Das Meer war von einem solch intensiven Grün, dass ich zunächst dachte, ich befände mich auf einer Wiese. Ich musste wie um mein Leben gerannt sein, denn ich war völlig außer Atem, meine Lungen schmerzten und in meinem Hals empfand ich einen quälenden Druck. Ich riss den Mund weit auf, um Luft zu holen, spürte, wie das Wasser in mich hineinströmte, und wartete auf den Hustenreflex – doch er kam nicht. Ich lief weiter, oder besser gesagt, ich strampelte, und dann tauchte urplötzlich – wie aus dem Nichts – dieses Gesicht vor mir auf: große, ein wenig schräg geschnittene türkisfarbene Augen, dunkle, klar abgegrenzte Brauen, eine kräftige, leicht gerundete Nase, die wundervollsten Lippen, die ich je gesehen hatte, und halblanges lockiges blondes Haar, das den markanten männlichen Zügen etwas Sanftes, ja beinahe Verletzliches verlieh.
So unvermittelt wie das Gesicht erschienen war, verschwand es auch wieder, und mit einem Schlag fühlte ich mich entsetzlich allein – so als wäre ich in einer Gegend ausgesetzt worden, die mir absolut fremd war und in der Menschen lebten, die weder meine Sprache sprachen noch mit meiner Mimik oder Gestik etwas anzufangen wussten.
»Cyril!«, schrie ich. »Cyriiil! … Bitte lass mich nicht allein! … Cyriiil! … Bitte!«
Ich strampelte wie verrückt, um von der Stelle zu kommen und dieses Gesicht wiederzufinden, und mit einem Mal lag ich mitten im Sonnenlicht und Tante Grace lächelte mich an.
»Wer ist Cyril?«, fragte sie, während sie ein Tablett mit goldgelb geröstetem Toast, Rührei und köstlich duftender heißer Schokolade neben mir auf dem Bett platzierte.
»Was?« Verwirrt setzte ich mich auf und blickte mich um. Es dauerte einen Moment, bis ich die Zusammenhänge begriff.
»Du hast ziemlich lange geschlafen«, sagte Tante Grace. »Und du hast geträumt.« Sie deutete auf meine Bettdecke, die zusammengeknüllt am Fußende lag. »Ziemlich wild geträumt, würde ich meinen.«
»Ja, ähm …« Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht und sah sie unsicher an. »Aber nicht von Cyril.« – Oder doch? Es kam schließlich oft genug vor, dass vertraute Menschen einem im Traum mit fremden Gesichtern begegneten.
Meine Großtante fuhr mir flüchtig mit den Fingerspitzen über die Stirn. »Und wer ist dieser Cyril nun?«
»Du kennst ihn nicht?«
Tante Grace setzte sich zu mir auf die Bettkante und schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste.«
»Er ist ein Junge aus Rubys Clique«, sagte ich. »Ich glaube, er wohnt auf Sark.«
»Oh.« Meine Großtante nickte. »Na ja, offenbar hat er dich beeindruckt, sonst hättest du wohl kaum gleich in der ersten Nacht von ihm geträumt.«
»Es ist nicht die erste …«, murmelte ich.
Weder die erste Nacht noch der erste Traum. Und wenn ich das Nickerchen auf der Taxifahrt von Stansted nach Gatwick mitzählte, war es bereits der dritte. Aber das hätte bedeutet, dass ich – oder mein Unterbewusstsein – geahnt hatte, dass ich Cyril treffen würde. Ein seltsamer Gedanke, der mir einen feinen kühlen Schauer über den Rücken jagte.
»Die erste Nacht, nachdem du ihn kennengelernt hast«, korrigierte meine Großtante sich.
»Ja. Er hat mich … übrigens … für heute Abend zum Essen … oder so … eingeladen«, hörte ich mich sagen, dabei hatte ich eigentlich vorgehabt, erst einmal ausführlich mit Sina darüber zu beraten.
