöner Regelmäßigkeit in ihren Depressionen verfing und sich an mich hängte wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring. In diesen Phasen schnürte sie mir regelrecht die Luft ab und ich wollte noch dringender weg als ohnehin schon.
Vielleicht ging es Melanie ja ähnlich, überlegte ich. Vielleicht war das Theaterspielen für sie das, was für mich das Schwimmen war.
»Habt ihr Lust auf einen Kakao?« Tom hatte ich komplett vergessen.
»Klar, warum nicht. Wenn du ihn spendierst.« Melanie hakte sich bei Tom unter. »Aber nur, wenn Jana auch mitkommt.«
»Na klar kommt Jana mit.« Tom bot mir seinen freien Arm an. »Darf ich bitten?«
Ich zögerte. Einerseits war die Aussicht auf einen heißen Kakao jetzt mehr als verlockend.
Aber mein Taschengeld für diesen Monat war schon lange aufgebraucht, und es war mir peinlich, das zuzugeben. Ich war mir nicht sicher, ob Toms Einladung auch mir gegolten hatte. Dann sah ich, wie Melanie mich anlächelte und mir aufmunternd zunickte. Ich gab mir einen Ruck und hakte mich ebenfalls bei Tom unter.
Später dachte ich oft, dass das der einzige Moment war, in dem wir als Freundinnen völlig unbeschwert waren. Weit weg vom Training und jeglichem Druck.
Wir brachten dem Hausmeister seinen Besen zurück, verließen das Schulgelände und gingen zum Zeitlos. Das Zeitlos ist ein Café direkt gegenüber vom Internat, das vermutlich schon hier existierte, als Melanies Vater noch die Schule besuchte, zumindest wenn man den vergilbten Fotos an den Wänden glauben durfte. Alles hier war alt. Die Fotos, die Tische, die Stühle und sogar die Tapete an den Wänden. Keine Ahnung, wer auf die Idee gekommen war, ein Café neben einem Sportgymnasium Zeitlos zu nennen. Zeitlos war hier wirklich niemand. Im Gegenteil. Vermutlich wurde nirgendwo sonst so viel gegen die Zeit gekämpft wie bei uns. Sein Überleben verdankte dieses Café garantiert nur den Hunderten von Sportschülern, die hier im Laufe der Jahre entweder ihre Rekorde gefeiert oder ihre Niederlagen in Kakao ertränkt haben.
Wir fanden einen kleinen runden Tisch am Fenster. Es war ziemlich voll und auch laut. In der Luft hing die Feuchtigkeit nasser Winterjacken wie ein Nebel, durch den Gesprächsfetzen von allen Seiten drangen. Fast jeder Tisch war besetzt, und hin und wieder sah ich ein Gesicht, das ich vom Schulhof kannte. Melanie wurde zwei- oder dreimal mit einem »Hallo, Mel!«
begrüßt. Aber wenigstens waren Nora und die anderen nicht hier. Als die Bedienung an unseren Tisch kam, bestellte Tom drei heiße Kakao mit Sahne, dann verschränkte er die Arme hinterm Kopf und lehnte sich gemütlich zurück. Sein Stuhl ächzte gefährlich.
»Warum bist du eigentlich nicht beim Wasserballspiel?«
In dem Moment, als Melanie sich mit ihrer Frage an Tom wandte, fiel es mir wieder ein, wo die anderen jetzt waren.
»Weil ich dann nicht mit den beiden berühmtesten Schülerinnen unserer Schule Kakao trinken könnte.«
Ich verdrehte die Augen und auch Melanie verzog das Gesicht. War das jetzt einfach eine plumpe Anmache oder was sollte der Spruch?
»Ach, hör doch auf«, winkte sie ab. »Berühmt. Wir sind nicht berühmt, und ich persönlich lege auch keinen gesteigerten Wert darauf, es zu werden.«
»Musst du ja auch nicht mehr, bist du ja eh schon.« Mel wollte protestieren, aber Tom redete einfach weiter: »Du trainierst mehr als jeder andere von uns. Okay, Jana ausgenommen. Du hast irre viel Talent. Wenn du so weitermachst, landest du demnächst im deutschen Kader, und dann ist es zu Olympia nur noch ein winziger Schritt.«
Der Kakao wurde serviert und ich legte meine klammen Finger dankbar um die bauchige heiße Tasse. Erst jetzt merkte ich, wie kalt mir wirklich war.