»Oh«, wiederholte Tante Grace. »Und?«, wollte sie wissen. »Hast du angenommen?«
»Na ja …« Ich zuckte mit den Schultern und senkte verlegen den Kopf. »Ich glaube, schon.«
»Oh … oh …«, sagte sie. »Das erinnert mich an etwas.«
Ich sah sie erstaunt an. »Ach ja? Und an was?«
»Das, mein Engel, verrate ich dir lieber nicht«, meinte Tante Grace lächelnd, während sie sich langsam wieder erhob. »Und jetzt frühstücke erst einmal, und dann sieh zu, dass du nach draußen kommst«, setzte sie mit einem munteren Augenzwinkern hinzu, bevor sie das Zimmer verließ. »Wenn du magst, kannst du mir nachher ein wenig im Garten helfen. Das Wetter ist nämlich wirklich ganz wunderbar, geradezu ideal!«
Tante Grace hatte mächtig untertrieben. Das Wetter war nicht einfach nur wunderbar, es war sensationell. So weit man blicken konnte, zeigte sich kein Wölkchen am Himmel, und die Sonne hatte jetzt, um halb elf am Vormittag, bereits eine solche Kraft, dass ich nicht einmal meine Jeansjacke brauchte.
»An der frischen Luft zu arbeiten, in der Erde zu buddeln und den Pflanzen beim Wachsen zuzusehen, ist das beste Mittel, um seine Gedanken zu ordnen und Klarheit über seine Gefühle zu bekommen«, begrüßte sie mich, als ich ihre Gartenanlage betrat.
»Mit meinen Gefühlen ist alles in Ordnung«, entgegnete ich.
Tante Grace warf mir einen Blick zu, der unschwer erkennen ließ, dass sie vollkommen anderer Ansicht war. Sie trug das Outfit vom Vortag und über ihre quietschroten Plastikclogs musste ich unwillkürlich grinsen.
»Was ist denn so lustig?«, erkundigte sie sich natürlich sofort.
»Ach nichts«, sagte ich. »Musst du nicht noch die Vorhänge für Rubys Mutter fertig nähen?«, schob ich hastig hinterher, damit sie nicht womöglich noch auf einer Erklärung für meine plötzliche Heiterkeit bestand.
»Alles längst erledigt«, erwiderte sie und nahm mich erneut ins Visier. »Ich bin nicht so eine Langschläferin wie du.«
»Soll das ein Vorwurf sein?«
»Nein, nur ein zarter Hinweis darauf, dass du nicht alles mit dir allein ausmachen musst. Manchmal hilft es einem nicht weiter, wenn man stundenlang im Bett liegt und grübe…«
»Aber das tu ich doch gar nicht!«, fuhr ich dazwischen, Tante Grace wischte diesen Einwand jedoch mit einer einzigen energischen Geste fort.
»Du kannst selbstverständlich über alles mit mir reden.«
»Danke«, presste ich hervor. Ich wusste weder, was sie meinte, noch ob ich überhaupt mit ihr reden wollte. »Das ist echt nett von dir.«
Meine Großtante schüttelte missbilligend den Kopf. »Es ist nicht nötig, dass du dich so förmlich ausdrückst«, entgegnete sie. »Wir wissen schließlich beide, aus welchem Grund du hier bist. Du hast jetzt zwei Nächte hintereinander intensiv geträumt. Ich schätze, das ist ein klares Zeichen dafür, dass es in dir angefangen hat zu arbeiten. Dazu diese unselige Geschichte mit Cecily Windom und …«, sie ließ den Blick über ein Beet voll undefinierbarem Gestrüpp gleiten und stieß einen leisen Seufzer aus, »dann habe ich dich zu allem Überfluss auch noch mit Rubys Familienschicksal konfrontiert.«
»Ja, ausgerechnet. Wo du mir doch für den Rest des Tages allen trouble vom Hals halten wolltest«, sagte ich grinsend.
»Magst du mir trotzdem ein bisschen zur Hand gehen?«, erwiderte sie und hielt mir eine Hacke hin.
»Okay … Und was soll ich damit machen? Vielleicht dieses hässliche Unkraut dort ausreißen?«
»Untersteh dich!«, rief Tante Grace entsetzt. »Dieser Sommerflieder ist mein ganzer Stolz.«
»Sommerflieder … aha«, neckte ich sie. »Na, kein Wunder, dass der um die Zeit noch nach nichts aussieht!«
Bis zum Mittag arbeiteten wir still vor uns hin. Meine Großtante beschnitt Büsche und Bäume und ich lockerte die Erde rund um ihren geliebten Sommerflieder und in den Gemüsebeeten auf.
Ich dachte an Pa, an den bevorstehenden Abend mit Cyril und die drei verrückten Träume, die ich seit meiner Landung auf britischem Boden gehabt hatte und in denen allesamt das Meer und ein wunderschöner, zuweilen aber offenbar gehbehinderter junger Mann vorgekommen waren.
»Ist doch ganz logisch«, hörte ich Sinas analytische Stimme tief in meinem Innern sagen. »Diese Behinderung symbolisiert deine Angst vor dem Wasser. Und weil du dich durch deine Entscheidung, eine Weile auf diesem Fliegenschiss von einer Insel zu leben, freiwillig ständig dieser Angst aussetzt, versucht dein Unterbewusstsein, sich diese eigentlich total unerträgliche Situation schönzureden, indem es einen hübschen Typen kreiert und dir damit vorgaukelt, dass das Meer im Grunde geheimnisvoll und sexy ist.«
»Vielen Dank, Sina«, murmelte ich. »Auf diese Erklärung hätte ich eigentlich auch selber kommen können.«
»Tja, und was diese Silly betrifft …«, fuhr meine Freundin unbeeindruckt fort, »die kann man doch gar nicht ernst nehmen. Ich verstehe echt nicht, warum dich das gestern so fertiggemacht hat! Stell dir doch nur mal vor … Wir zwei im World Coffee und dann kommt so eine durchgeknallte Alte herein und macht dich an, von wegen du würdest Unheil und Tod bringen … Wir hätten uns doch kaputtgelacht über die.«
Ich schlug mit der Hacke auf einen harten Erdklumpen ein und kicherte leise vor mich hin. »Ach Mensch, Sina«, wisperte ich. »Du fehlst mir so. Jetzt schon!«
»Führst du Selbstgespräche oder stehst du gerade in tiefgründigem Austausch mit dem Erdreich?«, riss Tante Grace mich ins Hier und Jetzt zurück.
»Ähm … so ähnlich«, antwortete ich lächelnd.
»Fein.« Meine Großtante kniff mich zärtlich in die Wange. »Du siehst auch schon viel besser aus als heute Morgen.«
Kein Wunder, es ging mir ja auch besser. Die frische klare Luft, die Sonne und das Bearbeiten des teilweise recht störrischen Bodens hatten mir tatsächlich gutgetan.
»Vielleicht möchtest du dich noch ein bisschen frisch machen, bevor Ruby kommt«, sagte Tante Grace und nahm mir die Hacke aus der Hand. »Und ich bereite uns derweil einen kleinen Imbiss.«
Ruby ließ recht lange auf sich warten. Der Imbiss, den Tante Grace gezaubert hatte und der aus einer Quiche und einem grünen Salat bestand, war schon fast verdaut, und ich rechnete eigentlich gar nicht mehr damit, dass ich meine neue Freundin heute noch zu Gesicht bekommen würde, da stand sie plötzlich in der Tür.
Ich merkte sofort, dass etwas passiert sein musste, denn Ruby war selbst für ihre Verhältnisse ungewöhnlich blass, und noch dazu sahen ihre Augen ziemlich verweint aus.
»Es ist doch nichts mit Ashton, oder?« Im ersten Moment schien mir das am naheliegendsten zu sein.
Ruby schüttelte den Kopf. »Ist deine Tante daheim?«, fragte sie, während sie sich an mir vorbeizwängte und sich in Richtung Wohnstube bewegte.
»Ja, klar ist sie da.« Ich dachte an den gestrigen Tag und an Cecily Windom und sofort zog sich mein Magen schmerzvoll zusammen.
Mit zitternden Fingern schloss ich die Tür und folgte Ruby langsam ins Wohnzimmer, wo meine Großtante die Vorhänge bereits gut verpackt bereitgelegt hatte.
»Um Himmels willen, Kind, was ist los?«, hörte ich sie rufen. Einen Lidschlag später lag Ruby schluchzend in ihren Armen.
»Ees ist etwas Schschreckliches ppassiert«, stammelte sie. »Die PoPolizei hhat …« Es folgte ein ganzer Schwall in Tränen erstickter und vollkommen unverständlicher Worte, ehe sie ihren Bericht schließlich mit »… nicht nach HHause gekommen« beendete.