Tom war noch nicht fertig. »Warum solltest du dir diesen Stress sonst antun?«
Melanie steckte ihren Löffel mit so viel Schwung in die Sahne, dass feine weiße Sprenkel den Tisch überzogen.
»Frag doch mal Jana, warum sie so verbissen trainiert. Sie ist viel öfter im Wasser als ich und mindestens genauso talentiert.«
Erwartungsvoll sahen Tom und Melanie mich an. Ich nahm schnell einen Schluck von dem heißen Kakao, um nicht gleich antworten zu müssen. Warum trainierte ich so viel? Sicher nicht, um berühmt zu werden. Aber obschon ich die Antwort wusste, schwieg ich. Ich wollte nicht darüber sprechen. Sie würden es ohnehin nicht verstehen.
Seit ich schwimmen gelernt hatte, fühlte ich mich frei. Zu schwimmen gab mir das Gefühl, nicht mehr eingesperrt zu sein, gefangen in falschen Erwartungen, in einem Leben, das nicht meins war. In dem Moment, in dem ich ins Becken gleite, fällt alles von mir ab. Dann gibt es nur noch mich und das Wasser. Manchmal träume ich davon, immer weiter schwimmen zu können, einfach geradeaus, ohne Beckenrand, ohne Rollwende, ohne Grenzen. Und je mehr ich trainiere, desto näher komme ich diesem Ziel. Aber wie sollte ich das den beiden erklären?
»Ich will einfach gut sein«, murmelte ich und hoffte, dass sie damit zufrieden waren.
»Du bist gut«, stellte Mel trocken fest. »Aber das reicht dir nicht wirklich.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Es geht mir nicht um den Ruhm, falls du das denkst. Nicht um Medaillen oder so.«
Ich ließ meinen Blick über die Fotos an den Wänden gleiten. Auf den meisten Bildern waren Siegerehrungen festgehalten worden. Junge erfolgreiche Menschen auf Treppchen, die stolz in die Kamera lächelten.
Ich habe auf Schwimmwettkämpfen schon so viele Medaillen und Urkunden gewonnen, dass ich sie gar nicht mehr zählen kann. Anfangs habe ich mich noch darüber gefreut und war stolz darauf. Aber es war nie jemand da, der sich mit mir freute. Während die anderen Kinder von ihren Eltern gelobt und mit ihren Medaillen fotografiert wurden, stand ich meistens allein am Beckenrand. Meine Mutter kam nicht mit zu den Wettkämpfen, sie wollte möglichst nichts damit zu tun haben. Von Anfang an war meine Schwimmerei ihr ein Dorn im Auge. Es gefiel ihr nicht, dass ich so viele Stunden im Verein verbrachte.
Ein Trainer war auf mich aufmerksam geworden, als ich allein für mich übte, und bat meine Mutter, mich in seinen Verein zu schicken. Bis heute weiß ich nicht, warum sie mir das überhaupt erlaubt hat. Vermutlich hätte sie es nicht getan, wenn es Geld gekostet hätte, aber das tat es nicht. Als meine Mutter damals zögerte, musste der Typ vom Sportverein das Gleiche gedacht haben und bot ihr deshalb an, mich umsonst in den Verein aufzunehmen. Er erzählte ihr etwas von Ausnahmetalent und Förderung und lud Mama und mich sogar einmal zum Essen in die vereinseigene Pizzeria ein. Ich glaube, damit hat er sie gekriegt. Es kam nicht oft vor, dass sie von jemandem zum Essen eingeladen wurde, und obwohl es nur die Pizzeria eines Schwimmvereins war, stand sie an diesem Abend stundenlang vorm Spiegel. Nach dem Essen willigte sie ein und von diesem Moment an wurde das Schwimmen für mich so wichtig wie das Atmen. Ich trainierte, soviel ich konnte. Nicht wegen der Medaillen. Nicht, um besser zu sein als die anderen Kinder. Sondern um, sooft es ging, von meiner Mutter weg zu sein. Ich schwamm vor dem, was ihre Welt war, davon und wünschte mir doch, sie würde mir folgen und Teil meiner Welt werden.