Ich sank den beiden gegenüber in einen Sessel und starrte Ruby an. Die Angst ließ sich nun nicht mehr fernhalten. Wie ein Schlagbohrer drang sie vom Magen aus unter mein Brustbein und brachte mein Herz zum Rasen. Wenn ich nicht auf der Stelle erfuhr, was geschehen war, würde ich durchdrehen, und zugleich hätte ich mir am liebsten die Hände auf die Ohren gepresst und wäre davongelaufen. Gefangen zwischen diesen vollkommen gegensätzlichen Empfindungen, blieb ich wie mit dem Sessel verwachsen sitzen. Ich krallte meine Fingernägel in die Armlehnen und hatte das Gefühl, dass ich mit meinem Gezittere nicht nur mich selbst, sondern das ganze Wohnzimmer zum Vibrieren brachte.
Die Einzige, die zumindest äußerlich ruhig blieb, war Tante Grace.
Sanft wiegte sie Ruby hin und her und strich ihr über den Rücken. »Schsch. Ist ja gut, Kind, ist ja schon gut. Ich bin bei dir, ich halte dich … Ich halte dich schon.«
Eigentlich hätte man in einer solchen Situation kaum etwas Idiotischeres sagen können, trotzdem wirkten die Worte meiner Großtante Wunder. Ruby ließ sich von ihr beruhigen wie ein kleines Kind, das sich das Knie aufgeschlagen hatte und im Klang der Stimme und in der Körperwärme seiner Mutter Trost fand.
Ruby hörte auf zu weinen. Sie löste sich aus Tante Graces Umarmung und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. Zögernd richtete sie ihren Blick auf mich und atmete einmal tief durch, bevor sie zu reden begann.
»Du hast gestern ja mitbekommen, dass Olivia, Joelle, Aimee und … Lauren die letzte Nacht wieder gemeinsam auf Sark verbringen wollten …«
»Die ganze Nacht?«, fragte ich, denn ich war natürlich davon ausgegangen, dass die Mädchen noch am selben Abend wieder zurückkehren würden.
»Ja, also … das ist gar nicht anders möglich«, erklärte Tante Grace. »Es gibt nur eine schmale Fahrrinne zwischen den unzähligen Riffs und die führt keinesfalls wie an einer Schnur gezogen geradeaus … Man muss sich schon sehr gut auskennen, wenn man keinen Schiffbruch erleiden will, und deshalb setzt die Fähre auch nur während des Tages über.«
Ruby rutschte unruhig auf dem Sofa hin und her und starrte auf ihre Hände, die sie in ihrem Schoß zusammengelegt hatte und nun in nervösem Rhythmus ineinander verhakte und wieder löste.
»Normalerweise kehren sie gleich am nächsten Morgen mit der AchtUhrFähre heim«, brachte sie stockend hervor. »Heute sind jedoch nur Joelle, Aimee und Olivia zurückgekommen. Lauren wollte die Schule schwänzen und erst am Nachmittag folgen.«
Ich schluckte schwer. »Aber das ist sie nicht?«
Ruby schüttelte den Kopf. »Nein.« Ihre Lippen fingen an zu zittern, bevor sie mit rauer Stimme weitersprach: »Sie haben ein totes Mädchen gefunden. Oberhalb der Derrible Bay.«
(…)
Als ich die Vazon Bay erreichte, stand die Sonne bereits tief, leuchtete aber noch hellgelb und warm und malte wunderschöne Lichtreflexe auf die in einem dunklen Spätnachmittagsgrün schimmernde Wasseroberfläche. Schon von Weitem sah ich, dass sich auf beiden Strandabschnitten ziemlich viele Leute tummelten, und auch das Café schien sehr gut besucht zu sein. Klar, bei diesem tollen Wochenendwetter hatte es bestimmt halb Guernsey an die Buchten gezogen.
Während ich meinen Blick über die Menschen gleiten ließ und dabei vor allem das Meer im Auge behielt, fuhr ich langsam weiter am Café vorbei bis zum Fort Hommet und stellte mein Rad dort hinter der Befestigungsmauer ab. Von hier aus konnte ich auch die Cobo Bay überblicken und ich bemerkte eine ganze Reihe von Surfern auf dem Wasser. Ob auch Cyril unter ihnen war, vermochte ich allerdings nicht zu sagen, denn ich erinnerte mich nur noch dunkel an die Farben seines Segels. Außerdem wollte ich im Moment auch gar nicht mehr mit ihm reden. Irgendwie sagte mir meine innere Stimme, dass es nicht klug wäre, ihm von dem Jungen mit den türkisfarbenen Augen zu erzählen. Er war und blieb mein Geheimnis, bis ich mehr über ihn wusste. – Was hoffentlich bald der Fall sein würde.
Ich kletterte also auf der VazonBaySeite über die Felsen zum Sandstrand hinunter und schlenderte auf den Klippengrat zu, der die beiden Buchten voneinander trennte. Das Wasser lag ein ganzes Stück weiter zurück als am Anfang der Woche; an der Feuchtigkeit des Sandes und einer sanft geschwungenen Treibgutlinie aus frischem Tang, Muscheln und Holzstücken konnte ich den Höchststand der letzten Flut ablesen.
Ich ließ Sandburgen bauende Kinder, Händchen haltende Pärchen, Beachvolleyballspieler und tobende Hunde hinter mir und ging am Rand des Klippengrats weiter in Richtung Meer. Dort angekommen, zog ich Tante Graces Stiefel und die Strümpfe aus und ließ sie auf einen flachen Stein fallen. Anschließend krempelte ich die Jeans bis zu den Knien hoch, grub meine Zehen in den Sand und wartete voller Anspannung darauf, dass meine Füße vom eisig kalten Wasser umspült wurden. Es war überraschend angenehm, und so ging ich Schritt für Schritt tiefer hinein, bis es mir fast bis zu den Waden reichte. Ich spürte ein leichtes Jucken in den Knöcheln, beachtete es aber nicht weiter. Wenn ich den Jungen wiedersehen wollte, durfte ich mich davon nicht beeindrucken lassen.
Sobald ich die Lider schloss, sah ich ihn vor mir: seine goldblonden Haare, die samtene Haut, diese unglaublichen Augen und dazu das Lächeln, das er mir zugeworfen hatte – und schon ging das Jucken in ein feines Kribbeln über und kroch langsam meine Beine hinauf.
Bitte, bitte, komm, war alles, was ich denken konnte.
Ich musste unbedingt herausfinden, wer er war, vor allem aber wollte ich mir sicher sein, dass ihm nichts zugestoßen war, sonst würde ich keine Ruhe finden, das war mir so klar, wie ich wusste, dass die Erde sich um die Sonne dreht.
Noch bevor das Kribbeln am Ende meiner Oberschenkel anlangte, öffnete ich die Augen und ließ meinen Blick über das Wasser gleiten, das inzwischen noch einmal ein ganzes Stück zurückgewichen war.
Auch die Sonne war weiter gesunken und hatte sich in einen orangeroten Feuerball verwandelt. Das Meer hatte eine tiefblaue Farbe angenommen und über dem Horizont erstrahlte der Himmel in einem gleißenden Weiß. Das Kinderlachen hinter mir verklang, irgendwo bellte ein Hund, und als ich mich umwandte, sah ich, dass der Strand sich allmählich leerte. Die Vorstellung, hier vielleicht schon bald völlig allein zu sein, nur die untergehende Sonne, der Sand, die Klippen, das Meer, ich und irgendwo – möglicherweise sogar ganz in der Nähe – der schöne Junge, elektrisierte mich geradezu.
Ich krempelte die Jeans noch ein wenig höher und lief so weit hinaus, bis mir das Wasser beinahe bis an die Knie reichte, dann suchte ich mir einen Platz auf den Steinen, wo ich eine Weile bequem sitzen konnte.
Der leichte Wind spielte mit meinen Locken. Die Luft war zwar merklich abgekühlt, aber das machte mir nichts aus. Das Meer rauschte leise, weiter draußen lag es jedoch immer noch ganz still da und spiegelte das Orangerot der Sonne wider. Nur hier und dort, wo das Wasser gegen die Felsen gedrückt wurde, kräuselte sich eine sanfte Welle.