Ich merkte, dass Tom und Melanie mich immer noch erwartungsvoll ansahen.
»Das Stipendium«, sagte ich schnell. »Ich muss aufpassen, dass ich das Stipendium nicht wieder verliere. Die wollen Leistung sehen. So hat man es mir zumindest gesagt. Ohne entsprechende Leistungsnachweise muss ich das Internat wieder verlassen.«
Tom nickte verständnisvoll, aber Melanie rührte wütend in ihrem Kakao. »Leistung, Leistung, immer dreht sich alles nur darum.«
»Ich schwimme gerne«, entgegnete ich leise. »Wirklich.«
Ihr Ausbruch hatte mich traurig gemacht. Melanie verstand mich nicht. Ich hatte geglaubt, wir wären uns ähnlich, aber das war offensichtlich ein Irrtum. Im Augenblick schien es mir, als ob wir zwei verschiedene Sprachen sprechen würden.
»Also, ich schwimme auch gern«, schaltete Tom sich ein. »Manchmal habe ich keine Lust auf den ganzen Druck, aber ich glaube, wenn mir der Sport keinen Spaß machen würde, hätte ich hier nichts verloren.«
Ich nickte. »Wem das keinen Spaß macht, der würde Drexlers Ton auch kaum über sich ergehen lassen. Wozu auch? In jedem Schwimmverein ist es einfacher als hier.«
»Am Anfang habe ich meinen alten Verein auch echt vermisst«, stimmte Tom mir zu. »Wir haben da ziemlich hart trainiert, doch das war kein Vergleich zu dem, was Drexler mit uns macht.«
»Aber der Erfolg gibt ihm recht«, warf ich ein. Erst jetzt fiel mir auf, dass Melanie sich gar nicht an unserer Unterhaltung beteiligte.
»Wie findest du denn Drexler? Und wie waren deine Trainer früher?«, wandte ich mich an sie.
Mel zuckte zusammen, als ob ich sie mit meiner Frage aus einer anderen Welt zurückgeholt hätte.
»Was? Wer? Ach, Drexler? Der ist ganz in Ordnung«, stammelte sie.
Ich musste an das Gespräch mit Bernges denken. »Es ist dein Vater, der dir Stress macht, oder?«
Melanie sah mich nicht an. »Er mag die Theater-AG nicht, das ist alles«, antwortete sie. »Und im Grunde stimmt es ja, was er sagt. Die Proben fressen wirklich viel Zeit, in der ich besser trainieren sollte.«
»Noch mehr trainieren?«, entgegnete Tom. »Man kann es auch übertreiben, erklär das deinem Vater doch mal. Irgendwann brauchen die Muskeln auch eine Erholung, um wachsen und sich entwickeln zu können. Jeder, der halbwegs was von Sport versteht, weiß das.«
Mel sagte nichts mehr. Ich musste an die Galerie in der Schule denken. Mels Vater wusste mit Sicherheit ganz genau, wie ein guter Trainingsplan auszusehen hatte. Außerdem war er Arzt. Fehlende Fachkenntnis war es also kaum, was ihn auszeichnete. Eher fehlendes Feingefühl vielleicht.
»Was hat dein Vater gegen das Theaterspielen?«, versuchte ich es noch einmal. »Im Grunde ist es doch egal, was du mit deiner Freizeit anstellst, solange es dem Training nicht schadet, oder?«
»Können wir bitte über etwas anderes reden als über meinen Vater?« Mel stellte ihre Kakaotasse so heftig ab, dass sie klirrte.
Im Café war es ganz still geworden. Es schien, als ob alle Gespräche an den Tischen ringsum schlagartig beendet waren. Nur Mels Satz hing noch in der Luft.
Verlegen sahen wir uns an.
Dann, genauso plötzlich, wie sie verstummt waren, setzten die Gespräche wieder ein. Es war, als hätte die Welt einfach für kurze Zeit den Atem angehalten. Jetzt drehte sie sich weiter.
Tom fand als Erster die Sprache wieder. »Da ist wohl ein Engel durch den Raum gegangen«, sagte er leise.
»Ein Engel?« Ich starrte Tom an. Auf einmal sah ich sein Helfersyndrom in einem neuen Licht. War er vielleicht religiös?
»Meine Oma hat das immer gesagt. Wenn es an einem Ort voller Menschen plötzlich ganz still wird, dann geht gerade ein Engel durch den Raum.« Er grinste verlegen. »Als kleiner Junge fand ich die Vorstellung von Engeln, die einfach so unsichtbar bei uns herumspazieren, wahnsinnig spannend und gruselig.«
»So ein Quatsch.« Melanie schüttelte den Kopf. Aber sie wirkte erleichtert, dass das Gespräch eine andere Richtung genommen hatte. Sie bückte sich und kramte in ihrem Rucksack.
»Apropos gruselig. Hier, ich hab es vorhin vor den Proben abgeschrieben. Danke noch mal, allein hätte ich das nie hingekriegt.« Sie schob mir mein Matheheft zu.
»Hab ich was verpasst?« Neugierig schielte Tom auf das Heft.
»Jana hat mich netterweise ihre Mathe-Hausaufgaben abschreiben lassen. Ich habe es einfach nicht kapiert.«
»Mathe, ach so. Mathe ist kein Problem. Warum mein Alter allerdings wollte, dass ich ausgerechnet Latein als Fremdsprache wähle, das frage ich mich schon manchmal. Nix gegen Bernges, der Typ ist echt in Ordnung. Und sein Deutschunterricht auch. Aber Latein?«
»Warum sitzt Bernges eigentlich im Rollstuhl? Wisst ihr das?«, fragte ich die beiden.
Melanie schüttelte den Kopf.
»Irgendwer hat mal was von einem Unfall gesagt«, antwortete Tom. »Mehr weiß ich auch nicht. Ich stelle es mir jedenfalls ganz schön schwierig vor, als Rolli ausgerechnet an einem Sportinternat Lehrer zu sein. Ich meine, es ist doch furchtbar, wenn man seine Beine nicht mehr gebrauchen kann. Und bei uns kriegt er das jeden Tag noch mal so richtig aufs Brot geschmiert, dass nur die körperliche Leistung zählt.«
»Nur dass wir mit körperlicher Leistung in seinem Lateinunterricht nicht besonders weit kommen«, warf ich ein. Plötzlich war es mir unangenehm, so über Bernges zu sprechen, und ich bereute es schon, überhaupt gefragt zu haben. Wäre Bernges mein Vater, wäre es mir jedenfalls völlig egal, ob er im Rollstuhl sitzt oder nicht.
»Ob er manchmal schwimmen geht?« Melanie sah uns an. »Ich habe mal gelesen, dass Querschnittsgelähmte durchaus noch schwimmen können, wenn die Lähmung nur die Beine betrifft.«
»Im Wasser habe ich ihn noch nie gesehen«, erwiderte Tom. »Allerdings treffe ich ihn manchmal im Kraftraum. Seinen Oberkörper trainiert er offensichtlich regelmäßig. Aber ich krieg jedes Mal ein schlechtes Gewissen, wenn ich ihn dort sehe.«
»Warum? Du kannst doch nichts dafür, dass er im Rollstuhl sitzt.« Fragend schaute ich Tom an. Der zuckte mit den Schultern.
»Nein, natürlich kann ich nichts dafür. Aber kennt ihr das nicht auch? Ihr seht jemanden, dem es schlechter geht als euch, und ihr fühlt euch mies? Einfach, weil ihr euch so undankbar vorkommt für das, was ihr habt. Weil ihr alles, was ihr habt oder was ihr könnt, immer für selbstverständlich haltet.«
Melanie nickte. »Ja, ich weiß, was du meinst. Mir geht es auch manchmal so, wenn ich Leute kennenlerne, denen es schlechter geht als mir. Meine Eltern sind so stinkreich, und ab und zu vergesse ich, dass es nicht für jeden selbstverständlich ist, immer sofort das kaufen zu können, was man sich gerade so wünscht.«
Sie sah mich an und wurde rot. »Sorry«, murmelte sie. »Ich wollte dir nicht auf die Füße treten.«
»Schon okay. Du hast ja recht. Meine Mutter hatte immer nur wenig Geld. Aber du kannst schließlich nichts dafür, dass es bei euch anders ist. Ein schlechtes Gewissen musst du deswegen also wirklich nicht haben.«
Wie hatte der Direktor es zu meiner Begrüßung gesagt? Es sei ein großes Privileg, dass ich aufgrund meiner sportlichen Leistungen in seine Schule gehen dürfe. Der Kakao schmeckte plötzlich bitter. Es gab nichts ohne Gegenleistung.