Mein Blick sprang hektisch hin und her und suchte voller Hoffnung die Meeresoberfläche ab, aber ich konnte die blonden Locken des Jungen nirgends entdecken. Wo bist du?, dachte ich verzweifelt. Warum zeigst du dich nicht? Die Sorge um ihn ließ mein Herz schneller schlagen. Ich spürte das Pulsieren meines Blutes bis in die Beine hinunter, wo es mit dem Kribbeln verschmolz, und plötzlich hatte ich das Gefühl, dass mein ganzer Unterkörper in Flammen stand.
Du entkommst mir nicht, hörte ich es flüstern. Du gehörst mir.
Bis tief ins Mark erschrocken, schnellte ich hoch.
Die Sonne war mittlerweile hinter dem Horizont abgetaucht und zeichnete dort einen schmalen roten Streifen an den Himmel. Außerdem hatte ich nicht gemerkt, dass die Flut zurückkam und die Wellen nun ein ganzes Stück hinter mir aufliefen.
Zitternd schaute ich in Richtung Ufer. Es schien mir unendlich weit weg zu sein, ich konnte kaum noch erkennen, wo das Meer aufhörte und der Strand anfing, und die Böschung mit der Befestigungsmauer des Forts war nicht mehr als ein dunkler Streifen in weiter Ferne.
Eine beißende Angst stieg in mir hoch und lähmte mich für ein paar Sekunden, dann lief ich los, so schnell es auf den rauen, spitzen Felsen eben ging, zurück dorthin, wo ich den Strand vermutete.
Der Wind hatte zugenommen und zerrte an meinen Haaren und an meiner Jacke, und das Wasser, dessen Färbung inzwischen in ein dunkles Grau übergegangen war, klatschte gegen die Steine und spritzte mir bis ins Gesicht hinauf.
Ich dachte an meine Socken und Tante Gracies Stiefel und hielt verzweifelt danach Ausschau. Ein Stück weiter links bemerkte ich etwas Helles, und für einen Augenblick glaubte ich, dass es einer meiner Strümpfe sein könnte, doch dann flog es plötzlich auf und stob mit einem lauten Schrei und wilden Flügelschlägen zum Himmel.
Ich zitterte wie verrückt, vor Angst und vor Kälte. Meine Zähne schlugen aufeinander und meine Knie bebten so heftig, dass ich kaum noch Halt auf dem zerklüfteten Felsgrat fand. Also ließ ich mich hinunter und arbeitete mich auf Händen und Füßen weiter voran.
Der Himmel, die Erde, das Meer – alles um mich herum war jetzt zu einem konturlosen Grau zusammengeflossen, nur die dunklen Steine unter mir und der immer schmaler werdende rote Streifen der untergehenden Sonne gaben mir noch etwas Orientierung.
Meine Füße waren eiskalt, ich hatte kaum noch Gefühl darin und merkte nicht, dass ich mich vertrat. Ich rutschte ab und glitt der Länge nach ins Wasser.
Mein Oberkörper versank sofort in den Fluten und mein Kopf tauchte unter. Ein stechender Schmerz durchzuckte meinen rechten Unterschenkel, und im nächsten Moment spürte ich, dass er zwischen den Steinen eingeklemmt war. Ich paddelte wie verrückt mit den Armen, versuchte, Halt an den Klippen zu finden, und schaffte es tatsächlich, mich an die Oberfläche zurückzuarbeiten.
Einige Sekunden lang ragte mein Gesicht aus dem Wasser und ich rang hustend nach Atem, aber dann raste eine Welle über mich hinweg und ich wurde unerbittlich wieder nach unten gezogen.
Panisch stemmte ich meinen freien Fuß gegen die Steine und mühte mich mit aller Macht, mein Bein aus der Spalte zu ziehen, doch je mehr ich zerrte, desto fester schien der Fels mich zu umklammern. Die Todesangst in meiner Brust war heiß und quälend und ließ mich die eisige Kälte des Meeres kaum spüren. Sobald ich auftauchte, schnappte ich nach Luft und schrie, so laut ich konnte, bis die nächste Welle mich überrollte und um mich herum nur noch graue Schlieren und Blasen waren.
Ich dachte an Lauren und wusste genau, dass ich sterben würde, wenn es mir nicht gelang, mich zu befreien. Und selbst dann hätte ich wohl kaum noch eine Chance, das hier zu überleben.
Trotzdem kämpfte ich verzweifelt weiter, bis sich die Kälte bis in mein Innerstes hineingefressen hatte und mich meine Kräfte verließen.
Sei nicht traurig, Mam, dachte ich. Verzeih mir, Tante Grace. Hallo, Pa … Der nächste Atemzug stach mir in die Lungen und danach überkam mich eine selige Stille. Alles war ruhig, dunkel und verheißungsvoll …
Mein Fuß und meine Wade taten weh und Wasser rann aus meinen Mundwinkeln. Ich bekam die Augen nicht auf, aber ich konnte wieder frei und ohne Schmerzen atmen. Ein Arm umfing meinen Rücken, ein anderer lag in meinen Kniekehlen und zwei warme Hände ruhten in meiner Taille. Es war jemand bei mir. Ich spürte seine wiegenden Hüften, das Spiel seiner Muskeln und die fließenden Bewegungen seines Körpers, während er mich trug. Meine Wange schmiegte sich an samtweiche Haut, und ein betörender Duft stieg in meine Nase, fremdartig und zugleich so vertraut, dass es wehtat.
»Cyril«, murmelte ich, tastete mit meinen eiskalten Fingern über seinen nackten Brustkorb und legte meine Hand schließlich um seinen Nacken. »Du hast mich gefunden.«
Er drückte mich an sich, dann blieb er plötzlich stehen und ließ mich langsam hinunter. Nebeneinander sanken wir in den Sand. Er schlang seine Arme fester um mich und hüllte mich ein in seinen Duft und seine Wärme, bis die Kälte sich verlor und ich vor Erschöpfung einschlief.
Als ich erwachte, war die Luft kalt und feucht und noch immer hatte ich diesen köstlichen Duft in der Nase.
»Mir war noch gar nicht aufgefallen, dass du so gut riechst«, murmelte ich.
Er lachte leise in sich hinein und dabei strich sein Daumen wie beiläufig über meinen Hals. Mein Herz klopfte, und ich traute mich kaum, die Lider zu heben und ihn anzusehen, und als ich es dann doch tat, versank ich augenblicklich in einem Meer aus sämtlichen Grün und Blautönen dieser Welt.
Ganz sicher wäre ich auf der Stelle aufgesprungen, wenn er mich nicht so selbstverständlich gehalten hätte. Seine Finger fuhren sanft über meine Wangen, meine Stirn und mein Haar, und während er mich aufmerksam musterte, tasteten sie sich auch über meinen Nasenrücken und meinen Mund.
Ich war so dermaßen neben mir, dass ich nicht sagen konnte, ob mein Herz raste oder stillstand. Sein Gesicht befand sich ganz dicht über meinem, eine lange gewellte Strähne fiel ihm über das rechte Auge und wehte unter meinem Atem sachte hin und her. Seine Haut war so makellos wie Porzellan, seine Nase kräftig, ihre Spitze mitsamt den beiden Flügeln jedoch auf eine so niedliche Weise gerundet, dass sie mich spontan an einen Delfin erinnerte. Fast noch schöner als seine Augen waren seine Lippen: dunkelrot und sinnlich, die Unterlippe einen Tick voller als die obere. Sobald er lächelte, bildete sich zwischen dem rechten Nasenflügel und der Oberlippe ein winziges Grübchen. Geradezu magnetisch angezogen, blieb mein Blick daran hängen und mein Gehirn hörte auf zu denken.
Erst als er die Lippen öffnete und ich eine Reihe kräftige schneeweiße Zähne erblickte, wurde mir schlagartig bewusst, dass dieser Junge auch gefährlich sein könnte. Seine Eckzähne waren ungewöhnlich lang und spitz und ein wenig nach innen gebogen. Sie hatten Ähnlichkeit mit einem Raubtiergebiss und sofort tauchte das Bild von Lauren vor mir auf – tot auf einer Ponyweide. Mein Herzschlag setzte aus. War es womöglich ihr Mörder, in dessen Armen ich gerade lag?
Würde man auch mich schon bald tot in der Dünenböschung oder im Fort finden, weit genug vom Wasser entfernt, um darüber rätseln zu müssen, wie ich überhaupt darin ertrunken sein konnte?