»Alles kann man sich für Geld auch nicht kaufen«, konterte Tom. »Bernges zum Beispiel wird vermutlich immer im Rollstuhl sitzen, da hilft ihm aller Reichtum der Welt nicht.«
Dankbar sah ich Tom an. Es war lieb von ihm, wie er versuchte, die Situation zu retten. Trotzdem glaubte ich, dass er nicht wirklich wusste, wovon er sprach.
Es war immer das Geld, das uns gefehlt hatte. An allen Ecken und Enden. Auch wenn meine Mutter die Schuld für ihr Unglück stets irgendwelchen Männern in die Schuhe geschoben hatte, war ich fest davon überzeugt, dass es uns besser gegangen wäre, wenn wir reich gewesen wären. Die Welt war käuflich, das hatte ich schon früh gelernt.
Ich holte tief Luft.
»Und wenn einer von euch beiden mich im Schwimmen besiegen will, müsst ihr trainieren. Da hilft euch euer Reichtum gar nichts. Ich bin nämlich unbestechlich.« Ich versuchte ein Grinsen.
»Okay, okay, ich hab’s kapiert.« Tom winkte der Bedienung. »Aber wenn man gleich mit zwei Mädchen ausgehen möchte, empfiehlt es sich schon, ein bisschen Kleingeld in der Tasche zu haben. Noch drei Kakao, bitte«, bestellte er. »Was muss ich zahlen, damit eine von euch freiwillig heute Abend meinen Tischdienst übernimmt?« Er klimperte mit ein paar Münzen in seiner Hosentasche.
»Tischdienst? Daher weht also der Wind.« Ich lachte und boxte Tom auf den Arm. »Das muss ich mir noch gut überlegen. Zwei Kakao für einen Tischdienst? So billig wird das wohl nicht werden. Mel ist ja fein raus als Externe, da bleibt dein Angebot wohl an mir hängen.«
Jetzt lachte auch Mel. »Du kannst ja mit zu mir kommen heute Abend. Dann kann der feine Herr sich seinen Tisch selbst decken.«
Mit zu Mel? Hatte sie das ernst gemeint? Ich traute mich nicht, noch einmal nachzufragen. Ich war noch nie bei jemandem aus der Schule zu Hause gewesen. In meiner Klasse gab es ohnehin nur wenige Externe. Die meisten von uns verbrachten die Woche im Internat und fuhren nur am Wochenende nach Hause.
Die Bedienung brachte die neue Runde Kakao und Melanies Einladung stand noch unbeantwortet im Raum, als ihr Handy klingelte. Hektisch fummelte sie es aus ihrer Jackentasche und sah dabei auf die Uhr. »Verdammt, so spät ist es schon?« Sie sprang auf und trat mit dem Handy am Ohr ein paar Schritte zur Seite. Während sie telefonierte, betrachtete sie die Bilder an den Wänden. Als sie zurückkam, wirkte sie nervös. »Ich muss nach Hause.«
Ob ihr Bruder angerufen hatte? Plötzlich verhielt sich Mel wie ein gehetztes Tier.
»Hab noch nicht alle Hausaufgaben. Wir sehen uns morgen.« Sie schnappte sich ihre Sachen. »Danke für den Kakao«, wandte sie sich an Tom. Und weg war sie.
»Ihr Vater muss ja ein echtes Arschloch sein, wenn sie so viel Angst vor ihm hat«, murmelte Tom und schob mir Mels zweiten Kakao zu. Sie hatte noch nicht mal daran genippt.
Texte: Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG
Bildmaterialien: plainpicture/Arcangel
Tag der Veröffentlichung: 17.02.2012
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