Als ob er meine Gedanken erraten hätte, verschloss sich das Gesicht des Jungen. Im sanften Licht der Morgendämmerung sah ich, wie er die Lippen aufeinanderpresste und kaum merklich den Kopf schüttelte. Dann löste er seine Arme von mir, rückte ein Stück ab und richtete sich auf.
Das alles tat er, ohne auch nur einen Sekundenbruchteil den Blick von mir zu nehmen, und als er mir seine Hand entgegenstreckte, lag in seinen Augen eine unmissverständliche Aufforderung.
Flüchtig ließ ich meinen Blick über seinen Körper gleiten, sah die breiten Schultern, die hübsch geformten Beine und die glatte, haarlose Haut. Um seine Hüften hatte er ein silbrig schimmerndes Tuch geschlungen, das mich eher an Haut erinnerte als an ein Stück Stoff.
Nach einem kurzen Zögern legte ich meine Hand in seine, spürte die Kraft seiner Muskeln und die Entschlossenheit, mit der er mich hochzog, aber auch eine unglaubliche Zärtlichkeit, die mich so sehr überraschte, dass ich meine Hand reflexartig zurückriss, sobald ich festen Boden unter den Füßen hatte.
Wieder lächelte er, diesmal allerdings sorgfältig darauf bedacht, dabei nicht seine Zähne zu entblößen, und deutete auf Fort Hommet. Er meinte mein Fahrrad, ich konnte es von hier aus sehen.
Verdattert schaute ich ihn an. »Woher weißt du, wie ich hierhergekommen bin?«, platzte ich heraus. »Hast du mich etwa die ganze Zeit über beobachtet?«
Um seine Mundwinkel zuckte es, und einen Augenblick lang dachte ich, er würde mir antworten, doch dann bückte er sich plötzlich und hob etwas vom Boden auf, das ein Stück über uns in der Böschung lag, und hielt es mir vor die Nase.
Es waren Tante Gracies Stiefel mit meinen Socken darin und beides war vollkommen trocken. Mein Herz polterte los.
»Du hast mich beobachtet«, stieß ich hervor. »Und zwar von hier aus, stimmt’s?«
Wieder sah er mich nur an. Seine perfekt geschwungenen Brauen zogen sich in der Mitte zusammen und ließen so über der Nasenwurzel eine kleine Falte entstehen, und seine Pupillen, die eben noch groß und eher elliptisch als rund gewesen waren, waren nun plötzlich nur noch zwei stecknadelkopfkleine Punkte.
Erschrocken wich ich zurück, woraufhin er den gewonnenen Abstand sogleich um einen Schritt verkürzte.
»Wer bist du?«, fragte ich rau. »Was willst du von mir?«
Seine Pupillen vergrößerten sich wieder. Er legte den Kopf schief und hob die linke Schulter unschlüssig an. Dann öffnete er seinen Mund, doch anstatt etwas zu sagen, nahm er meine Hand.
Abermals geriet mein Herzschlag ins Stocken.
Seine Berührungen waren sanft wie ein Windhauch und so weich wie das Wasser, das am Abend meine Füße umspült hatte, und dabei von einer Wärme, die mir sofort ins Blut schoss und mich vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen ausfüllte.
Ich ertappte mich bei dem Wunsch, dass er mich niemals mehr loslassen möge, und konnte nur hoffen, dass er nicht tatsächlich in der Lage war, meine Gedanken zu lesen. Zumindest ließ er sich nichts anmerken, sondern zog mich ganz selbstverständlich weiter in Richtung Fort, über die Felsen auf die Befestigungsmauer und mein Fahrrad zu. Dort angekommen, streichelte er mir noch einmal kurz über die Wange, dann drehte er sich abrupt um und lief mit schnellen Schritten über den Strand zum Meer zurück.
Seine Bewegungen waren ebenso geschmeidig und fließend wie die von Cyril, Javen Spinx, Zak und Elliot. Und als er sich schließlich mitsamt seinem silbernen Hüfttuch ins Wasser fallen ließ, unter der Oberfläche verschwand und auch nach etlichen Minuten nicht wieder auftauchte, wusste ich definitiv, dass er kein Mensch war, sondern irgendetwas anderes.
Texte: Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG
Bildmaterialien: Anni Suvi
Tag der Veröffentlichung: 17.02.2012
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